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"Nesthäkchen" muss die Wahl zwischen Liebe und Karriere treffen: eine Entscheidung, die ihr Leben verändern wird. Annemarie verlässt nach dem bestandenen Abitur mit großen Plänen ihr Elternhaus - die ehrgeizige junge Frau will in Tübingen Medizin studieren, um mit ihrem Vater, einem erfolgreichen Arzt, zusammenarbeiten zu können. Als sie jedoch unverhofft den charmanten Rudolf Hartenstein kennenlernt, gerät Annemaries Welt aus den Fugen. Ist sie bereit, ihren Traum vom Medizinstudium aufzugeben, um Ehefrau und Mutter zu werden? Die "Nesthäkchen"- Kinderbuchreihe erzählt die Lebensgeschichte der munteren Arzttochter Annemarie Braun. Der Leser begleitet die "Nesthäkchen" genannte Annemarie dabei über zehn Bände hinweg auf ihrem abenteuerlichen Weg vom Schulkind zur erwachsenen Frau und (Groß-)Mutter.
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Seitenzahl: 252
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Else Ury
Erzählung für junge Mädchen Nesthäkchen Band 6
Saga
Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1921, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726883558
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
»Doktors Nesthäkchen geht fort von Haus – sie wird eine Studierte!« Die stille Straße in Charlottenburg hallte wider von dieser Neuigkeit.
Beim Milchholen hatte Hanne, Doktor Brauns langjährige Köchin, es erzählt. »Denken Se bloß – so 'ne Varricktheit! Jeben Eltern, was ihre einzije Tochter is, fort in de Fremde – an eine Universität. Als ob wa in Berlin keene nich haben tun. Und denn so'n Unsinn! Was unser Nesthäkchen is, vor die wär's tausendmal gescheiter, wenn se bei mir in de Lehre jehen täte und 'n anständigen Braten tät' machen lernen. Was hat det Wurm nich allens schon zum Abitientenexamen, oder wie das olle Ding nu heißt, in seinen Kopp reintrichtern müssen. Mehr als zuville! Und weiß vor lauter Jelehrsamkeit nich, wenn's Wasser kocht. Nee, bei mich sollt' se lieber studieren und sich belernen!« So machte Hanne ingrimmig ihrem Herzen Luft.
Die Milchfrau verschenkte die Neuigkeit mit ihrem halben Liter Milch zugleich den einholenden Dienstmädchen. Die trugen die Nachricht mit ihrem Henkelkorb geschäftig weiter. Bald wußte man's im Grünkramkeller, beim Schlächter, im Bäckerladen und beim Kohlenmann: »Doktor Brauns Nesthäkchen geht fort von Haus – sie wird eine Studierte!«
In die Portierlogen und in die Herrschaftswohnungen drang die Neuigkeit, denn die stille Straße war wie eine kleine Stadt für sich: Einer kannte den andern.
Und nun gar Doktors Nesthäkchen! War doch ihr Vater, der beliebte Arzt, fast in jedem Hause ein Helfer in Krankheitsfällen. Und sein lustiges Nesthäkchen, das kannte man von klein auf. Als es noch blondlockig den Puppenwagen mit der zahlreichen Puppenfamilie durch die Straße schob. Dann etwas später mit den beiden kurzen Rattenschwänzchen, die Schulmappe auf dem Rücken. Mit keckem Backfischzopf im Flügelkleide, untergeärmelt mit einem halben Schock Freundinnen. Und schließlich zur kleinen Schönheit erblüht, als junge Dame.
Diejenige, um die sich der ganze Aufruhr in der Straße drehte, ahnte nichts davon. Annemarie Braun stand in ihrem netten Mädchenstübchen und schaute mit strahlenden Blauaugen in den Spiegel. Das war sonst nicht Nesthäkchens Art. Ein Spiegelaffe war die Annemarie nicht, trotzdem sie hübsch genug dazu war. Aber heute mußte sie doch sehen, wie man ausschaute, wenn man neunzehn Jahre alt war.
Der 8. April – ihr Geburtstag! Von jeher hatte er eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt. Heute aber war er von ganz besonderer Bedeutung. Hatte er ihr doch die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches gebracht. Nichts weiter hatte sie sich zu ihrem heutigen Geburtstage gewünscht, als ein gemeinsames Studienjahr mit den Freundinnen in Tübingen.
Es war nicht so einfach gewesen, diesen Wunsch bei den Eltern durchzusetzen. Weder Vater noch Mutter wollten etwas davon wissen, ihr Nesthäkchen in die Fremde zu lassen. Denn trotz ihrer neunzehn Jahre war Annemarie noch immer das Nesthäkchen der Familie, ihre »Lotte«, wie die Eltern sie noch heute zärtlich nannten. Von ihrem Sonnenschein sollten sie sich trennen, der das ganze Haus hell und strahlend machte? Undenkbar!
Doktor Braun war durchaus Hannes Ansicht, daß Annemarie genau so gut die Universität in Berlin besuchen konnte. Denn von klein auf war es schon ihr Wunsch gewesen, Assistentin in Vaters Klinik zu werden und ihm einmal in seiner anstrengenden Praxis zu helfen. Na ja, Vater hatte durchaus nichts dagegen, daß sein Nesthäkchen ihm in seinen ernsten Beruf etwas Sonne hineintrug. Er freute sich schon auf die Zeit, wo sie gemeinsam mit ihm arbeiten würde. Aber wozu in die Ferne schweifen, wo das Gute so nahe lag? Konnte sie bessere Anleitung zu ihren medizinischen Studien haben als durch den Vater?
Auch die Mutter stand insofern auf Hannes Seite, als sie die Notwendigkeit einsah, daß Annemarie sich nun endlich auch mal in der Wirtschaft betätigen müsse. Solange das Mädel in der Schule und auf dem Gymnasium gewesen, hatte es dazu keine Zeit gehabt. Wollte es wirklich mal am Wäschetag helfen, dann hatte die gute Hanne sicherlich schon alles im voraus getan; »ihr Kind« sollte doch keine Last haben. Dadurch war Nesthäkchen aber wirtschaftlich so unerfahren wie ein neugeborenes Kind. Wenigstens behauptete die Mutter das unter lebhaftem Protest des Fräulein Tochter. Ja, Mutter war dafür, daß Annemarie sich das Sommerhalbjahr über tüchtig im Haushalt tummeln und erst zum Winter mit dem Studium beginnen sollte. Die körperliche Arbeit war ihr nach der geistigen Anstrengung des Abituriums durchaus dienlich. Und vor allem einen Blaustrumpf wollte Frau Doktor Braun nicht zur Tochter.
Aber was sind alle reiflichen Überlegungen, alle Vorstellungen der Eltern den Bitten, dem inständigen Flehen, den Liebkosungen und bettelnden Küssen des Töchterchens gegenüber?
Nesthäkchen hatte es mal wieder durchgesetzt, wie schon öfters. Marlene Ulrich und Ilse Hermann, ihre beiden Freundinnen, mit denen sie zusammen das Abiturium gemacht, durften doch auch. Warum sollte sie dann nicht nach Tübingen? Und Hans, der älteste der Braunschen Sprößlinge, der bereits Referendar war, hatte doch auch in Freiburg studiert. Na ja, Klaus, der zweite, der hatte ja in Berlin die landwirtschaftliche Hochschule besucht. Aber jetzt wollte er doch auch ein Jahr praktisch auf einer Domäne in Pommern arbeiten. War sie schlechter als die Jungen? Was – Vater meinte, es kostete zuviel, solch ein Studienjahr außerhalb? I wo, schrecklich billig war's! Annemarie hatte bereits mit Marlene und Ilse genau überlegt, wie man am besten sparen und sich alles am preiswertesten einrichten könnte. Und war's trotzdem noch zu teuer, na, das konnte Vater ihr ja später von ihrem Gehalt abziehen, wenn sie erst seine Assistentin war.
Allen Einwendungen wußte die neunzehnjährige Logik unwiderlegbar zu begegnen. Bis heute morgen auf dem Geburtstagstisch wirklich ein großes, von Klaus in grellen Farben gemaltes Plakat geprangt hatte: Ein Studienjahr in Tübingen.
»Hurra!« – – – Durch das ganze Haus hatte Nesthäkchen ihr Glück verkündet. Puck, das weiße Zwerghündchen, beteiligte sich lebhaft an diesem Jubelausbruch. Es war ein Radau, daß Hanne mit dem Eierschläger und Minna, das Hausmädchen, mit dem Besen bewaffnet, ebenfalls auf der Bildfläche erschienen, um zu sehen, was es denn gäbe. Gewiß freute sich ihr junges Fräulein so über das neue Sommerkleid oder den entzückenden Hut, den Minna am liebsten selbst mal vor dem Spiegel aufprobiert hätte; denn dem »ollen Fetzen Papier«, den der Herr Klaus bemalt hatte, konnte doch unmöglich diese Freude gelten. Hanne und Minna, die hatten beide Ströme von Tränen vergossen, als sie von Haus »fortmachen« mußten.
Inzwischen erdrückte Annemarie die Eltern beinahe mit ihren Dankesbezeigungen. Denn sie war heute noch genau so ungestüm und impulsiv wie früher als kleines Nesthäkchen.
»So sehr freut sich meine Lotte, von uns fortzukommen?« fragte der Vater halb im Ernst, halb im Scherz.
»Ach, Vatchen, einmal ist man doch nur jung. Und Reisen gehört zur Bildung. Das erweitert den geistigen Horizont. So ein Studienjahr zu Hause ist tranig. Seine eigene Studentenbude muß man haben. Wir nehmen alle drei zusammen ein Zimmer. Das wird ein Gaudium werden!« Annemarie hätte bei einem Haar einen Luftsprung vollführt, wenn sie sich nicht zum Glück noch rechtzeitig daran erinnert hätte, daß solch eine Art von Freudenbezeigung mit neunzehn Jahren wohl nicht ganz im Einklang stände.
»Zu ernsten Studienzwecken wollen wir dir ein Universitätsjahr bewilligen, damit du mal meine Assistentin werden kannst, Lotte, nicht des Gaudiums wegen«, meinte Doktor Braun lächelnd, sich heimlich an der Freude seines hübschen Töchterchens weidend.
»Aber natürlich. Dafür sorgt schon Marlene. Die ist ehrpusselig. Ilse ist auch mehr für Fidelitas als für Studium.«
»Ja, daß Marlene Ulrich dabei sein wird, ist mir eine rechte Beruhigung, Lotte.« Die Mutter warf einen besorgten Blick auf ihr Kind, als ob es sofort gälte, ihr Küchlein aus der treuen Gluckenobhut zu entlassen. »Marlene ist zuverlässig, überlegt und verständig. Sie muß es für dich Springinsfeld mit sein.«
»Na ob nicht! Für Ilse auch gleich mit. Die sagt sowieso zu allem, was Marlene tut, ja und amen. Die beiden hätten überhaupt nur ein Mensch werden sollen.«
»Mit hellblonden und schwarzen Locken zur gefälligen Auswahl«, mischte sich Klaus, der Student, das Kauen seines Frühstücksbrotes unterbrechend, hinein.
»Nee, blond und schwarz gibt braun. Aber merkwürdig, sobald der Name Ilse fällt, wird Klaus lebendig«, zog die Schwester ihn auf.
»Piepvogel!« Klaus tippte weniger höflich als deutlich gegen die Stirn. Aber sein frisches Gesicht wurde doch um eine Schattierung röter.
»Haach, seht bloß mal, der Klaus wird rot wie ein Backfisch, wenn von seiner ehemaligen Tanzstundenflamme die Rede ist«, setzte Nesthäkchen ausgelassen die Neckerei fort. Von klein auf stand sie mit Klaus auf Kriegsfuß. Allerdings, seitdem sie erwachsen waren, hatte derselbe harmlose Neckformen angenommen.
»Du, Kleines, ich mache mein Geschenk wieder rückgängig, wenn du frechdachsig bist. Heute hast du dich doch wenigstens anständig zu verhalten«, lachte der Bruder.
»Hast recht, mein Söhnchen. Du hast dich mit der Hauptmann-Biographie für einen arbeitslosen Studenten wirklich genügend angestrengt. Da will ich nicht undankbar sein.« Nesthäkchen gab das Wortgefecht auf und wandte sich dem reichen Gabentisch zu. Da war der mit bunten Blumen bemalte Geburtstagsring, der schon des kleinen Nesthäkchens Entzücken gewesen, als nur zwei oder drei Lichte darin aufflammten. Von Jahr zu Jahr war eins dazugekommen, und heute erstrahlte er in zwanzigflammigem Schein. Denn das große Lebenslicht in der Mitte flackerte am lustigsten.
Was hatten die Geburtstagslichter aber auch alles zu bestrahlen! In der Mitte Hannes »Nesthäkchentorte«, die alljährlich in erneuerter und wenn möglich noch verbesserter Auflage erschien. Trotzdem Annemarie auf alle andern Wünsche zugunsten des einen verzichtet hatte, hatte Elternliebe das einzige Töchterchen reich bedacht. Praktische und Luxusgegenstände gab es da. O Seligkeit – einen Koffer! Wäsche, Bücher, Schokolade und Wirtschaftsschürzen.
Annemarie betrachtete letztere mit nachdenklichem Gesicht. Sie wußte nicht recht, wann dieselben ihre Verwendung finden sollten. Das Vernünftigste war eigentlich, sie verteilte sie unter Hanne und Minna.
Die Mutter war ihrem Blick gefolgt. »Ich hoffe doch, daß die Schürzen auch noch mal zu ihrem Recht kommen werden, Lotte. Gern lasse ich mein Kind nicht so hauswirtschaftlich unerfahren ins Leben hinaus.«
»Für Tübingen langt's schon, Muzi. Wenn's dich beruhigt, kann ich ja eine der Wirtschaftsschürzen mitnehmen.«
»Hahaha – unser Kleines will mit der Wirtschaftsschürze anstatt mit dem Zerevis die Hohe Schule zu Tübingen beziehen!« Hans, der Älteste, hatte im Eintreten Annemaries Worte gehört. Klaus fiel in sein Gelächter ein.
»Ihr braucht gar nicht zu lachen, ihr Schlauköpfe! Zum Studieren brauche ich die Schürze natürlich nicht. Für die praktischen Arbeiten sind die weißen Kittelschürzen hier. Aber unser Kleeblatt wird sich morgens und abends selbst beköstigen, um zu sparen. Wenn wir uns mal Rühreier oder so was machen, ist solch unkleidsames Möbel vielleicht ganz gut am Platze. Eine Schürze reicht für uns alle drei.«
»Na, guten Appetit! Wenn drei Blaustrümpfe den Kochlöffel schwingen, da wird was Gutes 'rauskommen«, begann jetzt auch der Referendar die Schwester aufzuziehen.
»Bitte sehr, Ilse kann kochen. Die hat schon öfters einspringen müssen, wenn Baurat Hermanns kein Mädchen hatten«, verteidigte Annemarie sich.
»Siehst du, Lotte, Ilse ist tüchtiger als du. Die hat trotz des Gymnasiums auch noch Sinn für weibliche Tätigkeit gehabt.« Ganz bekümmert sah Frau Doktor Braun drein.
»Geliebte Muz, du brauchst nicht so betrübte Augen zu machen über deine mißratene Tochter.« Annemaries lachendes Gesicht zeigte keine Spur von Beeinträchtigung. »Marlene Ulrich weiß auch besser mit chemischen Säuren zu kochen als mit Zitrone und Essig. Und die hältst du mir doch von jeher als das Muster aller Tugenden vor. Übrigens, es sind ja noch acht Tage bis zur Abreise. Da kann ich noch schrecklich viel in der Wirtschaft lernen und gleich eine der Schürzen einweihen.«
»Na, Lotte, was du in neunzehn Jahren nicht gelernt hast, wirst du schwerlich in dieser letzten Woche noch nachholen.« Der Vater blickte belustigt von seiner Zeitung auf. »Was soll das nur werden, wenn du dich mal verheiratest?«
»Der arme Mann tut mir jetzt schon leid.« Das war natürlich Klaus.
»Dein Mitleid ist überflüssig, mein Junge. Um zu heiraten, studiere ich nicht. Ich habe genug von euch Männern! Wenn die andern Exemplare auch so sind wie du, Klaus, ergebe ich mich lieber dem Zölibat. Ich werde Vaters Assistentin – basta!«
»Ein Mann – ein Wort, Lotte?« Vater hielt seinem Mädel die Hand hin.
»Eine Frau – ein Wort!« Nesthäkchen schlug ohne zu überlegen ein.
»Also abgemacht – vor Zeugen sogar!« Doktor Braun erhob sich, um seine Praxis aufzunehmen.
Auch für Hans war es Zeit zum Gericht. Klaus hätte auch eigentlich ins Kolleg müssen. Aber er hielt den Geburtstag der Schwester für eine würdige Veranlassung, dasselbe zu schwänzen. Für allzuviel Arbeit war Klaus von jeher nicht.
Trotzdem Annemarie ein sorglos unbekümmertes Temperament besaß, waren Mutters Worte doch nicht ganz wirkungslos an ihr abgeprallt. Sie war ja den Eltern heute so dankbar. Und aus diesem Empfinden heraus wollte sie gern jeden einzelnen so froh stimmen, wie sie es selbst war. Und ihre »Muzi« vor allem.
»Muzichen, ich gehe jetzt in die Küche und helfe der Hanne. Sie backt Pfannkuchen zum Geburtstagskaffee. Und das Roastbeef könnte ich auch heute mittag vielleicht machen«, schlug sie eifrig vor.
»Der Himmel bewahre uns in Gnaden!« Klaus faltete die Hände und blickte mit verdrehten Augen zur Stubendecke empor.
Auch Mutter machte ein bedenkliches Gesicht. Sie mochte den Geburtstagskuchen und den Braten nicht gern preisgeben.
»Lotte, heute ist wirklich kein Tag dazu, deine wirtschaftlichen Studien zu beginnen. Es können doch Gratulanten kommen. Wenn du in einem Jahr wieder daheim bist, dann magst du das Versäumte nachholen!«
Annemarie war durchaus einverstanden. Es war entschieden vergnüglicher, sich mit seinen Geschenken zu freuen, als »Küchenschnudel« zu spielen.
Bald kamen auch Gratulanten. Zuerst die Großmama. Die stand, nachdem sie sich all ihrer guten Wünsche, all der zärtlichen Kusse und des photographischen Kodakapparates, den Annemarie sich seit Jahren gewünscht, unter heller Begeisterung der Enkelin entledigt hatte, kopfschüttelnd vor dem Geburtstagstisch.
»Was bedeutet denn diese geheimnisvolle Inschrift?« Sie schaute durch die Lorgnette fragend auf Klaus' Kunstprodukt.
»Geheimnisvoll – das ist doch klar wie Kloßbrühe, Großmuttchen. In acht Tagen geht's nach Tübingen auf die Universität – juchhu!« Annemaries lauter Juchzer ließ die alte Dame erschreckt zusammenfahren.
»Wa–as?« Großmama traute ihren Ohren nicht. »Fortgeben wollt ihr euer Kind, Elsbeth?« Mit verständnislosem Gesicht wandte sie sich an die Tochter.
»Ja, was sollen wir machen? Das Mädel gibt ja keine Ruhe. Nun mag sie mal sehen, wie es ihr anderswo gefällt. Leicht wird es uns nicht, unser Nesthäkchen fortzulassen«, setzte Frau Doktor Braun leiser hinzu.
»Ich verstehe euch nicht. Ein Mädchen gehört ins Elternhaus. So war's zu meiner Zeit Sitte. Und das war eine gute Sitte. Nicht genug, daß unser Kind studieren soll, nun noch gar auf einer andern Universität wie ein Student. Was sind das für Zeiten!« Großmamas mißbilligendes Kopfschütteln galt aber weniger den schlechter gewordenen Zeiten als der bevorstehenden Trennung von ihrem Herzblatt.
»Großmuttchen, du kannst dich mit unserer Hanne zusammentun. Die räsoniert auch schon den ganzen Morgen, daß ich fort will. Knapp, daß sie mir zum Geburtstag gratuliert hat, so fuchtig ist sie.«
»Recht hat sie, die treue Seele. Solch schlichter Geist empfindet oft das Richtige.« Großmama furchte die Stirn, und selbst der Enkelin zärtliche Finger vermochten die Falten nicht ganz fortzustreicheln.
Noch eine schloß sich der »Gegenpartei«, Großmamas und Hannes ablehnender Kritik, an. Das war Großmamas Schwester, Tante Albertinchen mit den Pudellöckchen. Die war die dritte im Bunde. Ihre weißen Löckchen wippten vor Erregung über jedem Ohr auf und nieder. Nein, wie konnte ihre Nichte Elsbeth nur dazu ihre Einwilligung geben!
Das »Kind« schutzlos allein in der großen Welt – was für Gefahren lauerten da auf Schritt und Tritt. Tante Albertinchen zog bereits ihr Taschentuch hervor, um ihrem armen Großnichtchen, das von den Eltern unbegreiflicherweise ins sichere Verderben hinausgelassen wurde, einige Tränen zu zollen.
Es kamen aber auch Gratulanten, die Annemaries Jubel durchaus begreiflich fanden und freudig darin einstimmten. Das waren natürlich in erster Linie die beiden Reisegenossinnen Marlene und Ilse. Die blonde Ilse brach ebenfalls, als Annemarie sie ohne weitere Erklärung vor das inhaltsvolle Plakat führte, in begeistertes »Hurra!« aus. Ihre Cousine und Busenfreundin Marlene, die bei weitem ruhigere, aber umschlang Annemarie und sagte aus vollem Herzen: »Au fein!«
»Heute in acht Tagen sind wir schon unterwegs. In Stuttgart sollen wir Station machen, meint mein Vater. In einer Tour sei die Reise zu anstrengend. Kinder, ich freue mich ja diebisch.« Ilse küßte abwechselnd Annemarie und Marlene.
»Mir auch einen!« Klaus steckte seinen Kopf dazwischen.
Er erhielt aber nur einen Nasenstüber. Der Student stand mit sämtlichen Freundinnen der Schwester auf Neckfuß und duzte sich mit ihnen noch aus der Kinderzeit. Annemarie behauptete sogar boshafterweise, daß er in eine nach der andern verschossen gewesen sei, immer abwechselnd. Aber wenn die Reihe um war, kehrte sein leicht entzündbares Studentenherz doch immer wieder zu Ilse Hermann zurück.
Marianne Davis, die ebenfalls mit den drei Mädeln zusammen das Gymnasium besucht hatte, sah mit geteilten Gefühlen die Zukunftsfreude der drei Glücklichen. Ihr rundes Gesicht unter dem Braunhaar blickte wie der Apriltag draußen herein. Halb Regen, halb Sonnenschein. Sie gönnte ja den Freundinnen das gemeinsame Studienjahr in Tübingen – aber freilich! – nur – nur – sie wäre eben auch gar zu gern dabei gewesen. Ihre Eltern hatten nichts davon wissen wollen, Marianne studieren zu lassen. Chemische Laborantin sollte sie werden, dazu brauchte sie nur eine anderthalbjährige fachgemäße Ausbildung. Bis jetzt war Marianne mit diesen Zukunftsplänen auch durchaus einverstanden gewesen. Nur heute, da die andern drei die Schwingen regten zum selbständigen Flug in die Welt hinein, kam sie sich wie ein im Bauer gefangenes Vögelchen vor.
Dabei blieben doch die beiden Kränzchenschwestern Margot Thielen und Vera Burkhard ebenfalls daheim. Margot, die in demselben Hause mit Brauns wohnte, konnte den Jubel der Freundinnen gar nicht begreifen. O Gott, schrecklich wäre es ihr, wenn sie ohne Vater und Mutter allein in eine fremde Stadt müßte. Totgraulen würde sie sich. Wie konnte die Annemarie sich nur so freuen!
Vera Burkhard, Annemaries Intima, hatte die Freundin nur schweigend geküßt. Dann hatte sie sich schnell zum Fenster gewandt, damit Annemarie es nicht merken sollte, daß ihr die bevorstehende Trennung Tränen in die Augen trieb. Annemarie aber brauchte die glänzenden Tropfen an den langen schwarzen Wimpern der Freundin nicht zu sehen. Die empfand es auch ohnedies, daß Vera betrübt war.
»Verachen, ein Jahr ist ja gar nicht lang. Und wir schreiben uns oft. Denke mal, wie fein das sein wird, wenn ein dicker Brief aus Tübingen kommt. Marlene, Ilse und ich, wir schreiben immer abwechselnd, ja? Und du schickst mir photographische Aufnahmen, damit ich sehe, was für Fortschritte du in deiner Kunst machst. Wenn ich wiederkomme, hast du vielleicht schon ein eigenes Atelier.« So versuchte Annemarie die Freundin aufzuheitern.
Veras zartes Gesicht aber sah noch bleicher aus als gewöhnlich. »Ein ganzerr Jahrr ist schrecklich lang fürr mirr«, gab sie mit unterdrücktem Seufzer zurück. Die in Polen Gebürtige stand mit der deutschen Sprache, trotzdem sie schon jahrelang eine deutsche Schule besucht hatte, und trotzdem Annemarie Braun ihr selbst Nachhilfestunden erteilt hatte, immer noch auf Kriegsfuß.
»Wir sind die acht Tage bis zu meiner Abreise noch recht viel zusammen, Verachen. Du mußt dich für meine einstigen deutschen Lektionen revanchieren und mir Unterricht in der Handhabung meines neuen Kodaks von Großmama erteilen. Dann schicke ich dir von jedem Ort, den ich kennenlerne, Aufnahmen.« Annemaries munterem Geplauder konnte Veras niedergedrückte Stimmung nicht standhalten. Den Rest derselben tilgten die lustigen Späße der Brüder und die Berge von Pfannkuchen, die ihr vom Kaffeetisch entgegenlächelten.
Abends bei der Maibowle, die man dem Wonnemonat vorwegnahm, stieß man klingend auf das Studienjahr der drei Getreuen, wie Doktor Braun sie nach dem Frenzenschen Buch titulierte, an. Tante Albertinchen weigerte sich zwar, darauf ihr Glas zu erheben, denn sie fand noch immer, daß es Gott versuchen hieße, Nesthäkchen in die Fremde zu lassen. Margot Thielen, die ausrief: »Kinder, mir könntet ihr Gott weiß was versprechen, daß ich mit sollte. Gottlob, daß ich hier auf der Kunstgewerbeschule bin und nicht von Haus fort muß!« gewann die ganze Sympathie des alten Tantchens. Das war doch noch ein vernünftiges Mädchen, nach gutem, altem Stil, von den modernen Freiheitsgelüsten der heutigen Jugend nicht angekränkelt.
Annemarie aber rief lachend: »Natürlich, Tugendschäfchen muß in seinem Stall bleiben! Da draußen in der Welt könnte der böse Wolf kommen und es fressen.«
»Ja, Tugendschäfchen weidet auf der Heimatflur.«
»Die Welt draußen ist zu klein für solch ein Übermaß von Tugend!« – Auch Marlene und Ilse beteiligten sich an Annemaries Foppereien.
»Tugendschäfchen« – diesen Beinamen hatten die ausgelassenen Backfische dereinst der braven Margot zugelegt, und sie hatte denselben auch stets mit Humor ertragen. Heute aber in Gegenwart von Annemaries Verwandten war Margot dieser Ehrentitel doch ziemlich peinlich. Großmama, welche die Verlegenheit des jungen Mädchens gewahrte, meinte mit liebenswürdigem Takt: »Ich wünschte, Annemariechen, du wärst auch solch ein Tugendschäfchen, dann behielten wir dich hier!«
»Zu meinem nächsten Geburtstag bin ich wieder da, Großmuttchen, schon wegen der Geschenke«, tröstete die Enkelin sie.
»Wer weiß, wer da noch lebt«, lächelte die Großmama.
Auch Tante Albertinchen nickte wehmütig vor sich hin, als gelte es einen Abschied für immer von Doktors Nesthäkchen. Und ihre Pudellöckchen nickten wehmütig mit.
Nesthäkchens neunzehnter Geburtstag, der von einschneidender Bedeutung für ihr Leben geworden war, ging vorüber wie jeder andere Tag. Und die Woche, die nun folgte, ging noch viel schneller dahin. Denn solch eine Reisewoche hat unzählige Beine. Man weiß vor lauter Einkäufen und Vorbereitungen nicht, wo sie geblieben.
Ehe man sich's versah, kam der Tag heran, wo Doktors Nesthäkchen aus dem heimatlichen Nest fliegen sollte.
Ein Sonnentag war's – hell und strahlend. Aber die junge Reisende blickte unter dem neuen Reisehütchen gar nicht so strahlend wie sonst in die Welt. Die stand in ihrem Mädchenzimmer mit den hübschen weißen Möbeln und schaute auf jedes Stück, die Zeugen ihrer fröhlichen Kinder- und Backfischzeit, als ob sie sich gar nicht davon trennen könnte. Würde die Minna auch ihre süßen kleinen Kakteenpflänzchen, siebenundvierzig waren es jetzt schon an der Zahl, richtig pflegen? Und die Primelchen alle zwischen den Doppelfenstern? Mätzchen würde gewiß suchend das zitronengelbe Köpfchen nach ihr drehen, wenn eine andere Hand ihm Trink- und Badewasser in das Bauer schob. Und Puck? Als ob das kluge Tier wußte, daß Doktors Nesthäkchen heute dem Vaterhause ade sagen wollte, folgte es ihm auf Schritt und Tritt schwanzwedelnd. Annemarie beugte sich zu dem Gefährten ihrer lustigen Kindheitsspiele zärtlich herab und packte ihn bei den langhaarigen Ohren.
»Geliebte Hundetöle, so schwer wird es dir, mich fortzulassen?« Ein glänzender Tropfen aus blauen Mädchenaugen fiel höchst unnötigerweise auf die schwarze Hundeschnauze.
Sie war doch schon mal ein Jahr in der Fremde gewesen. Vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war und nach überstandener Krankheit zur völligen Kräftigung in das Kinderheim an der Nordsee geschickt wurde. Da war ihr die Trennung doch lange nicht so schwer geworden.
»Lotte – es ist Zeit, wir müssen gehen.« Mutters Stimme ertönte mahnend aus dem Nebenzimmer.
»Die Droschke ist da!« meldete Minna und belud sich mit dem Handgepäck des jungen Fräuleins.
Mit einem Blick umfaßte Doktors Nesthäkchen zum letztenmal ihr kleines Reich, den Nähtisch der Mutter drin im Wohnzimmer, schnell durch die Türspalte noch einmal in Vaters Sprechzimmer gelugt, dann wandte Annemarie den Kopf nicht mehr zurück. Vorwärts ging es nun, dem neuen buntwinkenden Studentenleben entgegen.
Unten vor dem Vorgarten, der sich Nesthäkchen zu Ehren mit seinen schönsten Mandelblüten besteckt hatte, standen sie alle abschiedbereit: Piefke, der Portier, der den neuen Geburtstagskoffer soeben aufgeladen. Sein Junge, Maxeken, Nesthäkchens einstiges Pflegekind, mit neugierigem Gesicht. Minna, sich die nassen Augen mit dem Handrücken wischend, und Hanne mit einer so bärbeißigen Miene, als ob sie der ganzen Welt an den Kragen wollte.
»Leben Sie wohl, Hanne, und wenn ich wiederkomme, gehe ich bei Ihnen ins Kolleg!« Nesthäkchen scherzte schon wieder.
»Kollegin brauchste nich von mich zu werden, Annemiechen. Aber das sag' ich dich, mit das Dusagen hat das nu 'n Ende. Wenn de von de Unversität wieda nach Hause kommen tust, denn biste vor mir ›Sie‹ und ›Fräulein‹.« Geradezu wütend sah Hannes breites Gesicht drein.
»Das überleb' ich nicht, Hanne«, lachte Annemarie. Allen Abschiedsschmerz hatte Hannes Drohung verscheucht.
Da zog der Droschkengaul an. – »Auf Wiedersehen! – Auf Wiedersehen!« – – – »Und komm auch nich abends von de Kneipe so anjesäuselt nach Hause, wie das unser Herr Klaus manchmal jemacht hat!« rief Hanne noch vorsorglich hinter Annemarie drein.
Die lachte Tränen. Auf den Balkonen und an den Fenstern aber reckte man die Köpfe hinter der durch die Straße ratternden Droschke her. Nanu – Doktors Nesthäkchen war ja unglaublich fidel, daß es von Hause fortging!
Wenn die lieben Nachbarn allerdings gesehen hätten, wie Annemarie während der Fahrt die Hand der Mutter nicht aus der ihren ließ, wie sie sich auf dem Bahnhof die Augen ausschaute, ob der Vater, der in aller Herrgottsfrühe zu einem Schwerkranken gerufen worden war, es auch noch erreichte, um seiner Lotte den Abschiedskuß zu geben, dann hätten die lieben Nachbarn doch vielleicht gemerkt, daß Doktors Nesthäkchen der Abschied nicht gar so leicht wurde.
Aber sie ließ es sich nicht merken, daß in der Kehle ein Tränenkloß jeden Augenblick wie ein Wasserfall sich zu ergießen drohte. Das Heulen überließ sie Ilse Hermann, die abwechselnd Trost suchte in den Armen der Eltern und der älteren Schwester Lisbeth.
»Ilschen, es gibt hier auf dem Anhalter Bahnhof eine Überschwemmung.« Alle Aufmunterungsversuche Annemaries verfingen nicht. Erst als Hans und Klaus auf der Bildfläche erschienen, schämte sie sich ihres zur Schau getragenen Abschiedsschmerzes.
Marlene biß die Zähne zusammen, damit nur keiner merkte, daß es ihr ebenfalls naheging. Die Annemarie hatte doch ein glückliches Temperament, daß sie selbst jetzt noch scherzen konnte. Nicht mal die Freundinnen merkten, daß Annemaries zur Schau getragene Heiterkeit Galgenhumor war.
Nur die Mutter kannte ihr Nesthäkchen. Die war gar nicht weiter davon überrascht, daß ihre eben noch lachende Lotte, als das Signal zum Einsteigen ertönte, ganz plötzlich in einen Tränenstrom ausbrach.
»Noch kannst du hierbleiben, Lotte!« Doktor Braun hatte es doch nicht gedacht, daß es ihm so schwerfallen würde, sein Nesthäkchen fortzulassen.
»Nein – nein – ich freue mich ja so schrecklich – – –.«
»Daß ich vor lauter Entzücken in Freudentränen ausbreche«, neckte Marianne Davis. Denn die Freundinnen waren natürlich vollzählig als Ehrengeleit erschienen. Vera streichelte fortwährend Annemaries Hand. »Denk an mirr – behalt' mirr in Liebe.« Margot weinte zur Gesellschaft mit den andern mit.
Nun waren alle Abschiedsküsse und Umarmungen erledigt, und die drei Studentinnen in spe standen am Fenster ihres Abteils, das feuchte Tränentüchlein zum letzten Gruß winkbereit.
»Marlene, gib mir bloß auf mein unbedachtes Mädel acht, du bist doch die Vernünftigste. Du glaubst gar nicht, wie unachtsam und leichtsinnig die Annemarie ist – – –.«
»Aber Muzi, mach' mich doch nicht vor allen Leuten hier schlecht«, begehrte Annemarie schon wieder lachend auf.
»Ilse und ich werden unser Nesthäkchen schon gut bewachen, Frau Doktor«, versprach Marlene.
»Erlaube mal, Ilse ist überhaupt jünger als ich – – –.«
»Und nimm dich mit fremden Leuten in acht, Kind, du bist so vertrauensselig. Und daß du nicht kalt trinkst, wenn du erhitzt bist und – – –.« Mutter kam mit ihren vorsorglichen Befürchtungen, von denen sie noch ein ganzes Dutzend auf Lager hatte, nicht weiter, denn der Zug setzte sich in Bewegung.
»Nun lernt in Tübingen fleißig Bierjungen trinken. Wenn wir uns wiedersehen, müßt ihr das Gesicht voller Schmisse haben«, rief Hans, um die Abschiedsstimmung zu heben, den dreien nach.
»Und vergeßt das eine nicht – das allerwichtigste: Rollmops ist gut gegen 'nen Kater!« Das war natürlich der unverbesserliche Klaus.
Wie Sonnenregen ging es da über die drei betrübten Mädchengesichter. Mit wieder lachenden Augen ließen die beiden Blonden und die Schwarze ihr Tüchlein zu ihren Lieben zurückwehen.
»Annemarie, wir sind gleich in Jüterbog.« Marlene, eingedenk ihres Ehrenamtes als Vernünftigste, zog die immer noch aus dem Fenster winkende Annemarie, die behauptete, ihre Mutter noch ganz deutlich erkennen zu können, auf ihren Platz.
»Wem du da zuwinkst, das ist irgendein Gepäckträger –.« »Ach wo, die Signalstange ist es überhaupt?« lachte Ilse.
Ihr glücklichen neunzehn Jahre, wo Abschiedstränen noch so rasch trocknen!
Durch sprießende Saaten, durch blauschwarze Kieferwaldungen, schüchtern mit zartgrünen Birkenbäumchen besäumt, fuhren die im Lenz des Lebens stehenden drei dem erwachenden Frühling entgegen. Je weiter sie nach Süden kamen, um so wonniger wurde das Blühen da draußen. Weimar, die Stadt der Musen, grüßte die drei Musentöchter bereits aus einem Meer von schneeigen Obstblüten.
»Kinder, wollen wir hier nicht aussteigen? In Weimar müßten wir Station machen«, schlug Doktors impulsives Nesthäkchen lebhaft vor. »Es ist doch unerhört, daß man an der Goethestadt vorüberfährt.«
»Ausgeschlossen, Annemarie. Wir haben zu heute abend in Stuttgart im Hotel Monopol Zimmer bestellt«, lehnte Marlene besonnen ab.
»Auf der Rückreise können wir ja in Weimar Aufenthalt nehmen«, tröstete Ilse.
»Menschenskind – auf der Rückreise – was kann in einem Jahr nicht alles sein!« Aber mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit gab Annemarie nach. Denn schließlich hatte Marlene ja recht.
Der Zug stieg bergan. Die Frühlingswelt wurde wieder winterlicher. Rauher wehte die Luft. Man näherte sich dem hochgelegenen, von Berliner Sommer- und Winterfrischlern viel besuchten Oberhof. Auch hier hätte Doktors Nesthäkchen, das alles sehen und genießen wollte, am liebsten Station gemacht. Aber der Zug entführte es weiter, immer weiter, talwärts zu Kirsch- und Fliederblüte.
Es wurde eine höchst fidele Fahrt. Zukunftspläne schmiedend, futternd und Studentenlieder singend, fuhren die drei Freundinnen ihrem Studienjahr entgegen. Annemaries ausgelassene Art steckte selbst die ruhige Marlene an. Das war ein Lachen, Scherzen und Singen zu den Klängen der Zupfgeige, die Nesthäkchen natürlich in die neue Heimat begleitete, daß die Mitreisenden ihre helle Freude an dem frischen, jungen Blut hatten. Bis auf eine etwas griesgrämige alte Dame, die fast während der ganzen Fahrt schlief. Oder vielmehr schlafen wollte, was ihr aber bei dem fidelen Kleeblatt nicht recht gelang.
So kam man in der sechsten Stunde nachmittags nach Würzburg.
»Würzburg soll die schönste Barockstadt sein, ähnlich wie Potsdam«, bemerkte Ilse, das Bauratstöchterlein.
»Müssen wir unbedingt sehen. Fahrtunterbrechung ist gestattet. Wir telephonieren dem Herrn Monopol in Stuttgart einfach ab.« Annemarie wieder Feuer und Flamme für die neue Idee.
»Dann haben wir keinen Tag mehr für Stuttgart. Das Semester beginnt doch schon in zwei Tagen«, widerlegte sie Ilse.