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Die bekannte Kinderbuchreihe 'Nesthäkchen' von Else Ury. Annemarie Braun, genannt Nesthäkchen, ist ein pfiffiges, aufgewecktes und durchaus nicht immer braves Mädchen. Die Reihe erzählt von Nesthäkchens Streichen, von schönen und auch traurigen Erlebnissen. Band 8: Nesthäkchens Jüngste. Nesthäkchens Kinder Hans und Vronli sind schon ausgezogen. Nun geht auch ihre Jüngste, Ursel, fort, um Bankangestellte zu werden. Das passt so gar nicht zu der musisch begabten und ein wenig ungezügelten jungen Dame.
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Seitenzahl: 380
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Nesthäkchens Jüngste
Nesthäkchen Band 8
© 1924 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Über die Autorin
Es war ein echter, rechter Apriltag. Regen und Sonnenschein in launischem Wechsel. Manchmal lachte und weinte der Himmel sogar zu gleicher Zeit, wie ein Kind, das noch keinen Übergang von dem einen Gefühl zum entgegengesetzten kennt.
Und dabei sollte ein Mensch Wäsche trocknen. Hatte man die blütenweißen Stücke eben auf die Leine gebracht und freute sich, wie der Frühlingswind sie durchblies und lustig flattern machte, wie die liebe Sonne sich alle erdenkliche Mühe gab, der emsigen Hausfrau zur Hand zu gehen und ihre Pflicht als bester Trockenapparat zu erfüllen, haste nicht gesehen, da war schon wieder solch ein grauschwarzes Wolkenungetüm herangejagt und spie seinen verderblichen Strahl auf die weiße Herrlichkeit. Nein, man konnte es Frau Annemarie wirklich nicht verdenken, wenn auch sie heute nicht ganz gleichmäßig blieb, wenn sie das fortwährende Foppen und Narren der Aprilsonne aus dem Häuschen brachte.
»Trude – Trude – unsere Wäsche wird naß!« Zum soundsovielten Male eilte Frau Annemarie von ihrem Erkerplätzchen hinaus in den Hofgarten hinter dem Hause. Hinterdrein die Trude, das Stubenmädchen, die mit ihren jungen Beinen kaum ihrer Herrin zu folgen vermochte. Wie eine Zwanzigjährige lief und hantierte Frau Annemarie heute noch, trotzdem sie nun schon die doppelte Anzahl von Jahren zurückgelegt hatte. War es denn zu glauben? Die Annemarie Hartenstein, Doktor Brauns einstiges Nesthäkchen, bereits über die vierzig? Nein, das glaubte ihr kein Mensch, wenn man sie mit ihrer frischen, resoluten Art schaffen sah, wenn man ihr jugendfrisches, herzerquickendes Lachen hörte, das sie sich, allem Schicksalsunbill zum Trotz, bewahrt hatte. Und sie selbst vermochte es am wenigsten zu fassen. Fühlte sie sich doch noch so jung, noch so gänzlich unbeschwert von der Würde ihrer Jahre. Ja, manchmal hätte sie der Vronli, ihrer Ältesten, welche des Vaters ernstere Art geerbt hatte, ganz gern ein wenig von der Leichtlebigkeit ihrer Frohnatur abgegeben.
Auch der Sonne, Annemaries guter Freundin, die nun schon so manches Jahr auf das Doktornest in Lichterfelde herabblinzelte, erschien Frau Annemarie gänzlich unverändert. Das Haar noch eben so golden wie ihr Strahlengespinst, das Auge voll Glanz, leuchtend von innerer Wärme – nein, wären die Wäschestücke, die Höschen und Hemdchen der Kinder, die auf den Trockenplatz gehängt wurden, nicht von Mal zu Mal gewachsen, sie wäre es wirklich kaum gewahr geworden, daß sich Jahr um Jahr von der Zeitenspule abhaspelte. Keine Kinderhöschen mehr auf der Leine, nur noch große Wäsche, die Frau Annemaries Hand energisch vor Petrus' Gießkanne zu bewahren suchte.
»Frau Professern, die Sonne scheint schon wieder, wir kennen wieder mit's Aufhängen von vorn anfangen«, frohlockte Trude, nachdem man alles eiligst herabgerissen.
»Aber da soll doch – –!« Die mit »Frau Professern« Angeredete hielt mitten in ihrem Empörungsausruf inne und lachte plötzlich los wie – der Apriltag. »Solch eine Ruppigkeit – dalli, dalli, Trude, flink wieder alles auf die Leine! Vielleicht bleibt uns die Sonne diesmal treu. Wollen mal sehen, wer es länger aushält, wir oder der launische April.«
Selbst die Sonne konnte Frau Annemaries liebenswürdiger Art nicht widerstehen. Sie nahm vor der Hand nicht wieder Reißaus, wenn auch dräuende Wolkenungeheuer ihre schwarzen Zungen gegen sie bleckten. Gab es doch auch für sie etwas besonders Hübsches da unten zu sehen: Ein blondzöpfiges junges Ding, rosig wie der Lenz, der heuer noch auf sich warten ließ. In der Hand die ersten goldenen Osterglocken, die sich aus dem Beet herausgewagt. Nein, was war das Mädel während des Winters, wo Frau Sonne sich auf ihren Altenteil zurückgezogen hatte, in die Höhe geschossen. Ein getreues Abbild der Mutter. Wenn man es nicht wußte, daß so und so viele Jahre inzwischen verflossen waren, man hätte denken können, Doktor Brauns Nesthäkchen, die Annemarie, mit ihren blonden Hängezöpfen wieder vor sich zu sehen.
»Frühling, Frühling wird es nun bald!« – – Wie Lerchengetriller erklang es durch den noch recht wenig frühlingsmäßigen Garten.
»Ursel – Urselchen – da bist du ja, Kind.« Frau Annemarie ließ ihre Wäsche im Stich und wandte sich dem Vordergarten zu, aus dem die süße Mädchenstimme ertönte. »Na, mein Mädel, wie war's? Ist dir der Abschied von der Schule schwer gefallen? Hat's Tränen gesetzt?« Prüfend schaute die Mutter in das liebreizende, noch kindlichrunde Mädchenantlitz.
Nein, nach Tränen und Abschiedsweh sah Ursels Gesicht durchaus nicht aus.
»Tag, meine kleine Muzi. Da wären wir also glücklich raus aus der Penne! Hurra – frei! Ob ich geheult habe beim Abschied? Keine Spur! Das habe ich meiner Freundin Ruth überlassen. Selig war ich, daß wir nun endlich aus dem Stall raus sind. Und als mir Paukert noch die Gesangsprämie überreichte – eine Schubertbiographie, Mutti, mächtig nobel! – und zu mir sagte, daß ihm die Stütze des Soprans sehr fehlen würde, da hätte besagte Stütze beinahe einen Luftsprung vollführt.« Ursel holte den verabsäumten Luftsprung hier im Garten noch nach, wobei sie die Mutter um die Taille packte.
»Ursel – Mädel – du reißt mich ja um. Eine Gesangsprämie hast du erhalten? Nun, eine Anerkennung für deine wissenschaftlichen Leistungen wäre mir eigentlich lieber gewesen. Wie ist das Abschiedszeugnis ausgefallen, Kind?«
»Ungerecht – im höchsten Grade ungerecht. Habe ich in Mathematik etwa gut verdient? Noch nicht mal genügend. Und im Betragen hätte ich mir auch kein lobenswert gegeben, wo ich die werten Herrschaften so und so oft durch meine Rangenhaftigkeit mit Entsetzen erfüllt habe. Ich glaube, die freuen sich genau so, mich los zu werden, wie das umgekehrt der Fall ist. Sicher haben sie mir nur aus Dankbarkeit solch ein anständiges Abgangszeugnis verabfolgt.« Ursel zog das zusammengefaltete Zeugnis aus der Tasche.
»Ei, sieh mal an – für dich, Unband, alles, was sein kann. Vronlis Abgangszensur war natürlich noch besser,« meinte die Mutter lächelnd, nachdem sie es studiert.
»Muzi – unser Tugendmoppelchen darfst du nicht zum Vergleich mit mir heranziehen. Die ist stets das grade Gegenteil von mir. Brav und sittsam – brrr! Eine Gänsehaut überläuft mich, wenn ich an Vronlis lederne Schulzeit denke. Lieber erinnere dich an deine eigenen Schuljahre, geliebtes Muzerle – Großmuttchen hat mir neulich unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, daß du grade solch Ausbund gewesen sein sollst wie ich. Hahaha – der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum.«
»Ursel, was fällt dir ein! Dein loses Mündchen galoppiert schon wieder mal ohne Zaum und Zügel mit dir davon.« Frau Annemarie versuchte vergeblich die strenge Mutter herauszubeißen. Ursel glaubte ihr das ernste Gesicht, in dem es von zurückgedämmter Heiterkeit zuckte, einfach nicht.
»Muz, streng dich nicht unnötig an. Wenn du deine Stirn mit Falten garnierst, bist du gar nicht mehr meine hübsche, kleine Muzi. Wir sind doch Freundinnen – das hast du von jeher immer zu uns gesagt.«
»Ja, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, mein Kind. Die wünsche ich, eingehalten zu sehen.« Frau Annemarie hatte ihre mütterliche Würde jetzt wieder beisammen. »Tummle dich, Ursel, lege schnell deine Sachen ab. Und dann komm und hilf uns die Wäsche noch vor Tisch zum hundertsten Mal aufhängen. Der Sonne ist heute nicht zu trauen.«
»Ja, Muz, stehe sofort zu Diensten. Aber unter einer Bedingung – daß du mir nachher auch hilfst. Du weißt doch schon – beim Vater –«
»Bedingungen lasse ich mir nicht vorschreiben, Ursel.« Annemarie sah der Davoneilenden mit geteilten Empfindungen nach. Mutterstolz war wohl die stärkste derselben; aber daneben gab es doch auch eine leise Wehmut, daß nun auch ihre Jüngste, ihr Nesthäkchen, die Kinderschuhe heute abgestreift hatte und den Flug ins Leben wagen sollte. Wohin mochte er sie führen? Ach, daß Mutterliebe mit allem Hoffen, allem Sorgen dem Kinde nicht den Weg so dornenfrei zu gestalten vermag, wie man es für seine Lieblinge erfleht.
Annemarie blickte empor in das Geäst der Linde, das sich mit den ersten lichtgrünen Frühlingsperlen geschmückt, weitere Zuversicht, die Grundader ihres Wesens, begann Frau Annemarie wieder zu durchpulsen. Regen und Sonnenschein brauchten die jungen Knospen zum Gedeihen. Sturm, um ihre Standhaftigkeit zu festigen. Warum sollte es bei jungen Menschenknospen anders sein?
Oft sah man die Herrin des Professorenheims da draußen nicht müßigen Gedanken nachhängen. Meist erforderte die Pflicht des Tages ihre volle Schaffenskraft. Auch jetzt gab sie sich einen energischen Ruck. Die Wäsche – Himmel, es begann ja bereits wieder aus dunklen Wolkenaugen zu tropfen. Ärgerlich blickte sie zu den im Schnellzugstempo Segelnden empor. Nun aber endgültig auf den Trockenboden mit dem ganzen Kram. Das sollte ihr einfallen, sich noch länger als Spielball der Aprillaunen gebrauchen zu lassen.
»Ei, Weible, wieder mal tapfer am Werk?« erklang es da hinter der rüstig Schaffenden.
»Ih, du meine Güte, der Herr Professor ist ja schon da!« Trude ließ Wäsche Wäsche sein und jagte ins Haus, eiligst den Tisch zu decken. Denn in Bezug auf Pünktlichkeit verstand der Herr keinen Spaß, so seelensgut er auch sonst war.
»Rudi – wie schön, daß du heute zeitig heimkommst.« Annemaries Augen blickten dem Gatten noch genau so freudig entgegen, wie in den ersten Jahren ihrer Ehe. Sie nahm den ihr zukommenden Kuss in Empfang und strich ihm über das sich bereits lichtende Haar. »Sehr abgespannt, mein armer Mann?«
»Ein bissel schon. Vier Operationen heute vormittag. Hoffentlich bring ich den letzten Fall durch, Mutter von vier kleinen Kindern.«
»Du wirst sie ihnen sicher erhalten, Rudi.« Unbegrenztes Vertrauen sprach aus Annemaries Worten. Ein Vertrauen, das sämtliche Patienten mit ihr teilten. Wenn einer noch helfen konnte, so war es Professor Hartenstein. Seine ruhige, klare Art, seine geschickte Hand bei Operationen hatten ihn zu einem der gesuchtesten Berliner Ärzte gemacht, nachdem sein wissenschaftliches Werk, das er vor Jahren geschrieben, den Grund dazu gelegt hatte, ihn in weitesten Kreisen bekannt zu machen. Annemarie hatte mit ihrem Mann gehofft und gebangt, nun genoß sie in stolzfreudiger Genugtuung die Anerkennung, die ihm zuteil wurde.
Das Mittagessen vereinigte die Professorenfamilie. Auch der filius hatte sich dazu eingefunden. Ein kräftiger Bursch mit krausem Blondkopf und treuherzigen blauen Augen.
»Stelle euch gehorsamst einen Oberprimaner vor«, meldete er.
»Will ich mir halt auch ausgebeten haben – wie ist das Versetzungszeugnis ausgefallen, Hansi?« erkundigte sich der Vater.
»Für bescheidene Ansprüche ausreichend.« Hans pflegte seine Ansprüche betreffs seiner Leistungsfähigkeit stets auf ein bescheidenes Minimum herabzuschrauben. Er strengte sich nicht allzu gern an, der junge Herr.
»Wo hast du denn die Zensur?« Der Mutter kam die Sache etwas verdächtig vor.
Hans suchte in sämtlichen Jackett-, Westen- und Hosentaschen, trotzdem er ganz genau wußte, daß sie sich dort unmöglich vorfinden könnte.
»Wird wohl noch im Mantel stecken, der Wisch,« meinte er schließlich gleichmütig, sich den Teller zum zweiten Male füllend.
»Du, hör mal, Hansi, ich fürcht' halt, du hast die richtige Bezeichnung für das Schriftstück gebraucht.« Der Vater zog die Augenbrauen hoch. »Was für ein Prädikat hast du in Latein und Griechisch?«
Solch eine direkte Frage war höchst peinlich. Besonders wenn man es sich gerade schmecken ließ. »Ich erinnere mich nicht mehr genau – es wird wohl genügend gewesen sein. Hauptsache, man ist mit durchgerutscht.«
»Das ist noch ein recht unreifer Standpunkt, Hansi. Die Hauptsache bleibt halt immer, man leistet etwas Tüchtiges, in der Schule sowohl, wie im Leben. Die Bewertung durch die andern, das kommt erst in zweiter Reihe.« Wie Professor Hartenstein an sich selbst die höchsten Ansprüche in Bezug auf Pflichterfüllung stellte, so verlangte er das auch von seiner Familie.
»Unser Kleines hat ein überraschend gutes Abgangszeugnis heimgebracht, Rudi,« lenkte Annemarie, die stets überall auszugleichen bestrebt war, von dem heiklen Thema, das ja bis nach Tisch Zeit hatte, ab.
»Das Ursele – der Tausend. Laß schauen, Kind.« Ursel war von jeher der erklärte Liebling des Vaters. Glich sie doch seiner Annemarie äußerlich und innerlich am meisten.
»Vaterle, ich hab' die Gesangsprämie bekommen, und nun mußt du mir auch etwas versprechen, – auch eine Belohnung, ja? Tust du es?« Schmeichelnd bestürmte das junge Mädchen den Vater, ihm das Abgangszeugnis überreichend.
»Nun, auf ein Konzert- oder Theaterbillett soll mir's nicht ankommen, Kleines.« Lächelnd blickte der Professor auf sein hübsches Töchterchen. »Schau – schau – in Mathematik gut. Und da behauptete die Krabbe, nimmer rechnen zu können. Dein künftiger Bankchef wird es dir halt beibringen.«
»Das wird mir kein Mensch beibringen, das olle lederne Zeug«, widersprach Ursel erregt. »Und zur Bank gehe ich überhaupt nicht. Ich hab' die Gesangsprämie bekommen, und ich will zur Oper!« Mit blitzenden Augen rief's Ursel.
»Hahaha« – der Vater und Hansi lachten um die Wette. »Hahaha« – wenn der eine aufhörte, fing der andere an. »Also Operndiva willst du werden, Kleines? Der ›Star‹ von Lichterfelde – ein Kapitalmädel!« Ursel mußte es sich gefallen lassen, weidlich ausgelacht zu werden.
Sie ballte die Hände vor Zorn. »Lacht nur, ihr werdet es ja sehen, daß es mir Ernst damit ist. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Ich eigne mich nicht dazu, den Kontorbock zu reiten. Mutti, liebste, einzige Muzi, hilf du mir doch. Du weißt es ja am besten, wie gräßlich mir solche trockene, kaufmännische Tätigkeit sein würde, daß ich nur glücklich werden kann, wenn ich mich meiner geliebten Musik widmen darf.« Ein heftiger Tränenausbruch erfolgte.
Annemarie zog ihr erregtes Nesthäkchen liebevoll schützend zu sich heran. »Vor allem werde mal ruhiger, Kind. Mit deiner spontanen Heftigkeit richtest du gar nichts aus. Der Vater wird mit sich reden lassen.« Bittend blickte sie zu ihrem Manne hinüber.
Selten hatte Annemaries Blick, wenn er sich bittend an Rudi wandte, in all ihren Ehejahren seinen Zweck verfehlt. Ihr Auge war stets ihr bester Fürsprecher bei ihm. Nur schwer konnte er ihm widerstehen. Aber heute schüttelte er unzufrieden den Kopf.
»Ich verstehe dich gar nicht, Annemarie, daß du dem Mädel im Ernst das Wort reden kannst, anstatt ihr die Flausen 'nauszujagen. Zur Theaterprinzessin haben wir unser Kind doch wahrlich nicht erzogen. Unerhört, daß solche hirnlosen Wünsche überhaupt in unser solides Bürgerhaus kommen können. Aber das liegt halt daran, daß man dem Mädel viel zu viel Willen bisher gelassen hat, daß wir es arg verzogen haben.«
»Ja, was kann denn ich dafür, wenn ihr mich verzogen habt?« begehrte Ursel, die selten ein strafendes Wort von den Eltern zu hören bekam, auf. »Du selbst hast neulich gesagt, Vater, als du mich in den Freischütz mitgenommen, eine Gnade wär's, wenn einem der Himmel eine solche Stimme geschenkt. Und jetzt sperrst du dich dagegen. Ich könnte die Rolle der Ännchen grade so gut singen.«
»An allzu großer Bescheidenheit leidest grad nicht, Ursel.« Es zuckte schon wieder belustigt um des Vaters Mundwinkel. Sein Unmut war bezwungen; er sprach jetzt in dem sachlich ruhigen Tone, den man an ihm gewöhnt war. »Ursel, du weißt doch, daß der Vater stets dein Bestes will, gelt? Du hast ja eine recht hübsche Stimme, freilich, wir freuen uns ja alle daran. Aber sie soll uns und vor allem dir auch zur Freude bleiben. So einfach wie du dir das vorstellst, ist der Weg einer Sängerin nicht. Mit gutem Stimmaterial ist es nicht abgetan. Kein Beruf hat mehr Enttäuschungen im Gefolge, als der einer Künstlerin. Deine Kunst soll dir Freundin bleiben, Kind, und dir nicht zur Tyrannin werden.« Das waren gute, väterliche Worte. Sie machten Annemaries Herz so warm, daß sie den Arm um Rudis Schulter schlang und sich an ihn lehnte, zum Zeichen ihres festen Einverständnisses mit ihrem Manne.
Nicht so Ursel. So weit war sie denn doch nicht Annemaries Tochter. Fügsamkeit und Nachgeben hatte sie noch nicht gelernt.
»Der Vronli habt ihr's doch auch erlaubt, daß sie nach München an das Schwabinger Krankenhaus als Säuglingsschwester hat gehen dürfen. Trotzdem der Vater auch zuerst nicht dafür war. Und der Hansi will auch kein Arzt werden, wie der Vater es wünscht. Na ja – – –« Ursel kam einen Augenblick aus dem Text, denn Hans hatte ihr nachdrücklich auf den Fuß getreten. Aber sie fuhr sogleich in ihrem Empörungsausbruch fort: »Und ich lebe doch mein Leben und nicht das meiner Eltern. Ich bin ein moderner Mensch mit modernen Anschauungen!« Großartig rief sie's mit tränenschwerer Stimme.
»Ein ganz unreifes Mädchen bist du, das uns durch sein ungehöriges Benehmen am besten zeigt, wie kindisch es noch ist, und daß man es noch nicht ernst nehmen kann«, wandte sich jetzt auch die Mutter gegen das impulsive Töchterchen. »Gehe auf dein Zimmer und komme dort erst mal zur Besinnung, wie man mit seinen Eltern spricht. Alles Weitere wird sich später finden.« Oho, Frau Annemarie hatte es doch inzwischen gelernt, sich bei ihren Küken in Respekt zu setzen.
»Das Weitere wird halt sein, daß ich ein Machtwort spreche, daß du zum Ersten als Banklehrling in die Dresdner Bank eintrittst. Ich habe schon mit meinem Bekannten, dem Bankdirektor Hildebrandt, alles Notwendige beredet. Solche gute Chancen hat nicht jedes Mädel. Zur Operndiva kriegst meine Einwilligung nimmer – merk dir's!« fügte der Vater nachdrücklich hinzu.
»Und zur Bank geh' ich nimmer – da kneif ich einfach aus!« schmetterte Ursel ihren Trumpf darauf und zugleich die Tür ins Schloß.
»So ein Balg! Temperament genug hätte sie fürs Theater –« ließ sich Hansi anerkennend hören. Er liebte die nur um ein Jahr Jüngere abgöttisch und bewunderte bei seiner eigenen ziemlich phlegmatischen Art ihr heißblütiges Wesen.
Trude räumte den Tisch ab. Erstaunt blickte sie auf die nicht völlig geleerten Teller, auf die verstimmten Mienen ihrer sonst meist harmonisch heiteren Herrschaften. Natürlich, Fräulein Ursel hatte wieder was ausgefressen. Armes Ding! Ohne zu wissen, um was es sich handelte, stellte Trude sich auf die Seite ihres jungen Fräuleins. Das hatte es ihr nun mal, wie den meisten Menschen, durch seinen Liebreiz angetan.
Annemarie folgte ihrem Manne in sein Zimmer. Die Stunde nach dem Mittagessen pflegten sie gemeinsam zuzubringen, wenn die unerbittliche Praxis nicht störend dazwischen trat. Rudi streckte sich auf die Chaiselongue, Annemarie schmiegte sich in die Tiefen des Klubsessels. Er griff zur Zeitung, sie zu einem Buch. Aber aus dem Lesen wurde selten etwas. Meistens gab es so viel von dem am Vormittag Erlebten auszutauschen, daß nicht viel Zeit zur Lektüre übrigblieb. Oft ließ der Professor auch seine Zeitung sinken und blickte wortlos zu seinem Weibe hinüber. Das war für ihn die größte Erholung nach den Strapazen des in der Klinik zugebrachten Vormittags, ihre ihm so lieben Züge still zu betrachten.
Als Hans die Eltern in das Zimmer des Vaters verschwinden sah, verschwand auch er schleunigst. Es eilte ihm durchaus nicht damit, sein Zeugnis vorzuzeigen. Erst mußten die von Ursel aufgewirbelten Wogen abgebraust und die Stimmung wieder eine normale sein. Auch daß die Ursel in ihrer unüberlegten Art seine vorläufig noch nicht offiziellen Zukunftsabsichten hineingemischt hatte, war höchst überflüssig. Alles, was die Gemüter erregen konnte, schob man am besten auf.
Annemarie ließ sich heute nicht in ihren Sessel nieder. Sie setzte sich zu ihrem Mann und streichelte seine bereits leicht angegrauten Schläfen. Ohne daß er was sagte, wußte sie, daß die Unterredung mit seiner Jüngsten ihm stärker nachging, als er zeigen mochte. Eine wunderbare Beruhigung ging von ihren Fingern aus. Rudi griff nach ihnen und zog sie an seine Lippen.
»Da haben wir nun den Salat, Frauli. Kommt einem das Mädel mit solchen Hirngespinsten. Und hält ihre Eltern ganz gewiß noch für Gott weiß was für Tyrannen, daß wir ihr mit dem notwendigen Nachdruck entgegentreten. Das Mädel haben wir nicht straff genug genommen, das rächt sich halt jetzt.«
»Wir – Rudi?« Annemaries Gesicht überzog ein eigenes Lächeln. »Wer hat mich denn immer ›Rabenmutter‹ genannt, wenn ich mir mal zu sagen erlaubte, daß wir Ursels Eigensinn unbedingt brechen müßten. Gegen die beiden andern warst du viel konsequenter als gegen Ursel – –«
»Nun ja, weil es halt unser Nesthäkchen ist. Und weil sie mich mit deinen lieben Augen anschaut, Annemarie. Sie ist grad' wie du – – –«
»Erlaube mal, mein Herr Gemahl, den Eigensinn, den Starrkopf, den hast du ihr vererbt!« widersprach Annemarie eifrig. »Eigensinnig bin ich niemals gewesen, auch als Kind nicht. Bloß wütend.«
Rudi lachte herzlich.
»Und jetzt ist mein Weible sanft wie eine Taube geworden, gelt?«
»Nee, damit wart' ich noch, bis ich mal alt und abgeklärt bin. So rasch geht das nicht, mein Täuberich«, gab sie schlagfertig zurück. Sie hatte es wie meist wieder erreicht, Rudi in heitere Stimmung zu versetzen. Als schlaue Evastochter beschloß sie, dieselbe sogleich für ihr Nesthäkchen auszunutzen und ein gutes Wort für dasselbe einzulegen.
»Rudi, ich weiß doch nicht, ob wir der Ursel so scharf entgegentreten und ihre künstlerischen Wünsche gänzlich unterdrücken sollen«, meinte sie sinnend. »Um so mehr wird sie sich nur in das ihr Versagte festbeißen. Eine Mutter kennt doch ihr Kind am besten. Und ich weiß von meinen Mädchenjahren her, daß ich so lange gebohrt habe, bis der Vater schließlich eingewilligt hat, daß ich mit den Freundinnen in Tübingen studieren durfte. Ein Glück, daß ich's durchgesetzt habe, sonst hätte ich meinen alten Brummbären nie zu sehen bekommen.« Sie zauste ihn zärtlich an den Ohren.
»Ich wär' dir auch nach Berlin nachgereist, Herzle«, beteuerte ihr Mann scherzend.
»Du hättest mich doch gar nicht gekannt – –«
»Aber geahnt – als Ergänzung meines Wesens – eine andere hätt' ich nimmer genommen«, behauptete Rudi.
»Wer kann wissen, ob wir der Ursel nicht auch ihr Lebensglück unterbinden, wenn wir sie in einen ihren Neigungen nicht entsprechenden Beruf zwingen«, steuerte Annemarie weiter auf ihr Ziel los. »Und vielleicht hat sie wirklich das Zeug dazu, eine tüchtige Sängerin zu werden – eine von den Großen.«
»Eitle Mutter!« schalt der Professor. »Man wird leichter eine tüchtige Bankbeamtin, als eine große Sängerin. Wenn halt auch du unvernünftig bist, dann hab' ich freilich einen schweren Stand. Gegen zwei Frauensleut' komm ich nimmer auf.«
»Nein, Rudi, du weißt es ja, daß ich ganz auf deiner Seite stehe. Nur in der Form nicht. Nicht so kraß, nicht so schroff deine väterliche Autorität ausüben. Dagegen bäumt sich ihr Unverstand auf. Ich möchte dir vorschlagen, ihr soweit entgegenzukommen, daß du ihr gestattest, Gesangunterricht zu nehmen, was sie sich doch so brennend wünscht. Unter der Bedingung, daß sie ebenfalls deinen Wünschen entspricht und bei der Bank eintritt. Sieht man dann, es geht nicht, sie fühlt sich unglücklich in dem ihr aufgezwungenen Beruf, kann man immer noch weitere Entschlüsse treffen. Sieh es als einen Versuch an, Rudi – –«
»Versuchskarnickel? Nein, dazu ist mir unser Kleines zu schade. Ich bin für Ganzes, nimmer für Halbes. Mit ernstem Wollen, mit der festen Absicht, ihre Pflicht zu tun, soll sie zur Bank gehen. Dann will ich mich auch nicht gegen die Gesangsstunde sperren. Wohlverstanden, nur für den Privatgebrauch, Annemarie, lediglich zu ihrem Vergnügen.« Der Professor griff jetzt endgültig nach der Zeitung. Er hatte seinen Gleichmut im Gespräch mit seiner Frau wiedergefunden. Frau Annemarie war mit dem Erfolg ihrer Unterredung zufrieden. Nun würde sie auch mit dem Trotzköpfchen, der Ursel, fertig werden. Ach, eine Mutter hat allenthalben zu überbrücken und auszugleichen.
Sie nahm an des Gatten Schreibtisch Platz und griff nach der Kartothek. Die Rechnungen mußten hinaus, das neue Quartal hatte bereits begonnen. Wie sie im Anfang ihrer Ehe Assistentin ihres Mannes gewesen, so war sie allmählich seine Sekretärin, seine rechte Hand bei all seinen wissenschaftlichen Arbeiten geworden. Da war kein Weg, wohin Annemarie ihm in treuer Kameradschaft nicht zu folgen bemüht war.
Zwischen Rezeptblöcken und anderen Formularen schaute ein Brief mit großen steilen Buchstaben heraus. Vronlis letztes Schreiben aus München. Nun war sie schon bald ein halbes Jahr von Hause fort, die Vronli. Die sechs Monate erschienen der Mutter wie die gleiche Anzahl von Jahren. Ein jedes ihrer Küken war ihr gleich fest an das Herz gewachsen; es tat weh, wenn eins sich löste, um eigene Wege, die vom Elternhaus fortführten, zu gehen. Auch mit Vronli hatte es Kämpfe gesetzt. Freilich, nicht so heißblütige, wie soeben mit ihrer jüngeren Schwester. Denn Vronli hatte des Vaters ruhige Art, aber auch seine zähe Bestimmtheit. Sie ließ sich nicht davon abbringen, Säuglingsschwester zu werden, anstatt als Krankenschwester an des Vaters Klinik, wie dieser es wünschte, zu arbeiten. Schon als Kind hatte sie eine Vorliebe gezeigt für alles Schwache, Hilfsbedürftige. Wenn sie die Blumen im Garten pflegte, so galt sicher den wenigst entwickelten, den verkümmerten ihre Hauptsorgfalt. Ein junges Vögelchen, das aus dem Nest gefallen, hatte sie so lange an ihrem Herzen gewärmt, bis es sich wieder belebte. Hatte man eine Maus in der Falle gefangen, so mußte man sie vor Vronli hüten. Denn die gab ihr unweigerlich die Freiheit wieder. Diese zarte Hilfsbereitschaft für alles Kleine, Schwache machte sie zur Säuglingspflege ganz besonders geeignet. Trotzdem es eine Enttäuschung für den Vater bedeutete, auf die pflichttreue, zuverlässige Hilfe seiner Großen verzichten zu müssen, die Mutter hatte auch hier die gütige Vermittlerin gespielt. Freilich hatte sie nicht damit gerechnet, daß das Küken die Schwingen sogleich gebrauchen und davonfliegen würde aus dem elterlichen Nest. Es gab doch in Berlin genug Säuglingsheime, an denen sie tätig sein konnte. Aber nein – das Glück ist ja stets da, wo man nicht ist. Vronli setzte es mit ruhiger Sachlichkeit durch, nach München an das mustergültige Schwabinger Krankenhaus zu gehen.
Und nun? Sah so das Glück aus? Frau Annemarie entfaltete den engbeschriebenen Bogen und begann den Brief zum soundsovielten Male zu lesen. Irgendwo, wohin grade ihr Blick fiel.
»Es ist abends spät. Ich habe diese Woche Nachtwache. Ihr sitzt jetzt traulich im Wohnzimmer zusammen. Vater raucht seine Zigarre, Mutter flickt unbedingt etwas Zerlöchertes. Ursel hat die Schubertlieder beim Wickel und Hansi heimlich Vaters Zigarettenkasten. Ganz deutlich sehe ich Euch alle vor mir. So gemütlich seid Ihr beisammen, daß man auch ganz gern mal auf ein Stündchen zu Euch auf Besuch käme. Am Tage hat man gar keine Zeit, heimzudenken. Man ist wie eine Maschine, die frühmorgens um sechs in Betrieb gesetzt und abends wieder ausgeschaltet wird. Alles geht hier systematisch am Schnürchen, ein Tag wie der andere. Wenn nicht mein Kalender wäre, der Weihnachtskalender von unserm Urselchen, der mir durch rote Farbe anzeigt, daß wieder mal Sonntag ist, ich würde nicht wissen, daß eine Woche verflossen ist. Abends sind einem die Glieder so schwer, als wären sie wirklich eiserne Teile einer Maschine; man sinkt in sein Bett, knapp, daß man noch die Fähigkeit hat, einen abgerissenen Knopf anzunähen. Aber denkt nur nicht, daß ich mich dabei nicht wohlfühle. Ihr wißt ja, Regelmäßigkeit und pünktliche Pflichteinteilung entspricht meinem – wie Ursel es nennt – pedantischen Wesen. Wie viel Freude gibt einem der Tag. Wie befriedigt ist man, wenn man eins von den kleinen elenden Geschöpfchen, die man meist in jämmerlichem Zustand übernimmt, durch liebevolle Sorgfalt sich entwickeln sieht. Fünfzehn Stück habe ich jetzt zu bemuttern, eine ganze Mandel. Behutsam wie mit Eiern muß man tatsächlich mit ihnen umgehen. Die Windel bildet den Drehpunkt meiner Gedanken. Der Haupttag in der Woche ist der Wiegetag; darauf konzentriert sich alles Hoffen. Vaterle, nach einer glücklichen Operation kannst Du nicht stolzer sein, als ich es bin, wenn die Wiegetabelle die vorgeschriebenen Gramme Gewichtszunahme aufweist. Neulich hat der Chefarzt mich, trotzdem ich dem Dienstalter nach die jüngste Schwester hier bin, als Erfolgreichste aufgestellt. Das spornt von neuem an. – Hier muß ich unterbrechen. Die kleine Gesellschaft meldete sich und wollte frisch gebündelt werden. Nun geht es bereits auf Mitternacht. Ihr seid sicher schon im Bett. Schlaft wohl, Ihr all meine Lieben daheim. Ich will jetzt meine Kinder baden. ›Um Mitternacht?‹ höre ich Euch erstaunt fragen. Vater ist sicher nicht einverstanden damit. Mutti sogar empört, daß man die Kleinen aus nächtlichem Schlaf reißt. ›So erzieht man kein Kind zur Ordnung – ich habe euch drei doch ganz gut imstande gehabt; das Alte ist immer noch das Beste.‹ Habe ich Deine Gedanken erraten, Mutti? Im übrigen bin ich ebenfalls Eurer Ansicht, daß man die Kleinen daran gewöhnen soll, die Nacht durchzuschlafen. Auch finde ich Tagesarbeit angenehmer als Nachtarbeit. Aber der Warmwasserverbrauch hier in dem großen Krankenhaus ist so ungeheuer, daß für unsere Säuglinge das Badewasser nachts entnommen werden muß. Den kleinen Herrschaften selbst ist das ganz gleichgültig. Ihr solltet sehen, wie putzig sie sich an meinen Arm anklammern, wie behaglich sie sich dann in dem warmen Bad strecken, und wie munter sie strampeln. Da quarrt schon wieder eins. Natürlich fällt der Chor pflichtschuldigst ein. Das wird immer gleich epidemisch. Auf ein andermal, meine Lieben.« – – –
Frau Annemarie ließ das Blatt sinken. Sie heftete den Blick auf das Mikroskop, ohne dasselbe zu sehen. War Vronli glücklich in ihrer schweren, verantwortungsvollen Tätigkeit? In dem Brief stand, sie fühle sich befriedigt. Aber eine Mutter liest noch mehr, als die trockenen Buchstaben zu sagen wissen. Vronli hatte Heimweh! Wenn sie sich so hineindachte in den Kreis ihrer Lieben, so heimfühlte ... Gut, daß ihr die unausgesetzte Arbeit keine Zeit ließ zu überflüssigen Gedanken. Gut – und doch wieder nicht. War dies das Richtige für ein junges Menschenkind? Brauchte ein Mädchen von zwanzig Jahren nicht auch geistige Anregungen, andere Freuden, als nur die, welche ihr aus ihrem aufopfernden Beruf erwuchsen? Wenn Annemarie an ihre eigene Jugendzeit zurückdachte ... sie hatte auch fleißig gearbeitet. Zuerst zum Abiturium, ja, aber was hatten sie nebenbei noch alles aufgestellt. Dann die Tübinger Studienzeit mit den Freundinnen, die heiterste und sorgenloseste Epoche ihres Lebens. Und später im Krankenhause das Zusammenarbeiten mit Rudi, das hatte alles, auch das Schwerste verschönt. Da lebte die Vronli nun in der Stadt der Kunst und kam kaum mal heraus aus ihren Mauern. Puh – Ursel in ihrer überschäumenden, lebenshungrigen Jugend hatte sich geschüttelt, als sie Vronlis Bericht gelesen. Krasse Gegensätze waren die beiden Schwestern. Die eine zu schwerblütig, die andere zu leichtlebig. Aber Sorge machten sie ihr alle beide. Frau Annemarie seufzte schwer.
»Nanu, Herzle, plagst du dich mit den Rechnungen herum? Schau, laß das Zeug bis zum Abend, da machen wir es gemeinsam. Am Verhungern sind wir ja noch nicht.« Der Professor war aufmerksam geworden.
»Ach, Rudi, deine faule Frau muß sich schämen. Nichts, gar nichts habe ich geschafft, als nur Vronlis Brief zum ixten Male studiert. Ich bin gar nicht recht befriedigt davon – –«
»Die Hauptsache, daß sie selbst es ist. Mit deinem Hindenken und Sorgen schaffst du nix, Herzle. Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen. Das ist nicht anders. Aber ich mein', unser Trio ist noch ganz gut geraten, wir können zufrieden sein, gelt? Nur den Herrn Musjöh muß ich mir mal langen, der ist mir mit seinem Zeugnis, scheint's, durchgegangen. Und was die Ursel da hergeredet hat, daß der Junge nimmer Medizin studieren mag, wird wohl nicht so arg ernst zu nehmen sein. Die Zeit ist noch nicht gar so lang vorbei, wo er Droschkenkutscher oder Konditor werden wollte. Kinderei, grad' wie bei der Ursel. Aber nun mach' mir ein anderes Gesicht, Herzle. Ich will eine frohe Miene von dir mit in die Sprechstunde 'neinnehmen, nicht solche essigsaure, wie ich sie gar nimmer von dir gewöhnt bin.«
So war es immer gewesen, in all den Jahren ihrer Ehe. Einer verstand es stets, dem andern die Sorgen zu verscheuchen. Jeder nahm sich zusammen, um dem andern ein heiteres Gesicht zu zeigen. Annemarie schüttelte den Druck, der ihre Frohnatur nur selten mal beschwerte, ab.
»Hast recht, Rudi, man muß die Küken ihren Weg gehen lassen, wenn sie erst mal flügge geworden sind. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu hoffen, daß derselbe zu ihrem Glück führen möge. So – nun ist es Zeit, mich zu verabschieden. Es hat schon verschiedene Male geklingelt. Sonst zieht sich die Sprechstunde wieder bis zum Abendbrot hin. Den Kaffee schicke ich dir gleich rein, Rudi.« Sie nickte ihrem Mann noch einmal liebevoll zu und verließ das Zimmer.
Hansi kam pfeifend die Treppe, die zu den im oberen Stockwerk gelegenen Zimmern der Kinder führte, herunter.
»Hör mal, mein Junge, es wird allmählich Zeit, daß ich endlich dein Zeugnis zu sehen bekomme«, erinnerte die Mutter den Saumseligen.
»Mußt dich noch ein wenig gedulden, Mutterherz. Eine elektrische Sicherung ist durchgebrannt. Die muß ich erst in Ordnung bringen.« Hans war Handwerker für alles. Mit allen Nöten wandte man sich an ihn. Er hatte eine geschickte Hand, die notwendige Ruhe zu allem und bastelte gern.
Aber dann beim Kaffee, den Mutter und Sohn in traulichem Beieinander einnahmen – Ursel, der Trotzkopf, hatte nicht zu erscheinen geruht – da half es dem Hans nichts mehr. Das Zeugnis mußte herbei.
Es entsprach denn auch durchaus Frau Annemaries Erwartungen. Oder vielmehr, es war noch schlechter als dieselben.
»Ja, aber Junge, das ist ja eine Schundzensur! Wie wird sich der Vater darüber ärgern.« Daß sie selbst aufgebracht darüber war, kam erst in zweiter Linie. »Du kannst, wenn du willst. Es ist nur Trägheit bei dir und Gleichgültigkeit gegen die Anforderungen der Schule. Nichts als Flausen hast du im Kopf. Keinen Ernst – kein Streben – –« Frau Annemarie war noch genau so impulsiv wie dereinst.
Um so ruhiger blieb der filius. »Liegt an der Schule, nicht an mir. Der Kram interessiert mich nicht. Nehmt mich doch raus. Im Leben werde ich schon was Tüchtiges leisten«, meinte er mit überzeugender Selbsteinschätzung.
»Ja, das sagen alle Nichtstuer. Wer in der Schule nicht seine Pflicht tut, vernachlässigt sie auch im späteren Leben.« Es gab eine Zeit, wo Doktor Brauns einstiges Nesthäkchen noch nicht so weise gesprochen.
»Und Onkel Klaus? Er ist der tüchtigste Landwirt, den es gibt. Und war dabei früher doch ein Lausbub ersten Ranges – er hat es mir selbst erzählt, als wir das letzte mal bei ihm an der Waterkant waren. Im Gymnasium hat er nur von milden Gaben sein Dasein gefristet, und kleben geblieben ist er auch mal. Ich bin doch noch immer mit graden Gliedern durchgerutscht«, verteidigte sich Hans. Onkel Klaus war sein Ideal. Der Neffe hatte äußerlich und innerlich viel Ähnlichkeit mit dem Bruder der Mutter, das mochte ihn wohl ganz besonders zu ihm hinziehen.
»Erst leiste das, was Onkel Klaus leistet. Wie du dein Abiturium machen willst, wenn du in den Hauptfächern so schwach bist, ist mir schleierhaft –«
»Mir auch!« Hans seufzte tief und schaute sorgenvoll drein. »Weißt du, Mutter, wir wollen die Angelegenheit mal freundschaftlich besprechen. Wenn ich euch einen guten Rat geben darf, so ist es der –«
»Wir brauchen deinen guten Rat nicht, mein Sohn«, unterbrach ihn die Mutter.
Aber Hans fuhr unbeirrt fort: »Nehmt mich aus der Schule, laßt mich Landwirt werden. Gebt mich zum Onkel Klaus in die Lehre – –«
»Und der Vater? Der dich zu seinem Nachfolger bestimmt hat? Der hofft, daß sein einziger Sohn das, was er in mühevollen Jahren aufgebaut, mal weiter fortführen wird, der dich zu seinem Assistenten heranbilden möchte, Hansi ...«, stellte Annemarie dem Sohne eindringlich vor.
»Kann er nicht. Ein Mensch darf das Schicksal des andern nicht derart beeinflussen. Und wenn es selbst der Vater ist. Jeder muß seinen Weg gehen. Auch Ursel findet das – – –«
»Du bist ja ein ganz dummer Junge! Wenn zwei unreife Menschen dieselbe Ansicht haben, ist es deshalb noch lange nicht eine richtige. Pflicht der Eltern ist es, Kinder, denen die nötige Lebenserfahrung noch fehlt, nach bestem Gewissen zu beraten. Heute wollt ihr dies, morgen jenes. Vorläufig bleibst du ruhig in der Schule, mein Junge. In einem Jahr denkst du vielleicht grade entgegengesetzt.«
»Glaub' ich nicht«, meinte Hans mit sachlicher Ruhe, die zu dem erregten Ton der Mutter in merkwürdigem Gegensatz stand. »Deine Brüder, Onkel Hans und Onkel Klaus sind doch alle beide keine Mediziner geworden, trotzdem der Großvater es sicher auch gewünscht hat, daß einer in seine Fußtapfen tritt.«
»Mein seliger Vater hat es damals auch schwer genug empfunden.« Annemarie warf einen wehmütigen Blick zu dem Bilde ihres Vaters, das Tannengrün schmückte. »Aber er hat dafür seinen Schwiegersohn gehabt – – –«
Hans zuckte die Achsel.
»Da müßt ihr euch an Vronli und Ursel wenden«, meinte er mit männlicher Logik. »Für Schwiegersöhne bin ich nicht verantwortlich.«
»Aber für eine anständigere Zensur zum nächsten Quartal, die bitte ich mir ganz energisch aus! So, mein Sohn, die Angelegenheit ist vorläufig erledigt. Nun werde ich mir die Ursel vornehmen und der den Kopf zurechtrücken. Rufe sie mir mal herunter.«
Frau Annemarie begab sich in ihr nebenan gelegenes Wohnzimmer, halb ernst, halb belustigt den Kopf schüttelnd: »Nein, diese Kinder!«
Das Doktornest in Lichterfelde hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Es war in die Höhe geschossen wie die drei Hartensteinschen Küken. Einen neuen Oberstock hatte es bekommen, einen Erkeranbau mit Terrasse. Auch Gartenland hatte der Professor dazu gekauft. Nach allen Seiten hatte sich das bescheidene Anwesen gestreckt. Professor Hartenstein war ein berühmter Arzt geworden, der es sich leisten konnte, seiner Annemarie ein schönes, behagliches Heim zu schaffen. Gar stattlich nahm es sich von der Straße her aus. Besonders im Herbst, wenn der wilde Wein es purpurn umglühte. Zwischen den Fenstern gab es selbst im Winter Hyazinthen, Tulpen und Primeln in leuchtender Buntheit. Auch innen hatte es sich verändert. Das Herrenzimmer mit den Lederklubmöbeln und der prachtvollen, die ganze Wand einnehmenden Bibliothek, dem Stolz des Hausherrn, war dazu gekommen. Annemaries Wohnzimmer hatte sich in ein stilvolles Biedermeierzimmer verwandelt. Die lieben alten Möbel der Großmama hatten nach deren Tode – sechs Jahre war es jetzt her – ihren Einzug hier draußen in das Reich der Enkelin gehalten. Das Biedermeierzimmer war seitdem Frau Annemaries liebster Aufenthalt geworden. Hier erzählte jedes Stück von früher, von der alten gütigen Frau, deren Augapfel Doktor Brauns Nesthäkchen einst gewesen. Da war die helle Nussbaumservante mit all den Goldtässchen und den Porzellanpüppchen, der Schäferin und dem Rokokodämchen, die einst das Entzücken der kleinen Annemarie gebildet. Da war das grüne Ripssofa, das ängstlich vor unvorsichtigen Kinderfüßen behütet worden war, mit dem gemütlichen runden Tisch, dessen seine weiße Strickdecke Großmamas fleißige Finger noch eigenhändig fabriziert. Darüber hing das Bild der lieben alten Frau, wie sie unter dem Nussbaum in Lüttgenheide, dem Gute an der Waterkant, mit ihrem Strickzeug saß. Nach einer Amateuraufnahme hatte Annemaries Freundin Vera Burkhard es vergrößert. Daneben schaute Tante Albertinchen mit den Ringellöckchen, Großmamas Schwester, aus goldenem Rahmen. Im Erker stand Großmamas Blumentisch, zum größten Teil noch mit Pflanzen, welche die einstige Besitzerin selbst gepflanzt. Jeden Ableger, jedes Blättchen, jede Knospe zog Annemarie mit einer Liebe, als könnte sie der Großmama dieselbe noch dadurch über das Grab hinaus beweisen. Der kleine, zierliche Nähtisch der Großmama, der ebenfalls Geheimnisse aus Annemaries Kinderzeit barg, ihren ersten mit Prudellöchern garnierten Seiflappen, das Nadelbuch mit der ersten Kreuzsticharbeit und das Häkeldeckchen, das nie fertig geworden, bildete in Gemeinschaft mit Großmamas Lehnstuhl Frau Annemaries Lieblingsplätzchen. Hier regte sie jetzt die fleißigen Hände. Oh, Annemarie hatte es doch noch lernen müssen, das einst so wenig geliebte Stopfen, Flicken und Schneidern. Ursel hatte bisher noch kein Kleid getragen, das nicht die Mutter ihr gearbeitet. Sie verstand es ganz besonders, Ursels schlankem, graziösem Figürchen den richtigen Rahmen zu geben.
Hier im Biedermeierzimmer hatte Annemarie alles beieinander, was ihr lieb war. Saß sie am Nähtisch, so schaute sie beim Aufblicken in ihres Vaters kluges Gesicht mit den väterlich treusten Augen, die je ein Kind behütet. Des Vaters Bild stand stets vor Annemarie. Eine Vase mit den Blumen der Jahreszeit daneben. Den Heimgang des Vaters vor anderthalb Jahren konnte Annemarie noch immer nicht verwinden. Mitten in seiner menschenfreundlichen Tätigkeit hatte der Würgeengel den Teuren berührt. Ein Herzschlag hatte seinem segensreichen Mühen, das so oft über den Tod Sieger geblieben, nun selbst ein Ende gesetzt. Annemaries impulsive Natur, welche das Leben im Laufe der Zeit allmählich etwas hatte abebben lassen, brach in elementarem Schmerz hervor. Sie hatte ja schon mehr Menschen hingeben müssen, an denen ihr Herz hing. Die Großmama – die Trauer um dieselbe war eine stille Wehmut gewesen; denn die Lebensuhr der alten Frau war abgelaufen, ihr Dasein erfüllt. Auch hatte sie mit ihrem Manne gemeinsam schweres Leid zu tragen gehabt. Seine einzige Schwester Ola, die Annemaries ältesten Bruder geheiratet hatte, war in der Blüte ihrer Jahre einer tückischen Krankheit, die aller Kunst, aller hingebenden Sorge Hohn sprach, zum Opfer gefallen. Da hatte Annemarie stark sein müssen. Sie mußte ihrem Gatten, ihrem Bruder in der schweren Zeit eine Stütze sein. Eigenes Weh mußte zurückgedrängt werden. Aber beim Tode des Vaters war das anders. Da fühlte sie sich wieder Kind, ein verwaistes Kind, das sich auflehnte gegen das Unerbittliche, Unfaßbare. Mit zarter Innigkeit hatten ihre Lieben sie umschlossen. Rudis liebevolle Fürsorge heilte am besten ihr Weh, verwandelte ihre leidenschaftlichen Schmerzausbrüche in stillgemäßigte Trauer. Die Kinder hatten sie wieder lachen gelehrt. Um ihretwillen durfte sie sich nicht in ihren Schmerz vergraben. Sie wollten ihre Mutter tatkräftig und froh, wie sie dieselbe von jeher kannten. Und dann gab's auch wieder neue Pflichten für Annemarie, die gegen ihre jetzt vereinsamte Mutter. Frau Doktor Braun war nicht dazu zu bewegen, zu einem ihrer Kinder überzusiedeln. Trotzdem es nahe lag, daß sie ihrem Sohne Hans die fehlende Hausfrau ersetzte. Nein, aus ihren lieben Räumen, in denen sie mit dem teuren Gefährten alt geworden war, die das Glück ihres Lebens atmeten, ging sie nicht hinaus. Lieber vermietete sie einen Teil der jetzt viel zu großen Wohnung. Das hatte auch den Vorteil, daß sie sorgenlos leben konnte. Denn Hanne, die treue Alte, die, trotzdem sie nun auch schon auf die Siebzig lossteuerte, noch immer ihre Kräfte dem Braunschen Hause widmete, hatte sofort erklärt: »Wa nehmen Ausländer in Pension, die kennen berappen. Kochen will ich vor ihnen, denn kennen Frau Doktern und meine Wenigkeit janz vor umsonst mitfuttern.« Hannes Rat hatte sich als durchaus praktisch erwiesen. Annemaries Mutter hatte ihr gutes Auskommen dadurch, und was ebenso viel wert war, sie hatte wieder zu denken und zu sorgen. Denn die Braunschen Pensionäre waren wie Kinder im Haus, man riß sich darum, dort Aufnahme zu finden. Und daran war nicht nur Hannes gute Küche schuld.
Annemarie hatte einen Korb Ausbesserwäsche vorgenommen. Trotzdem sie sich jetzt auf Rudis Wunsch Stubenmädchen und Köchin hielt, ihre Einfachheit und Arbeitsamkeit hatte sie nicht eingebüßt. Überall legte sie selbst mit Hand an. »Gönn' dir doch mehr Ruh', Herzle,« sagte Rudi Gott weiß wie oft zu ihr, »du kannst es doch jetzt haben.« Aber sie lachte ihn aus: »Zum Feiern habe ich Zeit, wenn ich alt bin. Arbeit erhält jung. Ich habe in den ersten Jahren unserer Ehe viel zu sehr heran müssen, um nun plötzlich die elegante Dame spielen zu können. Das liegt mir nun mal nicht.«
Um so mehr aber lag das ihrer jüngsten Tochter, dem Fräulein Ursel. Die ließ sich nur zu gern bedienen. Die rührte am liebsten überhaupt nichts im Haushalt an. Na, da kam sie bei Annemarie grade an die Rechte. Zu jeder Arbeit zog die Mutter sie heran, soweit die Schulpflichten Ursel nicht in Anspruch nahmen. Ursel rümpfte die Nase, streikte auch wohl mal; aber sie hatte ihre Mutter viel zu lieb, um dann nicht doch das Gewünschte zu tun. Daß sie es nicht für die Mutter, sondern für sich selbst tat, verstand sie noch nicht. Annemarie wollte ihre Kinder unabhängig machen von andern. Sie hatte es an sich selbst empfunden, daß es nicht gut tat, daheim verwöhnt und verweichlicht zu werden. Doktor Brauns Nesthäkchen hatte es im Elternhause allzu gut gehabt. Hanne, die sie schon auf den Armen gewiegt, hatte ihr jede häusliche Arbeit abgenommen. »Unser Kind is vor so was ville zu schade, davor is ja die Hanne da«, pflegte sie zu antworten, wenn Frau Doktor Braun ihr Vorstellungen machte. Es war gut gemeint, aber es rächte sich später im eigenen Nest. Da kamen die kleinen Kinder, da kamen Dienstbotenmiseren. Frau Annemarie hatte viel Lehrgeld zahlen müssen, bis sie sich zur Meisterschaft durchgerungen. Davor wollte sie ihre Kinder bewahren. Aber es war nicht immer ganz leicht. Denn die Mädchen, welche ihr junges lustiges Fräulein Ursel abgöttisch liebten, taten ihr alles zu Gefallen, und Ursel verstand das schlau auszunützen. Es wiederholte sich eben alles im Leben.
Wo blieb denn die Ursel? Hans hatte ihr die Bestellung doch sicher ausgerichtet. War sie wieder mal eigensinnig und leistete keine Folge?
Annemarie seufzte. Ursels Erziehung war nicht so ganz einfach. Vronli und Hans hatten sich ziemlich von selbst erzogen. Ursel war ungleich schwieriger. Sie verband bestrickende Liebenswürdigkeit mit einer starken Mischung von Selbstbewusstsein und Eigenmächtigkeit. Weiche Zärtlichkeit mit eigensinniger Hartnäckigkeit. Dazu ein gut Teil Schlauheit und weibliche Eitelkeit. Jeder hatte ihr von klein auf gesagt, was für ein reizendes kleines Ding sie sei, daß sie selbst natürlich davon am meisten überzeugt war. Da konnte nur eine liebevolle Mutter die Auswüchse verständnisvoll beschneiden, denn mit Strenge war Ursel nicht zu kriegen.
Grade als Annemarie ihre Arbeit beiseite legen wollte, um selbst mal nach ihrem saumseligen Nesthäkchen zu sehen, hörte man auf der Treppe Schritte. Oder vielmehr Sprünge von einem zweibeinigen und einem vierbeinigen Wesen. Die Tür ward aufgerissen, hereinstürzte ein großer Hühnerhund. Dahinter Ursel, zum Ausgehen gerüstet.
»Ursel, bringe den Hund hinaus. Du weißt, ich mag ihn nicht in den Wohnräumen«, ordnete die Mutter an.
»Ach, Cäsar ist ein so braver Kerl, das nimmt er übel, wenn man ihn rausschmeißt. Und er hat das Biedermeierzimmer so gern. Er hat entschieden Schönheitssinn«, verteidigte Ursel ihren Liebling.
»Ich finde es notwendiger, daß du dich um das kümmerst, was ich gern oder nicht gern habe, Ursel«, sagte Frau Annemarie mit leisem Vorwurf.
»Puh – Mutti, mach' kein Gouvernantengesicht. Das steht dir nicht.« Aber da die Miene der Mutter sich nicht aufheiterte, wie das sonst öfters der Fall war, wenn Ursel ihren Spaß mit ihr trieb, setzte sie hinzu: »Schieß los, Muzi. Ich hab' nicht viel Zeit. Du hast mich zur feierlichen Audienz befohlen.« Für gewöhnlich hatte Ursel durch ihre drollige Art die Lacher auf ihrer Seite. Heute versagte ihr Erfolg bei der Mutter.
»Du wirst für das, was ich mit dir besprechen will, Zeit haben, Ursel. Wo willst du denn überhaupt hin?«
»Überall und nirgends. Zuerst mal zu Ruth oder zu Edith. Zu irgendeiner gleichgestimmten Seele, die wie ich ihre lang ersehnte Freiheit heute genießen will.«
»Ja, aber höre mal, liebes Kind, soweit geht diese Freiheit denn doch noch nicht, daß du ohne Erlaubnis fortgehst«, wandte die Mutter ein.