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Die bekannte Kinderbuchreihe 'Nesthäkchen' von Else Ury. Annemarie Braun, genannt Nesthäkchen, ist ein pfiffiges, aufgewecktes und durchaus nicht immer braves Mädchen. Die Reihe erzählt von Nesthäkchens Streichen, von schönen und auch traurigen Erlebnissen. Band 7: Nesthäkchen und ihre Küken Nesthäkchen ist mittlerweile mit Doktor Hartenstein verheiratet. Das junge Paar hat sich in Berlin Lichterfelde niedergelassen und kümmert sich liebevoll um den Nachwuchs: den frechen Hans, die sittsame Vronli und das neue Nesthäkchen Ursel.
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Seitenzahl: 281
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Nesthäkchen und ihre Küken
Nesthäkchen Band 7
© 1923 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Nachwort
Über die Autorin
Mutterli – is heut' übemoggen? Muttißen, Muttißen, farhum wortest du mir dar niß an? Liebes, jüßes, einjes Muttißen, släffte noch? Slaf doch niß immer los!«
Eine Kinderstimme trompetete es in den zärtlichsten Tönen aus der nebenan gelegenen Kinderstube mit so kräftigen Lungen, daß man Tote damit hätte erwecken können.
»Bschscht – Hansi, sei brav. Unser Mutterli ist halt noch arg müd. Leg' dich um, und schlaf noch a bissel«, beruhigte der Vater, der bereits mit der Morgentoilette beschäftigt war, seinen Sprössling.
»Wenn iß doch aber ßon danz doll ausdeslaft bin«, begehrte der dreijährige Hansi auf. »Weißte, Vaterli, was Muttißen is? Ne olle Slafmütze!«
»Mutti ist eine Schlafmütze – hahaha – Mutti, kriegt der Hansi dafür Haue? Soll ich ihn vielleicht verwichsen, wenn du noch zu müde dazu bist?« meldete sich Vronli, die sechsjährige Große, diensteifrig aus dem zweiten weißen Gitterbett in der Kinderstube.
»Untersteh' dich, Vronli, schon in der Früh mit dem Buben zu raufen – gebt Ruh, ihr Banditen. Klein-Ursel habt ihr jetzt halt auch mit eurem Trompeten aus dem Schlaf geweckt.«
Klein-Ursel, die ihr Bettchen im Schlafzimmer bei den Eltern hatte, meldete sich bereits.
»Mutti – meme – Lein-Usche Mutti Bett – – –«
Das reizende zweijährige Blondköpfchen lugte angestrengt zu dem Bett der Mutter herüber, wo sich noch immer nichts regte. Frau Annemarie brachte das Kunststück fertig, inmitten des Kindertumults sanft weiter zu schlummern.
Aber Annemaries Nesthäkchen war viel zu sehr ihre Tochter, um sich dabei zu beruhigen. Wie es einst Doktor Brauns Nesthäkchen getrieben, so machte es jetzt auch ihr eigenes.
»Mu–u–u–ti–i– i! Mu–u–u–ti– ii! Lein-Usche meme Bett –«. Klein-Ursels Stimme erklang jetzt in befehlendem Fortissimo. Und als auch das noch nichts verschlagen wollte, ging es zu einem gellenden Jammerruf über: »Mu–u–u–«, weiter kam das Kleinchen nicht.
»Mutterli – Mutti – Muttißen – –«, den vereinigten Anstrengungen ihres Trios hielt selbst Annemaries gesunder Schlaf nicht stand.
»Gören, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen, in aller Herrgottsfrühe schon solch ein Konzert zu veranstalten.« Halb lachend, halb ärgerlich klang es. »Hu–a–uh – –.« Annemarie gähnte herzbrechend.
»Da hast du den Schreihals, Mutterli – –.« Doktor Hartenstein ergriff sein brüllendes Nesthäkchen, ließ es ein-, zwei-, dreimal durch die Luft fliegen wie einen Gummiball, daß sich das Jammern in helles Jauchzen verwandelte, und setzte es mit einem Schwung mitten auf Annemaries Bett.
»Muttißen« – – nein, wer konnte da noch müde sein, wenn solch ein süßer Blondkopf glückselig zu einem herangekrochen kam und beide Ärmchen um Muttis Hals schlang. Wenn ein tränenfeuchtes Gesichtchen sich ganz fest an Muttis Wange schmiegte, wenn Nesthäkchen zärtlich flüstert«: »Lein-Usche Mutti lieb.«
Aber nun hielt es die beiden anderen auch nicht mehr in der Kinderstube. Mit einem Satz war Vronli aus dem Bett und mit einem zweiten in dem von Mutter drin. Hansi, ein kugelrunder Bub, folgte etwas langsamer und unbeholfener. »Guten Morgen, Mutti – backen wir heute Kuchen?« – »Muttißen, is heut übemoggen?«
Annemarie hielt sich lachend die Ohren zu.
»Immer nur einer auf einmal – wem soll ich denn da zuerst antworten? Ja, Vronli, wir backen heute Kuchen, Sandtorte und Napfkuchen. Das heißt, wenn ich dann noch am Leben bin, wenn ihr mich nicht bis dahin erdrückt habt.« Annemarie konnte sich kaum ihrer drei, welche der Freude auf das bevorstehende Kuchenbacken in stürmischer Weise Ausdruck gaben, erwehren.
»Wir helfen, Mutti.« – »Lein-Usche auch Tuchen backen – backe – backe – Tuchen, Bätter hat derufen –.« Das Kleinchen patschte seine rosigen Händchen zusammen.
»Is heut übemoggen, Muttißen?« Hansi, als konsequenter Mann, blieb bei seiner ersten Frage.
»Ja, Hansi, warum soll denn heute übermorgen sein?« fragte Annemarie belustigt.
»Vaterli weiß farhum, niß wahr, Vaterli?« Die beiden Männer, der kleine und der große, blinzelten sich verständnisvoll an.
»Ein Geheimnis vor der Mutti?«
»Heimnis vor Muttißen!« Der kleine Kerl warf sich mit drolliger Wichtigkeit in die Brust.
»Ich weiß, warum heute übermorgen sein soll. Ich kenne Hansis Geheimnis!« schrie Vronli dazwischen. »Vater hat gestern gesagt, übermorgen ist euer Hochzeitstag. Und heute backen wir Kuchen dazu – juchhu!«
»Mutti möchte gern aufstehen, damit Vater noch mit ihr zusammen frühstücken kann, bevor er in die Klinik geht. Aber man kommt ja nicht mal aus seinem eigenen Bett raus vor dieser wilden Horde«, beschwerte sich Annemarie in glückseligem Mutterstolz.
»Ja, solche Gluckhenne hat's nimmer leicht mit ihren Küken«, neckte Rudi. »Ich muß dir halt zu Hilfe eilen, Herzle.« Der Vater packte Hansi rechts, Ursel links und expedierte sie, Vronli vor sich herschiebend, alle miteinander ins Kinderzimmer.
»Ruh ist im Land! Ich fertige inzwischen die Patienten ab, Annemie. In einer halben Stunde dann auf Wiederschaun.«
»Trinke vorher eine Tasse Kaffee, Rudi«, rief Annemarie ihrem Mann fürsorglich nach.
Dann begann auch sie Toilette zu machen.
Ruh ist im Land! Nun, darüber konnte man verschiedener Ansicht sein. Aus dem Kinderzimmer erklang ohrenbetäubender Krach. Hansi hatte den Stiefelknecht erwischt und ging damit auf die Fliegenjagd. Er war gerade ein so wilder Strick, wie es einst sein Onkel Klaus, dem er auch äußerlich recht ähnlich sah, gewesen war.
Klapp – – klapp – – – »Hansi, du wirst noch was entzweischlagen.« Das war Vronli, die stets die Große herausbiß.
Klapp – klapp –. »Au – – Wehweh – – –.« Gellendes Jammergeschrei ließ Annemarie, die gerade dabei war, die Flut ihrer Goldhaare zu bürsten, erschreckt Kamm und Bürste hinwerfen und in die Kinderstube stürzen.
»Was ist denn los, Kinder?«
»Wehweh – Lein-Usche Wehweh«, – bitterlich weinend wies Nesthäkchen der Mutter sein Fingerchen, das mit Hansis Stiefelknecht in unsanfte Berührung gekommen war.
»Mein armes Kleines, komm, Mutti wird heile, heile machen.« Annemarie nahm ihr schreiendes Nesthäkchen auf den Arm und ging mit ihm, das verletzte Fingerchen streichelnd, singend auf und ab:
»Heile, Kätzchen, heile,
Kätzchen hat zwei Beine,
Kätzchen hat einen langen Schwanz,
Morgen ist alles wieder ganz.«
Aber Annemaries oft bewährte Heilmethode in der Kinderstube wollte heute nicht verfangen. Klein-Ursel schrie weiter: »Wehweh!«
»Schäm' dich, Hansi, dem armen Schwesterchen solche Schmerzen zu machen. Du bist ein ganz ungezogener Junge!«
Das hätte Annemarie nicht sagen dürfen. Denn jetzt wurden Hansis Schleusen aufgezogen. Ein Zucken um die Mundwinkel, die Unterlippe schob sich vor, und dann ging's los. Arme Annemarie! Hansi heulte mit Nesthäkchen um die Wette. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr.
»Schscht – Kinder! Es ist Sprechstunde, es sind Patienten da!« Annemaries Mitteilung machte wenig Eindruck. Ursel schrie weiter, während Hansi eine kleine Kunstpause eintreten ließ.
»Darniß wahr. Dleich seh iß nach, ob Pajenten da sind.«
Ehe Annemarie ihn zurückhalten konnte, war das kleine Bürschchen barfüßig, in seinen Nachthöschen, aus dem Zimmer, die Tür sperrangelweit offen lassend. Fünf Sekunden später ward er vom Vater, der seinen weißleinenen Untersuchungskittel trug, höchst energisch wieder zurückbefördert.
»Annemarie, du mußt die Kinder besser beaufsichtigen. Das geht nit, daß der Bub mir in die Sprechstunde 'neinläuft, nachzuschauen, ob noch ›Pajenten‹ da sind.« Rudolf Hartensteins Stimme, die zuerst ärgerlich geklungen, ging schon wieder ins Scherzhafte über.
»Ja, ich kann doch nichts dafür, wenn der Schlingel davonläuft«, begehrte Annemarie auf. Sie war in den sieben Jahren ihrer Ehe durchaus noch kein Lamm geworden. Ungerechtfertigte Vorwürfe konnten Frau Annemarie noch ebenso rebellisch machen, wie das früher bei Doktor Brauns kleinem Nesthäkchen der Fall gewesen war. »Da – der Katzenkopf ist fürs Davonlaufen«, höchst energisch entlud sich Annemaries Unmut in einem mütterlichen Klaps. »Nun plärr' nur nicht noch obendrein, Hansi, – ruhig, Klein-Urselchen, Vater macht nachher einen Verband ums Fingerchen. Wenn ihr jetzt nicht ganz brav seid, darf mir keiner nachher beim Kuchenbacken helfen.«
»Nur ich, Mutterli, ich war brav, gelt?« bettelte Vronli, die bereits selbständig in Höschen und Röckchen schlüpfte.
»Hansi auch brav – – –.«
»Lein-Usche auch – – –.« Plötzlich hatte Annemarie wieder die artigsten Kinder von der Welt und konnte ihre unterbrochene Morgentoilette fortsetzen.
Ein wenig echauffiert schaute ihr Gesicht ihr freilich aus dem Spiegel entgegen. Es war etwas voller geworden in den sieben Jahren ihrer Ehe. Auch Annemaries Figur war nicht ganz so gertenschlank mehr wie einst. Aber die Blauaugen strahlten noch in demselben Glanz, wie früher bei dem kleinen Nesthäkchen. Ja, wenn man genau hinschaute, konnte man sogar all die übermütigen Kobolde, all die lustigen Teufelchen aus der Kinder- und Mädchenzeit noch herauslugen sehen. Es war das Bild einer glücklichen Frau, das der Spiegel zurückwarf.
Annemarie Braun hatte niemals lange in den Spiegel geschaut. Und Annemarie Hartenstein hatte noch viel weniger Zeit dazu. Um acht Uhr war Kaffeestunde, die sie stets gemeinsam mit ihrem Manne genoß, bevor er in den Beruf ging. Bis dahin mußten noch Vronlis hellbraune Zöpfchen geflochten, Hansis dicke Beinchen in die ersten Höschen gesteckt und Klein-Ursel angezogen und mit der »Wawa«, der Milchflasche, versorgt werden. Das junge sechzehnjährige Mädchen, das sich Annemarie hielt, hatte genug mit der Hausarbeit und dem Türöffnen während der Sprechstunde zu tun.
So – ein tiefer Atemzug hob Frau Annemaries Brust. Nun war die kleine Gesellschaft befriedigt. Graue Leinenschürzen vorgebunden, zogen sie mit Eimerchen, Schaufel, Löffel und Formen in das Gärtchen hinaus, zu dem Sandhaufen in der Sonne, um das Kuchenbacken vorerst auf eigene Faust zu versuchen.
Annemarie trat an den Frühstückstisch auf der in den Garten hinausgehenden Veranda. Bei ihrem Nahen hob Doktor Hartenstein den Kopf von der Zeitung und streckte seiner Frau liebevoll die Hand entgegen. Wie sie da in ihrem losen lila Morgengewand, das Blondhaar von dem im Winde wehenden roten Weingerank umrahmt, dastand, gefiel sie ihm fast noch besser, als damals zum Rosenfest in Tübingen als Biedermeierfräulein. Jeden Tag freute er sich neu an ihrer äußerlichen und innerlichen Frische.
»Guten Morgen, du alter Brummbär – na, bittest du wieder mal ab?« neckte Annemarie, ihn auf die Stirn küssend. Nachtragend war Doktors Nesthäkchen niemals gewesen.
»So atig!« behauptete Rudolf in Klein-Ursels Sprache und nahm sich seinen Morgenkuss von Annemaries roten Lippen.
Dann machte sie ihm die Frühstücksbrötchen zurecht, und er tat es umgekehrt für sie. So hatten sie es vom ersten Tage ihrer Ehe gehalten. Und wenn sie wirklich mal miteinander »verknurrt« gewesen waren – bei Annemaries temperamentvollem Zufahren kam sowas ja mal vor –, die gemeinsame Morgenstunde hatte stets wieder alles gut gemacht. Die gehört ihnen beiden ganz allein. Auch später, als es in dem grünen Doktornest lebhafter wurde, als die Küken, eins nach dem andern dort zu piepen begannen –, die gemeinsame Frühstücksstunde blieb unangetastet von Kinderlärm, von großer Wäsche, Reinemachen und Dienstbotensorgen. Selbst die Kleinen wußten, daß sie die Eltern beim Morgenkaffee nicht stören durften. Allenfalls Klein-Ursel, das Nesthäkchen, wagte es ab und zu, den heiligen Bannkreis zu durchbrechen, von einem zum anderen zu tappeln, sich ein Häppchen in das aufgesperrte Schnäbelchen schieben zu lassen und dabei zu versichern: »Lein-Usche niß tören – boß Tüßchen deben.«
Die Morgensonne kannte die zwei ganz genau. So weit sie auch herumkam, so neugierig sie auch in alle Stuben und Kämmerchen spähte – nirgends auf ihrer ganzen Reise fand sie in Augen ein so warmes Leuchten, wie bei diesen beiden da draußen in Lichterfelde. Dabei hatten sie auch ihre Sorgen, ein jedes von ihnen. In der bitterteuren Zeit, die auf den Weltkrieg folgte, war es nicht leicht für einen jungen Arzt, sich einen eigenen Herd zu gründen. Die Praxis wuchs erst allmählich. Seit kurzem war Rudolf Hartenstein Mitchef der Doktor Braunschen Klinik. Annemaries Vater sorgte, soweit es ihm selbst nur möglich war, dafür, daß seine Kinder sich nicht allzu sehr einschränken mußten. Aber Annemarie, die niemals gern gerechnet hatte, saß doch jetzt manchmal mit sorgenvoll gefurchter Stirn vor ihrem Wirtschaftsbuch. Nein, was hatte sie in dieser Woche trotz allen Sparens wieder verbraucht! Ja, das waren Überlegungen, die Doktor Brauns in sorgloser Wohlhabenheit aufgewachsenes Nesthäkchen einst nicht gekannt hatte.
Und trotzdem – trotzdem sie tüchtig mit heran mußte, trotzdem es mit den drei kleinen Kindern genügend Arbeit und Aufregung gab, Annemarie hätte nicht zurücktauschen mögen. Als sie, die Marmeladenschrippe in der Hand – Butter war zu teuer, die mußte man sich abgewöhnen –, als sie so ihren Blick über ihr kleines Reich schweifen ließ, über das weinumrankte, weiße Häuschen, in dem sie sieben glückliche Jahre verlebt – über das Gärtchen, in dem sie mit Rudolf gemeinsam gesät und gepflanzt – von den Blondköpfen der drüben am Staket spielenden Kinder hinweg zu den lieben Zügen ihres Mannes, da kam sie sich so reich wie eine Königin vor.
»Woran denkst, Herzle?« Rudolf war ihren Blicken gefolgt.
»An nichts und an vieles«, lachte Annemarie. »Eigentlich habe ich nur in den schönen Herbstmorgen hinausgedöst. Aber uneigentlich habe ich dabei empfunden, wie gut ich es doch auf der Welt habe.«
»Weil du halt ein zufriedenes, glückliches Temperament hast. Mußt dich doch oft arg plagen, armes Weible!« Rudolfs Hand umfaßte in innigem Druck die auf dem Tisch liegende Rechte Annemaries. Es waren keine zarten Mädchenfinger mehr; man fühlte es der Hand an, daß sie gewöhnt war, zuzupacken. »Ich wollte, ich könnt' dir's im Haushalt erleichtern, Annemie. Aber von Tag zu Tag wird das Leben schwerer.«
»Quälst du dich etwa nicht, Rudi? Von morgens bis abends bist du auf den Beinen. Und nachts holt man dich soundso oft auch noch aus dem Schlaf. Ich wünsche es mir gar nicht leichter, Rudi. Arbeit macht das Leben süß, und – unsere Küken tun das vor allem. Besonders, wenn sie sich so pianissimo verhalten wie augenblick – – –«
Annemarie hatte noch nicht ausgesprochen, als ein Zetermordgeschrei von dem Sandhaufen herüberschallte. In einer Sekunde hatte sich die Situation dort verändert. Statt der artig dort spielenden kleinen Kuchenbäcker standen sich plötzlich drei kleine Raufbolde gegenüber. Das temperamentvollste von ihnen schien Klein-Ursel zu sein. Das warf dem älteren Bruder mit seinem kleinen Löffel Sand ins Kraushaar, in den Hals, ja sogar in die Augen, während dieser sich mit seiner Schaufel energisch zur Wehr setzte. Vronli, die ursprünglich die streitenden Parteien hatte friedlich trennen wollen, ward in den Strudel mithineingerissen und fand es amüsanter, nach links und rechts Püffe und Stöße auszuteilen.
»Lixter Ocke!« Das war Ursels Stimmchen.
»Mutti – Vaterli – Ursel hat ›verflixter Ochse‹ geschimpft«, kam Vronli pflichtschuldigst melden.
»Wo hat das Kind das nur her?« verwunderte sich Rudolf, seine Heiterkeit vergeblich unter Schnurrbartzwirbeln verbergend.
»Von mir nicht – verflixt sage ich ja manchmal, aber Ochse bestimmt nicht«, verteidigte sich Annemarie, die niemals ein ganz reines Gewissen in Bezug auf ihre Ausdrucksweise hatte. Sie wurde meist erst darauf aufmerksam, wenn ihr ein etwas derberes Wort bei den Kindern wieder entgegentrat.
» Qui s'excuse – s'saccuse, Herzle«, lachte ihr Mann sie aus. »Ursele, gleich kommst mal her!« Das sollte ungeheuer streng klingen, aber es zuckte immer noch belustigt um des Vaters Mund.
Klein-Ursel warf den im Händchen bereitgehaltenen Löffel Sand noch flink dem schreienden Hansi an die Nase und kam dann eiligst herbeigetappelt, fast über die eigenen Beinchen stolpernd.
»So atig – Lein-Usche so atig – – –« rief das Kleinchen schon von weitem, da ihm mit Evasschläue nichts Gutes schwante.
»Ja, furchtbar artig bist du! Wir können es mit deiner Artigkeit kaum noch aushalten.« Annemarie nahm ihr zorngerötetes, sandbeschmiertes und verweintes Nesthäkchen auf den Arm.
»Wo hast das häßliche Wort her, Ursele?« examinierte der gestrenge Vater.
Klein-Ursel hatte offenbar keine Ahnung mehr von irgendeinem Wort.
»Wott«, sagte sie nur getreulich nach.
»Laß doch das Kind, Rudi. Es weiß ja gar nicht, was es gesagt hat. Gewiß hat es das Schimpfwort auf der Straße aufgeschnappt. Es vergißt es wieder.«
»Nein, Annemie, das muß man halt mit Stumpf und Stiel sofort ausrotten«, widersprach der Gatte pedantisch. »Schau, wie leicht kann Ursele derartiges zu einem Fremden sagen, und wie stehen wir beid' dann da mit unserer Kindererziehung! Ursele, schau den Vater an. Wer hat Ochse gesagt?«
»Tater«, teilte das Kleinchen freudestrahlend mit.
Annemarie mußte hell auflachen über Ursels Logik.
»Nein, Ursele, der Vater sagt halt so Häßliches nit. Klein-Ursele darf es auch nimmer sagen, sonst ist Vater ganz bös.« Einer von ihnen mußte doch unbedingt die notwendige Elternstrenge zeigen.
»Tater bösch!« Das war alles, was Rudi mit seiner Pädagogik zum heimlichen Gaudium Annemaries bei ihrem Nesthäkchen ausrichtete.
Mit der Morgenfeststunde der beiden war es nun endgültig für heute vorbei. Ein jedes mußte an seine Arbeit.
»Nun seid brav, ihr Streithammele. Ärgert mir's Mutterli nit.« Mit diesen Worten wollte sich Rudi von seiner kleinen Gesellschaft verabschieden. Aber so einfach war das nicht. Ursel und Hansi umklammerten jeder ein Bein des Vaters mit sandigen Händen. Vronli hängte sich an seinen Arm.
»Vater dableiben – dableiben« – – – jeden Morgen spielte sich dasselbe Manöver ab.
»Meine Manschetten, schau, Vronli, du großes Mädle, jetzt hast mir meine reinen Manschetten schwarz gemacht; nun muß ich mich halt noch einmal umziehen.« Der Vater war ungehalten.
Vronli, die erst ihren Mund in viereckige Heulstellung bringen wollte, besann sich auf halbem Wege eines Besseren. »Dann bleibste wenigstens noch da, Vaterli!« Trotzdem Vronli sonst ganz Rudis Tochter war mit ihrem dunkelblonden, glatten Haar, den grauen Augen und dem schmalen, klugen Gesichtchen, das hatte sie von ihrer Mutter: stets noch etwas Gutes an allem herauszufinden.
»Eine arg große Rechnung habe ich erst gestern für Feinwäsche berappen müssen, und nun macht einem das Schmierfinkle gleich ein Paar neue Manschetten zunicht«, räsonierte Rudi beim Anknöpfen, während Annemarie seine Hosenbeine mit einer Bürste bearbeitete.
Ja, die teure Herrenplättwäsche! Frau Annemarie sandte einen Stoßseufzer in die Lüfte. Einmal hatte sie probiert, selbst daran Hand anzulegen. Aber Rudi hatte ihr Kunstwerk mit Protest zurückgewiesen. Die Kragen schlängelten sich wie Regenwürmer, und die Manschetten glichen einer dickgestandenen Mehlsuppe. Nein, daran wagte sie sich nicht wieder.
So – nun konnte Doktor Hartenstein endlich in die Praxis. Am weißen Gartenstaket standen die drei Blondköpfe, schrien aus Leibeskräften: »Auf Wiedersehn – Tiederdehn« – – – und warfen etwas sandige Kusshändchen hinter dem Vater her. Der nickte, bis er um die Ecke bog, zurück. Sein letzter Blick aber galt der blonden Frau, die ihm von der Veranda nachschaute.
Einen Tag wie alle Tage wiederholte sich das. Die Grüße seiner Lieben begleiteten Rudolf Hartenstein aus seinem traulichen Nest hinein in den Lärm des Großstadtgetriebes, zu Krankheit und Elend, die es zu heilen galt, und machten ihn froh für seinen schweren Beruf. – – –
Der alte Junggeselle, der gegenüber mit seiner griesgrämigen Wirtschafterin eine Dreizimmerwohnung innehatte, beobachtete tagtäglich dieses Familienglück da drüben bei Doktors. Er lächelte über die kleinen Blondköpfe, die immer noch »Auf Wiedersehn« schrien, als der Vater schon längst ihren Blicken entschwunden war. Aber es war ein wehmütiges Lächeln.
Die Hartensteinschen Kinder ahnten nicht, daß für den alten Mann da drüben, vor dem sie alle drei Angst hatten – Klein-Ursel bezeichnete ihn sogar als »Bubumann« –, daß für den ihre hellen Kinderstimmen dasselbe waren, wie die goldene Morgensonne, die seine Behausung und sein altes Herz erwärmte, wie das Vogelgezwitscher, das die tiefe Stille seines einsamen Daseins belebte.
Vronli, Hansi und Ursel liefen den Kiesweg entlang – das heißt, eigentlich lief keins auf demselben, die Kinderfüßchen zogen stets den weichen Rasen vor –, zur Veranda ging es im Trab, laut rufend, daß man es über die ganze Straße hinweg hörte:
»Muttißen, backen wir nu Tuchen?«
Eine ganze Weile mußten sie sich noch gedulden, die drei. Erst hatte Mutti die tägliche Morgenarbeit noch zu erledigen. Betten machen – wie oft mußte Annemarie lächelnd daran denken, als sie dieses Kunststück zum erstenmal in Tübingen in ihrer Studentenbude so kunstgerecht zustande gebracht hatte, daß die Freundinnen lachend ihr Bett mit seinen Hügelchen und Schluchten »die Schwäbische Alb« genannt hatten. Jetzt hätte Freundin Ilse, bei der sie damals in die Lehre gegangen, mal sehen müssen, wie sie die Betten aufschichtete und glättete. Das Rohrstöckchen, das ab und zu mal die Rückseite ihres Trios zu bearbeiten hatte, tat ihr dabei gute Dienste. Nur hatte Hansi, der wilde Strick, eine besondere Vorliebe dafür, wenn Mutti eben mit Hochgefühl ihr tadelloses Kunstwerk betrachtete, sich mit einem Satz mitten hinein zu werfen, in die weiße, schöngeglättete Fläche: »Bautz – da lieg iß!« Daß Klein-Ursel sofort hinterher sprang, war selbstverständlich. So war das Bettenmachen täglich eine Quelle von Kinderjauchzen und Kindertränen. Denn sanft pflegte Annemarie die Übermütigen nicht gerade herauszubefördern. Und das konnte ihr auch keiner verdenken.
Beim Abseifen des Waschtisches kam es ebenfalls zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Frau Annemarie und ihren Sprösslingen. Natürlich wollten alle drei helfen. Das Panschen war die Hauptsache dabei. Ursel war durchaus nicht wählerisch. Der Mundspüleimer schien ihr am verlockendsten, um sich Gesicht und Händchen darin zu baden.
»Ursel – du kleines Ferkel!« – – – Entsetzt riß Annemarie ihr Nesthäkchen von dem unappetitlichen Bad.
»Perkel!« Klein-Ursel strahlte, daß es ein neues Wort gelernt hatte, und Annemarie – biß sich auf die Lippen.
Hansi setzte sich inzwischen das wichtigste Utensil der Kinderstube, das Mutter soeben ausgeseift, auf den blonden Krauskopf und sang dazu: »Mein Hut, der hat dei Ecken!« was geometrisch nicht stimmte. Annemarie wurde erst aufmerksam, als ihr Nesthäkchen bewundernd in die Händchen klatschte: »Pöpfchen – Hansi Pöpfchen.« Süß sah das Kerlchen aus, wie der Hermeskopf, den sie mal in der Schule gezeichnet. Und was tat Frau Annemarie, die würdige Mutter von drei Kindern? Sie stellte sich hin und lachte – lachte – – –, daß sie sich die Seiten halten mußte, daß ihr Tränen die Wangen entlangliefen, während das Trio jubelnd einfiel. Dann aber besann sich Annemarie ihrer mütterlichen Erziehungspflicht. Ehe Hansi es sich versah, ward er seiner eigenartigen Kopfbedeckung entkleidet, und er selbst befand sich zu seiner größten Verwunderung nicht mehr im Schlafzimmer, sondern vor der geschlossenen Tür desselben, in Gemeinschaft mit Klein-Ursel. Was konnten die beiden da draußen besseres tun, als die Tür, die durchaus nicht wieder aufgehen wollte, mit Fäusten und Füßchen zu bearbeiten?
»Vronli, geh raus zu den Kleinen, spielt zusammen im Garten«, wandte sich Annemarie an ihre Große.
»Och – immer soll ich bei den dämlichen Jören bleiben, und ich helfe dir doch so schön, Mutterli.« Vronlis Hilfe bestand darin, daß sie mit dem Handtuch den Fußboden aufwischte.
»Ja, dann wird wohl heute nichts mehr aus dem Kuchenbacken werden!« Das klang wirklich erschreckend ernsthaft.
»Rufste uns auch bestimmt, Mutti? Fängste auch nimmer ohne uns an?« Vronli vereinigte den Berliner Dialekt der Mutter mit dem süddeutschen ihres Vaters zu einem drolligen Gemisch. Sie ließ ihre nützliche Tätigkeit im Stich und trollte sich mit den kleinen Geschwistern in den Garten, wo sie sich damit vergnügten, die Hühner zu jagen.
Annemarie atmete auf. Die Arbeit ging jetzt ohne Hindernisse glatt von der Hand. Eigentlich war sie versucht, die Sandtorte und den Napfkuchen einzurühren, ehe ihre kleinen Ruhestörer ihr wieder auf die Bude rückten. Aber »ein Mann ein Wort« sagte bereits Hansi. Sie durfte die Kinder nicht enttäuschen, ohne ihr Vertrauen einzubüßen.
Nachdem noch das sechzehnjährige Dienstmädchen, das auf den stolzen Namen Flora hörte – das war aber auch wirklich das einzige, was sie mit der Blumengöttin gemeinsam hatte, denn sie schielte wie ein Bock –, nachdem Flora mit einem gehörigen Rüffel dabei ertappt worden war, statt den Parkettboden aufzubohnern, vor dem Spiegel eine neue Haarfrisur auszuprobieren, konnte »der Guss beginnen«.
Als Annemarie die Küche betrat, wurde sie von einem dreifachen Chor: »Wir sind schon da!« freudigst begrüßt. Hansi und Ursel thronten beängstigend brav auf dem Kohlenkasten, ihrem Lieblingssitz, während Vronli das schon bereitgelegte Nudelholz vorläufig mal als Wäschemangel benutzte und sämtliche Küchenhandtücher auf dem Fußboden damit bearbeitete.
»So, Kinder, jetzt dürft ihr mich gar nicht stören, jetzt muß ich meine Gedanken beisammen haben.« Annemarie machte ein wichtiges Gesicht und tat die Ärmelschürze, die einst in Mädchenjähren so geschmähte, vor.
»Niß tören« – die Kinder waren von der Heiligkeit des Augenblicks durchaus durchdrungen. Klein-Ursel legte sogar das Fingerchen aus den Mund.
»Also Eier, Butter – – –« begann Annemarie vor sich her zu beten.
»Eier, Butter, Tee – das hab' iß niß, das hab' iß niß – adßeh – adßeh – adßeh – – –« fiel Hansi aus der Rolle und in Muttis Überlegungen ein.
»Adßeh – adßeh – ßeiden tut feh.« – – – Nesthäkchen Ursel zeigte jetzt auch ihre Künste.
»Kinder, wenn ihr nicht mäuschenstill seid, werdet ihr an die Luft gesetzt«, lachte die Mutter, noch einmal ihr Kuchenrezept wiederholend. »Eier, Butter, Zucker, Mehl, Zitrone, was kommt denn noch in die Sandtorte hinein?«
»Sand«, half Hansi ein.
»Freilich,« Annemarie amüsierte sich köstlich, »der kommt zuletzt.«
»Is nu fätig, tönnen wir nu ausletten?« Viel Sitzfleisch hatte der wilde Hansi nicht. Das Auslecken der Schüssel war doch die Hauptsache.
»Noch lange nicht. Jetzt wird erst eine ganze Weile gerührt – – –«
»Nee – och nee, das iß sa sreckliß mopsis!«
»Szeklis hopsis!« Ursel war stets ein getreues Echo.
Annemarie kümmerte sich nicht weiter um die Kritik ihres Publikums, sondern mischte mit Eifer ihren Kuchenteig. Die Zuschauer fanden es geraten, auf eigene Faust für ihr Vergnügen zu sorgen.
Das fanden sie sehr bald. Vronli, indem sie die Rosinen, die für den Napfkuchen bestimmt waren, einer eingehenden Kostprobe unterwarf; Hansi auf der Fliegenjagd, die nun mal seine Leidenschaft war; und Klein-Ursel fand ein reiches Feld für naturwissenschaftliche Untersuchungen im Mülleimer.
Eine Weile ging alles gut. Bis Mutti auf den unglückseligen Gedanken kam, sich umzudrehen.
»Pfui Deibel, Ursel, du bist ja aber wirklich ein – – –« Annemarie hielt mitten im Satz inne. Denn schon klang es ihr »Pui Beibel!« vom Mülleimer entgegen. Weiter wollte Annemarie den Wortschatz ihres Nesthäkchens doch nicht bereichern.
»Vronli, sag mal der Flora, sie möchte flink rühren kommen, sonst kriegt die Sandtorte einen Wasserstreifen, wenn ich sie stehen lasse«, rief die Mutter, ihr Nesthäkchen, das mehr einem Mistbauer glich, säubernd.
»Flochen – Flochen – – –« – dieses war der Kosename, dessen sich sämtliche Hartensteinsche Kinder bedienten –, »du sollst flink rühren kommen.« »Flochen« kam aber nicht herbeigesprungen, sondern langsam und gemächlich, wie sie alles tat, herangeschlorrt. In demselben Tempo – andante moderato – begann sie auch die Keule in Bewegung zu setzen.
Der temperamentvollen, raschen Annemarie zuckte es in allen Fingern, sie ihr aus der Hand zu reißen. Aber als Ursel wieder einigermaßen menschlich war, als man Vronli die Rosinentüte empört entrissen, Hansi, der durchaus eine erbeutete Fliege als Rosine in den Kuchen tun wollte, unschädlich gemacht worden war, ging es »klinglingling«.
»Teleton – Omama«, sagte Klein-Ursel.
»Ich werde halt rangehen.« Vronli, die sich als Beschäftigungslose augenblicklich etwas überflüssig in der Küche vorkam, rannte zum Telefon. Annemarie hinterdrein.
»Nicht, Vronli, es kann ein Patient sein – laß mich heran.«
»Tar tein Pajent – is Omama«, stellte Hansi draußen in der Küche sachkundig die Diagnose.
Wirklich, es war die Omama – Frau Doktor Braun, die ihrem einstigen Nesthäkchen Annemarie täglich wenigstens durchs Telefon »Guten Morgen« sagte.
»Jawohl, Muttichen, wir sind alle munter. Die Gören fast zu sehr – die haben sich heute schon verschiedenes geleistet. Na, das erzähl ich dir morgen. Kommt nur nicht so spät. Vater soll sich mal ein bißchen eher freimachen. Was – Klaus ist in Berlin? Famos, grade zu unserm Hochzeitstag! Ihr bringt mir noch jemanden mit? Wen denn? Sag's doch! Mach mich doch nicht so neugierig, Muttchen.«
»Omama – Omama duten Tatt saden – – –«
»Still, Urselchen, ich verstehe ja kein Wort, du darfst der Omama nachher ›Guten Morgen‹ sagen. Ja, du auch, Vronli. Ach Mutti, die Krabben geben keine Ruhe, und ich muß wieder raus zu meiner Sandtorte. Was, ihr bringt einen Streusel- und Mohnkuchen mit, und die Hanne dazu? Aber Mutti, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. Das heißt, Kanne ist mir sehr erwünscht, denn mein Flochen ist ja trotz ihres Namens nicht sehr fürs Springen. Aber Kuchen – das kränkt mich direkt in meiner Hausfrauenehre. Hanne, das alte Scheusal, denkt immer noch, ich verstände nichts. Also schön, dann werde ich den Napfkuchen lassen. Aber die Sandtorte ist schon eingerührt. Ja doch, jetzt kommt ihr heran, Jören. Also erst Vronli. Auf Wiedersehen, Muttchen, grüß' Vatchen.«
»Tag, Omama. Ja, Vronli! Ja – ja – Mutti, darf ich Omama heute besuchen? Nee – och nee, Omama, Mutti erlaubt nicht – morgen kommst du zu uns? Ja, morgen ist Muttis Hochzeitstag. Wir freuen uns schon mächtig drauf. Ursel, schubbse doch nicht so doll, dann kommste nimmer dran – – –«
»Nu Lein-Usche Omama duten Tatt saden – – –«
Klein-Ursel schrie vergebens in das Telefon hinein, denn Annemarie, die ihre Sandtorte nicht länger im Stich lassen wollte, hatte bereits angehängt.
Die Eile wäre durchaus nicht nötig gewesen, Annemarie war glänzend beim Kuchenbacken vertreten. Nicht durch Flora, die saß als Blumengöttin augenblicklich im Garten, um Mohrrüben zum Mittag herauszuziehen. Nein, durch ihren Sohn Hansi, der selbst eine Telefonunterhaltung mit der Omama verschmäht hatte, um Mutti zu überraschen und die Sandtorte fertig zu rühren.
Was fehlte denn noch daran? Sand – Sand hatte Mutti bestimmt noch nicht herangetan; Hansi hatte genau aufgepaßt. Ob er welchen vom Spielplatz im Garten holte? Ach was, die Flora hatte ja Scheuersand genug im Abwaschtisch. Hansi streute freigebig davon in den Kuchenteig.
So – nun noch den Wasserstreifen. Hansi hatte eine phänomenale Auffassungsgabe. Er hatte genau behalten, daß Mutti davon gesprochen. Der war ganz leicht zu machen. Bloß mit seinem kleinen Eimerchen mußte er an die Wasserleitung laufen.
Schwapp – war er drin im Teig. Nun gerührt, was Zeug hielt. Mutti würde sich aber mal freuen.
Mütter sind manchmal recht undankbar. Annemarie freute sich gar nicht, als sie den kleinen Kuchenbäcker, kirschrot vor Anstrengung, sich mit der großen Holzkeule herumquälen sah.
»Hansi, wirst du wohl von der Kuchenschüssel fort – wo ist denn die Flora wieder hin? Geh' aus dem Weg, daß ich den Kuchen schieben kann. Der Ofen ist heiß, verbrenne dich nicht.« Annemarie ließ eiligst den Teig in die gefettete Form laufen. Er knirschte ein bißchen merkwürdig. War er auch lange genug gerührt? Sandtorte war Frau Annemaries Spezialität. Hoffentlich legte sie morgen Ehre damit ein.
Trotzdem der Mond gestern Abend einen Hof gehabt, trotzdem sich nicht nur Floras Augen, sondern auch ihre Hühneraugen unangenehm bemerkbar gemacht hatten, was immer schlechtes Wetter bedeutete, trotzdem der Hahn gekräht hatte – Annemaries Befürchtungen, daß es regnen könnte, erfüllten sich nicht. In sonniger Herbstbläue lachte der letzte Septembertag hernieder, so golden, als hätte er allen Sommerglanz, alles Sommerleuchten noch einmal in sich vereinigt.
»Piebe Honne ßeint, heut' tann mein Tind ada dehn«, war das erste, was in Annemaries Traumland hineindrang. Dann fühlte sie etwas Weiches, Feuchtes an ihrer Nase, und als sie verstohlen blinzelte, wogte es rosenrot. Die letzten Spätrosen, die Rudi ihr bereits im Garten zur Wiederkehr ihres Hochzeitstages geschnitten.
Vor ihrem Bett aber standen drei kleine Hemdenmätze, hielten sich an den Händen und sangen, Ringelreihen hopsend:
»Sieben Jahr sind um und um,
Mutti dreht im Bett sich rum.«
Mit der einen Hand umfaßte Annemarie die Rechte ihres Mannes, welche ihr die Blumen entgegenstreckte, mit der anderen griff sie nach ihrem Trio. Und so hielt sie wortlos für einen Augenblick ihr ganzes, reiches Glück. Sekundenlang nur – und doch eine Ewigkeit.
»Piebe Honne ßeint – tann mein Tind heut' ada dehn?« erkundigte sich ihr Nesthäkchen, das nichts von dem stillinnigen Empfinden der Mutter ahnte, aufs neue.
»Famos – da können wir den Kaffeetisch heut nachmittag im Garten decken.« Jetzt kam Leben in Annemarie. »Also ich gratuliere schön zu unserm Hochzeitstag, Kinder. Rudi, trag' dein Hauskreuz weiter in Geduld!« Das war wieder ganz der Kobold Annemarie, der Doktor Hartenstein dereinst sein Herz gestohlen hatte.
»Weißt' noch, Weible, die Nebelhöhle, der Ulmer Dom und dann zuletzt der Charlottenburger Schlossgarten? Hast es nimmer bereut, gelt, daß uns das Wetter damals dort überraschte?«
»Höchstens, wenn mir's die Räuberbande da drin gar zu arg treibt.« In der Kinderstube tobten Vronli und Hansi bereits wieder, während Klein-Ursel unentwegt sang: »Sieden Sahr sind um und um.« »Oder aber – –,« Annemarie machte ein verschmitztes Gesicht, – »wenn ein gewisser Herr mal seinen Koller kriegt, weil angeblich irgend etwas auf seinem Schreibtisch fehlt, was nachher todsicher doch da liegt. Aber sonst – nie schlechter als bisher, Rudi!«
»Aber wenn's besser ist, schadet's nix, gelt, Herzle?« lachte Rudolf.
Klein-Ursel kam eiligst herbeigelaufen, denn das mochte Nesthäkchen ganz und gar nicht leiden, wenn die Eltern sich küssten.
»Usche pieb haben – Lein-Usche pieb – – –.« Eifersüchtig drängte es sein Blondköpfchen dazwischen.
Der alte Junggeselle drüben mußte sich heute lange gedulden, bis seine drei kleinen Freunde am Gartentor erschienen, um dem Vater »Auf Wiedersehn!« nachzurufen. Nicht etwa, daß die Sprechstundenpraxis ihn so lange zurückhielt. Er konnte sich heute gar nicht entschließen, sein gemütliches Heim zu verlassen. Niemals, nicht einmal in der Zeit seines ersten Eheglückes, war es ihm schöner erschienen. Hatte die Linde jemals sich mit so goldenen Blättern besteckt wie heuer? »Schau, Vronli, das ist sicher das Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt. – Du weißt doch, ich hab's dir halt neulich erzählt.« und die Astern blühten und leuchteten heute ganz besonders bunt und farbenfroh. Der Purpurwein, der das weiße Häuslein bis zum Dach hinauf umkletterte, hatte noch in keinem Herbst so in der Sonne geglüht. »Das Haus in der Sonne!« sagte Rudolf Hartenstein leise vor sich hin und wandte den Blick zu der, die für ihn die Sonne seines Lebens geworden, von der alle Helle und Wärme ausging.
Aber o weh – da gab's Wolken. Wolken des Unmuts lagerten auf Annemaries Stirn, während sie einen Kuchen vor ihren Mann auf den Frühstückstisch setzte.
»Sieh nur, Rudi, das elende Geschöpf von einer Sandtorte! Platt wie eine Schildkröte. Wütend bin ich! So schön hellbraun habe ich sie gebacken. Aber das Biest ist absolut nicht gegangen. Weiß der Deibel, woran es liegt. Die Krabben sind mir immerzu dazwischen gekommen. Und das verflixte Flochen muß auch nicht ordentlich gerührt haben.«
»Lixtes Flossen«, echote es irgendwoher vom Erdboden, wo Klein-Ursel umherkroch.
Rudi drohte seiner temperamentvollen Gattin, die mal wieder ihre Zunge laufen ließ, ohne Rücksicht auf ihre kleine Zuhörerschaft, lachend.