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vollständige und illustrierte Originalfassung Lesen Sie die bekannteste Kinderbuchreihe der wilhelminischen Zeit hier erstmalig wiederveröffentlicht. Mit Aufsatz zu Leben und Werk der Autorin Über mehrere Bände hinweg wird die Lebensgeschichte der Annemarie Braun erzählt. Insgesamt gibt es zehn Bände, die von Annemaries Kindheit, ihrer Jugend bis zur eigenen Eltern- und schließlich sogar Großelternschaft berichten. In Band 1, »Nesthäkchen und ihre Puppen«, ist die sechsjährige Annemarie ein temperamentvolles Kind, das aber mit ihrer Lebhaftigkeit und ihrem häufigen Ungehorsam die Nerven der Erwachsenen oft überstrapaziert. Aber zum Glück ist sie ja ganz der Liebling ihres Vaters, des Herrn Doktor Braun. Nesthäkchen ist zurecht der Klassiker der »Backfischliteratur«. Im Jahre 1983 wurde die Handlung der ersten drei Bände als Weihnachtsserie im ZDF gezeigt. Die jüdische Autorin Else Ury, zeitlebens eine deutsch-konservative und unpolitische Person, wurde von den Nazis in Auschwitz ermordet. Mit den Originalzeichnungen der Erstveröffentlichung Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 218
Else Ury
Nesthäkchen und ihre Puppen
Band 1 der Nesthäkchen-Reihe
Else Ury
Nesthäkchen und ihre Puppen
Band 1 der Nesthäkchen-Reihe
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Franz Kuderna EV: Meidinger’s Jugendschriften Verlag G.m.b.H., Berlin, 1913/18 3. Auflage, ISBN 978-3-954184-10-1
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Inhaltsverzeichnis
Zum Buch
Zur Autorin
1. Kapitel. Puppenmütterchen
2. Kapitel. Was der Osterhase bringt.
3. Kapitel. Wie es Puppe Gerda bei Nesthäkchen gefiel.
4. Kapitel. Wir reisen nach Amerika – hurra!
5. Kapitel. Nesthäkchen macht schlechtes Wetter.
6. Kapitel. Maikäfer, fliege …
7. Kapitel. »Herr Doktor, mein Kind ist so krank!«
8. Kapitel. Dudel-Dudel-Leierkasten
9. Kapitel. »Morgen wird gefegt!«
10. Kapitel. Der Mohrenkopf
11. Kapitel. Knabber – knabber – Mäuschen
12. Kapitel. Schiffer-Lenchen
13. Kapitel. Nesthäkchen geht auf Reisen.
14. Kapitel. Kikeriki – der Hahn ist schon wach.
15. Kapitel. »Kommt ein Vogel geflogen.«
16. Kapitel. Im Kindergarten
17. Kapitel. Tap – tap – Knecht Ruprecht kommt.
18. Kapitel. Puppenweihnachten
19. Kapitel. Die neue Schulmappe
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Ihr Jürgen Schulze
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Über mehrere Bände hinweg wird die Lebensgeschichte der Annemarie Braun erzählt. Insgesamt gibt es zehn Bände, die von Annemaries Kindheit, ihrer Jugend bis zur eigenen Eltern- und schließlich sogar Großelternschaft berichten.
In Band 1, »Nesthäkchen und ihre Puppen«, ist die sechsjährige Annemarie ein temperamentvolles Kind, das aber mit ihrer Lebhaftigkeit und ihrem häufigen Ungehorsam die Nerven der Erwachsenen oft überstrapaziert. Aber zum Glück ist sie ja ganz der Liebling ihres Vaters, des Herrn Doktor Braun.
Nesthäkchen ist zurecht der Klassiker der »Backfischliteratur«. Im Jahre 1983 wurde die Handlung der ersten drei Bände als Weihnachtsserie im ZDF gezeigt.
Die jüdische Autorin Else Ury, zeitlebens eine deutsch-konservative und unpolitische Person, wurde von den Nazis in Auschwitz ermordet.
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Else Ury kennen viele als Autorin der »Nesthäkchen«-Reihe, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Lektüre für Mädchen in den Buchläden zu finden ist. In den 1980er Jahren sahen viele Kinder und Erwachsene zudem die Verfilmung als Fernsehserie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Doch wer war Else Ury? Wer einen Blick auf ihre Biografie wirft, entdeckt eine tragische Geschichte jenseits der kindlichen Welt, die sie für ihre Bücher erschuf.
Geboren wurde Else Ury 1877 in Berlin. Sie wuchs als Tochter eines Tabakfabrikanten in einer bürgerlichen Familie auf, in der viel Wert auf Bildung - auch der Mädchen - gelegt wurde. Während die älteren Brüder das Gymnasium besuchten und später Jurist und Arzt wurden, blieb für Else und die Schwester der Besuch einer privaten Mädchenschule. Während die Schwester eine Ausbildung zur Lehrerin absolvierte, blieb Else Ury im Haus der Eltern - die dem jüdischen Glauben angehörten, jedoch auch christliche Feste feierten - und schrieb dort mit 20 Jahren ihr erstes Werk: »Im Bahnhofsrestaurant Danziger Röss’l«.
Else Urys erstes veröffentlichtes Buch ist »Was das Sonntagskind erlauscht« (1905), eine Märchensammlung, wie sie in der Weimarer Republik sehr beliebt war.
Danach brachte Ury beispielsweise das Werk »Studierte Mädel« heraus, in dem sie Bildung für Mädchen befürwortete. Es folgte unter anderem das Buch »Goldblondchen«, welches als einziges von Urys Büchern eine Auszeichnung für Jugendbücher erhielt. Dies war in jener Zeit durchaus ungewöhnlich, da meist Mädchen-Literatur als zu kitschig und obendrein manchmal sogar als »schädlich« betrachtet wurde. Den ersten Band der berühmten »Nesthäkchen«-Reihe rund um die Arzttochter Annemarie Braun brachte Else Ury 1913 heraus. Durch den Ersten Weltkrieg verzögerte sich die Herausgabe etlicher Bände der Serie. In erster Linie wird eine idyllische Kindheit gezeigt, bis diese durch den Kriegseinsatz des Vaters Risse bekommt. Die Nesthäkchen-Geschichte erstreckte sich über das gesamte Leben der Annemarie Braun. Auch Else Ury verbrachte einen Großteil ihres Lebens mit der Buchreihe. Sie verfasste den letzten Band im Jahre 1925.
Nach dem Krieg folgte in den 20er Jahren die Inflation in Deutschland, doch diese konnte Ury kaum etwas anhaben. Sie bekam ihren Lohn in Gold ausgezahlt und konnte sich weiterhin einen großbürgerlichen Lebensstil leisten. Mittlerweile war sie derart gefragt, dass ihr 50. Geburtstag sogar öffentlich im Hotel Adlon gefeiert wurde.
Das Grauen brach erst mit der Verfolgung der Nationalsozialisten über Else Ury herein. Dabei war Else Ury zunächst dem nationalsozialistischen Gedankengut nicht abgeneigt gewesen und hatte dieses sogar in einigen ihrer Werke anklingen lassen.
Ihre Entrechtung erlebte die Frau gehobenen Alters zunächst schleichend. Doch die Verbote ihrer Bücher sowie der Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer ließen die Autorin am Regime zweifeln. Sie versuchte einige ihrer Bücher ausländischen Verlagen zu verkaufen, was jedoch letztlich scheiterte, da die Welt, die sie in ihrem Büchern entwarf, nicht mehr so recht in die Realität passen wollte.
Viele Familienmitglieder waren ausgewandert, doch Ury blieb bei ihrer kranken Mutter, die 1940 verstarb. Danach bemühte man sich, die Autorin außer Landes zu schaffen und ihr ein Visum zu beschaffen - doch dies war zum Scheitern verurteilt.
Else Ury starb 1942 nach der Deportation durch die Nationalsozialisten im Vernichtungslager Auschwitz.
Nesthäkchen
»Nesthäkchen« war sicherlich das berühmteste Werk von Else Ury. Neben der bekannten Buchreihe für Mädchen verfasste sie weitere Bücher, die vor allem an junge Mädchen, aber auch Kinder im Allgemeinen gerichtet waren. Sie galt als eine der berühmtesten Kinderbuch-Autorinnen der Weimarer Republik, doch kein einziges ihrer weiteren Bücher konnte an »Nesthäkchen« in seiner Popularität heranreichen.
»Nesthäkchen« erzählt die Lebensgeschichte der Annemarie Braun. Es gibt mehrere Fassungen der Geschichten, da diese immer wieder den Zuständen in der Gegenwart angepasst wurden. So überarbeitete man beispielsweise die Reihe auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal grundlegend. Das Frauenbild, welches die »Nesthäkchen«-Reihe vermittelt, blieb jedoch weitestgehend erhalten. Zwar wird Annemarie als durchaus mutiges und intelligentes Mädchen gezeigt, jedoch bleibt sie dem Bild der Frau in ihrer Zeit verhaftet, die sich nach der Schulzeit als brave Hausfrau um den geliebten Ehemann und die Kinder kümmert.
Heute werden meist nur die ersten drei Bände als Kinderklassiker gesehen. Die Geschichte ab Band vier ist weniger bekannt, was auch daran liegt, dass der vierte Band, der im Ersten Weltkrieg spielt und diesen teilweise verherrlicht, nicht mehr herausgegeben wird.
Die Geschichte beginnt noch vor Nesthäkchens Einschulung und schildert zunächst eine unschuldige Kindheit, in der Puppen die Hauptrolle spielen. Annemarie wächst wohlbehütet neben ihren Brüdern in einer überaus wohlhabenden bürgerlichen Arztfamilie auf. In Band 2 beginnt die Schulzeit von Annemarie, die wie in der damaligen Zeit üblich, häufig von Strafen beherrscht wird.
Band 3 setzt vier Jahre später an, als Annemarie schwer an Scharlach erkrankt, auch dies spiegelt ein Problem jener Zeit wieder, als Krankheiten noch weitaus schwerer zu beherrschen waren. Zur Erholung kommt sie, wie damals ebenfalls üblich, in ein Kinderheim am Meer, genauer gesagt, auf Amrum. Der Band endet - nach vielen Erlebnissen, die Annemarie zu einer jungen Frau reifen lassen, mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Ihre geliebte Puppe verliert Nesthäkchen beim überstürzten Aufbruch nach Hause. Mit diesen Szenen endet auch die Verfilmung von »Nesthäkchen« aus den 1980er Jahren, die nur noch den Ausbruch des Weltkriegs zeigt.
In der Buchreihe geht es weiter mit der Weltkriegszeit. In diesem Band wird auch das Thema Ausländer im Spiegel der damaligen Zeit behandelt. Im fünften Band wird die »Bachfischzeit« von Nesthäkchen beschrieben. Erstaunlich daran ist, dass das junge Mädchen und einige Freundinnen am Ende das Abitur bestehen - ein Plädoyer für die Bildung der Frau in jener Zeit. Auch im sechsten Band zieht Nesthäkchen zunächst zum Studium nach Tübingen, doch die Hochzeit und Geburt des ersten Kindes machen sie dann doch zur »braven Hausfrau«.
Die folgenden drei Bände drehen sich um Annemarie und ihre Kinder, deren Heranwachsen, bis hin zu deren Enkeln.
Zeitlich waren die »Nesthäkchen«-Bücher ab dem 6. Band der eigentlichen Gegenwart voraus, was teils aus der heutigen Perspektive etwas für Verwirrung sorgt.
Neben »Nesthäkchen« schuf Else Ury weitere Kinderbücher. Am bekanntesten darunter ist die Serie »Die Zwillinge«. Else Ury schuf stets eine recht heile Welt, die wenig überraschende Wendungen zu bieten hatte, doch bei der Jugend, auch nach dem Zweiten Weltkrieg, überaus beliebt war.
Habt ihr schon mal unser Nesthäkchen gesehen?
Es heißt Annemarie, Vater und Mutti aber rufen es meistens »Lotte«. Ein lustiges Stubsnäschen hat unser Nesthäkchen und zwei winzige Blondzöpfchen mit großen, hellblauen Schleifen. »Rattenschwänzchen« nennt Bruder Hans Annemaries Zöpfe, aber die Kleine ist ungeheuer stolz auf sie. Manchmal trägt Nesthäkchen auch rosa Haarschleifen, und die Rattenschwänzchen als niedliche, kleine Schnecken über jedes Ohr gesteckt. Doch das kann es nicht leiden, denn die alten Haarnadeln pieken. Sechs Jahre ist Annemarie vor kurzem geworden, ihre beiden Beinchen stecken in Wadenstrümpfen und hopsen meistens. Keinen Augenblick stehen sie still, geradeso wie ihr kirschrotes Mäulchen. Das schwatzt und fragt den ganzen lieben Tag, das lacht und singt, und nur ganz selten mal verzieht es sich zum Weinen.
So sieht unser Nesthäkchen aus, und wenn ihr in Berlin lebt, könnt ihr es jeden Tag mit Fräulein in den Tiergarten gehen sehen.
In einem schönen, großen Hause wohnt Klein-Annemarie, in einer langen Straße, durch die elektrische Bahnen bimmeln. Ein Gärtchen ist vor dem Hause, aber keiner darf hinein, das erlaubt der Portier nicht. Er selbst aber kann sooft darin herumspazieren, wie er nur Lust hat, das Gras schneiden, die Beete begießen und sogar das Gitter mit schöner neuer Ölfarbe anstreichen. Darum glaubt Annemarie, dass der Portier beinahe so viel ist wie der Kaiser. Und wenn sie nicht Muttis Nesthäkchen wäre, dann würde sie am allerliebsten Portier sein. Manchmal aber auch Konditor.
Zwei größere Brüder hat Annemarie, den wilden Klaus, der nur zwei Jahre älter ist als sie, und den großen Quartaner Hans, der sogar schon Latein kann. Ihr Hänschen liebt die Kleine über alles, wenn er sie auch öfters mal neckt, während es mit Kläuschen nur allzu oft Krieg gibt.
Ach, was ist das für ein schönes, warmes Nest, in dem das Nesthäkchen daheim ist. Wenn der Vater abgespannt von der Praxis nach Hause kommt, denn Annemaries Papa ist ein viel beschäftigter Arzt, und sein kleines Mädchen springt ihm jubelnd an den Hals, dann hat er alle Müdigkeit vergessen. Er lacht und scherzt mit ihr, ja, er setzt sie sogar auf seine Schultern und reitet mit dem jauchzenden Ding durch sämtliche Zimmer. Sagt Mutti dann: »Du verwöhnst unsere Lotte zu sehr, Vater, sie ist schon viel zu groß dazu«, dann drückt er seinen Liebling nur umso fester ans Herz und meint lächelnd: »Es ist doch unser Kleinstes!«
Wenn aber der Vater mal davon anfängt, dass es nun auch für Annemarie bald Zeit sei, in die Schule zu gehen, dann breitet Mutti ihre Arme um das Töchterchen und bittet: »Lass sie mir doch noch ein Weilchen zu Hause, sie ist ja so zart und doch unser Nesthäkchen!«
Ja, Nesthäkchen wird von allen Seiten ein wenig verwöhnt. Wenn Fräulein auch noch so viel zu tun hat, sie wird nicht müde, Annemies tausend Fragen zu beantworten. Dafür hat die Kleine aber auch ihr Fräulein ganz schrecklich lieb.
Hanne, die Köchin, schmunzelt über das breite, rote Gesicht, wenn Annemie ein bisschen zu ihr in die Küche herauskommt, weil sich die Hanne so ganz allein am Ende langweilen könnte. Ob das kleine Fräulein ihr auch noch so zwischen ihren Töpfen, Löffeln und Quirlen kramt, Hanne wirft Annemarie nicht raus. Dabei macht sie doch mit den beiden Jungen nicht viel Umstände und bringt sie öfters mal auf den Trab.
Auch Frida, das Stubenmädchen, lässt sich die Gesellschaft der Kleinen beim Plätten, Maschinenähen und Stubenbohnern gern gefallen.
Der gute Bruder Hans findet trotz seiner vielen Schularbeiten noch Zeit, dem Schwesterchen Schiffchen zu machen und Kreiselstöcke zu fabrizieren.
Nur Klaus meint, dass Annemie zu sehr verwöhnt wird und ist für strengere Erziehung. Aber meistens endigt diese mit einer Balgerei.
Puck, das niedliche Zwerghündchen, und Mätzchen, das zitronengelbe Vögelchen, zeigen ebenfalls eine besondere Vorliebe fürs Nesthäkchen. Puck lässt sich geduldig von ihm Ohren und Schwänzchen zausen und ist stets zu allen Spielen bereit. Mätzchen aber singt jubelnd mit der Kleinen um die Wette.
Wer aber, glaubt ihr wohl, hat Klein-Annemarie am liebsten im ganzen Hause? Vater und Mutti natürlich, und dann – alle ihre Puppen.
Die ziehen den Mund vor Freude von einem Ohr zum anderen, sobald das kleine Mädchen in die Kinderstube tritt. Was ist Annemie aber auch für ein gutes Puppenmütterchen! Jedes Kind ihrer zahlreichen Puppenfamilie hat sie in ihr zärtliches Herz geschlossen.
Da ist zuerst Irenchen, das ist ihre Älteste, denn sie besitzt schon eine Schulmappe mit Schiefertafel und Heften. Irenchen macht ihrer kleinen Mama jetzt viel Sorge. Sie hat ihre schönen roten Backen verloren, seitdem Nesthäkchen ihr neulich das Gesicht mit Bimsstein abgescheuert hat. Das Puppenkind sollte zum ersten Mal mit Tinte schreiben, und hatte dabei die Nase zu tief in das Schulheft gesteckt, über und über hatte sie sich mit Tinte eingeschmiert, das unbedachtsame Irenchen, und die weiße Schürze ihrer kleinen Mama dazu. Annemarie schalt auf Irenchen, und Fräulein schalt auf Annemie. Fräulein begann Annemies Tintenschürze mit Zitrone zu bearbeiten, und Annemie das Tintengesicht ihres Irenchens mit Bimsstein. Au – tat das weh! Irenchen schrie wie am Spieß. Aber energisch rubbelte Nesthäkchen weiter, denn »wer nicht hören will, muss fühlen«. Ganz blass ist das arme Puppenkind noch davon, und Annemie meint bekümmert zu Fräulein: »Ich glaube, die Schulluft bekommt dem Kinde nicht!«
Auch um Mariannchen, das zweite Töchterchen, sorgt sich Nesthäkchen. Die Kleine hat seit einigen Tagen eine schwere Augenkrankheit und muss sicher nächstens in eine Puppenklinik. Die Schlafaugen sind fest zugeklebt und gehen nicht mehr auf. Und das schlimmste ist, dass die kleine Mama selbst die Schuld an der Krankheit trägt. Oder vielmehr Klaus, denn der hat ihr geraten, dem Kinde richtige Wimpern mit flüssigem Gummi anzukleben. Und nun sind Mariannchens Augen ganz verkleistert, oder vielmehr »vereitert«, wie der vierbeinige Doktor Puck mit bedenklichem Schwanzwedeln feststellte.
Ja, solch kleines Puppenmütterchen hat schon seine Sorgen mit so viel Jören! Der Puppenjunge Kurt ist ein furchtbar wilder Strick, kein Tisch ist ihm zu hoch, um davon herunterzuspringen. Bald zerschlägt er sich die Nase, bald hat er ein tiefes Loch im Kopf, und einen halben Fuß hat er sich auch schon abgeschlagen, der Schlingel.
Die schwarze Lolo, das Negerkind, muss wohl die Unsauberkeit und Unordentlichkeit aus ihrer Heimat Afrika mitgebracht haben. Wenn Annemarie sie eben erst sauber angezogen hat, im nächsten Augenblick hat sie sich schon wieder schmutzig gemacht. Bald verliert sie einen Schuh, bald einen Strumpf. Neulich sogar die Höschen! Mitten im Tiergarten war’s, Klein-Annemarie hat sich schrecklich geschämt, denn sehr weiß waren sie auch nicht mehr.
Am bravsten ist noch Baby. Das lässt seine Mama die ganze Nacht ruhig schlafen, höchstens am Tage schreit es mal, aber auch nur, wenn es allzu sehr auf den Bauch gedrückt wird. Annemie verzieht Baby ein bisschen, na, dafür ist es ja auch ihr Nesthäkchen.
Aber trotz aller ihrer Fehler liebt Annemarie ihre Kinder wie eine richtige kleine Mama. Den ganzen Tag plagt sie sich für sie. Kaum hat sie morgens früh Irenchen in die Schule gebracht und die anderen angezogen, verlangt Baby auch schon nach seinem Fläschchen. Dann sind die Betten der Kinder zu machen, die beiden Großen schlafen in dem weißen Himmelbett, die beiden Kleinen, Lolo und Baby, im Wagen, und Kurt in der umgekippten Fußbank. Die ist wenigstens nicht so hoch, wenn er rausfällt.
Beim Aufräumen der Kinderstube hilft Nesthäkchen Fräulein fleißig; es hat einen kleinen Besen mit Schaufel und einen Schrubber nebst Eimer und Scheuertuch. Auswischen tut Annemie für ihr Leben gern. Aber Fräulein erlaubt es nicht oft, denn sie setzt die ganze Stube dabei unter Wasser, es gibt jedes Mal eine Überschwemmung. Beinahe wäre neulich ihr Kurt, der sich unterm Spielschrank versteckt hatte, dabei ertrunken.
Eine reizende Puppenküche hat Klein-Annemarie, mit Kohlenkasten, Wasserleitung und Spiritusherd, aber Mittagbrot kochen kann sie ihren Kindern nur, wenn’s regnet. Die Puppen sind auch so vernünftig, bei schönem Wetter keinen Hunger zu haben. Sie wissen, dass ihre kleine Mama, wenn die Sonne scheint, in den Tiergarten spazierengehen muss. Oft nimmt Nesthäkchen eins oder zwei ihrer Kinder mit und fährt sie in dem feinen weißen Puppenwagen mit der rosa Seidendecke aus. Dann setzt sie ihnen Spinat vor, frisch gepflückt vom Rasen. Auch Kieselsteinbraten vertragen sie merkwürdig gut, wenn er auch noch so zäh ist.
Die armen Zuhausegelassenen aber werden in ihr Gärtchen, aufs Blumenbrett, gesetzt, damit sie auch ein bisschen Luft schnappen. Nur Kurt nicht, der Bengel ist zu wild und würde sicher in den Hof herunter Purzelbaum schießen.
Auch waschen und plätten muss Annemie für ihre Kleinen, ja, sie verbrennt sich sogar die Händchen dabei vor lauter Eifer. Denn das kleine Plätteisen wird auf dem Herd heiß gestellt, anders tut das Hausmütterchen es nicht.
Nächstens soll auch große Puppenschneiderei stattfinden, Annemarie hat zu ihrem Geburtstag eine allerliebste kleine Nähmaschine bekommen. Fräulein will ihr zeigen, wie man darauf näht. Dabei hat sie auch noch den Kaufmannsladen und die Mehlhandlung zu bedienen, wenn Klaus gerade keine Lust dazu hat, oder wenn sie sich beide gezankt haben.
Und Mutti will ihr Nesthäkchen doch auch ein bisschen um sich haben, wirklich, Annemarie weiß oft gar nicht, was sie von all ihren vielen Arbeiten zuerst machen soll.
Sie kann sich gar nicht denken, dass es kleine Mädchen gibt, die sich manchmal langweilen.
Es war am Ostersonntag, ganz früh am Morgen. Golden schien die liebe Sonne vom Himmel, gerade in Nesthäkchens Kinderstube hinein.
Die Puppen lagen alle noch in festem Schlaf. Kurt schnarchte wie ein Murmeltier, und auch Lottis Fräulein schlief noch.
Nanu – die Sonne begann erstaunt zu blinzeln – was sollte denn das bedeuten?
Aus dem weißen Kinderbett in der Ecke sprang, vorsichtig nach dem schlafenden Fräulein herüberschauend, ein kleiner Hemdenmatz mit zwei blonden Rattenschwänzchen. Eins, zwei, drei, huschte er leise durch das Zimmer, geradeswegs zum Fenster, und kletterte dort behutsam auf den Kinderstuhl.
Was hatte denn Nesthäkchen bloß in aller Herrgottsfrühe schon auf den Hof hinunterzugucken? Die Portierkinder, mit denen sie gut Freund war, schliefen doch noch alle.
Die Sonne machte ein missbilligendes Gesicht. Den Tod konnte sich das barfüßige kleine Ding ja bei seiner Frühpartie holen oder doch wenigstens einen tüchtigen Schnupfen.
Nein, das gab die liebe Sonne nicht zu, dass Klein-Annemarie an den Osterfeiertagen krank im Bette liegen musste.
Schnell nahm sie ein paar ihrer spitzen Goldstrahlen und begann Fräulein damit unter die Nase zu krabbeln, einmal und noch einmal.
»Hatschi!« nieste Fräulein und schlug die Augen auf. Da sah sie zu ihrer Verwunderung am Fenster auf dem Kinderstuhl ein ausgekniffenes Hemdenmätzchen thronen, das Stubsnäschen gegen die Scheiben gepresst.
»Kind – Annemie – willst du wohl gleich wieder ins Bett, es ist ja noch nicht mal sechs!« rief sie ärgerlich.
»Ach, Fräulein«, Annemarie fuhr erschreckt zusammen, »warum bist du bloß aufgewacht! Ich wollte doch so schrecklich gern mal den Osterhasen sehen, ob er auch recht viel Eier für mich hat.«
»Wenn du so unartig bist und heimlich aus dem Bett kletterst, bringt dir der Osterhase überhaupt keine Eier. Der kommt nur zu artigen Kindern. Flink zurück ins Bettchen, Annemie, dass du nicht etwa krank wirst«, mahnte Fräulein.
»Woher weiß der Osterhase denn, ob ich artig bin?« erkundigte sich das Barfüßchen.
»Er lässt es sich von allen Muttis und Fräuleins erzählen«, gähnte Fräulein.
»Hat er dich auch schon danach gefragt?«
»Ja–a–a–u–uh«, Fräulein gähnte herzbrechend.
»Wann denn?« Nesthäkchen spitzte die Ohren.
»Hör’ jetzt endlich mit dem ewigen Gefrage auf und gehe in dein Bett, Annemie, oder soll ich erst böse werden?«
»Nein, nein, aber mein liebstes, bestes, allersüßestes Zuckerfräulein, sag’ mir doch bloß noch, wann der Osterhase dagewesen ist, dann gehe ich auch gleich wieder artig ins Bett«, schmeichelte die Kleine.
»Heute Nacht.« Fräulein konnte den Bitten der kleinen Schmeichelkatze nicht widerstehen.
»Heute Nacht, da hast du wohl mit ihm aus dem Schlaf gesprochen, Fräulein?« verwunderte sich die Kleine.
Aber als Annemie jetzt endlich den Rückzug in ihr Bettchen antreten wollte, da jauchzte sie plötzlich laut auf, dass sämtliche Puppen entsetzt aus dem Schlaf hochfuhren, und Kurt vor Schreck fast aus seiner Fußbank gekegelt wäre.
»Fräulein, der Osterhase, da ist er, ganz deutlich habe ich ihn gesehen.« Die Kleine wies aufgeregt aus dem Fenster. »Schwarz war er, und einen langen Schwanz hat er gehabt, und mit einem Satz ist er drüben über das Dach gesprungen.«
»Du Schäfchen, das war sicher der schwarze Kater von unserm Portier.« Jetzt musste Fräulein doch lachen.
»Der Kater – bewahre – das war der Osterhase!« Annemie ließ sich so leicht nicht etwas ausreden. Auch als sie wieder im Bett lag und ihre Blauaugen gerade müde zuklappen wollten, murmelte sie noch im Einschlafen: »Und es war doch der Osterhase!«
Ein Weilchen darauf spähte die liebe Sonne aufs neue in die Kinderstube hinein, ob dort nun endlich Ruhe herrschte. Da schlief die ganze Gesellschaft wieder, und der richtige Osterhase konnte, unbeobachtet von neugierigen Kinderaugen, all seine Schokoladen- und Marzipaneier verstecken.
Das war eine schwierige Sache für Fräulein, heute Nesthäkchen anzukleiden. Sehr still hielt der kleine Wildfang ja niemals, aber heute war die Annemarie in allen vier Ecken der Kinderstube zu gleicher Zeit. Am Ende hatte Fräulein bloß nicht aufgepasst, und der Osterhase hatte doch ein paar Eier ins Kinderzimmer gelegt.
Während Fräulein ihr die blonden Kraushärchen entwirrte, was niemals eine sehr angenehme Aufgabe war, entwischte sie ihr dreimal.
Wutsch – war sie in dem Schuhschrank drin, wo sie sämtliche Schuhe und Stiefel nach Ostereiern durchstöberte. Fräulein mit Kamm und Bürste hinterdrein.
Dann, als das erste Zöpfchen halb geflochten war, fiel es Annemie plötzlich ein, sicher würde sich etwas in der Puppenküche finden. Heidi – kramte sie auch schon dort das Unterste zu oberst, Fräulein mit Kamm und Bürste hinterdrein.
Aber als die Kleine plötzlich, gerade da die große, hellblaue Schleife das zweite Zöpfchen schmücken sollte, hast du nicht gesehen, auf den großen Tisch kletterte, um auf den Ofen nach Ostereiern zu spähen, da konnte Fräulein mit Kamm und Bürste nicht hinterdrein. Auf den Tisch konnte sie unmöglich klettern. Sie machte ein unzufriedenes Gesicht, bis Annemie sich ihrem Fräulein mit Küssen und Streicheln an den Hals hängte und versprach, sich nun aber wirklich ganz artig anziehen zu lassen. Das tat sie auch, denn so klein sie auch war, das wusste die Annemarie: Was man verspricht, muss man halten!
»Na, endlich ausgeschlafen, Lotte?« begrüßte sie der Vater, als Nesthäkchen am Kaffeetisch erschien.
»Ach, Vatchen, ich habe heute Morgen schon den Osterhasen übers Dach springen sehen«, erzählte Annemarie eifrig.
»So?« fragte der Vater ernsthaft.
Der vorlaute Klaus aber rief: »Es gibt ja gar keinen Osterhasen, bist du noch ein dämliches Ding, nur ganz gewöhnliche Hasen gibt es.«
»Das ist nicht wahr, du lügst!« begehrte das Schwesterchen auf.
So etwas wollte sich der Klaus nun wieder nicht sagen lassen, er griff nach Annemies frisch geflochtenen Zöpfchen, und es wäre an dem schönen Ostersonntag wohl zu einer regelrechten Schlacht gekommen, wenn Mutti nicht gerade das Zimmer betreten hätte.
»Ei, Kinder, ist das unser Feiertagsfrieden?« fragte sie vorwurfsvoll.
Da ließen die kleinen Kampfhähne beschämt voneinander ab, und Nesthäkchen sprang zu Mutti, um sich ihren Gutenmorgenkuss zu holen.
Gibt es wohl noch etwas Schwereres im Leben, als zwei große Tassen Kakao austrinken zu müssen, während man ganz genau weiß, dass im Nebenzimmer die schönsten Ostereier auf einen warten?
Endlich – endlich war die Tasse leer, und nun war Klein-Annemarie auch nicht mehr zu halten.
»Mutti, dürfen wir jetzt – bitte, bitte, lass uns gleich Ostereier suchen!«
Und kaum hatte Mutti der kleinen Ungeduld nur ein ganz klein wenig zugenickt, bautz – da lag Nesthäkchen auch schon der Länge nach drin im Wohnzimmer unterm Sofa und strampelte vor Aufregung mit beiden Beinen.
»Hurra – hurra, drei Stück, halt, dort unterm Notenschrank ein ganz großes, da – unter der Blumentreppe wieder eins!« Annemarie blieb in einem Jubel. »Nein, Klaus, das hier habe ich zuerst gesehen, das gehört mir!« Diesmal ging es ohne Kampf zwischen den beiden ab, aber nur, weil der große Hans inzwischen eifrig weitersuchte, und dem wollten die zwei doch nicht alle anderen Eier überlassen.
Gerade als Annemie ein wunderhübsches grünes Nest mit kleinen Marzipanküken bewunderte, bei dessen Auffinden der gute Vater ein wenig geholfen hatte, und als er ihr vorlas, dass auf dem angehefteten Zettelchen stand: »Für unser Nesthäkchen«, hörte man nebenan einen lauten Krach.
Klirr – da lag Muttis schöne Vase in Scherben. Der ungestüme Klaus war mit dem Kopf dagegengestoßen. Zur Strafe wurde er vom Ostereiersuchen ausgeschlossen und in sein Zimmer geschickt.
Nesthäkchen aber dachte heimlich: »Sicher hat der Osterhase das so eingerichtet, weil Klaus gesagt hat, dass es gar keinen gibt.«
Doch Annemie hatte jetzt lange nicht mehr die Freude an dem lustigen Suchen wie vorher, obgleich sie noch so viele schöne Eier fand, sogar eins mit Murmeln und eins mit Puppentäßchen gefüllt. Sie musste immerfort daran denken, wie traurig der arme Klaus jetzt wohl im Jungenzimmer sitzen mochte. Er tat ihr ganz schrecklich leid, trotzdem er doch stets mit ihr Streit anfing.
Als kein Winkelchen mehr undurchstöbert war, und Annemarie in ihrem Körbchen fünfzehn Ostereier zählte, eine ganze Mandel, wie Fräulein sagte, schlich sie sich heimlich in das Jungenzimmer.
Klaus saß an seinem Arbeitspult und hatte die Fäuste in beide Augen gebohrt.
»Kläuschen«, die Kleine kam schüchtern näher, »sieh mal, wie viel Ostereier ich habe, da, suche dir welche davon aus, weil ich doch solche Menge gefunden habe.«
Der Junge sah erstaunt auf. Zuerst glaubte er, Annemie mache nur Spaß, aber als das gute Schwesterchen ihm wirklich ihr Körbchen hinhielt, nahm er sich das Ei mit den Murmeln heraus und streichelte Annemies rundes Gesichtchen.
»Du bist ein guter Kerl!« sagte er dabei.
Nun erst hatte Nesthäkchen volle Freude an den Gaben des Osterhasen, weil auch Klaus sich freuen konnte. Jubelnd tanzte das kleine Mädchen durch die ganze Wohnung.
»Hanne, ich habe eine ganze Mandel Ostereier gefunden!« so klang es zur Küchentür hinein, und im nächsten Augenblick sprang Annemie der mit dem Besen vorüberfegenden Frida huckepack auf den Rücken: »Fridachen, wenn Sie mich ein bisschen mit der Teppichmaschine auskehren lassen, schenke ich Ihnen eins von meinen fünfzehn Ostereiern.«