Nesthäkchen im Kinderheim - Else Ury - E-Book

Nesthäkchen im Kinderheim E-Book

Else Ury

0,0

Beschreibung

Große Sorge um Nesthäkchen: Annemarie hat sich mit Scharlach angesteckt. Um sich von der langen Krankheit zu erholen, wird sie in ein Kinderheim auf der Nordseeinsel Amrum geschickt. Zuerst ist Annemarie so gar nicht begeistert davon – ein ganzes Jahr soll sie so weit weg von ihrer Familie verbringen? Schnell findet das lebenslustige Nesthäkchen aber Gefallen an ihrer neuen Heimat: die Insel hält neue Freunde und spannende Abenteuer bereit. Die "Nesthäkchen"- Kinderbuchreihe erzählt die Lebensgeschichte der munteren Arzttochter Annemarie Braun. Der Leser begleitet die "Nesthäkchen" genannte Annemarie dabei über zehn Bände hinweg auf ihrem abenteuerlichen Weg vom Schulkind zur erwachsenen Frau und (Groß-)Mutter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 277

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Else Ury

Nesthäkchen im Kinderheim

Eine Erzählung für Mädchen von 8 –12 Jahren Nesthäkchen Band 3

Saga

Nesthäkchen im Kinderheim

 

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1915, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883527

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

1. Kapitel. Klassenarbeit

Es war Frühstückspause. Ein ohrenbetäubendes Geschwirr von hellen durcheinanderrufenden Kinderstimmen schallte durch die achte Klasse.

»Annemarie, wieviel ist neun mal siebzehn« – »ist sieben mal vierzehn achtundachtzig oder achtundneunzig« – »ach Gott, ich habe ja so dolle Angst vor der Klassenarbeit« – die zarte braunhaarige Margot Thielen seufzte schwer und machte furchtsame Augen wie ein Häschen.

»Ich habe gar keine Bange, nicht für'n Sechser! Mein Bruder Hans hat gesagt, ich kann jetzt das große Einmaleins vorwärts und rückwärts, sogar im Schlafe!« Annemarie Braun, die Erste der achten Klasse, rief es und lachte dabei über das ganze runde Kindergesicht.

»Ja, du – du brauchst auch keine Angst zu haben, Annemie. Du schreibst sicher wieder null Fehler und bekommst ›sehr gut‹ im Rechnen,« Margot sah voll Bewunderung auf ihre Freundin.

»Wenn's nur nicht grade die Probearbeit für die Osterzensur wäre!« Ilse Hermann hob den Kopf mit den blonden Haarschnecken von dem Rechenbuch, aus dem sie ganz schnell noch sämtliche Zahlenweisheit in den letzten Minuten vor der gefürchteten Arbeit zu erhaschen suchte.

»Annemarie, könntest du nicht jetzt in der Pause flink noch ein bißchen mit uns üben – ach ja, bitte, bitte, tue es doch!« so bettelte und rief es durcheinander.

Die Erste ließ sich nicht lange bitten. Das Rechenbuch unter den Arm geklemmt, den Kopf mit der lustigen Stubsnase und den abstehenden goldblonden Rattenschwänzchen steif in die Luft gebohrt, so schritt sie würdevoll zum Katheder.

Die Klasse jubelte. Denn Annemarie ahmte Fräulein Neudorf, die Rechenlehrerin, in Gang und Haltung treffend nach. Und als sie jetzt gar noch in der Hannoveraner Mundart der Lehrerin zu sprechen anhob: »Aber Kinder, macht nicht solchen S–pektakel, Ihr s–tört die anderen Klassen,« da stieg die Ausgelassenheit und der Jubel aufs höchste.

»Ruhe – seid s–till, Kinder, wieviel ist neun mal dreizehn. Marlene Ulrich,« mit durchdringend heller Stimme übertönte Annemarie den Radau.

»Hundertsieben,« die dunkelblauen Augen der schwarzzöpfigen Marlene, die noch eben vor Übermut gesprüht, sahen plötzlich ganz ernst drein. Die drohende Rechenstunde begann die Ausgelassenheit wieder zu dämpfen.

»Fünf mal neunzehn, Hilde Rabe – falsch, Marianne Davis – sieben mal sechzehn – acht mal vierzehn« – Schlag auf Schlag, mit rasender Schnelligkeit fielen die Fragen aus dem Munde der gestrengen kleinen Lehrerin. In lachender Aufregung tönten die Antworten zurück, eine überschrie die andere.

Da war es kein Wunder, daß niemand in diesem Tumult auf die Glocke des Schuldieners Piefke achtete, welche die beginnende Stunde anzeigte. Annemarie Braun, die als Erste das Amt hatte, nach dem Leuten für Ruhe in der Klasse zu sorgen, machte den größten Lärm.

»Viermal siebzehn – sei s–till, Marianne – Hilde, s–pringe in der S–tunde nicht vom S–tuhl – Margot, s-teh' auf, wenn ich mit dir s–preche – –«

»Ruhe – was soll denn der S–pektakel eigentlich bedeuten – S–tille bitte ich mir sofort aus!« mittenhinein in das Lachen und Rufen erklang es plötzlich streng von der Tür her.

Im Augenblick verwandelte sich das Jubeln und Schreien in atemlose herzbeklemmende Stille. Die Mädchen schnellten von ihren Sitzen in die Höhe, mit entsetzten Augen blickten sie auf die im Türrahmen stehende Lehrerin.

Die Entsetzteste von allen aber war Annemarie Braun. Ihre Blauaugen starrten Fräulein Neudorf gradezu entgeistert an – Himmel, hatte die Lehrerin etwa gehört, daß sie ihr nachgemacht hatte? Wie angewurzelt blieb Annemarie droben auf dem Katheder, sie dachte nicht daran, ihren Platz aufzusuchen.

Kopfschüttelnd trat die Lehrerin näher.

»Ja, möchtet ihr mir vielleicht erklären, was euer lautes Benehmen bedeuten soll? Wo ist die Erste?«

Annemarie trat, das Stupsnäschen gar nicht mehr lustig emporgehoben, sondern schuldbewußt zur Erde gesenkt, näher.

»Du sorgst ja recht nett für S–tille vor der S–tunde. Ans–tatt den andern mit gutem Beis–piel voranzugehen, s–tichst du noch alle anderen beim S–pektakelmachen aus. Du wirst schwerlich als Erste zur Osterversetzung bes–tehen können!«

Keinem der Kinder fiel es ein, die Sprache der Lehrerin, die man noch eben bei Annemarie bejubelt, noch lächerlich zu finden. Am wenigsten Annemarie selbst. Aus deren noch vor kurzem lachenden Augen begann es zu tropfen, währen sie sich langsam zu ihrem Platz zurückschob.

»Lieber Gott, mache doch bloß, daß Fräulein Neudorf nicht gehört hat, was ich gesagt habe – ich muß mich ja sonst zu Tode schämen!« Während sich dieses stumme Gebet aus Annemaries Seele zum blauen Frühlingshimmel emporrang, klang das gefürchtete »Rechenhefte heraus zur Klassenarbeit!« vom Katheder.

Poch – poch – schneller schlugen fünfzig Kinderherzen. Mit gezückter Feder saß eine jede vor ihrem Heft.

Und nun ging's los – Exempel auf Exempel. Die Wangen der Mädel begannen vor Eifer zu glühen, die Augen zu blitzen. Jede gab sich Mühe, ihr Bestes für das Osterzeugnis zu leisten.

Nur eine, sonst die eifrigste und begabteste im Rechnen, war heute nicht recht bei der Sache. Das war die Erste der Klasse. Annemarie vermochte ihre Gedanken nicht fest auf die Aufgaben zu richten. Immer wieder entwischten sie ihr zu den Begebenheiten vor der Stunde.

Grade bei Fräulein Neudorf, der strengsten Lehrerin der Schule! Wenn es noch bei Fräulein Hering, ihrer Lieblingslehrerin gewesen wäre, die hätte wohl eher ein Auge zugedrückt.

Sah Fräulein Neudorf sie nicht strafend an, oder kam ihr das bloß so vor? Nein, ganz bestimmt, die Lehrerin machte ein furchtbar ernstes Gesicht. Wenn man nur genau wüßte, woran man wäre! Dann könnte man sich doch wenigstens nach der Stunde entschuldigen – aber diese gräßliche Ungewißheit – Herrgott, da hatte Annemarie vor lauter Überlegen und Grübeln gar nicht gehört, wie die letzte Aufgabe hieß.

War es fünf mal dreizehn oder fünf mal siebzehn gewesen? Annemarie hatte nur noch den Klang im Ohr, ihr Bewußtsein hatte die Zahl nicht aufgefaßt. Hilflos blickte sie um sich.

»Du – Margot, siebzehn oder dreizehn?« hinter dem vorgehaltenen Löschblatt ward es aufgeregt geflüstert.

Aber ehe die Freundin noch antworten konnte, stand schon Fräulein Neudorf neben der kleinen Unaufmerksamen.

»Annemarie Braun, schließe dein Heft. Wer bei der Probearbeit mit der Nachbarin in Verbindung s–teht, hat die Absicht zu täuschen. Ans–tatt dir Mühe zu geben, deinen Fehler von vorhin durch Eifer und Fleiß gut zu machen, muß ich dich jetzt noch unter Tadel schreiben. Die Erste der Klasse – ein beis–pielloser S–kandal!« Jetzt irrte sich Annemarie nicht, die Lehrerin sah sie so strafend an wie noch nie.

»Fräulein Neudorf, ich wollte Sie wirklich nicht täuschen – ich – hatte bloß die Aufgabe vergessen – wirklich!« Die blauen Kinderaugen, die sich vergeblich mühten, die Tränen zurückzuhalten, blickten voll überzeugungsvoller Ehrlichkeit zu der Zürnenden auf.

Es war etwas Merkwürdiges um Annemaries Augen. Wenn sie bettelten und flehten, dann konnte man ihr nicht mehr so richtig böse sein – diese Erfahrung hatten Mutti und Fräulein zu Hause oft gemacht.

Auch heute bewährte sich die Kraft der leuchtenden Sterne. Diese Kinderaugen vermochten nicht zu lügen, das fühlte Fräulein Neudorf. Ihre strenge Miene ward um ein weniges freundlicher.

»So magst du dich weiter an der Arbeit beteiligen. Die Aufgabe, die du durch Unaufmerksamkeit verfehlt hast, läßt du natürlich aus.«

»Und der Tadel?« Annemaries Lippen war das entschlüpft, was ihre Hauptsorge bildete. Solange sie in die Schule ging, hatte sie noch nie einen Tadel bekommen. Der erste Tadel – nein, die Schmach war zu groß! Wie würde Bruder Klaus sie damit aufziehen und foppen, und Mutti würde traurige Augen machen – ganz bestimmt.

»Der hängt natürlich von deinem künftigen Benehmen ab« – Fräulein Neudorf fuhr weiter in der Klassenarbeit fort.

Annemarie hätte sich jetzt sicherlich die allergrößte Mühe gegeben, wenn nur nicht die eine Aufgabe in ihrer Arbeit gefehlt hätte. Nun konnte sie doch auf keinen Fall mehr »sehr gut« im Rechnen bekommen. Und dann der noch immer drohende Tadel. Huschte er nicht als kleines schwarzes Teufelchen da vorn auf dem Klassenbuch herum, und schnitt ihr eine Fratze zu? Ach wo, das war doch bloß der Schatten von Fräulein Neudorfs Hand.

Aber solche Gedanken gehören nun mal nicht zu einer Probearbeit. So kam es, daß Annemarie Braun, die das große Einmaleins vor- und rückwärts, ja selbst im Schlafe nach dem Urteil von Bruder Hans konnte, diesmal drei Fehler in der Klassenarbeit hatte.

Und das Schlimmste war, daß ihre Freundinnen Margot, Ilse, Marianne und Marlene sämtlichst null Fehler geschrieben hatten. Da ist der Schmerz umso größer.

Fräulein Neudorf, welche die Arbeiten gleich in der Stunde durchsah, blickte die Erste mißbilligend an, als sie ihr das Heft zurückgab. Kein Wort sagte sie dazu. Aber dieses stumme Urteil traf die ehrgeizige Annemarie mehr als viele Worte.

Als die Schulglocke Piefkes endlich die böse Stunde beendigt hatte, sah man ein kleines Mädchen mit goldenem Haargelock, das überall aus den kurzen Zöpfchen entsprang, vorn am Katheder stehen.

Annemarie Braun bat Fräulein Neudorf um Entschuldigung. Ja, das mußte sie. Annemarie konnte es nicht ertragen, wenn jemand auf sie böse war. Und heute ganz besonders, wo das Schuldbewußtsein ihr deutlich sagte, daß es sehr ungezogen von ihr gewesen war, ihrer Lehrerin nachzuahmen. Daran hatte aber bloß Klaus schuld. Der machte auch immer seinen Lehrer nach, und das Schwesterchen nahm sich nun mal im Guten wie im Bösen ein Beispiel an den größeren Brüdern.

Ach, Gott sei Dank – Fräulein Neudorf hatte bestimmt nichts gehört. Sie sprach nur von dem unerhörten Radau und von Annemaries Unaufmerksamkeit, die bei der Ersten der Klasse doppelt tadelnswert sei. Aber als die Kleine zerknirscht Besserung gelobte, war Fräulein Neudorf gar nicht mehr streng, sondern ganz freundlich. Um ein gutes Teil erleichtert, lief Annemarie hinter ihren Freundinnen her in den Hof. Nein, nie wieder wollte sie jemand nachmachen – ganz bestimmt nicht!

Unten im Hof sprangen die Frühlingssonnenstrahlen um die Wette mit den Schulkindern umher. Annemarie, stets eine der wildesten, ging heute merkwürdig gesittet, mit Margot und Ilse untergeärmelt, unter den blattknospenden Bäumen auf und nieder. Fräulein Neudorfs Strafpredigt wirkte noch nach.

»Glaubt ihr, daß sie mir das ›lobenswert‹ in Betragen verderben wird?« Annemaries sonst so lustiges Kindergesicht sah höchst sorgenvoll in das goldene Lenzgeflimmer. »Au weh, dann ist Mutti aber böse, wer weiß, ob ich euch dann zu meinem Geburtstag am 9. April einladen darf. Und wir wollten diesmal mit Knallbonbonmützen tanzen, weil es doch mein zehnter Geburtstag ist. Hans sagt, alle Geburtstage, wo 'ne Null dranhängt, muß man besonders begehen – Großmama feiert nächstens schon ihren siebzigsten.«

»Du, das ist eklig, wenn man grade nach den Versetzungszensuren Geburtstag hat,« ließ sich Freundin Ilse ebenfalls seufzend vernehmen. Kindergesellschaft mit Knallbonbonmützen – nein, es war nicht auszudenken, wenn daraus nichts werden sollte!

»Ich finde es fein, daß Annemarie immer in den Ferien Geburtstag hat. Wir andern haben ja bloß einen halben Tag Geburtstag, weil wir vormittags in die Schule müssen.« Margot war stets eine eifrige Bewunderin von Annemarie. Sie fand alles schön, was diese hatte oder tat.

Aber ob Fräulein Neudorf nach den heutigen Erfahrungen Annemaries Betragen noch als ein lobenswertes beurteilen würde, das erschien selbst Margot bei all ihrer Bewunderung für die Freundin recht zweifelhaft.

Die nächste Stunde war Handarbeitsunterricht bei Fräulein Hering. Die Häkeltücher, die man in der achten Klasse fabrizierte, wurden zum Schluß mit roten Rändchen versehen. Nun waren sie fertig, noch ehe das Klassenjahr um war. Eine jede hatte die Arbeit fein säuberlich vor sich ausgebreitet. Aber fein säuberlich war dieselbe nicht überall ausgefallen. Fräulein Hering, die von Bank zu Bank schritt, mußte oftmals den Kopf schütteln.

»Hilde, dein Tuch sieht ja wie ein Scheuerlappen aus – ei, Elli, hast du Kohlen darin eingewickelt, daß deine Arbeit so schwarze Flecke hat? Und hier Ilses sogar mit einem Tintenfleck garniert – da waren gewiß die Hände nicht vor der Stunde gewaschen.« Ilschen Hermann wurde so rot wie die beiden Haarschleifen, die an jeder Seite über ihren Ohren baumelten. Sie war ein kleiner Schmierhammel und wurde auch zu Hause öfters deswegen gescholten.

Zuletzt kam Fräulein zu den beiden Ersten. Blütenweiß lag Margot Thielens Häkelei, in ein sauberes Tuch geschlagen, vor ihr auf dem Tisch. Margot war in allem ein peinlich ordentliches und gewissenhaftes Kind. Dies konnte man von ihrer Freundin Annemarie nun grade nicht sagen. Die ließ ihre Sachen öfters mal herumliegen. Das war auch die Ursache, daß ihre Arbeit in der Mitte ein großes Loch aufwies.

»Aber Annemarie, was hast du denn mit deinem Häkeltuch angestellt?« Fräulein Hering, die das hübsche, ausgelassene Dingelchen besonders gern hatte, machte ganz erschreckte Augen.

»Waren da etwa die Motten drin?«

»Nee – bloß Puck!«

»Puck?«

»Na ja, unser kleines weißes Hündchen. Sie haben ihn mal kennen gelernt, Fräulein Hering, damals, als er mir heimlich in die Klasse nachgelaufen ist, und die Kinder noch alle solche mächtige Angst vor ihm hatten.«

Fräulein Hering mußte in Erinnerung an jenen tollen Vormittag, an dem ein Hund zu ihren Schülern gehört hatte, lachen. Und da hatte Annemarie mal wieder gewonnenes Spiel bei ihr.

»Euer Puck hat doch aber das Tuch nicht zu häkeln, sondern du,« sagte das nette Fräulein schon wieder scherzhaft.

»Ich hatte es rumliegen lassen, und da hat er ein Loch reingebissen,« gestand Annemarie errötend mit der ihr eigenen Ehrlichkeit zu.

War Fräulein Hering ärgerlich? Die Kleine blinzelte durch die langen Wimpern unsicher zu ihr hin. Nein, Fräulein Hering drohte ihr bloß lächelnd – da war es doch nicht solch arger Unglückstag heute, wie sie schon gefürchtet. Wenigstens ihre Lieblingslehrerin war ihr nicht allzu böse.

Als Fräulein Hering den Kindern nun noch eröffnete, daß jedes in der nächsten Handarbeitsstunde seine Puppe mitbringen dürfe, für die sie ein Kleidchen oder eine Schürze nähen wollten, da es nicht mehr lohne, vor den Ferien eine neue Arbeit zu beginnen, war wieder eitel Sonnenschein bei Annemarie.

Auf dem Heimweg von der Schule, den sie stets mit Freundin Margot, die in demselben Hause mit ihr wohnte, zurücklegte, wurde eifrig beraten, welche Puppe der Ehre teilhaftig werden sollte, mit in die Schule zu kommen.

»Ich bringe mein Baby mit, das muß neue Windelhöschen kriegen,« überlegte Margot.

Annemarie war noch nicht ganz im reinen mit sich, welche von ihren sieben Puppen die Glückliche sein sollte. Ihr Liebling war Puppe Gerda. Aber der waren neulich die Schlafaugen in den Kopf hineingerutscht. Als zwei schwarze Löcher gähnten die Augenhöhlen sie an, Annemarie graulte sich heimlich davor. Unmöglich konnte sie die blinde Gerda Fräulein Hering vorführen. Und auch die anderen Puppen erfreuten sich nicht einer uneingeschränkten Gesundheit. Ja, sie waren sogar ziemlich verwahrlost, denn eigentlich beschäftigte sich Annemarie nur noch sehr wenig mit ihnen. Ihre Märchen- und Geschichtenbücher waren ihr viel wichtiger als die Puppen. Nur wenn Margot, die ein eifriges Puppenmütterchen war, zu Besuch herüberkam, wurden die armen Vernachlässigten aus ihrem Winkel hervorgeholt.

Die beiden kleinen Freundinnen überschritten, rechts und links nach Wagen und Automobilen Ausschau haltend, den großen Platz mit der schönen Kirche. Erst seit ganz kurzer Zeit holte Fräulein die Annemarie nicht mehr von der Schule ab. Denn die Kleine behauptete, kein »Baby« mehr zu sein und genau so gut wie die andern Kinder den Schulweg allein zurücklegen zu können. Aber Frau Doktor Braun war sehr ängstlich, sie in dem großen Berlin ohne Begleitung gehen zu lassen. Denn sie kannte ihr Töchterchen, das immer andere Gedanken im Kopf hatte. Nur der steten Gesellschaft der zuverlässigen Margot war es zuzuschreiben, daß sich Mutti endlich damit einverstanden erklärt hatte.

Aber die Mutter atmete doch jedesmal auf, wenn mittags das doppelte Klingelzeichen ihres Nesthäkchens ertönte. Auch heute erstrahlte ihr Gesicht, als Annemaries helle Stimme schon draußen vom Treppenflur durch die Wohnung schallte.

»Mutti zu Haus?« keins der Braunschen Kinder erschien des Mittags ohne diese Frage. Sie war ihnen wichtiger als das Gutentagsagen. Selbst der große Hans, der schon nach Untersekunda kam, mußte seine Schulerlebnisse gleich bei Mutti auskramen.

»Hanne, was gibt's denn heute zum Mittagbrot – ich muß noch 'ne große Stulle essen, sonst verhungere ich.« Vorbei ging's an der Küche und wie ein Wirbelwind ins Wohnzimmer.

»Tag, Mutti, wir sollen das nächstemal eine Puppe in Handarbeit mitbringen, wir dürfen für sie nähen. Und Fräulein Hering war gar nicht doll böse auf Puck, daß er das Loch in meine Häkelarbeit gebissen und – – –«

»Langsam – langsam, Kind,« unterbrach die Mutter das sich überstürzende Töchterchen. Ihr Blick umfaßte liebevoll ihr blühendes Nesthäkchen mit der schiefen Matrosenmütze und den verwehten Locken. »So, meine Lotte« – »Lotte« war von jeher der von den Eltern gebrauchte Kosename für die Kleine – »nun erzähle mal der Reihe nach. Was ist in der Schule vorgefallen. Also zuerst im Rechnen?«

Rechnen – eine höchst fatale Frage! Annemarie begann mit ihren Zöpfchen zu spielen, sie zuckte die Schultern und machte möglichst gleichmütig »Och«. Dann aber behielt die Aufrichtigkeit die Oberhand über die unangenehmen Empfindungen, welche Mutters Frage in Annemarie auslöste. Denn welches ehrliche Kind vermag etwas zu verschweigen, wenn das Mutterauge so klar in seiner Seele liest?

»Wir haben Klassenarbeit geschrieben – drei Fehler habe ich – aber Hilde Rabe hat neun, und Ruth sechs, und Erna Ruft hat nicht eine Aufgabe richtig,« zählte sie ein wenig befangen auf.

»Und wer hat null Fehler?«

O weh, das waren eine ganze Menge, die Annemarie da nennen mußte.

»Da hast du doch bestimmt deine Gedanken wiedermal nicht beisammen gehabt, Annemie. Die Aufgaben kannst du, das weiß ich. Nun wirst du dich sicher zu Ostern von deinem ersten Platz trennen müssen.«

»Och, das schadet nichts,« meinte Annemarie, obgleich es ihr sehr nahe ging, daß sie nicht mehr die Erste sein sollte. »Klaus sagt, Erster sein ist nicht schön, da kann man nicht mehr rauf kommen, bloß immer runter – – –«

»Ich wurde mir lieber an Hans ein Beispiel nehmen, anstatt an Klaus. Der hat doch sein Lebtag noch nicht Erster gesessen – und was ist sonst noch passiert?«

»Eigentlich gar nichts« – Annemarie überlegte angestrengt. Nein, passiert war doch wirklich weiter nichts, denn den Tadel hatte sie doch noch nicht bekommen. Aber – ach was, wenn man so recht von Herzen vergnügt sein will, muß man alles von der Seele herunter haben – also!

»Fräulein Neudorf hätte mir beinah einen Tadel gegeben – aber nur beinah', Muttichen,« bekräftigte Annemarie schnell noch einmal, da sie sah, daß Mutters stets so freundliches Gesicht sehr ernst wurde.

»Was soll denn das heißen, Annemarie?«

»Na ja, erst wollte sie, weil sie glaubte, ich hätte Margot gefragt, was bei der einen Aufgabe rauskommt. Und nachher hat sie sich zum Glück noch besonnen, und ganz nachher war sie überhaupt nicht mehr böse,« sprudelte Annemarie ziemlich unklar heraus.

»Geh' in dein Zimmer und ziehe dich aus, Annemarie. Du hast mir heute wenig Freude gemacht.« Mutti schaute traurig aus.

Das Töchterchen sah unbehaglich zu ihr hin.

»Wenn Fräulein Neudorf nicht mehr böse war, brauchst du es doch auch nicht zu sein, Mutti – und – und – das nächstemal passe ich gewiß wieder besser auf!« Die Matrosenmütze rutschte noch schiefer, denn die Kleine hatte den Blondkopf in jäher Aufwallung an Muttis Wange gepreßt.

Konnte Frau Doktor Braun da ihrem Nesthäkchen noch zürnen? Sie machte sich aus der sie zerquetschenden Umarmung los, gab der kleinen Sünderin einen liebevollen Klaps und sagte: »Na lauf, Lotte, und bessere dich!«

Hurra – Mutti hatte wieder »Lotte« gesagt! Mit einem Freudengeheul, dem sich sofort ein Jammergeheul des zu Muttis Füßen liegenden Puck anschloß, den sie in glückseliger Unachtsamkeit aufs Pfötchen getreten, verschwand Annemarie im Kinderzimmer.

Die Mütze flog aufs Bett, der Mantel auf den Tisch, die Mappe in den Puppenwagen und die Handschuhe auf die Erde.

»Tag, geliebtes Fräulein,« mitten hinein in den großen Berg Ausbesserwäsche, in dem Fräulein wie zwischen weißen Wolken thronte, wirbelte Annemarie.

»Aber Annemarie, du kleiner Liederjahn – jeden Tag muß ich dich erst daran erinnern, daß man seine Sachen ordentlich forträumt –«

»Geliebtes, goldenes Fräulein, bloß keine Strafpredigt mehr, ich habe mein reichliches Teil heute schon weg.« Ehe Fräulein noch des näheren auf den heiklen Punkt eingehen konnte, war das quecksilbrige Ding schon wieder davon. Draußen in der Küche biß es mit Riesenappetit in das leckere Brot, das Hanne inzwischen für »ihr Kind« bereitet. Denn Annemarie war, obgleich sie nun schon zehn Jahre alt wurde, als Nesthäkchen noch immer der Verzug vom ganzen Haus.

Nanu – und der, welcher sein Herzblatt am meisten vergötterte, der Vater, wollte heute gar nichts von ihr wissen?

»Drei Schritte vom Leibe, Lotte – potztausend, ich sage dir doch, du sollst nicht an mich herankommen!« so rief er ihr aufgebracht zu.

Annemarie, die dem aus der Praxis heimkehrenden Vater wie immer an den Hals geflogen war, machte ein höchst bestürztes Gesicht. Warum war denn Vater so ärgerlich auf sie? Hatte sie seinen Anzug mit ihren Butterbrothänden fettig gemacht? Das Töchterchen schob beleidigt die Unterlippe vor, das tat sie noch immer, trotzdem sie schon ein großes Mädchen war. Vater aber ging in sein Zimmer und kleidete sich um.

Bei Tisch war das Plappermäulchen so einsilbig, daß es den Brüdern auffiel.

»Was ausgefressen, Annemie?« fragte Hans, der ältere, mitleidig.

»Ih wo!« Annemarie sah unsicher zum Vater hin. Sie wußte wirklich nicht, was sie verbrochen.

»Du hast gewiß 'nen Tadel bekommen,« rief Klaus, denn darin hatte er reiche Erfahrung.

»Ih wo!« machte die jüngere Schwester wieder, aber das klang nicht ganz so bestimmt wie vorher. Diesmal ging ihr Blick unsicher zur Mutter hin.

Nach der Mahlzeit packte Vater sein beleidigtes Nesthäkchen bei den winzigen Rattenschwänzchen.

»Du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen, meine Lotte, daß ich dich vorhin angefahren habe. Ich kam von Scharlachkindern, da hatte ich Angst, daß du dich anstecken könntest, wenn du so dicht an mich herankommst.«

Seine Lotte lachte bereits wieder über das ganze Gesicht. Wenn Vater nicht ärgerlich auf sie war, ach, dann war ja alles gut! Dann ließ sie sich sogar gern ein bißchen von ihm anfahren.

»Und weißt du, Vatchen,« beruhigte sie ihn zärtlich, »du brauchst gar keine Angst zu haben. Ich bekomme bestimmt nicht Scharlach, denn ich habe ja erst die Masern gehabt.«

2. Kapitel. In Vaters Klinik

Eine Woche war es nur noch bis zu den Osterzensuren. Man sprach jetzt in der Schule eigentlich von nichts anderem mehr. Höchstens in der achten Klasse. Da war der bevorstehende Geburtstag von Annemarie Braun, und wen sie wohl zu ihrer Kindergesellschaft einladen würde, beinahe ebenso wichtig wie die Versetzung. Denn Annemarie war allgemein beliebt in der Klasse, und außerdem erschien es einer jeden als höchstes Ziel, bei der Ersten eingeladen zu werden. Wenn Annemarie auch meistens nur auf dem ersten Platz Gastrollen gab. Durch ihre guten Fähigkeiten überflügelte sie ihre Mitschülerinnen, doch ihr übermütiges und unachtsames Wesen ließ sie den Ehrenplatz nie lange behaupten.

Aber die Kindergesellschaft durfte nur stattfinden, wenn Annemarie »lobenswert« im Betragen bekam. Mutti hatte es ausdrücklich ihrem Nesthäkchen eröffnet. Annemarie hoffte, daß Fräulein Neudorf den Radau neulich vor der Rechenstunde vergessen haben würde – und mit ihr hofften es all ihre Freundinnen.

Überhaupt irgendwelche Sorgen pflegte sich der lustige Wildfang nie lange zu machen. Wie kam es dann nur, daß Annemarie jetzt gar nicht so ausgelassen sein konnte wie sonst? Daß sie unlustig zur Arbeit wie zum Spielen war, daß sie sich sogar mit dem Lieblingsbruder Hans nicht vertrug und losheulte, wenn man sie bloß schief ansah? Grade ihr liebenswürdiges Wesen gewann ihr doch sonst alle Herzen. Auch mit Freundin Margot hätte es sicherlich Streit gegeben, wenn diese nicht solch ein sanftes Kind gewesen wäre.

Nicht einmal die Handarbeitsstunde, in der Puppenkleider genäht wurden, und auf die sie sich so gefreut hatte, machte ihr Spaß. Auf ihrem ersten Platz saß Annemarie und hatte vor sich den wunderschönen hellblauen Puppenlappen, den sie Mutti abgebettelt, ausgebreitet. Ihre Negerpuppe Lolo, die sie nach der Schule begleitet hatte, grinste vor Freude über das neue Sonntagskleidchen, das sie bekommen sollte.

Es war ein drolliges Bild, wie die kleinen Schulmädel voll Eifer ihren Puppenkindern nach Fräulein Herings Angaben Maß nahmen. Jeder Schülerin sah man die Freude an der hübschen Beschäftigung an.

Nur Annmaries Gesicht schaute unlustig drein. Anstatt die Schulterbreite von Lolo zu messen, stützte sie ihren Blondkopf in die Hand. Wie der brannte und schmerzte! Und die Augenlider waren ihr so schwer, daß sie dieselben am liebsten geschlossen hätte.

Aber nein, sie wollte doch ihre Lieblingslehrerin nicht ärgern. Mit Anstrengung riß die Kleine die drückenden Blauaugen wieder auf.

Nanu, was fiel denn Puppe Lolo ein? Die steckte ihr ja ganz weit die rote Zunge, die sonst hinter den weißen Porzellanzähnchen kaum sichtbar war, heraus. Ja, war das denn überhaupt noch die Lolo? War das denn nicht der große braune Affe, den sie neulich im Zoologischen Garten gesehen? Jetzt fletschte er sogar noch die Zähne und - ein lauter Aufschrei gellte von Annemaries Lippen durch die achte Klasse.

Die neben ihr sitzende Margot packte die Freundin erschreckt beim Arm - wie konnte die Annmarie nur so ungezogen sein und mitten in der Stunde losschreien!

Aller Augen wandten sich halb lachend, halb erstaunt der Ersten zu - was die Annemarie Braun doch immer für Ulk machte!

Fräulein Hering aber trat kopfschüttelnd zur ersten Bank. Bei all ihrer Zuneigung für das reizende Mädchen, das durfte sie doch nicht durchgehen lassen.

»Annemarie, ist dir was?«fragte sie.

»Nein - ich weiß nicht - mein Kopf tut so doll weh - und - und ich graule mich so vor der Puppe.« Annemarie begann zu weinen, während die Klasse über das große dumme Mädel laut zu lachen begann.

Fräulein Hering gebot Ruhe und fühlte Annemaries Stirn.

»Genau wie Mutti« dachte Annemarie und schloß beruhigt die Augen. Mutti war bei ihr – sicher – wer konnte denn sonst so zärtlich über ihre Locken streichen? Ach, wenn Mutti bei ihr war, dann war ja alles gut.

»Du hast Fieber, mein Kind,« hörte sie jemand sagen. Doch das war nicht Muttis Stimme, nein, das war ja die von Fräulein Hering. Wie aus weiter Ferne klang sie an Annemaries Ohr. »Du mußt nach Haus gehen, mein Herzchen, aber ich wage nicht, dich allein zu schicken, da dir nicht gut zumute ist. Ich werde dich nach der Stunde selbst heimbringen.«

Es war zweifelhaft, ob das fiebernde Kind die freundlichen Worte begriffen hatte. Es hatte den Kopf auf den Schultisch gelegt, grade auf den hellblauen Puppenlappen. Die Mienen der anderen Kinder zeigten Bestürzung und Teilnahme; während die schwarze Lolo ein wütendes Gesicht machte, weil sie das schöne blaue Kleid nicht bekam.

Als die Schulglocke schrill durch alle Klassen gellte, fuhr Annemarie aus dem Halbschlaf, der sie umfangen, wieder weinend empor. Aber die gütigen Worte ihrer Lieblingslehrerin beruhigten sie. Fräulein Hering setzte Annemarie eigenhändig die Mütze auf die Locken und zog ihr den Mantel an. Vorsorglich schlug sie ihr den Kragen desselben hoch, damit sich das Kind, dessen Backen glühten, nicht noch draußen in der scharfen Märzluft erkälte. Margot schnallte ihr mit mitleidigen Augen die Mappe auf, und gab ihr Lolo in den Arm.

Da aber begann Annemarie wieder zu schreien. Das schwarze Negergesicht der Puppe flößte ihr Grauen ein. Fräulein Hering nahm die Puppe selbst. Mit dem anderen Arm umschlang sie die erkrankte Annemarie. Aber so liebevoll die Lehrerin sie auch stützte, die Kleine vermochte kaum zu gehen. Die Beine waren ihr so schwer, als ob tausend Gewichte daran hingen. Nur mit Mühe kamen sie die breiten Steintreppen hinab.

Der Schuldiener mußte ein Auto holen. Unter neidischen Kinderblicken nahm Annemarie mit der allgemein beliebten Lehrerin darin Platz.

Ach – Annemarie war nicht beneidenswert. In ihren Schläfen hämmerte und pochte es, der Kopf, den sie an Fräulein Herings Schulter lehnte, zersprang ihr fast vor Schmerzen. Das Töffen und Rattern des Autos, das ihr immer solchen Spaß gemacht, verursachte ihr geradezu eine körperliche Pein. Und die Fahrt, sonst für Annemarie der Gipfelpunkt aller Wünsche, ließ sie ganz gleichgültig. In wenigen Minuten hielt das Auto vor dem hohen Haus, in dem Doktor Braun wohnte.

Der Hausmeister stand im Vorgärtchen und beschnitt die Sträucher. Als er sah, daß die Dame sich vergeblich mühte, die Kleine von Doktors aus dem Wagen zu heben, sprang er herzu und trug Annemarie auf seinen Armen die Treppe hinauf. Denn selbst der Hausmeister hatte das freundliche Kind in sein Herz geschlossen.

O weh – was bekam Frau Doktor Braun für einen Schreck, als ihr Nesthäkchen ihr so nach Hause gebracht wurde. Nachdem sich Fräulein Hering mit den besten Wünschen für die kleine Patientin, die Fräulein inzwischen zu Bett gebracht hatte, empfohlen, legte die Mutter als tüchtige Doktorfrau sofort das Thermometer ein. Das schnellte fast bis vierzig Grad empor.

Um Himmelswillen – was war mit dem Kinde? So hoch hatte Annemarie noch nie gefiebert. Die geängstigte Mutter eilte ans Telephon, ihren Mann aus seiner Klinik herbeizurufen.

Bald stand Doktor Braun an dem Bett seines Kindes und untersuchte es eingehend. Zuerst erkannte es den Vater gar nicht, sondern hielt ihn für den Hausmeister. Aber als der Vater ihr seine kühle Hand auf die brennende Stirn legte und zärtlich sagte: »Meine dumme, kleine Lotte, das war nicht nötig gewesen!« da schlug Annemarie die Augen auf und sah den Vater mit unklarem Blick an.

»Mir tut mein Hals so doll weh!« wimmerte sie. Dann verschwommen Vaters blonder Bart mit dem Kornblumenmuster der Tapete – Annemarie tauchte wieder unter in die Welt der Fieberträume.

Sie hörte nicht die ernsten Worte, die der Vater zu der vor Aufregung blassen Mutter sprach: »Unsere Lotte ist sehr krank – sie hat Scharlach. Der Körper zeigt bereits die kennzeichnenden Flecke. Es ist unmöglich, daß wir das Kind im Hause behalten. Erstens der beiden Jungen wegen, und zweitens wegen der Ansteckungsgefahr für meine in die Sprechstunde kommenden Patienten. Ich muß das Kind, so schwer es mir wird, aus dem Hause geben und nach meiner Klinik bringen lassen.«

Da aber begann Frau Doktor Braun zu jammern: »Was, mein Nesthäkchen, meine Lotte soll ich fortgeben, wenn sie so krank ist – nein, Edmund, das bringe ich nicht übers Herz. Ich trenne mich nicht von meinem Kinde, dann siedele ich mit ihr in die Klinik über.«

»Daran habe ich auch gedacht, Elsbeth. Aber du bist dann für viele Wochen von unserm Hause und den Jungen vollständig getrennt. Annemarie bedarf deiner nicht, ich würde ihre Pflege Schwester Elfriede übergeben. Besser als bei der kann sie selbst bei der eigenen Mutter nicht aufgehoben sein. Und denke nur, wie Klaus in deiner Abwesenheit verwildern würde, vor Fräulein hat der Schlingel wenig Respekt. Und ich selbst bin doch nur während der Mahlzeiten und der Sprechstunden zu Hause. Ich komme ja täglich zweimal in die Klinik und sehe nach dem Kinde. Mit Gottes Hilfe bringe ich dir unsere Lotte ganz gesund wieder heim.« So überzeugungsvoll klang es aus dem Munde des Arztes, daß seine Frau sich schweren Herzens in das Unvermeidliche fügte.

Annemarie ahnte nichts von dem, was über ihre nächste Zukunft bestimmt wurde. Sie hörte nicht, daß Vater telephonisch einen Krankenwagen bestellte. Unruhig wälzte sie sich in ihren Kissen umher, stöhnte und wimmerte von Zeit zu Zeit. Auch als Vater sie, in Decken und Kissen verpackt, aus ihrem Kinderzimmer trug, um sie in den unten bereitstehenden Krankenwagen zu bringen, schlug sie die Augen nicht auf.

Mit tränenverschleierten Blicken sah Mutti ihr Nesthäkchen, von dem sie sich kaum jemals im Leben getrennt hatte, an sich vorübertragen. Ihre Hände falteten sich in Herzensangst, und ein inbrünstiges Gebet stieg aus gepreßtem Mutterherzen zum Allvater empor: »Lieber Gott, erhalte sie mir, – gib mir meine Lotte gesund wieder!«

Fräulein, das gute Gesicht selbst von Tränen benetzt, stützte Frau Doktor Braun. Ihr war es nicht viel leichter ums Herz als der Mutter, hatte sie doch Annemarie von klein auf unter ihrer treuen Obhut gehabt. Wie gern wäre sie mit in die Klinik gegangen und hätte die kleine Kranke gepflegt. Aber Doktor Braun meinte, eine Berufspflegerin sei besser am Platz.

Durch die Türspalte lugten Hans und Klaus mit erregten, ängstlichen Gesichtern. Köchin Hanne aber, die schon seit Annemaries Geburt im Hause war, schluchzte zum Gotterbarmen, daß man ihnen ihr Kind fortnahm. Auch Puck, das kleine Zwerghündchen, Annemaries lustiger Gespiele, empfand die Schwere der Stunde. Er lief bis zum ersten Treppenabsatz hinter seinem Herrn her und kroch dann leise winselnd zurück zu Frau Doktor, der er tröstend die Hand leckte.

»Selbst das unvernünftige Vieh weint um unser Kind!« schluchzte Hanne und wischte sich das nasse breite Gesicht mit dem blauen Schürzenzipfel.

Gerade als Annemarie in den Wagen mit dem roten Kreuz gebettet wurde, kam Margot Thielen aus der Schule. Mit entsetzten Augen sah sie den Menschenauflauf, der sich neugierig vor dem Haus zusammengefunden. Brachte man da die Annemie nicht fort? O Gott – so schlimm stand es also mit ihr?

Tage vergingen, ohne daß die kleine Patientin das Bewußtsein wieder erlangte. Immer sorgenvoller wurden Doktor Brauns Mienen, wenn er aus dem großen Krankensaal in das Privatzimmer seiner Klinik schritt, in das er sein Töchterchen gelegt. Kaum vermochte er seiner armen Frau, die voll Bangen auf seine Berichte wartete, Trost und Zuversicht zu spenden. Sollte er mit all seiner ärztlichen Kunst und Sorgfalt, die schon so vielen geholfen, nicht auch seinen Liebling erhalten können?