Nesthäkchens Backfischzeit - Else Ury - E-Book

Nesthäkchens Backfischzeit E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Für die sechzehnjährige Annemarie beginnt ein aufregendes Kapitel ihres Lebens. Das ehrgeizige junge Mädchen besucht nun das Gymnasium und ihr Abitur rückt immer näher – dabei würde sie ihre Zeit statt mit Lernen oft lieber auf Tanzbällen und Ausflügen aufs Land verbringen. Gleichzeitig bekommt Annemarie die Nachwirkungen des Krieges zu spüren: Kohleknappheit, politische Unruhen und ähnliche Probleme machen ihr manchmal das Leben schwer. Doch mit Herz und Humor meistert Nesthäkchen jede Herausforderung ihrer turbulenten Teenagerjahre.Die "Nesthäkchen"- Kinderbuchreihe erzählt die Lebensgeschichte der munteren Arzttochter Annemarie Braun. Der Leser begleitet die "Nesthäkchen" genannte Annemarie dabei über zehn Bände hinweg auf ihrem abenteuerlichen Weg vom Schulkind zur erwachsenen Frau und (Groß-)Mutter.

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Else Ury

Nesthäkchens Backfischzeit

Eine Jungmädchengeschichte

Saga

Nesthäkchens Backfischzeit

 

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1919, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883541

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

1. Kapitel. Das lustige halbe Dutzend.

Im Ofen heulte der Wind. Er ächzte und stöhnte. Mit knöcherner Hand fuhr er in den Schornstein und wirbelte die Kohlenglut ungestüm durcheinander. An den Fensterscheiben rüttelte er, daß sie ärgerlich anfingen zu klirren. Jetzt warf er gar ein paar Hände Eisschollen wie ein echter Gassenjunge gegen das Fensterglas. Dann aber gab er schnell Fersengeld. Denn innen hinter der weißgepunkteten Mullgardine tauchte ein rosiger Blondkopf auf, mit weitaufgerissenen Blauaugen in das tolle Durcheinander hinausstarrend.

»Brrr – ist das ein Hundewetter!« Doktor Brauns Nesthäkchen schüttelte sich. »Die Mädels werden sich durch den Hagel doch nicht vom Kränzchen zurückhalten lassen? Ach wo, die sind nicht aus Marzipan. Höchstens Margot Thielen, aber die wohnt auf demselben Flur und braucht sich keinen Fuß naß zu machen. Wenn nur Veras Tante nicht Einspruch erhebt, die denkt auch immer gleich, wenn Vera mal hustet, sie hätte schon die Lungenentzündung. Himmel – ist denn die Welt ganz aus den Fugen!« Ein erneuter Hagelschauer prasselte gegen die Scheibe; die weißen Körner sprangen und hopsten so hoch, als hätten sie es auf Nesthäkchens sich gegen das Glas pressende Nasenspitze abgesehen.

Um so gemütlicher war es drinnen. Die von einem mattlila Seidenschleier gedämpfte elektrische Lampe warf ihr Licht über den zierlich gedeckten Kaffeetisch vor dem kleinen bunten Ecksofa. Auf dem goldgelben Gedeck, das Annemarie der Mutter mit dem festen Versprechen abgebettelt, daß bestimmt kein Kaffeefleck darauf prangen würde, standen sechs goldgeränderte Tassen. Die Mitte aber nahm der umfangreiche Kuchenteller ein mit allerlei verlockenden Sachen darauf. Das mochte wohl auch die derbe Jungenhand dazu bewegen, sich nach einem zuckerbestreuten Pfannkuchen auszustrecken und denselben gleich auf einmal in den Mund verschwinden zu lassen.

In diesem kritischen Augenblick gerade wandte sich Annemarie vom Fenster in das Zimmer zurück. Eine Sekunde stand sie entgeistert. Dann aber flog sie auf den Missetäter zu und schien nicht übel Lust zu haben, ihm den entwendeten Kuchen wieder aus dem Mund zu reißen.

»Mutti – der Klaus maust mir meinen Kränzchenkuchen weg! Gerade einen Pfannkuchen hat er erwischt! Und die Hanne hat bloß sechs gebacken, weil sie nicht mehr Fett spendieren wollte. Ach Gott, nun bekommt eine keinen!« so jammerte Annemarie und ging trotz ihrer fast sechzehn Jahre mit kriegerisch erhobenen Fäusten auf den älteren Bruder los.

Der verschanzte sich lachend gegen einen als Schild erhobenen Korbsessel.

»Reg' dich wieder ab, Annemie. Der Pfannkuchen hat deinem lieben Bruder mindestens so gut geschmeckt wie deinen Kränzchenschwestern. Und da du mit deiner Vera stets ein Herz und eine Seele bist, könnt ihr ja auch mal ein Magen sein und euch den Pfannkuchen teilen,« schlug der Primaner mit Gemütsruhe vor.

Aber gerade diese goß Öl in das Feuer von Annemaries leicht aufflammendem Temperament.

»Wenn es noch ein Stück Napfkuchen gewesen wäre!« Die Empörung über den gemausten Pfannkuchen überwältigte das junge Mädchen wieder. »Und mein Zimmer paffst du mir auch mit deiner alten Zigarette voll. Bei dem Sturm kann ich nicht mal ein Fenster aufmachen.« Wieder erfolgte ein energischer Vorstoß auf den Bruder.

»Was, ihr Mädels wollt Sekundaner sein und könnt nicht mal ein bißchen Zigarettendampf vertragen? Na, warte, Annemie, ich werde daran denken, wenn du mir mal wieder Zigaretten abbettelst.« Damit blies er der hübschen Schwester eine große Rauchwolke in das Gesicht.

Jetzt ging der Kampf um die Zigarette. Annemarie war geschmeidig wie eine Eidechse. Aber auch Klaus war geschickt und behende. Bald balgten sich die zwei kunstgerecht, wie sie es von klein auf getan hatten. Wenn es jetzt auch mehr Scherz war und weniger erbitterte Formen annahm.

Der Korbsessel stürzte zu Boden. Die Blumenkrippe am Fenster kam bedenklich ins Wanken. Annemaries Blondzöpfe, die sie seit kurzem mit einer schwarzen Seidenschleife am Hinterkopf aufgesteckt trug, entsprangen den fesselnden Nadeln. Puck, das weiße Zwerghündchen, sprang bald an dem einen, bald an dem andern laut blaffend empor, als wolle es seine Neutralität den beiden kriegführenden Parteien bezeigen.

Bums – da flog der goldgeränderte Milchtopf um. Eine weiße Flut ergoß sich über das schöne goldgelbe Damastgedeck.

»Mutti – Mutti – der Klaus hat – der Milchtopf ist umgefallen.« Annemaries Wahrheitsliebe mußte ihr doch denselben Anteil Schuld zusprechen. »Mutti – ach Gott, hier schwimmt alles!« Der große Backfisch rief nach der Mutter wie das kleine Nesthäkchen aus den Kindertagen.

In der zum Speisezimmer führenden Tür erschien Frau Doktor Braun. Eine schlanke Dame mit noch jungem Gesicht trotz des früh ergrauten Haars.

»Aber Kinder – schämt ihr euch denn gar nicht, ihr großen Menschen, euch wie die Gören zu betragen! Was sollen deine Freundinnen nur davon denken, wenn sie hier das wüste Durcheinander sehen, Lotte. Und mein Kaffeegedeck ist auch verdorben. Hatte ich nicht recht, daß ich es dir nicht geben wollte?« Vorwurfsvoll blickte die Mutter auf den jetzt wenig einladenden Tisch.

»Milch gibt keine Flecke, Kaffee wäre schlimmer.« Klaus pflegte allem im Leben die beste Seite abzugewinnen.

Während Annemarie mit ihrem kleinen Batisttaschentuch vergeblich die Milchfluten zu dämmen versuchte, öffnete sich die zweite zum Korridor führende Tür des Zimmers. Das Hausmädchen meldete: »Fräulein Annemarie – Fräulein Vera.«

Da trat auch schon ein schlankes junges Mädchen, Annemaries Intima, ins Zimmer. Der matte, elfenbeinfarbene Hautton ihres zarten Gesichtes bildete einen reizvollen Gegensatz zu dem tiefschwarzen Haar.

»Puh – hat es gegeben hierr Krrieg?« Lachend wies die Freundin auf die noch von dem Kampf zeugenden Spuren. Ihr Deutsch verleugnete die polnische Abstammung von der Mutter her noch immer nicht, trotzdem Vera schon einige Jahre in Deutschland lebte. Jetzt erst entdeckte das Backfischchen die in der Tür zum Speisezimmer lehnende Frau Doktor Braun.

Errötend holte es den verabsäumten Gruß nach und bestellte Empfehlungen von der Tante, in deren Haus das junge Mädchen aufwuchs. Denn Vera war eine Waise.

»Guten Tag, Vera. Nun kann sich meine Lotte mal tüchtig vor dir schämen, daß sie mit dem Klaus keinen Frieden hält. Draußen ist der Krieg nun glücklich zu Ende, aber hier in unseren vier Pfählen tobt er immer noch.« Es sollte scherzhaft klingen, aber man hörte doch einen mißbilligenden Ton aus den Worten der Mutter heraus.

Doktors Nesthäkchen schämte sich wirklich. Es begrüßte die Freundin lange nicht so jubelnd, wie das sonst der Fall war.

»Tag, Verachen. Sei froh, daß du keinen Bruder in Berlin hast.« Seufzend machte sich Annemarie daran, die entsprungenen Haarnadeln vom Teppich zusammenzusuchen, um die herabgerutschte Frisur wieder aufzustecken. Vera half ihr dabei.

»Oh, ich tue serr wünschen, daß Brruder Stani lebt auch hierr in Berlin bei die Onkel und Tante. Wenn er mirr auch noch so serr ärrgern wollte. Czernowitz ist so serr weit – oh, so serr!«

Traurig schaute das junge Mädchen in die Ferne.

Klaus aber rief lebhaft: »Da siehst du, Annemie, wie andere Leute über Brüder denken. Wir sind ein sehr begehrter Artikel.« Pfeifend schritt er in sein Zimmer.

»Ja, nach meinem Hänschen bange ich mich auch. Da wünschte ich ebenfalls, er studierte in Berlin und nicht in Freiburg,« rief Annemarie lebhaft hinter ihm drein.

Inzwischen hatte das Hausmädchen eine andere Kaffeedecke aufgelegt und die Ordnung im Zimmer wieder hergestellt. Es war auch die höchste Zeit, denn zum Kränzchen war man pünktlich.

Annemarie hatte gerade noch ihre eben erblühte mattrosa Hyazinthe, die sie in Gläsern zwischen den Doppelfenstern zog, unter Veras lebhafter Bewunderung auf den Tisch gesetzt. Da ging die Türklingel in kurzen Zwischenräumen hintereinander.

»Eins – zwei – drrei – vierr – sie werrden kommen, alle auf eine Mal.« Die beiden Freundinnen lauschten hinaus.

»Es können auch Patienten sein, Vater hat noch Sprechstunde.« Trotzdem es der beweglichen Annemarie in den Füßen zuckte, hinauszueilen, um zu sehen, ob die Freundinnen da wären, bezwang sie ihre Ungeduld. Der Vater liebte es nicht, wenn sie sich während der Sprechstunde im Korridor aufhielt.

Es waren die Kränzchenschwestern. Alle vier zugleich. Das heißt, Ilse Hermann und Marlene Ulrich, die beiden Cousinen, erschienen nie eine ohne die andere. Sie holten sich stets gegenseitig ab.

»Tag, Annemie, Tag, Vera – puh, ist das ein Wetter!« Die Freundinnen brachten einen frischen Hauch von Winterkälte mit in das mollige Zimmer.

»Marianne, du hast dir die Füße nicht ordentlich auf der Strohdecke draußen abgetreten,« sagte Margot Thielen, die peinlich saubere, und wies vorwurfsvoll auf die schwärzlichen Spuren, die Mariannes derbe Stiefel auf dem hellgrauen Teppich hinterließen.

»Macht nix – trocknet wieder,« entschied Annemarie mit der ihr eigenen Sorglosigkeit. »Kommt nur gleich Kaffee trinken, da werdet ihr am schnellsten warm.«

»Ich sitzen auf die Sofa« – »au, Pfannkuchen« – »habt ihr die Mathematikaufgaben schon gemacht« – »na, ich kriege sie nicht raus« – »ach, Kinder, fangt doch bloß nicht gleich mit der dummen Schule an, dazu ist nachher auch noch Zeit,« so schwirrten die Mädchenstimmen lustig durcheinander.

Minna brachte den Kaffee. Aber einschenken mußte ihn die junge Wirtin selber. So verlangten es die Kränzchenparagraphen. Ob es die Minna nun zu gut gemeint und die Kanne zu voll gefüllt hatte, oder ob Annemaries huschliges, unachtsames Wesen die Schuld daran trug, genug – auch die zweite Kaffeedecke mußte dran glauben. Diesmal war es ein bräunlicher See, der sich zu Füßen der mattrosa Hyazinthe ergoß.

Aber das störte die fidele Kränzchenlaune durchaus nicht. Wenn auch Margot Thielen, »Tugendschäfchen« genannt, sich nicht enthalten konnte, auszurufen: »Au weh, Annemie, deine Mutter wird schön schimpfen.«

Man ließ es sich schmecken. Ein edler Wettstreit entspann sich um den zu teilenden Pfannkuchen. Keine wollte einen ganzen essen, jede verzichtete großmütig zugunsten der andern. Der Erfolg davon war, daß sogar noch zwei Pfannkuchen übrig blieben. Bei einem Haar wären dieselben noch in Klaus' unersättlichen Magen gewandert. Als er im Nebenzimmer den uneigennützigen Wettstreit vernahm, erbot er sich großmütig, sich zu opfern und die mit Pflaumenmus gefüllten beiden Urheber der lebhaften Auseinandersetzung ebenfalls noch zu vertilgen, auf daß sie den Kränzchenfrieden nicht störten.

»Jawoll, das könnte dir passen, aber daraus wird nichts, mein Söhnchen,« erhob Annemarie lebhaft Einspruch. Sie wurde darin von der Mutter unterstützt, welche die jungen Gäste ihres Töchterchens gerade zu begrüßen kam. Frau Doktor Braun schlug vor, eine ehrliche kränzchenschwesterliche Teilung vorzunehmen, jeder Pfannkuchen in drei Teile.

»Nee, aussteinen müßt ihr,« rief Klaus dazwischen, »ihr wollt doch mal Studentinnen werden.« Als Primaner hatte er bereits reges Interesse für studentische Gepflogenheiten.

»Au ja« – »aber du mußt uns sagen, wie man das macht« – »los, Klaus!« so bestürmten die Mädels ihn von allen Seiten. Sie waren gut Freund miteinander und duzten sich noch aus der Kinderzeit her. Nur Annemarie, die ihren Bruder am besten kannte, gab zögernd zu bedenken: »Aber du darfst dich nicht dabei beteiligen, Klaus, sonst betrügst du uns.«

»Dann macht's doch ohne mich.« Der junge Mann zuckte gleichmütig mit der Achsel und gab sich den Anschein, als ob er das Zimmer verlassen wollte.

»Hierbleiben« – »du soll uns das Aussteinen zeigen« – »natürlich darfst du dich auch daran beteiligen« – »Annemie hat ja nur Spaß gemacht,« schwirrte es wie in einem Bienenstock durcheinander.

Klaus war nicht empfindlich. Er ließ sich erbitten. »Also paßt auf: Wenn ihr mit der Hand eine Faust macht, das bedeutet einen Stein. Streckt ihr die Hand aus, so wird es ein Stück Papier. So – und kreuzt ihr Mittel- und Zeigefinger übereinander, so habt ihr eine Schere.« Sechs Mädchenhände, kleine und große, zarte und frostrote, bemühten sich eifrig, dem Primaner seine Kunst nachzumachen.

»Schön – nun aufgepaßt – jetzt kommt das Eigentliche: Der Stein schleift die Schere, die Schere schneidet das Papier, und das Papier wickelt den Stein ein. Also, wenn ich zum Beispiel einen Stein mache und Vera eine Schere, habe ich gewonnen, denn der Stein ist mehr als eine Schere, er schleift sie. Hat aber Vera statt der Schere die Hand ausgestreckt und ein Stück Papier dargestellt, so hat sie gewonnen, denn das Papier geht über den Stein, es wickelt ihn ein. Verstandez – vous?«

»Nee« – »keine Spur« – »völlig schleierhaft« – »aber Kinder, das ist doch klar wie Kloßbrühe!« Wieder erhob sich ein lebhafter Tumult. Annemarie und Marlene Ulrich waren die einzigen, welche die Auseinandersetzung begriffen hatten.

»Weibliche Sekundaner sind Heupferde,« stellte Klaus weniger ritterlich als sachgemäß fest. »Probiert's doch mal, man lernt's am besten in der Praxis. Aber, du Schafsbock, doch nicht alle auf einmal, immer nur zwei und zwei.« Diesmal galt die brüderliche Liebkosung der Schwester. Diese quittierte dankend mit einem Knuff.

»Los – Marlene und Ilse können beginnen – eins – zwei – drei – alle beide Stein, – noch mal – Marlene Schere, Ilse Papier, wer hat also gewonnen?«

»Marlene« – »nein, Ilse« – die Parteien waren sich nicht einig.

»Noch nicht mal die Reife für Sexta; wenn es nach mir ginge, kommt keine von euch zu Ostern nach der Obersekunda,« neckte der unverbesserliche Klaus. »Natürlich hat Marlene gewonnen, denn die Schere schneidet das Papier.«

Die schwarzzöpfige Marlene streckte erfreut die Hand nach dem leckeren, zuckerbestreuten Pfannkuchen aus. »Ich gebe dir die Hälfte ab, Ilse,« flüsterte sie ihrer blonden Intima tröstend zu.

Aber »liegen lassen – so schnell geht die Geschichte nicht,« kommandierte der Jüngling. »Jetzt muß Marlene erst mit einer anderen den Pfannkuchen aussteinen, wer weiß, ob sie ihn behält.«

Tatsächlich, wie gewonnen, so zerronnen. Marlene, die gedacht, mit »Schere« immer gewinnen zu müssen, mußte einsehen, daß der Stein die Schere schliff. Folglich hatte Margot, die eine Faust gemacht, ihr den Pfannkuchen abgewonnen. Aber auch diese durfte ihn nicht behalten. Marianne Davis zog zwar den kürzeren gegen sie, aber Vera Burkhard, mit der sie dann die Wette eingehen mußte, rief glückstrahlend: »Oh, ich habe die Papierr, die ist mehrr, viel mehrr als das Stein.«

Zum Schluß blieb der Wettkampf nur noch zwischen den beiden Busenfreundinnen Vera und Annemarie auszufechten.

»Ich verzichte freiwillig, Verachen, ich bin die Wirtin, laß dir den Pfannkuchen gut schmecken,« verkündete Annemarie großmütig.

»Ausgeschließt – ich nicht essen ohne dirr, wirr werrden steinen aus beide noch eine Mal.« »Eins, zwei, drei« – Annemarie Braun, die Wirtin, blieb Siegerin.

»Nee, Kinder, das geht auf keinen Fall, ich werde mir doch nicht den Pfannkuchen schmecken lassen, und ihr habt das Zusehen. überhaupt müssen wir erst noch den zweiten auswetten.«

»Halt – auf den lege ich Beschlag als Lehrergehalt,« posaunte jetzt Klaus los.

»Klaus hat recht« – »er hat den Pfannkuchen redlich verdient« – »wir haben ja statt dessen das Vergnügen des Wettspiels gehabt,« riefen die Mädels lachend. Nur Annemarie wollte davon nichts hören.

»Das wäre ja, um auf die Akazien zu klettern! Wir beiden Braunschen Sprößlinge futtern Pfannkuchen, und unsere Gäste können sich den Mund wischen! Mutti – Muttichen, komm du doch mal als Schiedsrichter herein.«

Nicht nur Frau Doktor Braun kam dem Hilferuf ihres Töchterchens nach, sondern auch der Vater, der gerade seine Sprechstunde beendigt hatte.

»Na, das lustige halbe Dutzend wieder mal versammelt? Was gibt's denn hier für eine Revolution, Jungs!? Ich denke, wir haben genug an der draußen im Lande.« Annemaries Vater, ein stattlicher Herr um die Fünfzig, pflegte sein Nesthäkchen stets als seinen dritten Jungen zu bezeichnen. Und seitdem sie nun gar ins Gymnasium ging, mußten sich auch die Freundinnen seine scherzhafte Benennung gefallen lassen.

»Vaterchen, zwei Pfannkuchen sind noch übrig. Einen hat Klaus schon vorher stibitzt. Und nun will er von den beiden auch noch einen haben. Und den anderen habe ich beim Wettspiel gewonnen. Aber dies geht doch auf keinen Fall. Meine Freundinnen haben jeder nur einen halben bekommen,« berichtete sein Nesthäkchen erregt.

»Hm – ein schwieriger Fall. Schade, daß ich Arzt und nicht Jurist bin. Hier kann nur ein salomonisches Urteil helfen. Wie wär's, Elsbeth.« Doktor Braun zwinkerte seiner Frau verschmitzt zu, »wenn unsere Hanne die fehlenden fünf Pfannkuchen noch schnell nachbackt?«

Seine Frau war nicht sehr erbaut von dem Vorschlag. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist heute Sonnabend, Hanne ist noch beim Küchescheuern, da dürfen wir ihr nicht in die Quere kommen, sonst wird sie ungemütlich.«

»Ich weiß eine Weg aus,« meldete sich jetzt Vera.

»Also, was für eine Weg aus schlägst du vor?« Lachend wurde sie von den Gefährtinnen umringt.

»Wirr werrden geben dies eine Pfannkuchen an Klaus, und das anderre wirr werrden beißen ab jederr davon, bis err ist nichts mehrr da.«

Unter allgemeinem Jubel wurde Veras Vorschlag angenommen. Alle Parteien waren zufrieden gestellt. Nicht am wenigsten Klaus.

»Hol' doch ein Zentimetermaß, Lotte!« Vater und Mutter riefen ihr Nesthäkchen noch immer mit dem Kosenamen der Kleinkinderzeit. »Jede darf anderthalb Zentimeter abbeißen – neun bis zehn Zentimeter wird der Pfannkuchen im Durchmesser haben,« neckte Doktor Braun.

Aber so genau nahm man es nicht. Unter Lachen und Scherzen machte der Pfannkuchen die Runde. »Margot hat nur Luft abgebissen« – »Ilse, nicht die ganze Füllung« – »Zucker ablecken ist nicht – – –« Der eine Pfannkuchen mundete den sechs Mäulchen besser, als wenn Hanne noch eine ganze Schüssel davon gebacken hätte. Und zum Schluß blieb sogar noch ein Bissen übrig, den erhielt – Puck.

Die Kränzchenlaune, die nie zu wünschen übrig ließ, war durch die Pfannkuchenteilung noch fideler als sonst geworden. Frau Doktor Braun, welche im Nebenzimmer mit Briefschreiben beschäftigt war, lächelte vor sich hin. Es ging doch nichts über die Backfischzeit! All das Schwere, was die letzten Jahre mit sich gebracht, hielt vor diesem jungfrischen Lachen nicht stand. Die Jugend würde schon mit der schlimmen Zeit fertig werden, ihr gehörte die Zukunft. Und hoffentlich eine bessere!

Auch in dem kleinen, einfenstrigen Zimmer, das auf der anderen Seite an das Annemaries stieß, lauschte einer bei seiner griechischen Aschylosübersetzung auf das übermütige Gekicher nebenan.

»Richtige alberne Gänse – schnattern und schnattern – und unsereiner muß sich abquälen.« Ein halb verächtlicher, halb neidischer Seufzer schloß die nachdenkliche Betrachtung des Primaners.

Bald aber kam auch in Annemaries hübschem Mädchenzimmer Ernst und Arbeit zu seinem Recht. Das »Tugendschäfchen«, Margot Thielen, unterbrach plötzlich die ausgelassene Stimmung: »Kinder, ich denke, ihr schreibt Montag lateinische Versetzungsextemporale und wollt noch gemeinsam dazu wiederholen.«

»Himmel, hast du keine Flinte – das lateinische Extemporale habe ich total verschwitzt – Tugendschäfchen erinnert natürlich daran, trotzdem es nicht mal mitschreibt.«

Margot Thielen war die einzige der sechs Freundinnen, die nicht mit auf das dem Schubertschen Lyzeum angegliederte Gymnasium übergegangen war. Ihre Fähigkeiten lagen vor allem in weiblicher Betätigung. Dabei war sie so fleißig und gewissenhaft, daß sie, trotzdem sie lange nicht so begabt war wie zum Beispiel Annemarie Braun, meistens einen höheren Platz in der Schule einnahm als diese.

»Also schön, Margot, du kannst unsern ollen Professor Herwig vorstellen. Da mußt du aber auch so heiser und hüstelnd sprechen wie der und ab und zu eine Prise nehmen.« Doktors Nesthäkchen hatte bereits ihre Hand zu einer niedlichen Schnupftabakdose geformt und zog mit krausem Naschen die vermeintliche Prise ein.

»Famos« – »genau wie Herwig« – »zum Verwechseln ähnlich!« Der Jubel stieg.

»Wenn wir noch zum Extemporale wiederholen wollen, ist es aber wirklich höchste Eisenbahn,« unterbrach Marlene Ulrich, eine sehr gewissenhafte Schülerin, die Ausgelassenheit. »Annemie, hole Papier und Bleistifte. Margot, du nimmst die Grammatik und diktierst aus Lektion 12-18, Deklination, Konjugation, Vokabeln und Sätze, alles durcheinander. Das übt am meisten.«

Bald saß das lustige halbe Dutzend mit gezücktem Bleistift vor dem leeren Bogen. Aber die Lustigkeit verging einigen von ihnen bald.

»Nicht so schnell, Margot – wer soll denn da mitkommen,« begehrte Ilse auf.

Auch Marianne kam nicht mit. »Weil du selber kein Latein kannst, denkst du wohl, wir müssen es aus dem Ärmel schütteln!«

»Bitte, sage das letzte Satz noch eine Mal mehrr, ich nicht haben verstanden!« Selbst Veras blasse Wangen begannen sich zu röten.

»Konjugation, Margot – Herwig will uns diesmal besonders mit Konjugieren zwiebeln. Ach, zu Ablativ bist du wohl zu dämlich,« meinte Doktors Nesthäkchen treuherzig, ohne es böse zu meinen.

Aber Fräulein Margot war empfindlich. »Lernt doch euer lateinisches Zeug allein, wenn ihr glaubt, daß ich zu dämlich dazu bin!« Damit schlug sie die Grammatik zu, während ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Aber Margotchen, ich wollte dich doch nicht beleidigen!« Annemaries lustiges Gesichtchen schaute plötzlich betreten drein. »Sei kein Frosch und diktiere weiter.«

»Ach, wenn du immer so zu mir bist, so – so – überhebend – und überhaupt, wie du noch nicht mit Vera Burkhard befreundet warst, hast du mich viel lieber gehabt und – und – ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht auch im Gymnasium bin – – –« Das Mitleid mit sich selbst überwältigte Margot. Ein Taschentüchlein mit rosa Kante erschien auf der Bildfläche.

»Ach, Marrgot, wie kannst du nurr glauben dies. Annemarrie lieben dirr gerade so viel wie mirr und überhaupt, wirr sein doch alle Schwesters – Krränzchenschwesters,« begütigte Vera in ihrer lieben Art.

»Wer Annemarie etwas übelnimmt, der hat wirklich einen kleinen Piep. Das weiß doch jede von uns, daß die es mit dem Mund nicht so genau nimmt und schnell mal was hinsagt.«

»Du, sei still, Ilse, du bist selbst oft übelnehmend,« verteidigte sich Annemarie. »Aber nun denke ich, wir fahren wirklich fort in unserm Latein.«

Hanne aber, die alte Köchin bei Doktors, welche alle drei Braunschen Sprößlinge einst auf ihren derben Armen gewiegt hatte, war anderer Meinung. Sie öffnete ohne Umschweife die Tür, stellte eine kalte Speise – »Blubber« nannten ihn die Mädels – mitten auf den Tisch neben die lateinische Grammatik und verkündete: »So – nu Schluß mit die Jelehrsamkeit! Jetzt wird erst mal 'n bißchen jefuttert. Vorn Magen sorjen is besser als vorn Kopp.« Hanne war ein Unikum. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund. Doktors hielten ihrer bewährten Treue manch offenes Wort zugute. Mit Nesthäkchens Gymnasiallaufbahn war sie ganz und gar nicht einverstanden. »Puren Unverstand« nannte sie es, daß das »Kind« all das gelehrte Zeug in seinen Kopf pfropfen mußte.

»So, Annemiechen, kram man das Jeschreibsel zusammen, daß ich die Teller rumsetzen kann.« Hanne duzte immer noch Annemarie, trotzdem die ihr fast schon über den Kopf gewachsen war. Aber wenn sie zu dem Hausmädchen von ihr sprach, sagte sie nicht anders als »unser Fräulein« – anders tat Hanne es nicht.

Die Backfischchen waren durchaus nicht böse über die angenehme Unterbrechung. Sie zeigten fast noch größeren Eifer bei der eingehenden Beschäftigung mit der Speise als vorher bei der lateinischen Konjugation. Und als man seine Pflicht voll und ganz erfüllt hatte, indem man die Kränzchenspeise bis zum letzten Körnchen vertilgt hatte – wenn Klaus sich nicht als bedachter Mann noch rechtzeitig eingestellt, hätte er das Nachsehen gehabt – ja, nachher war es auch zu spät geworden, um noch einmal mit Latein zu beginnen. Denn der noch immer trotz Friedens knappen Lebensmittel wegen fand das Kränzchen ohne Abendbrot statt. Um acht Uhr mußte eine jede daheim sein. Und Marlene und Ilse hatten einen weiten Weg.

Mit vielen Küssen trennte sich das lustige halbe Dutzend.

»Auf Wiedersehen – auf Wiedersehen« – – – »Daumen drücken zu Montag!« – – – Nur Margot, die in demselben Haus wohnte, blieb noch ein Weilchen und ward dadurch wieder von ihrem Schmerz geheilt, denn jetzt war sie wieder Annemaries »Beste«.

2. Kapitel. Die Untersekunda schippt Schnee.

Es schneite – schneite – was nur vom Himmel herunter wollte. Große dicke Watteflocken, kleine zierliche Silbersterne – jetzt eine große weiße Puderwolke, ein lustiger Schneewirbel – und nun wieder still und stetig, gleichmäßig und sacht.

Ein dicker weißer Samtteppich breitete sich über die Plätze und Straßen Berlins. Die Häuser schauten ganz merkwürdig aus hohen weißen Zipfelmützen heraus.

Auf dem Blumenbrett vor Nesthäkchens Fenster türmten sich die Schneemassen. Kaum vermochte Annemarie am Morgen über den hohen Schneeberg zu ihrer Freundin Margot hinüberzuspähen.

»Eine Gottesmauer – eine weiße Gottesmauer! Ach, wenn sie doch unser ganzes Haus umschlösse, dann könnte ich nicht in die Schule gehen!« Das Backfischchen blickte von seinem Morgenfrühstück zweifelnd in das Schneegestöber hinaus, ob es wohl so weit kommen könnte.

»Aber Lotte, du bist doch sonst nicht so faul,« meinte die Mutter erstaunt, während sie dem Töchterchen die Schulbrote zurecht machte.

»Na, erstens ist heute Montag, da ist's immer eklig, in die Schule zu gehen. So dunkel und kalt ist's an keinem anderen Tage in der Woche! Und dann das lateinische Versetzungsextemporale heute – ach, wenn uns doch die Gottesmauer davor bewahren möchte!«

Frau Doktor mußte lachen.

»Bist du ein Kindskopf, Lotte! Lerne doch lieber vorher fleißig zum Extemporale, dann brauchst du keine Angst zu haben.«

»Bammel heißt es bei uns auf dem Gymnasium,« unterbrach Annemarie sachgemäß die Mutter. »Aber wo ist denn Vater und Klaus?« Sie wies verwundert auf die noch unberührten Gedecke. Der Vater, der in seinem ärztlichen Beruf sehr angestrengt war, hielt darauf, die Mahlzeiten mit seiner Familie gemeinsam einzunehmen. Waren dies doch die einzigen Ruhestunden, die der vielbeschäftigte Arzt sich gönnte.

»Wenn du wüßtest, wo die beiden stecken.« Die Mutter machte ein verschmitztes Gesicht. »Sie sorgen dafür, daß keine Gottesmauer um unser Haus wächst, damit du heute dein Extemporale schreiben kannst.«

»Was – wieso denn?« Nesthäkchens rundes Gesicht sah so verständnislos drein, daß die Mutter laut lachen mußte.

»Ja, da staunst du! In aller Herrgottsfrühe hat der Hausmeister heute schon die Mieter zum Schneeschippen auffordern lassen. Jeder gesunde Mensch ist dazu verpflichtet, weil der Magistrat sonst nicht dieser unaufhörlich sich erneuernden Schneemengen Herr werden kann, und der ganze Verkehr dadurch stockt. Da ist Vater noch vor seiner Sprechstunde zum Schneeschippen hinuntergegangen, und den Klaus hat er mitgenommen.«

»Vater schippt Schnee?« Hellauf lachte ihr Nesthäkchen. »Das muß ich sehen« – und spornstreichs wollte es hinaus nach dem Balkon, wo der Schnee schon die halbe Tür bedeckte.

»Hiergeblieben, Lotte!« rief die Mutter hinter ihr her. »Ich kriege ja das nasse Zeug ins Wohnzimmer herein. Wenn du nachher zur Schule gehst, kannst du den Vater unten bewundern.«

»Ich gehe nicht in die Schule,« erklärte plötzlich das Töchterchen mit Bestimmtheit. »Ich bin ebenso zum Schneeschippen verpflichtet wie Klaus. Ich bin auch ein gesunder Mensch – Hurra, das lateinische Extemporale können sie ohne mich schreiben!«

»Jawohl, daraus wird nichts, Fräulein Faulpelz,« tönte es von der Tür her, und herein trat der Vater mit kältegerötetem Gesicht. »Eine Pflicht darf nicht um einer andern willen vernachlässigt werden. Ich gehe jetzt auch in meine Sprechstunde und der Klaus in die Schule. Aber wir haben tüchtig geschafft. Nun soll der heiße Kaffee noch mal so gut munden.«

»Och«, machte Nesthäkchen enttäuscht, und das runde Gesichtchen wurde lang. »Ich habe mich schon so auf das Schneeschippen gefreut.«

»Ich fürchte, wenn das draußen so weiter geht, werdet ihr nachmittags noch antreten müssen und Hanne auch«, scherzte der Vater, auf die gerade mit heißem Kaffee eintretende rundliche Küchenfee weisend.

»Ja, Kuchen – nischt zu machen! Mit mir soll Kulicke unten« – das war der Hausmeister – »man ja nich anfangen. Wenn andere Leute so varrickt sind und ihm seinen Schnee vor'n Haus wechschippen, ich hab' Jott sei Dank noch meine jesunden Sinne. Und ieberhaupt weiß ich, was ich mich als herrschaftliche Köchin schuldig sein tu.« Hanne war nämlich empört darüber, daß »ihr Doktor« so wenig Standesbewußtsein hatte und sich zum Schneeschippen zur Verfügung gestellt hatte. Was sollten denn bloß die Patienten davon denken!

»Also Hanne, heute nachmittag treten wir zusammen zum Schneeschippen an«, neckte nun auch Annemarie.

»Du, mach, daß de in de Schule kommst und ieberhaupt hab' ich das Reißen in alle Knochens!« Damit schmetterte Hanne aufgebracht die Tür zu.

»Komische alte Kruke!« lachte Klaus hinter ihr her.

Annemarie aber warf einen besorgten Blick auf die Standuhr in der Ecke.

Himmel – zehn Minuten zu acht! Nun hieß es aber dalli – dalli! Die pflichteifrige Margot, mit der sie meistens den Schulweg zurücklegte, würde sicher heute nicht mehr unten warten. Die Pelzmütze auf das Blondhaar gestülpt, Mantel angezogen – Schultasche – waren auch alle Bücher drin? Na hoffentlich! Jetzt war keine Zeit mehr nachzusehen. Was fehlte noch? Richtig, die Hauptsache: Das Frühstück!

»Lotte, die hohen Überschuhe! Daß du mir bei dem Schneewetter nicht ohne Überschuhe gehst«, rief die Mutter besorgt.

»Jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit mehr dazu, es ist wahnsinnig spät.« Annemarie wollte auf und davon.

»Du ziehst die Überschuhe an, Annemarie!« Das war Vaters bestimmter Ton, gegen den es keine Einwendung gab. Und überhaupt, wenn er Annemarie und nicht Lotte zu ihr sagte, dann war er ärgerlich. »Du hattest Zeit genug, früher anzufangen.«

Annemarie zerrte bereits ihre sämtlichen Schuhe aus dem Stiefelschrank. Himmlischer Vater, wo waren die Überschuhe bloß? »Minna – Minna – haben Sie nicht meine Überschuhe gesehen?«

»Nein, Fräulein Annemarie, sie müssen doch im Schrank stehen.«

»Da sind sie aber nicht – ach Gott, ach Gott, was fange ich bloß an!« Nesthäkchen raste vom Zimmer zum Korridor und vom Korridor ins Zimmer zurück. Puck, ihr Liebling, der ihr gerade in die Quere kam, bekam in der Eile einen Tritt, daß er sich aufheulend in eine sichere Ecke verkroch. Annemarie kümmerte es heute nicht. »Meine Schuhe sind sicher gestohlen worden, ein Patient wird sie mitgenommen haben« – jammerte sie. »Ich muß aber wirklich jetzt fort! Klaus geht auch schon.« Letzteres war allerdings ein Beweis dafür, daß die Schule bereits begonnen hatte.

»Annemiechen, hier sind se ja. Du hast se jestern bei mich in der Küche jelassen.« Hanne brachte Fräulein Liederlich, die gerade entwischen wollte, die vermißten Überschuhe hinterher. »Ich muß se aber noch'n bißchen sauber machen, se sind zu dreckrig.«

»Schadet nichts – ich muß zur Schule.« Annemarie war bereits in einem drin.

»Reg' dir nich so auf, Kind, du lernst doch noch mehr als jenuch. Renn dir auch nich so ab, Annemiechen, du rennst dir sonst die Schwindsucht an'n Hals – – –« Annemarie hörte die treue Hanne längst nicht mehr.

Die war bereits die Treppe hinab, hinaus aus dem Hause – pardauz – da flog sie die drei Stufen, die von der Haustür zur Straße hinabführten, hinunter, anstatt sie zu gehen. Fräulein Backfisch lag der Länge nach im tiefen Schnee. Gut, daß der wenigstens weich war. Annemarie hatte nicht mal Zeit, sich zu schämen. Denn Herr Thielen, Margots Vater, der mit einigen anderen Mietern beim Schneeschaufeln war, rief ihr zu: »Was, jetzt gehst du erst zur Schule, Annemarie? Meine Margot wird bald wieder nach Hause kommen.« Und Mäxchen Kulicke, der kleine Pflegesohn des Hausmeisters, eine echte Berliner Range, schmetterte sogar hinter ihr her:

»Fräulein Annemarie – Fräulein Annemarie,

Sie machen ja eine Rutschpartie.«

»Verflixter Bengel!« wütete Annemarie in sich hinein, während sie sich nicht mal Zeit nahm, den Schnee von den Sachen zu klopfen. »So ein Bengel – na warte man, mein Söhnchen, deine Dresche kriegst du ein andermal dafür.« Annemarie fühlte sich nämlich noch immer an der Erziehung des kleinen Mäxchens beteiligt. Hatte sie ihn doch als kleinen elternlosen Ostpreußensäugling vor Jahren in ihrem Puppenwagen beherbergt.

Nein, war das heute ulkig auf der Straße. Man konnte in dem tollen Schneegetriebe kaum die Augen aufhalten. Keine Elektrische fuhr, weil die Gleise alle verschneit waren. Die Schneeböschung längs des Fußsteiges war so hoch, daß Annemarie nur mit Mühe darüber hinwegsehen konnte. Ach, der alte Geheimrat von nebenan war ja auch beim Schneeschippen dabei. Und die junge Frau Assessor, der Student von Nummer neunzehn und der dicke Schlächtermeister, alles durcheinander. Doktor Brauns Nesthäkchen kannte die meisten von ihnen von ihrem Balkonaufenthalt im Sommer her.

Das Vorwärtskommen in dem hohen Schnee war nicht so einfach. Einen Schritt ging man, einen rutschte man. Und nun noch mit den hohen Überschuhen, die so unbequem und lästig waren. Sollte sie dieselben flink ausziehen und in die Mappe stecken? Annemarie überlegte. Nein, es ging nicht. Die Eltern verließen sich darauf, daß sie die Gummischuhe trug, es war unehrlich, wenn sie sie damit hinterging. Trotz mancher kleinen Fehler war Annemarie Braun ein durch und durch wahrheitsliebendes Mädchen. Den Schulbüchern und Heften würde es auch nicht gerade zur größeren Sauberkeit gereichen, wenn sie die nassen Gummischuhe dazu packte. Und überhaupt – zu spät kam sie ja auf alle Fälle. Wenn wenigstens noch in der ersten Stunde lateinisches Extemporale geschrieben worden wäre. Dann wäre ihr die Verspätung höchst angenehm gewesen. Aber die erste Stunde war Deutsch bei Fräulein Neubert, einer strengen und wenig beliebten Lehrerin.

Heiliges Kanonenrohr – dieser Kraftausdruck stammte natürlich von Klaus – die Schuluhr wies ja fast schon auf halb neun. Tiefe, beklemmende Stille auf den Treppen und in den Gängen. Aus den unteren Klassen des Lyzeums klangen die lauten plärrenden Stimmen der kleinen Abcschützen zusammen im Chor.

Dort hinter jener Tür, der ersten Klasse des Lyzeums, saß jetzt Margot Thielen. Ob die wohl ahnte, daß sich ihre Freundin Annemarie hier so scheu vorbeischlich?

Das Mädchengymnasium lag im anderen Flügel des ausgedehnten roten Backsteingebäudes. Herzklopfend stand Annemarie endlich vor der Tür, die ein Schild »Untersekunda« trug. Sie war zu schnell gelaufen – sicherlich – daher das dumme Herzklopfen. Denn Angst oder vielmehr »Bammel« vor Fräulein Neubert hatte sie doch nicht etwa! Ih, keine Spur!

»Nanu?« Fräulein Neubert richtete die Augen hinter den großen runden Hornbrillengläsern – »Eulenaugen« nannten sie die bösen Mädel, – auf den mit glühenden Wangen plötzlich austauchenden Backfisch. »Nanu?« sagte sie noch einmal und nichts weiter. Aber in diesem Schweigen lag eine sprechendere Strafpredigt, als wenn die Oberlehrerin eine lange Rede gehalten hätte.

»Ach, entschuldigen Sie, bitte, Fräulein Neubert,« begann Annemarie möglichst unbefangen, »es schneit nämlich draußen so sehr.«

»Ach nee!« machte die Lehrerin. »Hast du noch mehr solcher interessanten Neuigkeiten?«

Die Klasse, die sonst gern jeden Witz der Lehrer belachte, wagte es diesmal nicht. Die Eulengläser funkelten gar zu ärgerlich.

»Mein Vater und mein Bruder haben heute morgen Schnee geschippt,« begann Annemarie von neuem, »und – – –« sie kam nicht weiter.