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Die bekannte Kinderbuchreihe 'Nesthäkchen' von Else Ury. Annemarie Braun, genant Nesthäkchen, ist ein pfiffiges, aufgewecktes und durchaus nicht immer braves Mädchen. Die Reihe erzählt von Nesthäkchens Streichen, von schönen und auch traurigen Erlebnissen. Band 4: Nesthäkchen und der Weltkrieg Als Nesthäkchen aus dem Kinderheim zurückkehrt, ist der Vater im Feldlazarett und die Mutter in England und wird verhaftet. Nesthäkchen, die nun nur noch die Großmutter hat, muss lernen, was Verzicht und Armut bedeutet. Der vierte Band der Nesthäkchen-Reihe ist der einzige, der nach 1945 zunächst keine Neuauflage fand und landete auf der Zensurliste wegen seines überzogenen Patriotismus. Dennoch liefert es ein authentisches Zeitzeugnis.
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Seitenzahl: 276
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Nesthäkchen und der Weltkrieg
Nesthäkchen Band 4
© 1917 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Über die Autorin
Glutheiß war es auf dem Balkon. Trotzdem derselbe auf der Schattenseite lag, fühlte man die sengende Hitze, mit der die Augustsonne die Straßen Berlins einheizte, selbst hier oben.
Ein alter Frauenkopf mit silbernem Scheitel und ein goldblonder Kinderkopf neigten sich über graue Strickarbeit. Emsig klapperten die Nadeln in den Händen der alten Dame, während die Kinderfinger nur widerwillig die dicke Wollarbeit förderten. Immer langsamer bewegten sich die braungebrannten kleinen Hände, und schließlich schleuderte Annemarie den kaum begonnenen Pulswärmer mit jähem Entschluss auf den Steinboden.
»Puh – ich ersticke!« Das seegebräunte runde Kindergesicht, das sich luftschnappend in die Höhe hob, sah nicht weniger rot aus als das feuerrote Musselinkleid, welches das elfjährige Mädchen trug. »Liebstes, einziges Großmuttchen, was sollen denn bloß unsere Soldaten bei dieser dollen Bärenhitze mit den dicken Pulswärmern? Ich glaube, ich kann meine Strickarbeit ruhig bis zum Winter verschieben.« Das kleine Mädchen ließ die Tat dem Wort auf dem Fuß folgen. Ohne sich darum zu kümmern, daß Puck, das kleine weiße Zwerghündchen, an der auf dem Boden liegenden Wollarbeit zu zerren und zu beißen begann, sah sie untätig den lustigen Rauchwölkchen nach, die aus den Schornsteinen Berlins zu dem fahlen Augusthimmel emporwirbelten.
»Herzchen, wenn wir erst zum Winter die Finger zu regen beginnen, müssen unsere armen Truppen in dem kalten Russland frieren. Jetzt heißt es fleißig sein, solange wir noch Sommer haben, damit bis zum Winter alles fertig ist.« Schneller ließen Großmamas Finger die Stricknadeln klappern, als gelte es, gleich ein ganzes Regiment gegen russische Kälte zu vermummen.
»Aber mir ist doch so doll heiß!« Das Enkelchen warf die frischen Lippen unmutig auf. »Ich muß mich überhaupt erst wieder an die olle Berliner Luft gewöhnen. Wenn man ein ganzes Jahr lang an der Nordsee gewesen ist, wo immer frischer Seewind geweht hat, dann drückt die Stadtluft auf den Kopf, hat Vater gesagt.«
»Nun höre mal, mein Herzchen«, Großmamas gütiges Gesicht wandte sich liebevoll dem hübschen Blondkopf zu. »Glaubst du, daß unsere braven Feldgrauen, die täglich mit Jubel und Begeisterung in den Krieg hinausziehen, nicht auch durch die Augusthitze leiden? Hast du nicht ihren schweren Ranzen gesehen, und meinst du, daß der Helm nicht mehr auf den Kopf drückt als die Großstadtluft? Und doch singen und jubeln die Braven, trotzdem die tagelange Fahrt in den engen, glühenden Eisenbahnwaggons zum Kriegsschauplatz gewiß keine Annehmlichkeit ist. Du hast es ja mit eigenen Augen gesehen, Herzchen, als wir Sonntag Abend dem Vater das Geleit zum Bahnhof gaben. Wollen wir Daheimgebliebenen uns von unfern tapferen Kriegern beschämen lassen? Sollten wir nicht auch etwas Unbequemlichkeiten für sie, die ihr Leben für uns hingeben wollen, in den Kauf nehmen und jedes Opfer für sie bringen?« Großmamas liebe, klare Augen sahen ernsthaft in die strahlenden Blauaugen des kleinen Mädchens.
Das mußte den Blick beschämt senken.
»Wenn ich groß wäre, würde ich bestimmt auch Opfer für unser Vaterland bringen«, meinte Annemarie schließlich ungewöhnlich nachdenklich. »Dann würde ich Schwester werden und die Verwundeten pflegen wie Tante Lenchen. Ach, Großmuttchen, wäre das schön! Denk' mal, dann hätte ich mich nicht gleich wieder von Vati, den ich doch ein ganzes Jahr lang nicht gesehen habe, trennen müssen! Mit ihm wäre ich zusammen in den Krieg gezogen – au, fein wäre das!« Die strahlenden Augen der Kleinen blitzten unternehmungslustig.
»Es ist nicht nötig, mein liebes Kind, daß man groß ist und Großes leistet in dieser gewaltigen Zeit der Erhebung Deutschlands. Auch die Kinder können im kleinen Opfer bringen und ihr Scherflein dazu steuern. Nichts ist zu gering, auch das winzigste Steinchen, das man zu dem großen Bau der Kriegsarbeit beiträgt, ist von Wert.« Sprechend wanderte Großmamas Blick zu dem zu Boden geschleuderten Pulswärmer, mit dem sich Puck sachverständig beschäftigte.
Annemarie bückte sich schnell und entriß ihrem vierfüßigen Freund das verhedderte Strickzeug.
»Wenn ich doch wenigstens ein Junge wäre, dann könnte ich ganz anders helfen als hier bloß bei der dummen Strickerei. Wie gut hat's Hans als Pfadfinder! Der kann den ganzen Tag auf dem Bahnhof sein und die durchziehenden Soldaten verpflegen. Das ist tausendmal lustiger, als sich mit den mopsigen Pulswärmern quälen.« Vergeblich bemühte sich die Kleine, wieder Ordnung in die von Puck herabgezerrten Maschen zu bringen.
Großmama mußte sich erbarmen.
»Ich glaube nicht, daß der Hans gar so leichte Arbeit bei seinem Bahnhofsdienst in diesen heißen Augusttagen hat. Müde und erhitzt genug kommt er des Abends heim. Und was das Lustige anbelangt, Herzchen, gerade etwas, was uns schwer fällt, hat doppelten Wert. Unser eigenes kleines Ich und all unsere persönlichen Wünsche müssen wir jetzt hintenan setzen, nur an das Wohl unseres Vaterlandes und seiner braven Verteidiger dürfen wir denken. Sonst ist es kein richtiges Opfer.«
Großmama seufzte unhörbar. Ja, sie selbst hatte all ihr Wünschen in diesen ersten schweren Augusttagen unterdrücken gelernt. Beide Schwiegersöhne hatte sie ins Feld ziehen lassen müssen. Den einen, der Landwirt in Schlesien war, als Reserveoffizier gen Osten und Annemaries Vater, Doktor Braun, als Stabsarzt nach Frankreich zu. Die Sorge um die ins Feld Ziehenden, die teilte sie mit Tausenden von deutschen Müttern, aber eine andere, größere bedrückte Großmamas Herz.
Was war das Schicksal ihrer Tochter Elsbeth, der Mutter Annemaries?
Seitdem nicht nur Frankreich, sondern auch England in schnödester Weise sich zu Deutschlands Feinden geschlagen, hatte die alte Dame keine ruhige Minute mehr. Annemaries Mutter befand sich gerade bei Ausbruch des Krieges zu Besuch bei Verwandten in England. Würde es ihr möglich sein, unbehindert heimzukehren? Oder würde man sie dort als Deutsche festhalten? Das Kind, Doktors Nesthäkchen, ahnte zum Glück nichts von Großmamas Angst und Aufregung. Das stürzte bei jedem Klingelzeichen zur Tür, in der Hoffnung, die Mutter käme zurück. Oder doch wenigstens eine Nachricht von ihr.
Aber auch diese Sorge um die Tochter stellte die alte Dame großherzig den allgemeinen Sorgen um das bedrohte Vaterland hintenan. Ringsum neidische Feinde, wie sollte sich Deutschland bei aller Tapferkeit und Begeisterung da wohl behaupten? Masche um Masche glitt von einer Nadel zur anderen, Gedanke auf Gedanke glitt durch den alten Kopf.
Auch durch den jungen Kopf der kleinen Enkelin zuckten und sprangen die Gedanken, wenn sie auch weniger ernster Natur waren, als dies bei Großmama der Fall war.
Nur schwer fand sich Doktors Nesthäkchen jetzt in diesem Wirrwarr der Geschehnisse zurecht. Es war ja alles so schnell gegangen. Die Flucht aus dem Nordseebad Wittdün, wo sie ein ganzes Jahr im Kinderheim nach überstandener Krankheit zugebracht. Der jähe Wechsel zwischen der Stille des Seebades und dem lauten Kriegstumult in Berlin. Das Wiedersehen nach dem langen Trennungsjahr mit dem geliebten Vater, das nur wenige Stunden währte. Dann winkte er in feldgrauer Uniform seinem Nesthäkchen die letzten Grüße aus dem vollgepfropften Truppenzuge zu, der ein Scherzschild trug: »Durchgehender Wagen nach Paris.«
Auch zu Hause war alles jetzt so ganz anders. Weder Vater noch Mutter daheim, an denen die Kleine mit der ganzen Zärtlichkeit ihres Herzens hing. Oft lief Annemarie zu Muttis Fensterplatz, wie sie das früher stets getan, um ihr ganz etwas Wichtiges mitzuteilen. Aber der war leer. Oder sie glaubte, wenn draußen die Eingangstür ging, Vater käme aus der Praxis heim und wollte ihm wie sonst entgegenspringen.
Brachte sie dem Vaterland denn nicht schon genug Opfer, daß sie ihre Eltern solange entbehren mußte?
Wohl war die gute Großmama zu den drei augenblicklich elternlosen Kindern gezogen und versorgte sie getreulich. Allzu sehr fanden die Enkel. Denn die durch die Kriegserklärung erregte alte Dame behielt sie, besonders die beiden jüngsten, Klaus und Annemarie, am liebsten an ihrer Seite. Bei dem wilden Strick Klaus gelang ihr das nur selten, der entwischte einfach der großmütterlichen Aufsicht. Nesthäkchen aber gab sich alle Mühe, der lieben Großmama, die an Ruhe gewöhnt war, ihr Amt nicht noch zu erschweren. Trotzdem dem kleinen Mädchen das durchaus nicht leicht wurde. Denn Annemarie war durch das Jahr an der Nordsee gewöhnt, sich frei in Garten, Strand und Heide umherzutummeln.
Auch von dem Wiederbeisammensein mit den älteren Brüdern, das sie herbeigesehnt, war sie recht enttäuscht. Ihr Lieblingsbruder Hans, der Obersekundaner, war als Pfadfinder ständig unterwegs im Dienst des Vaterlandes. Der hatte jetzt Wichtigeres zu tun, als sich mit seinem kleinen Schwesterchen zu beschäftigen. Und Klaus glänzte ebenfalls oft durch Abwesenheit. Der trieb sich allenthalben herum, wo Truppen ins Feld zogen, wo neue Kriegsdepeschen erschienen, und wo es einen Menschenauflauf gab. Großmama hätte den Schlingel am liebsten wie Puck an die Leine genommen.
Da blieb außer der Großmama nur noch Hanne, die Köchin, zur Gesellschaft für Nesthäkchen, das im Kinderheim stets mit munteren Altersgenossen zusammen gewesen, übrig. Die alte Köchin aber war ganz kopflos durch den Krieg geworden. Die redete von nichts anderem als von den Russen und von Hungersnot.
Wenn bloß erst Margot Thielen, ihre beste Schulfreundin, wieder daheim wäre! Dieselbe wohnte in demselben Hause wie Doktors Nesthäkchen. Von der zehnten Klasse an hatten sie getreulich zusammengehalten. Aber die Fenstervorhänge waren drüben noch immer fest geschlossen: soviel Annemarie auch hinüberäugte, sie wollten sich nicht heben. Wahrscheinlich waren Thielens durch die Militärzüge an der Heimreise von ihrem Ferienaufenthalt behindert worden. Aber zum Schulanfang würde sich Margot, die eine fleißige Schülerin war, doch sicher wieder einstellen. Annemarie sehnte deshalb den Beginn der Schule herbei, trotzdem sie Ferien sonst eigentlich mindestens so gern hatte. Auch auf die übrigen Schulfreundinnen, die sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen, freute sie sich. Großmama hatte im Namen des Vaters an den Direktor geschrieben und Annemarie für die sechste Klasse wieder angemeldet.
Das Strickzeug in den kleinen Händen klebte, so fest preßte sie es zwischen die Finger. Zehn ganze Minuten hatte sie nun schon emsig hintereinander gestrickt, und doch wollte der Pulswärmer gar nicht wachsen. Annemarie warf einen verzweifelten Blick zu der Turmuhr, die sie von ihrem Balkon aus erkennen konnte. Noch fast eine halbe Stunde bis zum Kaffeetrinken. Gerechter Strohsack – konnten die Soldaten wirklich ein solches Opfer von ihr verlangen? Kam denn gar nichts, was sie von dem langweiligen Strickzeug erlöste?
Großmama war in ihrem Korbsessel wohl durch die Hitze ein wenig eingenickt. Sie opferte jetzt sogar ihren Nachmittagsschlaf, um für die Krieger zu arbeiten und gleichzeitig Nesthäkchen zu beaufsichtigen. Na ja, alte Damen stricken eben gern, aber wenn man erst elf Jahre alt ist ...
Ob sie es einfach machen sollte wie Klaus, und sich heimlich davonschleichen?
Ach nee, nee – dann ängstigte sich Großmama nachher, glaubte am Ende, sie sei vom Balkon gestürzt. Das wäre eine schlechte Vergeltung für all ihre treue Fürsorge.
Da – horch – Militärmusik – gleichmäßiges Klappen vieler Füße auf dem Straßenpflaster. Hui – flog das Strickzeug in die Ecke und Nesthäkchen an die Balkonbrüstung.
Aber auch Großmama war emporgeflogen, jäh aus ihrem Nickerchen aufgeschreckt. Jetzt stand sie hinter der Kleinen und hielt das sich weit über das Gitter lehnende Kind angstvoll am Schürzenbande fest.
Mit »Gloria-Viktoria«, mit Schingderassa und Schnetteretteng marschierten wieder neue Regimenter blumengeschmückt dem unweit gelegenen Bahnhofe zu. Ihnen zur Seite Frauen und Kinder, die den Söhnen, Männern und Vätern das Geleit gaben. Früh und spät erschallte jetzt der Sang ausrückender Truppen durch die sonst so stille Straße. Er bildete Nesthäkchens schönste Abwechslung.
Auf einen Schlag waren alle Balkone belebt. Aus allen Fenstern lugten Köpfe, Hände und Tücher winkten den Ausziehenden ein Lebewohl zu.
Auch Nesthäkchen wedelte mit ihrem rotgerandeten Tüchlein, was das Zeug hielt – Großmama mußte sich entsetzlich aufregen. Wie leicht konnte das Kind dabei hinunterstürzen! Aber das kümmerte Annemarie nicht. Alle Langeweile war verflogen. Von den Pelargonien und Petunien des Balkons riß sie sämtliche Blüten, welche die Augustsonne noch hervorgelockt, zu Großmamas Entsetzen ab, und streute sie auf die lachend heraufwinkenden Feldgrauen.
»Kind – Kind – die schönen Blumentöpfe zerstörst du«, vorwurfsvoll gebot Großmama Einhalt.
»Für unsere Krieger müssen wir Daheimbleibenden Opfer bringen«, meinte die Kleine eifrig mit denselben Worten, welche die alte Dame vor kurzem ihr selbst ans Herz gelegt hatte.
Da mußte Großmama über das drollige Mädel lächeln. Doch das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen – »mein Tuch – mein Taschentuch – – –« bei einem Haar wäre Nesthäkchen ihrem davonflatternden Tüchlein hinterdrein auf die Straße gestürzt.
»Ich bin gleich wieder oben«, ehe Großmama den Wildfang zurückhalten konnte, war er schon die Treppen hinunter.
Einer der Feldgrauen hatte das rotrandige Tüchlein lachend auf sein Gewehr gespießt, wie eine Fahne wehte es.
Annemarie, die in Wittdün stets ohne Hut und Mantel auf die Straße gegangen, lief auch hier in Berlin, wie sie ging und stand, hinter ihrem flatternden Taschentuch her. Es war schwer, sich bei der Musik verständlich zu machen, oder wollte der Soldat aus Scherz ihre Bitte um das Tuch nicht verstehen? Ausgelassen marschierte sie neben dem »Fahnenträger« her und fiel mit heller Stimme in den Soldatensang ein:
»Die Vöglein im Walde,
Die singen so wunder–wunderschön,
In der Heimat, in der Heimat,
Da gibt's ein Wiedersehn.«
Herzklopfend sah Großmama den winzigen roten Punkt unter all dem Staubgrau sich weiter und weiter entfernen. Du Grundgütiger, kam denn das Kind nicht wieder?
Da endlich am Ende der langen Straße, ehe die graue Menschenschlange um die Ecke bog, erhielt Nesthäkchen ihr Eigentum zurück. In großen Sätzen sprang es wieder dem elterlichen Hause zu.
So – das war eine Aufmunterung zur rechten Zeit gewesen. Ordentlich erfrischt fühlte sich Annemarie nach dem kleinen Ausflug.
Großmama war anderer Ansicht.
»Kind – Kind – wie habe ich mich wieder um dich gebangt – und dann ohne Hut, mit der Schürze bist du auf die Straße gelaufen, das tut ein wohlerzogenes kleines Mädchen doch nicht.« Die gute Großmama pflegte niemals böse auf ihren Liebling zu sein, um so mehr Eindruck machten heute ihre Worte.
»Ach Großmuttchen, wenn du dich immerzu um uns sorgst, wirst du ja deines Lebens gar nicht froh hier bei uns. Vielleicht kannst du dich lieber immer erst hinterher ängstigen, weil du es doch so oft umsonst tust«, schlug die Kleine teilnehmend vor.
Dann aber griff sie von selbst wieder nach ihrem Strickzeug. Die Krieger, die so freudig in den Kampf hinauszogen, sollten nicht frieren. Vielleicht bekam gerade der nette Soldat, der ihr das Taschentuch wiedergegeben, die Pulswärmer. Nesthäkchen quälte sich mit dem dicken Wollzeug, daß Schweißtropfen auf die gebräunte Kinderstirn traten. Es sah nicht auf, bis Hanne mit der Kaffeekanne erschien und Großmama ihr liebkosend über das Blondhaar fuhr: »So, für heute wollen wir es genug sein lassen, Herzchen.«
»Hurra – für heute habe ich genug Opfer gebracht!« Nesthäkchen jubelte so laut los, daß ein kecker Spatz, der sich bis auf die Balkonbrüstung gewagt hatte, erschreckt aufflatterte.
Hanne, die treue Alte, die Doktors Nesthäkchen schon auf den Armen getragen, war ganz aus dem Häuschen durch die Kriegsaufregung und die vielen Reden ihrer Freunde, des Grünkramhändlers, Milchmanns und Portiers. Sie wußte gar nicht mehr, was sie tat.
Auch heute legte sie Großmama neben die Kaffeekanne zu Nesthäkchens heimlichem Entzücken die silberne Suppenkelle hin.
»Ei, Hanne, soll ich den Kaffee mit der Kelle austeilen«, Großmama lachte mit ihrem Enkelchen um die Wette.
»Nein, wir sollen sie gewiß als Kaffeelöffel benutzen und den Zucker in der Tasse damit umrühren«, rief Annemarie übermütig.
»Nee, diese Russen, die machen mich doch reine varrickt«, Hanne griff kopfschüttelnd nach dem etwas groß geratenen Kaffeelöffel.
»Na, warten Sie nur, Hanne, wenn die Russen erst vor Berlin stehen, dann wird's noch ganz anders sein«, neckte Nesthäkchen. Es kannte die Russenfurcht der treuen Seele.
Die war denn auch gleich Feuer und Flamme.
»Um Jottes willen, tu dir nich versündigen, Kindchen. Bis vor Küstrin sollen ja schon die Kosaken streifen, hat der Portier, der heut mit sein Rejiment fortjemacht is, jesagt. Und der Milchmann hat heut morjen janz deutlich Kanonendonner jehört. Und was der Jrünkramfritze von nebenan is, der meint, kommen tun se sicher, die Russen, indem daß wir nämlich zu ville Feinde haben. Mit eenen werden wa woll fertig, aber nich mit det viertel Dutzend!« Hanne reckte ihre dicken, roten Arme, als sei ihr die schwere Aufgabe zugefallen, ganz allein Deutschland gegen all seine Feinde zu verteidigen.
»Na, beruhigen Sie sich nur, Hanne«, Großmama, die sich vor kurzem selbst deshalb Sorgen gemacht, schaute jetzt belustigt drein. »Unsere tapferen Feldgrauen werden uns schon vor russischem Besuch zu schützen wissen. Auf sie müssen wir vertrauen in dieser schweren Zeit. Vor allem aber auf den Helfer da droben!«
»Jotte doch, ja – wenn man der Herr Doktor und unsere jnädige Frau zu Hause wären, denn wär' mich auch lang' nich so miesepetrig zumut. Aber so auseinanderjerissen, wie man nu is, da fiehlt man natierlich die Verantwortung für die janze Familie. Denn Jroßmamachen ist doch auch jrade kein Jüngling nich mehr. Und man is doch nu schon über zehn Jahr im Haus.«
»Ja, ja, Hanne, wir wissen ja, daß Sie's gut meinen.« Großmama, die schon selbst besorgt genug war, mochte sich ihr gemütliches Kaffeestündchen nicht verstören lassen.
Aber Hannes Mundwerk war mit Ausbruch des Krieges ebenfalls mobil gemacht, wenn sie jetzt anfing zu reden, hörte sie so schnell nicht auf.
»Ja, und was ich noch sagen wollte, die Leute reden ja alle, es jibt sicher 'ne Hungersnot. Wie wild kaufen se ein. Was der Kaufmann von de Ecke is, hat zumachen müssen, weil se ihm seinen Laden geradezu jestürmt haben. Ich hab' auch 'n bisken was mitjebracht, man kann ja nie wissen, wie's kommt. Nudeln und saure Heringe und 'n scheenen Spickaal und Schokoladenpulver. Denn mir hat letzte Nacht jeträumt – – –«
Hanne sollte ihren Traum nicht mehr zum besten geben können, denn lachend fiel Nesthäkchen ihr ins Wort: »Au, wenn's Hungersnot gibt, dann stippen wir die Nudeln in die saure Heringssoße, und den Spickaal essen wir mit Schokoladenspeise!«
»Ach, Annemiechen, du bist noch ville zu jung, um den Ernst der Zeit zu bejreifen«, Hanne machte Miene, sich wieder an die alte Dame zu wenden, bei der sie mehr Verständnis zu finden hoffte.
Aber auch Großmama hatte vorläufig genug. »Bitte, rufen Sie Klaus zum Kaffee, Hanne, und sehen Sie zu, ob Herr Hans schon zurück ist.« Damit war die Unterhaltung fürs erste abgebrochen.
»Der Herr Hans ist noch nich wieder da, und auch unser Klaus is fortjejangen«, kam die Köchin nach kurzem wieder zurück.
»Klaus auch fort?« trotzdem Großmama in den fünf Tagen, in denen sie Doktor Brauns Sprösslinge bemutterte, nun schon daran gewöhnt sein mußte, daß Klaus öfters von der Bildfläche verschwand, erschrak sie stets aufs neue. »Ich dachte, er liest in seinem Zimmer. Wo mag der Junge nun bloß wieder stecken?« Es war doch nicht so einfach, mit den wilden Enkelkindern fertig zu werden. Großmama war an beschauliche Ruhe gewöhnt.
Annemarie rührte in ihrem Kakao herum und kämpfte mit sich. Sie wußte ganz genau, wo Bruder Klaus steckte, denn Annemarie war von jeher seine Vertraute. Unter die Linden war er mit ein paar Freunden gegangen, weil da am meisten los war. Ob sie nicht verpflichtet war, Großmama, die sich sicherlich Gedanken über sein Ausbleiben machte, zu beruhigen? Aber petzen wollte sie doch auch nicht – was machte sie bloß?
»Extrablatt – Extrablatt – großer Sieg – Festung Lüttich im Sturm genommen« – mitten in Nesthäkchens Überlegung hinein erklang es von der Straße herauf.
Dort hatte sich eine Menschenmenge um den Verteiler der Freudenbotschaft versammelt. Man riß dem Mann die Blätter aus den Händen – der erste große Sieg!
Jubelnd teilte es einer dem andern mit.
»Wenige Tage nach der Kriegserklärung schon solch ein Schritt vorwärts! Da sieht man es doch, daß Gott mit unserer gerechten Sache ist!« Dankbar faltete Großmama die Hände.
Nesthäkchen aber brannte der Boden förmlich unter den Füßen. Ach, jetzt auch da unten sein zu können in dem Freudentumult.
Da entdeckten Annemaries scharfe Augen mitten in dem schwarzen, ständig wachsenden Menschenknäuel einen ihr bekannten braunen Krauskopf über einem blauweißgestreiften Matrosenanzug.
»Da ist Kläuschen, sieh nur, Großmama – er hilft Extrablätter verteilen – ach, laß mich auch – bitte, bitte, Großmamachen!«
Wie der Wind war die Kleine wieder davon, bevor Großmama noch Einspruch erheben konnte. Aus dem dichtesten Gewühl leuchtete bald das rote Musselinkleid zu der kopfschüttelnden, über ihre Brille hinweg herabäugenden alten Dame hinauf.
Doktors Nesthäkchen beteiligte sich jubelnd ebenfalls an dem Verteilen der ersten Siegesbotschaft. Bis zum Platz gab es gemeinsam mit der Berliner Straßenjugend dem Ausrufer das Geleit. Mit Klaus um die Wette schrie es: »Extrablatt – Extrablatt – großer Sieg bei Lüttich!«
Mit brennenden Wangen und leuchtenden Augen, jedes eins der Blätter zur Großmama hinaufschwenkend, so kehrten die beiden Ausreißer schließlich wieder zurück.
Großmama wußte nicht, sollte sie schelten oder sich über die Siegesnachricht freuen. Schließlich tat sie alles beides.
An dem Dickschädel von Klaus prallten Vorhaltungen meist ab, Nesthäkchen aber stand ganz bestürzt da.
Nun hatte die liebe Großmama schon wieder Grund, ärgerlich zu sein. Und sie hatte sich doch erst vor kurzem so fest vorgenommen, Großmuttchen nicht wieder zu beunruhigen. Ja, Annemaries schlechtes Gedächtnis, das machte ihr öfters einen Strich durch die Rechnung. Nur an dem lag es, wenn Nesthäkchen öfters mal Schelte erhielt. Denn ihre Vornahmen waren wirklich immer die besten. Auch im Kinderheim war es ihr oft so ergangen.
Beide Arme schlang Annemarie um Großmamas Hals.
»Nicht böse sein, liebstes, bestes Großmuttchen. Ganz Deutschland freut sich doch heute über den ersten Sieg! Da darfst du nicht schelten. Und es war doch auch fürs Vaterland, daß ich die Extrablätter verteilen half«, so bettelte die kleine Schmeichelkatze. Konnte die alte Dame da noch länger zürnen? Man brauchte nicht mal eine Großmama zu sein, um Nesthäkchens bittenden Blauaugen nicht widerstehen zu können.
»Ich alte Frau bin viel zu schwach für euch wilde Gesellschaft«, meinte sie schließlich. »Es bedarf jüngerer Kräfte, um euch Banditen im Zaum zu halten. Ich möchte am Ende an euer früheres Fräulein schreiben, ob es nicht wieder zu euch kommen will – denn wer weiß, wann Muttchen heimkehren wird!« Das letzte wurde von einem schweren Seufzer begleitet.
»Au ja, mein geliebtes, goldenes Fräulein!« Annemaries Augen glänzten. Ihr Fräulein hatte das kleine Mädchen die vielen Jahre, wo es im Hause bei Doktor Braun war, geradezu vergöttert. Tränen waren geflossen, als Fräulein zu Ihrer Mutter heimging, da Annemarie auf ein Jahr an die Nordsee kam. Und nun sollte sie wieder zurückkehren – die Aussicht war zu herrlich!
Klaus konnte seine Freude mehr beherrschen. Ihm erschien es weniger verlockend, noch einen mehr zum Aufpassen im Hause zu haben. Fräulein würde ihn sicher in seiner Freiheit beschränken, sie hatte den Strick immer ziemlich kurz gehalten.
»Ich finde dich noch gar nicht so alt, Großmama«, meinte er deshalb voll Ritterlichkeit. »Unser Direktor im Gymnasium ist bestimmt noch älter als du, der hat nicht nur weiße Haare, sondern sogar schon einen weißen Bart. Und der wird doch mit all den vielen Jungs, die noch viel ungezogener sind als ich, fertig.« Viel ungezogener als er konnten seine Schulkameraden nun schwerlich sein, denn er leistete darin durchaus Anerkennenswertes.
Großmama schien auch nicht recht überzeugt.
»Und denn überhaupt – Mutti wird doch bestimmt bald nach Hause kommen. Was soll sie denn bloß bei den ollen Engländern, die sich so gemein gegen uns benommen haben, so lange!« bot der Tertianer weiter seine Überredungskunst auf.
»Da ist Mutti schon – bestimmt, das ist sie!« wie stets, wenn es klingelte, stürzte Nesthäkchen auch jetzt beim Anschlagen der Glocke erwartungsvoll zur Tür hinaus.
Aber enttäuscht kehrte die Kleine zurück.
Wieder umsonst – wieder nicht die sehnlichst erwartete Mutter! Nur Bruder Hans war es, der erhitzt vom Bahnhofsdienst heimkehrte.
Heute schien der Obersekundaner gar nicht angestrengt, trotzdem er seit dem frühen Morgen am Schlesischen Bahnhof Körbe mit Tassen, Kannen mit Kaffee und große Platten belegter Brote an die durchfahrenden Truppenzüge hatte heranschleppen helfen.
»Famoser Sieg – ja, wenn wir Deutschen erst mal loshauen – Tag, Großmama – na, Kleinchen, wie geht's?« Der Gruß mußte heute hinter der Siegesfreude hinterherhinken
»Bist du sehr müde, mein Jungchen?« Die gute Großmama machte dem Enkel bereits ein Glas Limonade zur Erfrischung zurecht.
»Nee, gar nicht – fein war's heute! Du, Klaus, da hättest du dabei sein müssen! Denk' mal, wir Pfadfinder bringen nachmittags Stullen an einen Zug, der aus lauter offenen, mit Girlanden geschmückten Viehwagen besteht. Und weil die Feldgrauen sich manchmal genieren, ordentlich zuzugreifen, reden wir ihnen tüchtig zu. Und besonders einer, der wollte durchaus nichts mehr nehmen und versicherte mir immer wieder lachend, sein Soldatenmagen könne beim besten Willen nicht mehr vertragen. Aber ich ließ nicht locker, bis er mir schließlich doch 'ne Wurschtstulle abnahm. Da pufft mich einer von den Pfadfindern in den Rücken. »Mensch,« flüsterte er mir zu, »weißte denn nicht, wer das ist?« – »Nee,« sage ich. »Das ist doch Prinz Joachim!« Wahr – und wahrhaftig, er war's! Mitten im Viehwagen unter all den Mannschaften wie ihresgleichen. War ich stolz, daß er gerade meine Wurschtstulle aß. Und als der Zug weiterfuhr, da hat er mir noch mal zugewinkt.«
Hans wirbelte vor Freude das Schwesterchen auf dem engen Balkon herum. Aber nicht Annemarie verging dabei Hören und Sehen, sondern der Großmama.
Klaus aber riß dem Bruder fast vor Aufregung einen Jackenknopf ab, an den er ihn krampfhaft festhielt, um immer mehr von dem wunderbaren Ereignis zu erfahren.
»Ein richtiger Prinz – morgen geh' ich aber bestimmt auch nach dem Schlesischen Bahnhof. Vielleicht kann ich ebenfalls dort helfen – unser Kaiser hat ja viele Söhne, am Ende kommt morgen wieder ein Prinz durch«, rief er mit blitzenden Augen.
»Jawoll, die Prinzen wimmeln da nicht so herum, so'n Glück wie ich haben nur Sonntagskinder! Und du wirst überhaupt nicht zum Helfen zugelassen, mein Söhnchen, du bist ja kein Pfadfinder.« Hans warf sich mächtig in die Brust.
»Schadet nichts, ich gehe doch hin – kommst du mit, Annemarie?«
»Na und ob!« Nesthäkchens Blauaugen blitzten nicht weniger als die braunen von Klaus.
»Ausgeschlossen, ihr bleibt alle beide hier!« unterbrach Großmama das Pläneschmieden der zwei. »Das fehlte noch gerade, daß ich euch in diesem Menschengewühl auf dem Bahnhof wüßte, unter all den Lokomotiven, wo ich schon so keine ruhige Minute habe, wenn ihr nicht bei mir seid.«
Nesthäkchen ergab sich schweren Herzens in ihr Schicksal, während der Nichtsnutz Klaus eifrig überlegte, wie er wohl trotz des Verbotes am nächsten Tage der großmütterlichen Aufsicht am besten entwischen könnte.
Am Abend, als Großmama ihre Enkelkinder endlich sicher in den Betten wußte, atmete sie erleichtert auf. Ganz zerschlagen von all der Unruhe und Aufregung saß sie am Schreibtisch und schrieb an Fräulein. Denn sie allein war der schweren Aufgabe, die durch den Krieg aus Rand und Band gekommenen Sprösslinge ihrer Tochter zu beaufsichtigen, nicht mehr gewachsen.
Nesthäkchen aber lag im Bett und betete aus Herzensgrund: »Lieber Gott, laß doch meine liebe Mutti bald wieder nach Berlin kommen, aber nicht die ollen Russen. Und beschütz' doch auch meinen Vater im Krieg. Und auch Onkel Heinrich und all die anderen Soldaten. Und schick' uns doch wieder solchen feinen Sieg wie heute, ja? Bitte, hilf uns Deutschen doch, lieber Gott.«
Da aber fiel Nesthäkchen plötzlich ein, daß vielleicht zur gleichen Stunde französische oder englische Kinder den lieben Gott ebenfalls um seine Hilfe anflehten. Darum setzte es schnell noch hinzu: »Und wenn du uns nicht helfen willst, dann hilf, bitte, den andern doch auch nicht – bleibe wenigstens neutral, lieber Gott. – Amen!«
Endlich waren die Fenstervorhänge drüben bei Thielens in die Höhe gegangen. Ein brauner Mädchenkopf erschien am gegenüberliegenden Kinderstubenfenster und nickte strahlend einen Gruß zu Doktor Brauns herüber.
»Komm auf den Balkon, Margot, da können wir besser miteinander reden«, schrie Annemarie, glückselig, die Freundin wieder zu haben, durch die hohl an den Mund gelegten Hände.
Und dann standen die beiden Freundinnen auf den aneinandergrenzenden Balkonen, die durch eine mannshohe Wand getrennt waren. Unter bunten Winden und Petunien reichten sie sich nach der langen Trennung endlich wieder die Hände herüber.
»Tag, Margotchen, ich glaube, ich bin jetzt größer als du, meine Zöpfe sind bestimmt länger. Bist du immer noch die Erste in der Schule? Und glaubst du, daß die Russen nach Berlin kommen werden? Unsere Hanne sagt es. Mein Vater ist mit im Krieg, in Frankreich ist er, deiner auch? Und Großmama ist jetzt bei uns, und übermorgen kommt mein altes Fräulein wieder.« Das Plappermäulchen ließ die Freundin überhaupt nicht zu Wort kommen.
Kaum konnte Margot ›Ja, mein Papa ist auch im Feld, er hat sich als Freiwilliger gemeldet, und meine Mama und ich, wir haben so geweint, als er fortfuhr‹, einwerfen.
»Meine Mutti ist doch aber in England, bei unsern Feinden, etsch!« übertrumpfte sie Doktors Nesthäkchen.
»Ach, Annemarie, und da freust du dich so?« warf die verständigere Freundin erstaunt ein.
»Na, sie kommt ja bald wieder, vielleicht schon heute oder spätestens morgen«, meinte Annemarie mit der glücklichen Sorglosigkeit der Jugend.
»Hast du mich auch nicht im Kinderheim vergessen, Annemarie, du hast mir so selten geschrieben«, fragte Margot, die ein stilles, tief angelegtes Kind war.
»I, nicht die Bohne! Ich habe zwar da 'ne andere beste Freundin gehabt, die Gerda Eberhard aus Breslau. Aber nun bist du wieder meine allerbeste, Margotchen – ach, ich möchte dir so schrecklich gern einen Kuss geben!« Vergeblich versuchte der Blondkopf zwischen den blauen Petunien dem braunen Kinderkopf, der aus bunten Winden heraussah, nahe zu kommen. Die abscheuliche Trennungswand sprang zu weit vor.
»Warte, Margotchen, ich komm' zu dir hinüber, einen Kuss müssen wir uns doch wenigstens geben, wenn wir uns über ein Jahr nicht gesehen haben!«
»Ja, schön – ich mache dir die Tür auf. Aber es sieht noch ziemlich liederlich bei uns aus, weil unser Gepäck eben erst gekommen ist und gerade ausgepackt wird.«
»Macht nichts, ich komm' gar nicht erst in das Zimmer.«
»Ja, wie willst du denn da zu mir, draußen auf der Treppe ist es doch ungemütlich?« verwunderte sich Margot.
Aber ihre Verwunderung sollte sich noch steigern.
Nachdem es von drüben geheimnisvoll erklungen war: »Du wirst schon sehen – gleich bin ich da!« hörte man ein merkwürdiges Rutschen auf den Steinfliesen des Nachbarbalkons. Ehe Margot recht wußte, was los war, tauchte über der Trennungswand ein lachender Blondkopf auf. Die wilde Hummel hatte sich den Tisch an die Wand gerückt, war hinaufgeklettert und mit dem Berliner Gassenhauer: »Siehste woll, da kimmt er – lange Schritte nimmt er«, ließ sie sich jenseits der Wand auf den Thielenschen Balkon heruntergleiten.
»Fein, was?« Doktors Nesthäkchen fiel der vor Bewunderung erstarrten Freundin um den Hals. Und dann saßen sie, nachdem sie sich zu allererst selbst und dann ihre Zöpfe gegenseitig gemessen, innig umschlungen zusammen auf einem Stuhl und holten nach Möglichkeit das verlorene Jahr in der Unterhaltung nach. Alles kunterbunt durcheinander.
»Denk' mal, meine Puppe Gerda ist bei der Flucht aus Wittdün in der Nordsee ersoffen – habt ihr noch bei Fräulein Hering Stunde? Marlene Ulrich ist nicht mehr Erste? Ist die immer noch mit Ilse Hermann so befreundet? Und ist die Hilde Rabe noch so frech?« Margot konnte gar nicht so schnell antworten, wie Annemarie fragte.
Da, mitten hinein in das lebhafte Mädchengeplauder hörte man Großmamas Stimme von nebenan: »Annemiechen – Herzchen – komm, wir wollen spazieren gehen. Herrgott – wo ist denn das Kind nun schon wieder hin? Ich habe doch im Nebenzimmer gesessen, es ist bestimmt nicht durchgegangen. Barmherziger Himmel – da wird doch nichts passiert sein?!« Großmama hielt schon wieder ängstlich auf der Straße Umschau, ob der Wildfang auch nicht hinuntergestürzt sei.
Nesthäkchen aber saß hinter der bergenden Wand und kicherte heimlich wie ein Kobold. Nein, war die Sache ulkig!
»Annemie – Annemie – –« Großmamas Stimme klang noch ängstlicher als zuvor.
»Du mußt dich melden«, flüsterte Margot, die ein sehr braves Mädel war, ihr zu.
Da bequemte sich der kleine Übermut endlich zur Rückreise. Natürlich wieder auf demselben Wege. Der Stuhl mußte diesmal den Tisch vertreten. Als Großmama aufs neue ihre Rufe erschallen ließ: »Annemiechen – Herzchen, wo bist du bloß?« erklang es ausgelassen dicht über ihr: »Hier hängt se!« und hast du nicht gesehen, kam es im hellblauen Leinenkleid über die Balkonwand herabgerutscht, gerade zu Füßen der entsetzt die Hände zusammenschlagenden alten Dame.
»Aber Annemie – wie kannst du bloß so wild sein – du bist doch kein Junge – hast du dir auch nicht weh getan, Kind?« fragte Großmama eifrig, ganz glücklich, ihr Enkeltöchterchen wieder gesund vor sich zu sehen.
»Nee, gar nicht, bloß – – –« Nesthäkchen begann plötzlich zu weinen.
Das beunruhigte Großmama natürlich noch viel mehr. Sie forschte und befühlte das Enkelchen von allen Seiten: »Wo tut's denn weh – wo? Sag doch! Wollen wird zum Arzt schicken?«
»Nee – aber zum Schneider!« Unter Tränen schon wieder lachend, wies Nesthäkchen auf ein großes Dreieck in ihrem hübschen Sommerkleid. Das war ein Reiseandenken, das sie sich mitgebracht.
»Siehst du, Annemie, das kommt davon, wenn man so unmädchenhaft ist. Nun wird es zu spät zum Spazierengehen, wenn du dich erst umkleiden mußt.«
So zog das erste Wiedersehen der beiden Freundinnen betrübende Folgen nach sich. Annemarie aber nahm sich vor, nie wieder unmädchenhaft zu sein. Wie lange würde sie wohl daran denken?
Am nächsten Tage begann die Schule.