Net Force. Blood Lightning - Jerome Preisler - E-Book

Net Force. Blood Lightning E-Book

Jerome Preisler

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Beschreibung

Die Net Force kämpft weiter

Cyberattacken bedrohen weiterhin die globale Sicherheit, und nur die neue Cyberelite-Einheit, zusammengestellt von der US-amerikanischen Präsidentin höchstpersönlich, kann sich ihr in den Weg stellen. Mit unermüdlichem Einsatz und unorthodoxen Methoden tun sie alles, um die Ordnung der globalisierten Welt zu bewahren.

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Seitenzahl: 595

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DASBUCH

Cyberattacken bedrohen weiterhin die globale Sicherheit, und nur Net Force, ins Leben gerufen von der US-amerikanischen Präsidentin höchstpersönlich, kann sich der Gefahr in den Weg stellen. Mit unermüdlichem Einsatz und unorthodoxen Methoden tun die Agenten alles, um die Menschheit vor einer globalen Katastrophe zu bewahren.

DERAUTOR

Jerome Preisler ist der Autor von Tom Clancys New-York-Times-Bestsellerreihe »Power Play«. Er hat bisher mehr als dreißig Bücher veröffentlicht und als Experte für Militärgeschichte zahlreiche Vorträge an Schulen, in Museen und an Militärstützpunkten gehalten. Preisler lebt in New York.

ENTWICKELT VON

TOM CLANCY

UND

STEVE PIECZENIK

GESCHRIEBEN VON

JEROME PREISLER

NET FORCE

BLOOD LIGHTNING

Aus dem Englischen von Frank Dabrock

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe NETFORCE – Moving Target erschien erstmals 2023 bei Hanover Square Press, Toronto.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 09/2024

Copyright © 2023 by Jerome Preisler

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Florian Oppermann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock.com (Alejandro Carnicero, Syda Productions, Sue Robinson)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27106-0V001

www.heyne.de

In liebevollem Gedenken an meinen Vater Sam.1927–2021

Hier ist kein Wasser, sondern nur Fels Fels und kein Wasser und die sandige Straße

T.S. ELIOT, »DASWÜSTELAND«

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EINE PARTIE SCHACH

1

25. April 2024 Verschiedene Schauplätze

Paris, Frankreich

Franz Scholl entdeckte den Mann auf einer Parkbank oberhalb der Kurve, wo die Treppe der Rue Michel Tagrine von der Rue Georges Lardennois steil nach oben führte. Der kräftige, breitschultrige Mann mit Augenklappe trug eine Schiebermütze und eine Cordjacke. Er saß allein in der Abenddämmerung auf der Butte Bergeyre, einer Anhöhe im Herzen von Paris.

Im April waren die Nächte in der französischen Metropole noch kühl, und hier oben, wo eine steife Brise über die kahlen braunen Efeuranken zur linken Seite der Treppe fegte, war es noch kühler. Der Blauregen, der die gegenüberliegende Wand bedeckte, war bereits grün und wucherte üppig. Doch Scholl mochte ihn nicht. Es handelte sich um eine aggressive, invasive Pflanze, die großen Schaden anrichten konnte, wenn man sie unkontrolliert wachsen ließ. Als Restaurator vergessener Technologien, entsorgter Fantasien und alter Softwarecodes verabscheute er Chaos und Stückwerk und legte Wert auf äußerste Präzision.

Mit den Händen in den Taschen war Scholl, zwei, drei Stufen gleichzeitig nehmend, keuchend die Treppe emporgestiegen. Bei einem früheren Besuch hatte er von der Straße bis zur Hügelspitze 177 Stufen gezählt.

An berühmten Orten die Treppenstufen zu zählen, war für ihn ein innerer Zwang, den er jedoch als ausgefallenes Hobby ausgab.

Am oberen Absatz war Scholl nach rechts in den öffentlichen Park gelaufen. Im Sommer erinnerte er ihn immer an Renoirs Gemälde Bal du moulin de la Galette, auf dem sich eine pulsierende Menschenmenge unter freiem Himmel amüsierte. Aber als er an diesem Abend den Park betreten hatte, war er ruhig und verlassen gewesen. Abgesehen von dem Mann auf der Bank.

Er saß ein paar Meter von einem der Wege entfernt und starrte zur kunstvoll verzierten Sacré-Cœur im Nordwesten hinüber – der Basilika des Heiligen Herzens –, die auf dem Montmartre, der höchsten natürlichen Erhebung der Stadt, emporragte. Entlang der benachbarten Straßen, Gassen und Plätze drängten sich die stattlichen Altbauten des 19. Arrondissements mit ihren eleganten Fassaden und Steinbrüstungen.

Scholl war zunächst dem Weg zur Bank gefolgt, hatte ihn dann verlassen und war mehrere Meter dahinter über den zart sprießenden Rasen daran vorbeigelaufen. Hätte sich der Mann mit der Augenklappe umgedreht, hätte er einen etwa sechzigjährigen Mann mit einem langen weißen Pferdeschwanz und Brille gesehen, der eine mit Fleece gefütterte Arbeitsjacke und eine Jeans trug. Obwohl Scholl wie ein in die Jahre gekommener Folksänger wirkte, wie ein linker Basisdemokrat, vertrat er weder linke noch rechte Ansichten. Sein schlichtes Ideal war die Freiheit des Einzelnen, und er hatte es sich zum Ziel gesetzt, sie dauerhaft zu verwirklichen.

In diesem Moment hallte das Knattern eines Motorrads von unten herauf, und der Mann auf der Bank beugte sich leicht vor, um zu sehen, wo das Geräusch herkam. Als Scholl die Tätowierung in seinem Nacken bemerkte, erstarrte er vor Anspannung. Es handelte sich um den blutroten Blitz der Krowawaja Molnija, der russischen Elitetruppe, deren Mitglieder angeblich mit neuronalen Implantaten ausgestattet waren.

Genau das hatte Scholl bei seiner Ankunft an der Butte Bergeyre befürchtet, nachdem ihn die Datenerfassungsapp der Stadt auf den Mann aufmerksam gemacht hatte. Da Paris großen Wert auf seine Tradition legte, war es zwar im Gegensatz zu anderen europäischen Städten noch nicht vollständig vernetzt, aber die Stadtplaner testeten ein passives Ortungssystem, das die Nutzung öffentlicher Bänke erfasste und aufzeichnete. Wenn ein Besucher eine Bluetooth-App auf seinem Handy installiert hatte, sammelte und sendete das System alle möglichen Informationen über ihn. Angeblich wollte man auf diese Weise feststellen, wie viele Personen sich an einem bestimmten Ort aufhielten, um gegebenenfalls weitere Bänke aufzustellen oder welche zu entfernen oder um den Bereich attraktiver zu gestalten und so mehr Besucher anzulocken.

Aber Scholl hatte die Daten der Regierung aus einem anderen Grund auf sein Handy abgezweigt, während er in seinem wenige Straßen entfernten Hotel den Hügel beobachtet hatte. Als er bemerkt hatte, dass der Mann über eine Stunde lang bei sieben Grad Kälte auf der Bank saß, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, war ihm das verdächtig vorgekommen. Seiner Intuition folgend hatte er beschlossen, das Hotel zu verlassen, um vor Kalis Ankunft die Lage genauer zu inspizieren.

Zum Glück, dachte er.

»Engel«, sagte er jetzt mit gedämpfter Stimme auf Deutsch. Seine Worte wurden von dem empfindlichen Schädelmikrofon im Bügel seiner Datenbrille erfasst. »Das Haus wird überwacht.«

»Wie erwartet.«

»Noch schlimmer. Der Mann hat einen blutroten Blitz tätowiert. Sieh selbst.« Franz blinzelte, um das Kamerabild zu übertragen. »Wir wissen nicht, wer ihn geschickt hat. Jedenfalls nicht Moskau. Ich habe gehört, dass sie jetzt auf eigene Rechnung arbeiten.«

»Das habe ich auch gehört«, sagte sie. »Aber das macht keinen Unterschied. Ich gehe jetzt rein.«

»Engel, hör zu …«

Die dumpfe Stille einer beendeten Verbindung. Scholl runzelte die Stirn.

Ich kann sie nicht aufhalten.

Plötzlich zuckte eine Erinnerung vor ihm auf. Die neunjährige Kali im Dojo mit einem Trainingsschwert aus Bambus in der Hand, nachdem sie damit ihren Sensei auf den Rücken befördert hatte. Sie war ihrer Großmutter in vielerlei Hinsicht ähnlich. Das konnte er nicht leugnen – genauso wenig, dass er Norma von ganzem Herzen geliebt hatte, trotz ihres eigensinnigen, kompromisslosen Charakters. Vielleicht aber auch gerade deswegen.

Er öffnete den Mund, um Luft zu holen, sodass der kalte Wind durch seinen Rachen fegte.

»Möge Gott dich beschützen«, flüsterte er und setzte seinen Weg über die verlassene Rasenfläche fort.

Kali stieg von ihrem Motorrad und ließ das Lenkerschloss einrasten, nahm ihren Helm ab, schüttelte ihr rabenschwarzes Haar und schloss den Helm am Rahmen an. Die Ducati Diavel 1260 S Black and Steel mit maßgefertigten roten Radaufhängungen und Verzierungen stand zwischen zwei Autos unmittelbar südlich der Rue Michel Tagrine.

Kali – großgewachsen, aufrechte Haltung und durchtrainiert – war ganz in Schwarz gekleidet, angefangen bei ihrer Motorradjacke und den fingerlosen Handschuhen bis hin zu ihren Leggings und den wasserdichten Stiefeln. Um ihr Handgelenk trug sie an einem Armband einen alten silbernen Kompass, auf dem Rücken einen verkratzten Lederrucksack und um die Taille einen viktorianischen Abenteuergürtel mit einem Beutel, in dem eine dreiteilige Manriki – eine japanische Kettenpeitsche – steckte.

Sie blieb einen Moment neben dem Motorrad stehen und ließ ihre dunklen Augen, die hinter einer KI/Mixed-Reality-Datenbrille verborgen waren, über die Straße wandern. Der Bluetooth-Ohrhörer, über den Franz mit ihr gesprochen hatte, war mit der Brille synchronisiert.

Kali, die allein auf dem Gehweg war, lief ein kurzes Stück in nördlicher Richtung, zur Ecke Rue Edgar Poe. Die Glock, die unter ihrer Jacke gegen ihre Rippen drückte, fühlte sich ungewohnt an … genauso ungewohnt wie die, wenn auch leichteren, Ersatzpatronen in ihrer Tasche. Sie hatte nur einmal zuvor eine Schusswaffe getragen, in Rumänien, auf der Jagd nach ihrem kriminellen Ex-Freund. Mike Carmody hatte sie in jener Nacht im Schnee vor eine einfache, unmissverständliche Wahl gestellt. Wenn sie ihn begleiten wollte, musste sie die Waffe nehmen, oder er würde ohne sie weitermachen.

Ich will sie nicht, hatte sie gesagt.

Nimm sie trotzdem … du hast damit nicht ohne Grund trainiert.

Kali hatte immer noch seine Stimme im Ohr. Widerwillig hatte sie die Waffe genommen, ohne sie jedoch zu benutzen. Mit Carmody an ihrer Seite war das nicht nötig gewesen. Aber heute Nacht, das wusste sie, könnten die Dinge völlig anders laufen.

Lucien Navarros Haus befand sich zu ihrer Linken. Es handelte sich um ein dreistöckiges Stadthaus mit rosafarbener Kalksteinfassade, einer hohen gewölbten Flügeltür, Balkonen mit kunstvollen Geländern und großen Fenstern mit Läden und Metallgittern. Draußen auf dem Kopfsteinpflaster standen zwei große Blumenkübel vor einem zwei Meter hohen schmiedeeisernen Tor. Hinter den Holzläden brannte kein Licht.

Kali blieb vor dem Tor stehen. Es verfügte über ein schlüsselloses Verriegelungssystem.

»Cas«, murmelte sie. »Klone System.«

Cas war die Kurzform von Castor. Ihrem Leitstern. Sie hatte ihre persönliche KI danach benannt.

»Klonprozess wurde eingeleitet.« Die Männerstimme der KI mit leicht britischem Akzent, die in ihrem Ohr ertönte, klang vollkommen menschlich. »Das Zeitfenster?«

»Fünf Minuten. Danach alles löschen.«

»Bestätige.«

Kali wischte mit der Handfläche über den biometrischen Scanner des Verriegelungssystems und tippte den Zugangscode ein. Mit einem leisen Klicken öffnete sich das Schloss. Sie verspürte ein Gefühl der Zuversicht und Erleichterung. Sie hatte befürchtet, vor verschlossener Tür zu stehen. Navarros rätselhaftes Verschwinden hatte ihr seit Wochen keine Ruhe mehr gelassen, und sie hatte deswegen Tausende Meilen von Hawaii hierher zurückgelegt.

Aber ihr blieb keine Zeit zu entspannen. Alles deutete darauf hin, dass man das Sicherheitssystem gehackt hatte. Cas würde ihr fünf Minuten geben, bevor er sämtliche Daten löschte, einschließlich der biometrischen Daten und Backdoor-Zugriffscodes, die irgendwelche Hacker womöglich installiert hatten, um sich Zugang zu verschaffen. Allerdings wusste Kali, dass sie vielleicht einen Alarm ausgelöst hatte. Einen Software-Alarm. Dass man sie im Haus vielleicht bereits erwartete.

Aber sie würde es trotzdem betreten. Lucien zuliebe musste sie dieses Risiko eingehen.

Sie ging durch das Tor, schob es hinter sich zu und marschierte über den Vorhof zum Eingang. An der Flügeltür befand sich ein weiteres biometrisches Verriegelungssystem. Sie hielt die Hand an den Scanner, tippte auf mehrere Tasten, und die Türen öffneten sich.

In der Eingangshalle war es dunkel. Kali tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und drückte darauf. Ein weiches gelbliches Licht erfüllte den Raum.

Sie ging weiter und trat auf einen dicken Perserteppich. Die Eingangshalle sah genauso aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Mit der gewölbten Decke, dem Marmorkamin und dem runden Mahagonitisch in der Mitte. Darauf stand eine Lampe aus einer blau-weißen Ming-Vase. Kali atmete den intensiven Geruch von altem Holz ein.

Hinter der Eingangshalle befand sich ein kleiner Salon. Er lag im Dunkeln, aber im Schein der Vasen-Lampe konnte Kali Navarros Flügel erkennen. Er hatte den elektronischen Flügel so umbauen lassen, dass er ihn im Rollstuhl spielen konnte.

Plötzlich zuckte eine Erinnerung vor ihr auf: wie Lucien sie verzückt angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass er ein Gerät gefunden habe, das dieselben Effekte wie die Pedale eines akustischen Flügels – Haltepedal, Una-Corda- und Sostenuto-Pedal – erzeugte und sich durch ein leichtes Kopfnicken steuern ließ. Vive la technologie!, hatte er begeistert gerufen. Er war damals siebzehn Jahre alt und eine Waise, nachdem seine Eltern bei demselben Autounfall gestorben waren, der seine Beine und einen seiner Arme teilweise gelähmt hatte.

Die Erinnerung verflog wieder, und Kali blickte nach links, wo eine geschwungene Treppe in den ersten Stock führte. Neben der untersten Stufe befand sich ein computergesteuerter Rollstuhllift. Sie wäre am liebsten direkt nach oben gegangen, doch sie wollte sich erst gründlich umsehen. Also betrat sie den Salon, lief in das Zimmer, das direkt davon abging, und weiter in die Küche, das Esszimmer und das Wohnzimmer mit seinem Damastsofa, den Veraseta-Vorhängen und antiken Skulpturen. Alles schien an seinem Platz. Die Wertgegenstände waren alle noch da.

Bevor Kali das Zimmer verließ, blieb sie vor einem Spiegel mit vergoldetem Holzrahmen stehen und betrachtete in der blanken Oberfläche ihr Gesicht. Es wirkte ernst und besorgt.

Sie ging die Treppe nach oben. Navarros großes Schlafzimmer war aufgeräumt. Das kleinere Gästezimmer ebenfalls. Sie lief den langen mit Teppich ausgelegten Flur zur Bibliothek hinunter und machte Licht.

Aus mehreren Reihen bronzener Hängelampen ergoss sich ein gleichmäßiges Licht. Die mit Roteiche vertäfelten Wände wurden vom Boden bis zur Decke von Bücherregalen gesäumt. Das Lesepult in der Mitte des Raums war mit Büchern, Partituren, Zeitschriften und Zeitungsausschnitten übersät, und auf einem kunstvoll verzierten Balkon bewahrte Lucien seine wertvollsten Ausgaben auf.

Kali stand da und lauschte in die Stille. Es war kein Geräusch zu hören. Wie die Haupttreppe war die Balkontreppe mit einem Rollstuhllift ausgestattet. Kali durchquerte das Zimmer und kniete sich hin, um einen Blick auf die Plattform zu werfen. Sie war mit einer kaum sichtbaren Staubschicht überzogen.

Lucien, was ist mit dir passiert?

Sie rannte zum Balkon hinauf. Dort befanden sich in einer Glasvitrine mehrere kostbare Raritäten. Ein in Leinen gebundenes Buch mit den wöchentlichen Folgen von Eine Geschichte aus zwei Städten. Eine zweibändige Erstausgabe von Der Glöckner von Notre-Dame, signiert von Victor Hugo. Eine Erstausgabe von Voltaires Candide oder der Optimismus. Und weitere Stücke der wertvollen Sammlung. Alles schien unverändert. Nichts fehlte. Falls jemand eingebrochen war, hatte er nichts stehlen wollen.

»Outlier.«

Kali hob leicht das Kinn. Das in ihrem Ohrhörer war Cas, und er benutzte ihren Decknamen fürs Dark Web.

»Ja?«

»Ich kann das System nicht löschen.«

»Warum nicht?«

»Datenmigration ist unzulässig. Ich habe keinerlei Zugriff auf alle bekannten Bereiche.«

»Kannst du einen Dialog zur KI herstellen?«

»Das habe ich schon versucht, ohne Erfolg.«

»Gibt es eine Fehlermeldung?«

»Ja. Zugriff aus unbekanntem Grund verweigert.«

»Das ist alles?«

»Ja.«

Kali fiel Franz’ Warnung ein. Er ist nicht allein. Sie hatte es ebenfalls für wahrscheinlich gehalten, dass jemand ins Alarmsystem eingedrungen war. Mit ein paar Zeilen Malware konnte man eine Web Shell erzeugen – eine Schnittstelle, über die man sich problemlos durch die Hintertür Zugang verschaffen konnte. Es hatte keinen Zweck, das zu überprüfen, auch nur eine Sekunde zu verlieren. Sie musste jetzt schnell handeln.

Sie eilte über den Balkon zu der Wand mit Büchern. Sie waren nach Themen und in alphabetischer Reihenfolge der Autoren geordnet.

Der Bereich mit der Staatsphilosophie belegte das dritte Regalfach von unten. Kali beugte sich hinunter und entdeckte Montesquieus De l’esprit des loix. Vom Geist der Gesetze. Das Buch, das früher von der französischen Obrigkeit und der katholischen Kirche auf den Index gesetzt worden war, bildete die ideologische Grundlage für die Französische Revolution und beeinflusste die amerikanischen Gründungsväter. Montesquieu hatte das Werk anonym in französischer Sprache veröffentlicht und dafür gesorgt, dass es rasch ins Englische und Deutsche übersetzt wurde, um zu verhindern, dass seine Ideen unterdrückt wurden.

Was hatte Lucien noch über ihn gesagt? Oh, was für ein Chaos unser Baron unter den königlichen Nasen hätte anrichten können, wenn er das Internet gehabt hätte. Allerdings hatten sie die Guillotine.

Kali ließ ihren Blick an den säuberlich aufgereihten Büchern entlangwandern. Das Buch, nach dem sie suchte, stand rechts von Montesquieus Werk und Rousseaus wichtigsten Abhandlungen. Sie waren absichtlich in falscher Reihenfolge angeordnet.

Sie zog das Buch aus dem Fach. Es war in dickes Buckram gebunden, und der Titel war in schlichten schwarzen Lettern gedruckt. Ihr fielen die Abweichungen von der üblichen amerikanischen Rechtschreibung auf: The Key of Libberty: Shewing the Causes Why A Free Government Has Always Failed, and a Remidy Against It, Written in the Year 1798, by William Manning of Billerica Massachusetts, a Laborer.

»Engel. Hörst du mich?«

Das war erneut Franz.

»Ja«, erwiderte sie.

»Der Mann von der Butte Bergeyre nähert sich deinem Standort. Bei ihm ist ein weiterer Mann.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Auf der Avenue Simon Bolivar.«

»Und du?«

»Auf halbem Weg die Rue Manin runter. Ich habe einen Bogen um den Park gemacht und bin dann nach unten gelaufen«, sagte Scholl. »Der zweite Mann kam vom Parc des Buttes-Chaumont.«

Kali sprang aus der Hocke hoch. Die Zeit wurde langsam knapp.

Sie rannte wieder nach unten, trat rasch auf den ovalen Teppich und blieb dort stehen, während sie das Buch des William Manning mit der Vorderseite Richtung Decke hielt. Sie konnte förmlich spüren, wie die Kamera ein Foto machte und die Scanner ihre Wangenknochen abtasteten – aber das bildete sie sich nur ein.

Die Stimme, die kurz darauf irgendwo über ihr ertönte, gehörte weder Franz noch Cas. Es war Luciens Stimme. Das heißt, die von Luciens KI, die seine Sprachmuster und Klangfarben imitierte.

»Was ist eine freie Regierung?«, fragte die Stimme.

Kali kannte den Frage-Antwort-Code auswendig. »Eine, die alle Gesetze gemäß dem Willen und den Interessen der Bevölkerungsmehrheit erlässt, anwendet und vollstreckt.«

»Was ist der Schlüssel zu einer freien Regierung?«

»Der Schlüssel ist Wissen.«

»Über welches Wissen muss ein freier Mensch verfügen?«

»Wissen über die Menschheit. Und über die verschiedenen Interessen, die alle menschlichen Stände betreffen.«

»Was ist der Schlüssel zur Freiheit?«

»Der Schlüssel ist demokratische Opposition.«

»Zu guter Letzt … welches von all den Büchern, die du mir stibitzt hast, magst du am liebsten? Nenne Titel, Untertitel, Autor sowie Erscheinungsort und Veröffentlichungsdatum.«

Kali konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Lucien hatte die KI nicht nur mit seinen stimmlichen Eigenschaften ausgestattet.

»Modern Magic. A Practical Treatise in the Art of Conjuring. Von Professor Hoffmann, London 1876.«

»Kali. Willkommen daheim, liebste Freundin und begnadete Zauberkünstlerin. Du hast vollen Zugriff.«

Ein schmaler Bereich der Wandvertäfelung glitt zur Seite, und Kali ging durch die Bibliothek zu der Öffnung. Dahinter, in fast völliger Dunkelheit, befand sich der Absatz einer Steintreppe, die nach unten führte.

»Tinkerer«, sagte sie. Das war Franz’ Benutzername im Internet. »Siehst du das?«

»Ja. Das gefällt mir nicht. Dort bist du allein. Ohne Verbindung nach draußen.«

»Ich glaube, dass ich dort unten weitere Leute treffen werde.«

»Dummköpfe und Narren. Gauner. Oarsmans Leute im Untergrund.«

»Mach unsere Verbündeten nicht schlecht.«

Kali stopfte das Buch in ihren Rucksack und schob sich durch den Spalt in der Wand auf den Absatz. Die Treppe schien fast senkrecht in die Dunkelheit hinabzuführen. »Warte im Hotel«, sagte sie. »Ich melde mich.«

Und dann verstummte sie. Die Zeit drängte.

Kali trat vom Absatz und begann die Treppe hinunterzusteigen. Die Wandvertäfelung hinter ihr glitt nahtlos wieder zu.

Als der einäugige Mann mit der Schiebermütze von der Butte Bergeyre herunterkam, warf er einen flüchtigen Blick auf die Ducati, die neben der Treppe parkte. Dann wandte er sich nach links und schlug denselben Weg ein wie seine Zielperson.

Der Mann hieß Matyas.

An der Ecke Rue Edgar Poe gesellte sich ein weiterer Mann wortlos zu ihm. Er war großgewachsen, glatzköpfig und mit seinen achtundzwanzig Jahren etwa zehn Jahre jünger als Matyas; er trug einen kurzen braunen Ledermantel und hatte ebenfalls einen Blitz auf den Nacken tätowiert.

Er hieß Stefan.

Die beiden bildeten die erste Einheit.

Vor Lucien Navarros Stadthaus hielt Matyas seine Hand an den biometrischen Scanner am Torpfosten. Das Tor öffnete sich, und die beiden liefen zur Flügeltür. Nach einem weiteren Scan wurde auch sie entriegelt.

Die Männer eilten direkt zu der geschwungenen Treppe und stiegen zur Bibliothek empor. Sie gehörten nicht zu der Art von Leuten, die sich etwas aus Büchern machten oder bemerkt hätten, dass unter den Tausenden von Büchern aus Navarros Sammlung The Key of Libberty fehlte. Sie mussten nur wissen, dass in diesem Raum zum letzten Mal die biometrischen Daten der Frau gescannt worden waren. Sie war genau dort, wo die beiden sie haben wollten.

Matyas trat auf den Teppich in der Mitte des Raums. Sein Auge blitzte kurz auf, und einen Moment später ertönte eine Stimme, die aus allen vier Wänden gleichzeitig zu kommen schien.

»Was ist eine freie Regierung?«, fragte sie.

»Lass uns rein, du beschissener Drecksack«, sagte der Mann.

Die Platte in der Wand glitt zurück.

Und die Stimme sagte: »Kali. Willkommen daheim, liebste Freundin. Du hast vollen Zugriff.«

Matyas wechselte mit seinem Begleiter einen Blick. Er würde eine manipulierte KI jederzeit einem menschlichen Maulwurf vorziehen. Eine KI ließ sich leichter austricksen. Sie kannte keinerlei Skrupel. Empfand weder Schuldgefühle noch Gewissensbisse wegen ihres Verrats. Außerdem verfügte sie oft über weitreichendere Zugriffsmöglichkeiten.

Matyas deutete mit dem Kinn auf den Eingang und eilte, dicht gefolgt von Stefan, zum Treppenabsatz auf der anderen Seite. Ehe sie überhaupt einen Fuß auf die Stufen gesetzt hatten, schloss sich die Wandplatte hinter ihnen wieder.

Franz Scholl hatte von einem erhöhten Aussichtspunkt auf der Rue Michel Tagrine aus beobachtet, wie der Einäugige und sein Begleiter um die Ecke gebogen waren. Anschließend hatte er sicherheitshalber kurz gewartet, bevor er die verbliebenen Stufen zur Rue Georges Lardennois hinuntergestiegen und Richtung Nordosten marschiert war, auf dem Weg, den die beiden – und Kali ein paar Minuten zuvor – zu Navarros Stadthaus zurückgelegt hatten. Als er um die Ecke zur Rue Edgar Poe bog, blickte er die Straße hinauf und sah, wie die Männer vor dem Tor stehen blieben.

Scholl sprach ein stummes Gebet und lief dann mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Er hatte Kali versprochen, im Hotel zu warten. Und er wollte sich daran halten.

Ein grauer BMW iX Flow, der zehn Meter weiter die Straße hinunter parkte, als Scholl die Treppe verlassen hatte, folgte ihm jetzt unbemerkt.

Ein paar Minuten später bog Scholl von der Avenue Mathurin Moreau nach rechts auf die Avenue Simon Bolivar, mit ihren alten Wohnhäusern ohne Aufzug. Der BMW, der ihm im Schritttempo folgte, war jetzt schwarz und hatte auf jeder Seite einen schmalen weißen Rallyestreifen. Der teure Luxuswagen schien für diese Arbeitergegend etwas auffällig, aber die angesagten Bars und Nachtklubs, die hier im Zuge der fortschreitenden Gentrifizierung eröffnet hatten, lockten Pariser aller sozialen Schichten an.

Zehn Minuten nachdem Scholl die Treppe verlassen hatte, kam er an eine Querstraße der Avenue Simon Bolivar. Er hatte das Hotel Aries jetzt fast erreicht, wo er für die nächsten Nächte ein schlichtes Zimmer gebucht hatte.

Durch den Eingang auf der Avenue Secrétan betrat er das Hotel. Der BMW fuhr daran vorbei; er war jetzt weiß und hatte auf der Motorhaube zwei schwarze Längsstreifen.

Als der Wagen um elf Uhr auf einen leeren Parkplatz bog, waren auf der Straße immer noch eine ganze Menge Autos und Passanten unterwegs. Und der Mann hinterm Steuer wartete geduldig, dass sie sich leerte.

Zwei Männer und eine Frau verließen die Metrostation Strasbourg–Saint-Denis und liefen auf dem Boulevard Saint-Martin Richtung Place de la République, mit seinen erleuchteten Denkmälern, Spaziergängern, Joggern, Hundebesitzern, Kiffern und den Obdachlosen auf den Bänken am Rand des Platzes. Alle drei hatten eine sportliche Figur. Der Mann rechts neben der Frau war wie ein Wettkampfschwimmer gebaut; mit seinen langen Armen, dem breiten Rücken und der schmalen Taille wirkte sein Körper wie in die Länge gezogen. Der Mann links neben der Frau war stämmiger und hatte den muskulösen Brustkorb eines Gewichthebers. Beide Männer waren Ende zwanzig, großgewachsen und hatten blondes Haar.

Die Frau, mit ihrem Schwanenhals und ihrem festen, geschmeidigen Körper, sah aus wie eine Turnerin. Tatsächlich hatte sie bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro eine Goldmedaille gewonnen, in dem Jahr, in dem der SVR sie als Auslandsagentin rekrutiert hatte, ein knappes Jahrzehnt bevor sie im Geheimdienst in den hohen Rang eines Pulkownik, eines Obersts, aufgestiegen war. Sie hieß Reva, hatte eine blaugrüne Igelfrisur und trug eine eng anliegende Krokodillederjacke, die mit jeder Menge Reißverschlüssen und Nieten besetzt war. Mit ihren vierunddreißig Jahren war sie das älteste und ranghöchste Mitglied der zweiten Einheit.

Reva hatte sich bei dem stämmigen Mann untergehakt. Er hieß Zoltan, trug einen Lederblazer, seine Ohren zierten schwarze Emaille-Tunnelstecker, und in seinem Nacken zeichnete sich deutlich ein roter Blitz ab. Sein rechtes Handgelenk zierte die Tätowierung eines Sterns mit acht Spitzen, aus seiner Zeit in einer Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter.

Der andere Mann, Dominik, hatte den Kragen seiner Bomberjacke gegen den kalten Nachtwind nach oben geschlagen. Dass sie seinen tätowierten Blitz bedeckte, war Zufall. Selbst in der Heimat kannten nur wenige die Bedeutung dieses Zeichens. Die Führung in Moskau hatte die Anwendung transhumanistischer Technologien für Zivilisten strengstens verboten, und die Existenz der Krowawaja Molnija war ein gut gehütetes Regierungsgeheimnis.

Nach einem fünfminütigen Fußmarsch erreichten die drei die Metrostation Saint-Martin, ein fantôme, wie die Pariser die stillgelegten Metrostationen nannten. Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Station nicht mehr genutzt, und der verriegelte Eingang befand sich unter dem Gehweg vor dem alten Säulenbau des Théâtre du Petit Saint-Martin. Am Geländer rings um die Treppe waren mehrere Fahrräder angekettet. Zwei Eisentore in einer mit Graffitis besprühten Fliesenwand versperrten den Zugang zur Zwischenetage und dem Bahnsteig. Die Treppe war mit zerknüllten Essensverpackungen übersät, und von unten stieg ein Gemisch widerlicher Gerüche empor.

Dominik schnupperte und verzog angewidert das Gesicht. »Man schickt uns immer an die schönsten Orte«, sagte er.

Reva löste ihren Arm aus Zoltans Umklammerung und ging vor den beiden Männern zum verriegelten Eingang hinunter. Die Radfahrer und demonstrativ hippen Cafégäste, die auf der Straße vorbeiliefen, schenkten den dreien keinerlei Beachtung. Es war typisch für die Mentalität der Pariser, dass sie sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten.

Der Gestank von Urin war unerträglich. Er klebte unter ihren Füßen. Reva trat vorsichtig an den Eingang. Dank ihrer Augenimplantate konnte sie wie ein nachtaktives Raubtier im Schatten alles deutlich erkennen.

Für sie waren die Graffitis an der Wand keine Kunst, sondern ein wütendes Bombardement. Die Schichten aus Sprühfarbe waren wahrscheinlich schon mehrere Jahre alt und bedeckten die Tore und den biometrischen Scanner daneben. Reva erkannte auf einen Blick, dass es sich um ein älteres Modell handelte. Ein Portal.

»Auf geht’s«, sagte sie.

Sie blieb einen Moment davor stehen, und ihre Augen zuckten leicht nach hinten. Die Brainport-Schnittstelle in der Nähe des Innenohrs erzeugte jedes Mal eine kurze, unwillkürliche Augenbewegung, wenn der Sehnerv stimuliert wurde, eine häufige Nebenwirkung, die vierzig Prozent der Personen mit Neurotech-Implantaten betraf. Sie waren nicht mehr so schlimm wie direkt nach dem Eingriff, und die Ärzte waren zuversichtlich, dass sie im Lauf der Zeit weiter nachlassen würden. Aber momentan nahm sie die Nebenwirkungen für ihre erweiterten Fähigkeiten gerne in Kauf.

Reva wartete, während das Display anging. Darunter leuchtete eine winzige grüne Anzeige auf, und sie hörte, wie sich das Schloss klickend öffnete. Einen Augenblick später trat Zoltan zu ihr, packte einen der Türgriffe und zog daran. Mit einem rostigen Knirschen schwang die Tür zur Seite.

»Folgt mir«, sagte Reva und trat in die Dunkelheit.

Und die Männer folgten ihr.

Die Krim, Ukraine

Die Villa stand auf einem Felsvorsprung, hoch über einem Ausläufer des Schwarzen Meers, und dahinter erhob sich ein Steilhang hundert Meter in die Höhe. Das fünfhundert Jahre alte Steingebäude hatte ein Terrakottadach und ein rundes Türmchen mit Fenstern zu allen Seiten, durch die man in drei Richtungen meilenweit die Landschaft überblickte. Im Osten wurde die Sicht von der steilen Felswand versperrt, die nach oben hin spitz zulief. Im Süden führte eine Tür zu einer Terrasse, die Drajan hin und wieder aufsuchte, um nachzudenken; manchmal stieg er auch die lange Treppe von der Brüstung hinunter, um alleine eine Runde über den Berg zu machen.

Aber an diesem Abend, wie an den meisten Abenden, spiegelte sich der trübe blaue Schein eines Computerbildschirms in den Fenstern des Türmchens. Drajan Petrovik saß hinter den gewölbten Wänden vor seinem Laptop, und seine Finger huschten leise über die Tastatur. Seit Wochen war er zum ersten Mal wieder allein, und er fühlte sich fast wie als junger Mann, bevor er der Wolf der technologie vampiri geworden war; bevor er sich mit Quintessa Leonides und seinen russischen Geldgebern eingelassen hatte; bevor er mit Kali Alcazar zusammengekommen war, deren fast schwarze Augen wie glänzende Onyx-Splitter aussahen.

Augen, die ihn immer noch in seinen Träumen verfolgten, falls er es denn schaffte zu schlafen.

Er hatte seine Jugendjahre in einem entlegenen Kaff verbracht und gewartet, dass etwas passierte. Irgendetwas. Der Cyberspace war das Tor zu einer Welt gewesen, die sich seinem direkten Zugriff entzog, und bald schon hatte er gelernt, sie nach Belieben zu manipulieren, um zu sehen, was dabei herauskam. Chaosmagie, jederzeit verfügbar. Irgendwann brachte ihm das Geld und Macht ein, aber anfangs hatte er nur danach gestrebt, Freiheit zu erlangen. Rückblickend betrachtete Drajan es als Fluch, dass er das überhaupt für möglich gehalten hatte, und inzwischen hatte er sich von dieser Vorstellung verabschiedet.

Er richtete sich jetzt in seinem Stuhl auf; im blassen Schein des Bildschirms wirkten seine Gesichtszüge schmal und geisterhaft. Man hatte ihn benachrichtigt, dass Kali Lucien Navarros Haus in der Rue Edgar Poe betreten hatte und dass ihr zwei Mitglieder der Krowawaja Molnija gefolgt waren. Der Stadtplan von Paris vor ihm zeigte die anderen Söldner des Blutigen Blitzes als Icons, während sie in den vorgesehenen Bereichen in die Katakomben der Stadt hinabstiegen. Er hatte Kali eine Falle gestellt sowie ihren alten Verbündeten und neuen Freunden, vor allem jenem Mann, der ihm in Bukarest eine Pistole an den Kopf gehalten hatte, dem Hünen, der ihn in dem blutbespritzten Flur über dem Nachtklub beinahe getötet hätte. Er würde sie ordentlich aufmischen, bevor er sich wieder den USA und anderen unerledigten Aufgaben widmete.

Er wandte sich vom Computer ab und blickte durch das Turmfenster zum Strand, zu der riesigen russischen Stadt hinüber, die sich im Innern des Bergs befand.

In gewisser Weise war er wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt. Erneut fühlte er sich wie ein Gefangener, und die Krim und dieses anheimelnde Türmchen waren das Sinnbild dafür. Zwar machte er sich keine Illusionen mehr, was seine persönliche Freiheit betraf, aber es war etwas völlig anderes, sich von seinen Zwängen zu befreien.

Die Chaosmagie war sein Ticket hier raus. Ob man nun fand, er würde nur seine alte Masche abziehen oder etwas Neues aus dem Hut zaubern – das änderte nichts am Ergebnis. Und wenn die Öffentlichkeit davon erfuhr, würde sie den Atem anhalten.

2

25. April 2024 Janus-Stützpunkt, Rumänien

Dassault oscar three india six, erteile Erlaubnis zum Eintritt in den Luftraum der FOB Băneasa. Bleiben Sie auf dreitausend Fuß …«

Die dreistrahlige Falcon 8X steuerte auf einem gleichmäßigen Gleitpfad von drei Grad die beiden Funkfeuer auf der erleuchteten Landebahn vor sich an. Während Nick DeBattista auf dem Pilotensitz über sein Headset den Anweisungen der Fluglotsin lauschte, sagte er sich, dass die Abwesenheit eines Towers kein Problem sei, obwohl er in seinen zehn Jahren als professioneller Pilot noch nie auf einem Flugplatz ohne gelandet war.

Genau genommen verfügte der Stützpunkt allerdings schon über einen Tower. Hundertdreißig Meilen westlich, auf dem Flughafen Constanţa, gab es einen virtuellen Tower, wo die Lotsin mit der sexy Stimme in einem fensterlosen Raum mit Reihen von Augmented-Reality-Monitoren saß, die von hochmodernen Sensoren am Boden mit Informationen gefüttert wurden. Dennoch war DeBattista ein wenig nervös.

Genau das passierte, wenn man sich mit Carmody einließ, dachte er. Bei ihm gab es keine Routine.

Er blickte zu dem Mann auf dem Sitz des Co-Piloten. Scott Dixon war einer von Carmodys Männern. Einer jener wohlgenährten Farmerjungen aus dem Mittleren Westen, die die Rekrutierungsbüros direkt von der Highschool anwarben. Er hatte braune Haare, grobe Gesichtszüge und erinnerte an eine Dampfwalze; er trug ein schwarzes kurzärmeliges T-Shirt, und an einer Goldkette baumelte das Abzeichen der Navy SEALs mit dem Dreizack. Seinen rechten Arm zierte die Tätowierung eines General-Electric-Fernsehers aus den 1960ern mit den Farbbalken des Testbilds. Darauf stand in großen Buchstaben der Name ELSE. DeBattista vermutete, dass es sich entweder um seine Lieblings-Sitcom oder seine Herzallerliebste handelte, aber er hatte ihn noch nicht danach gefragt.

»In ein paar Minuten sind Sie wieder zu Hause«, sagte er.

Dixon warf ihm einen Blick zu. »Ganz sicher nicht.«

»Was?«

»Dieser Ort ist sicher nicht mein Zuhause«, sagte Dixon.

DeBattista prustete. »Ihr zweites Zuhause?«

»Nicht in einer Million Jahren.«

»Nur aus Neugier: Wo kommen Sie her?«

»Indiana.«

DeBattista musste innerlich grinsen. Er hatte also richtig getippt. »Sind Sie auf einer Farm aufgewachsen?«

Dixon schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat ein Luftfrachtunternehmen betrieben.«

»Sie verarschen mich.«

»Nein. Whistle Stop Air Transport. Dort habe ich fliegen gelernt.«

DeBattista schwieg, die Hände am Steuerhorn. Er und Dixon hatten also etwas gemeinsam. Vielleicht kamen sie sich darüber näher, und er konnte ihn nach Else fragen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er eine interessante Geschichte zu hören bekäme.

»Dassault oscar three india six, Landebahn 1 ist jetzt freigegeben. Landebahn 1. Gehen Sie auf fünfzehnhundert Fuß runter, Kurs zwei sechs null. Im Landebereich herrscht leichter Bodennebel.«

Das war erneut die Fluglotsin. DeBattista mochte ihre persönliche Art noch mehr als ihre Stimme. Sie war weiblich und selbstbewusst. Eine Frau, die das Kommando übernahm.

Er wollte versuchen, ihren Namen in Erfahrung zu bringen. Da es vielleicht zwei Wochen dauern würde, bis Carmody seine nächste Eskapade vorbereitet hatte, musste er eine Möglichkeit finden, sich in der Zwischenzeit nicht zu Tode zu langweilen.

»Roger, Trimmung aktiviert«, sagte er. »Spreche ich mit Sandy?«

»Nein.«

»Mit Kaitlin?«

»Nein.«

»Leah.«

»Nein, ich heiße nicht Leah.«

»Also Tonia. Tonia mit o. Ich wette, Sie sind Tonia aus Rumänien.«

»Wieder falsch.«

»Rumänien? Oder Tonia?«

»Tonia.«

»Also gut. Wo aus Rumänien kommen Sie her?«

»Bukarest.«

»Sagen wir, ich lerne über Funk eine wunderschöne Frau aus Bukarest kennen. Wie frage ich sie höflich nach ihrem Namen?«

»So etwas tut man nicht«, sagte sie. »Wind aus dreihundert Grad mit zwei Knoten, Böen bis zu sechs Knoten.«

Sie ist garantiert attraktiv, dachte DeBattista. Außerdem fand er ihren leicht osteuropäischen Akzent ziemlich ansprechend.

»Danke. Sind Sie sicher, dass Sie mir Ihren Namen nicht verraten wollen, Bukarest? Ich heiße DeBattista. Habe ich das schon erwähnt?«

»Die Verbindung wird schwächer. Gute Nacht, DeBattista. Und herzlich willkommen. Wir sind für Sie da, wenn Sie uns brauchen.«

Er lächelte. Wow! Hatte sie etwa zurückgeflirtet? Er musste später versuchen, sie anzuquatschen. Aber momentan wartete die Landebahnbeleuchtung auf ihn.

»Also gut, Leute«, sagte er über den Kabinenlautsprecher. »In einer Minute landen wir.«

Er fuhr die Landeklappen aus und ging mit der Maschine runter.

Mit einem heftigen Ruckler setzten die Räder der Falcon auf dem Boden auf, und DeBattista betätigte die Bremse und fuhr auf das Rollfeld.

Carmody, der in der Passagierkabine seit dem Start in New York schweigend aus dem Fenster gestarrt hatte, streifte jetzt die Gurte ab und erhob sich. Einen Moment später liefen Schultz und Natasha Mori von hinten nebeneinander den geräumigen Gang des Luxusjets hinunter.

»Da wären wir also wieder«, sagte Schultz. »Im Land der Cyber-Vampire, der Burgen sadistischer Folterknechte, der Psycho-Roboter und von Colonel John Howard. Ich weiß nicht, was ich davon am meisten hasse oder am wenigsten vermisst habe.«

Vor ihm drehte Carmody kaum merklich den Kopf. »Überlass Howard mir«, sagte er.

Das hatte Schultz mit seiner Bemerkung nicht gemeint. Er wechselte mit Mori Blicke. Sie war großgewachsen und knochig und hatte transparente weiße Haut. Sie zuckte nur mit den Schultern und deutete mit dem Kopf Richtung Tür.

Die Passagiere stiegen als Erste aus, und Dixon und DeBattista folgten ihnen die Treppe hinunter.

Plötzlich durchdrang ein helles Licht die Nacht. Es kam von der Randbefeuerung des Rollfelds. Auf einer Zufahrt daneben standen zwei JLTVs. Das Licht erleuchtete und zerschnitt den zarten Bodennebel, und mehrere Gestalten, die sich am Rollfeld versammelt hatten, zeichneten sich davor deutlich als Silhouetten ab.

Als Dixon sie sah, blieb er verwundert stehen.

»Was ist das?«, sagte er.

»Was zum Henker?«, sagte DeBattista.

Die beiden Männer schauten sich um. Dixon nahm an, dass es sich bei den Gestalten um Hunde handelte. Riesige, schlanke Hunde mit langen Beinen. Er zählte ein Dutzend oder mehr.

Die beiden Männer standen neben der Treppe, und ein paar Schritte entfernt hatten sich Carmody, Schultz und Mori zu einem losen Grüppchen zusammengefunden. Die Hunde – falls es tatsächlich welche waren – verharrten regungslos im diffusen Licht und wabernden Nebel.

Carmody schob eine Hand unter seine Bomberjacke. In einem Schulterholster trug er eine Sig P225. Er zog die Pistole heraus und hielt sie neben sein Bein.

»Das ist völlig irre«, sagte Schultz. »Was glaubst du, wo die herkommen?«

Carmody starrte die Hunde an. Sie hatten schmale Köpfe, lange Schnauzen und abstehende dreieckige Ohren, die spitz zuliefen. Sie hielten sich vollkommen aufrecht auf den Ballen ihrer Vorderpfoten, wie Dobermänner. Die zwei JLTVs parkten nebeneinander mehrere Meter hinter ihnen, mit dem Kühlergrill Richtung Flugzeug. Scheinwerfer und Innenbeleuchtung waren ausgeschaltet. Er konnte nicht erkennen, ob in einem der Fahrzeuge jemand saß.

Während er dastand, dachte er weiter nach. Die LED-Flutlichter rings um das Rollfeld waren zwar eingeschaltet, aber ihr Licht wirkte etwas zu schwach. Und dort draußen im Schatten stand ein Rudel Hunde, die zum Flugzeug und den ausgestiegenen Passagieren hinüberschauten.

»Genug, Fernandez«, sagte Carmody mit lauter, aber ruhiger Stimme. »Es reicht.«

Plötzlich flackerten die Flutlichter auf und erleuchteten das Rollfeld. Dann ertönte ein dröhnender Schlag – von Trommel und Becken –, der das Grüppchen vor dem Flugzeug bis ins Mark erschütterte. Gleichzeitig erklang eine Fuzz-Gitarre, und nach einem weiteren Schlag steigerte sich der hämmernde, pulsierende Beat zu einem lauten Stampfen, und ein Bass setzte ein, gefolgt von einem schrillen »Oooaaayeah …«

Natasha spähte über das Rollfeld, während der ohrenbetäubende Gesang zu ihr herüberhallte.

»Grauenhaft. AC/DC, ›Givin the Dog a Bone‹«, sagte sie. »Bitte, erlöst mich von meinem Elend und jagt mir eine Kugel in den Kopf.«

Sie hob eine Hand an die Stirn, um ihre Augen gegen das grelle Licht abzuschirmen. Und dann klappte ihr vor Staunen die Kinnlade herunter.

Die Hunde auf dem Rollfeld hatten angefangen, in dem hellen Licht umherzutanzen. Natasha, die sie mit den anderen von der Maschine aus beobachtete, brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es sich nicht um Hunde handelte, jedenfalls nicht aus Fleisch und Blut, sondern um vierbeinige Roboter. Ihre Körper waren aus glänzendem Metall, und ihre mehrgliedrigen Beine federten an den Gelenken, während sie sich synchron im Rhythmus bewegten und mit den Füßen einen hämmernden Beat auf den Asphalt klopften.

Es war eine ausgefeilte, durchchoreografierte Darbietung. Die Roboter wiegten sich vor und zurück und drehten sich zur Musik akrobatisch im Kreis. Sie stellten sich wie Revuetänzer in Doppelreihen auf, einer hinter dem anderen, wechselten die Positionen, bildeten eine X-Formation, schlugen mit den Hinterbeinen aus und schwangen ihre Vorderbeine hin und her. Drei von ihnen vollführten gleichzeitig einen Rückwärtssalto, während drei andere einen Vorwärtssalto machten. Drei weitere Hunde ließen sich zu Boden fallen, rollten sich auf den Rücken, verdrehten ihre Beine um hundertachtzig Grad, um sich aufzurichten, und tanzten kopfüber weiter, ohne auch nur ein bisschen aus dem Takt zu geraten.

Nach etwa zwei Minuten bildeten sie erneut eine Reihe und verharrten in ihrer Position. Alle gleichzeitig. Abrupt und präzise. Im selben Moment verstummte die Musik.

Dann dröhnte aus einem der JLTVs über Lautsprecher eine Durchsage.

»Willkommen auf dem Janus-Stützpunkt, Heimatbasis der schnellen Eingreiftruppe der Net Force!«

Carmody steckte seine Sig zurück ins Holster, als er sah, dass Julio Fernandez aus dem rechten Fahrzeug stieg. Er war eins fünfundsiebzig groß und kräftig gebaut, hatte ein breites, kantiges Gesicht, ein ausgeprägtes Kinn und einen dichten Haarschopf, der an den Seiten kurz rasiert war. Seinen Arm zierte das Abzeichen eines Sergeant Major, mit den zwei Sternen, die das Dienstwappen umrahmten.

Als er sah, dass Carmody es bemerkt hatte, strahlte er übers ganze Gesicht und streckte seine Hand aus. »Schön, Sie zu sehen. Man hat mich befördert, während Sie in New York waren!«

Carmody erwiderte nichts und schüttelte auch nicht die Hand, die Fernandez ihm hinhielt.

»Ich hoffe, Ihnen hat das Unterhaltungsprogramm gefallen.« Er deutete mit dem Kinn auf die Roboter. »Das sind unsere neuen, verbesserten Patrouillenroboter. Adrian Soto hat sie entwickelt. Tanzende Wachhunde für uns Cyber Dogs. Ha!«

Carmody sah ihn bloß an.

»Wir haben einen langen Flug hinter uns. Und wir sind müde. Warum zeigen Sie uns nicht einfach unsere Unterkünfte?«

Fernandez ließ seinen Arm sinken. Er wirkte enttäuscht.

»Sicher«, sagte er. »Wir fahren Sie direkt hin.«

Carmody nickte und lief hinter ihm her, ohne den regungslosen Roboterhunden Beachtung zu schenken. Fernandez sah dabei zu, wie er in eines der JLTVs stieg, und einen Moment später folgten ihm die anderen Ankömmlinge.

Als Natasha seinen verwunderten Gesichtsausdruck bemerkte, blieb sie stehen, und ihre Blicke trafen sich.

»Abgesehen von dem frauenfeindlichen Song, fand ich es echt toll, wie diese gruseligen Köter mit ihren Metallärschen gewackelt haben«, sagte sie. »Ich heiße Natasha, und ich habe Sinn für Humor.«

Fernandez lächelte sie schwach an. Dann deutete er mit dem Kopf auf das Fahrzeug, das Carmody bestiegen hatte. »Was ist sein Problem?«

Sie trat näher.

»Kali«, sagte sie leise und folgte den anderen zügig in den Wagen.

3

25. April 2024 Paris, Frankreich

Kali stand am unteren Ende der Treppe und spähte in die Dunkelheit. Sie hatte aus ihrem Rucksack eine lichtstarke Stirnlampe hervorgeholt und schob den Riemen rasch über ihr Haar.

Sie war auf der Treppe dreißig Meter nach unten gestiegen und befand sich ein gutes Stück unterhalb des Kellers von Luciens Haus. Sie konnte einen schmalen Gang erkennen, der zu ihrer Rechten im spitzen Winkel abzweigte, und zur Linken eine massive Felswand. Franz’ Mann mit der Augenklappe und dem tätowierten roten Blitz war ihr wahrscheinlich ins Haus gefolgt – der unerlaubte Zugriff aufs Sicherheitssystem und der Umstand, dass der Mann auf der Butte Bergeyre einen Beobachtungsposten bezogen hatte, deuteten darauf hin, dass man ihre Ankunft erwartet hatte. Außerdem konnte man davon ausgehen, dass er nicht allein war.

Sie durfte keine Zeit verlieren.

Sie holte tief Luft und eilte in den Gang. Er war vollkommen rechteckig, Wände und Decke waren flach und ebenmäßig, und der leicht abschüssige Boden war mit einer feinen kreideartigen Sandschicht bedeckt. Was hatte Lucien ihr mal gesagt? Die Steinbrüche im Pariser Norden waren die ältesten der Stadt; man hatte ihren Gips zu einem Pulver gemahlen, das im alten Rom als Mörtel benutzt worden war. Sie bekam davon eine trockene Nase.

Schließlich erreichte sie eine Biegung, dann eine weitere. Und noch eine. Rechts, links, rechts, rechts, links. Nach ein paar Biegungen wurde der Stollen enger, seine Wände rückten näher, die Decke wurde niedriger. Bald schon musste sie den Kopf einziehen, während ihr Rucksack über die Decke scheuerte und unter ihren Füßen winzige Gesteinsbrocken knirschten. Das Gefühl von Klaustrophobie wurde durch die abgestandene, verbrauchte Luft noch verstärkt.

Kali lief mehrere Minuten so weiter, bis der Schein ihrer Lampe auf eine Wand vor ihr traf und sie wie angewurzelt stehen blieb.

Etwa zehn Meter weiter vorne endete der Tunnel plötzlich. Ihre Lampe erleuchtete ein rundes Metallschild, das an die kahle Felswand geschraubt war; auf einem leuchtend gelben Untergrund prangte das schwarze Strahlenwarnzeichen. Darunter stand nur ein einzelnes Wort, gefolgt von einer Zahl.

Nach ein paar Sekunden wich Kalis überraschter Gesichtsausdruck einem amüsierten Schmunzeln. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber das war typisch Lucien; sein Humor war so trocken wie das Felsgestein ringsum. Er hätte seine helle Freude daran gehabt, wenn ein Eindringling glaubte, er sei auf ein atomares Endlager gestoßen. Aber Kali wusste, dass das Schild nur eines seiner Täuschungsmanöver war. Es bezog sich nicht auf das chemische Element.

Plutonium, dachte sie. Lateinisch für Plutos Tor. Im alten Rom der Name für den Zugang zur Unterwelt.

Sie richtete den Blick von der Wand nach unten. Im Schein der Stirnlampe war noch etwas anderes aufgetaucht … ein runder Metalldeckel im Boden direkt vor der Wand. Er war fünfzehn Zentimeter hoch, hatte einen Durchmesser von anderthalb Metern, und auf einer Seite befand sich etwas, das wie ein großes gusseisernes Scharnier aussah.

Kali rannte zum Deckel und kniete sich hin, schob ihre Finger unter den Rand und zog ihn nach oben. Es ertönte ein leises Zischen, als sich der Deckel auf einer Gasdruckfeder sanft in die Höhe hob. Darunter befand sich eine runde Öffnung mit einer weiteren Treppe. Eine Wendeltreppe aus Metall, die zwischen rohrförmigen Geländern nach unten führte. Der senkrechte Schacht war in denselben kalkartigen Stein gehauen wie der Gang.

Sie griff nach dem Geländer, ließ sich auf die oberste Stufe hinunter und machte zwei Schritte. Dann streckte sie eine Hand nach dem offenen Deckel aus und zog vorsichtig an der Unterseite, um den Federmechanismus zu aktivieren. Leise senkte sich der Deckel, und sie wurde in Dunkelheit getaucht.

Die Treppe wand sich immer weiter den Schacht hinab. Während sie darauf hinunterstieg, zählte sie jede Stufe und dachte, Franz wäre erfreut über den Einfluss, den er auf sie ausübte. Fünfzehn, fünfundzwanzig, dreißig. Vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig.

Neunzig. Hundert …

Es ging schwindelerregend und scheinbar endlos in die Tiefe. Aber sie spürte einen leichten Windhauch, der von unten heraufwehte. Dort gab es Luft zum Atmen. Mit der Hand am Geländer lief sie die Windungen hinunter und zählte, während sie nicht weiter als vier oder fünf Stufen sehen konnte und die Sohlen ihrer Stiefel ein dumpfes, rhythmisches Geräusch machten.

Hundertzwanzig … hundertfünfundsiebzig … zweihundert …

Auf der zweihundertsechzehnten Stufe blieb Kali stehen und schaute zum Boden des Schachts hinunter. Er befand sich vier Stufen unter ihr, insgesamt zweihundertzwanzig Stufen von dem Metalldeckel entfernt. Das überraschte sie zunächst. Sie hatte damit gerechnet, dass es zweihunderteinundvierzig Stufen seien. Aber dann wurde ihr klar, dass Lucien keinen derart eindeutigen Hinweis geben würde.

Sie stieg den Rest der Treppe hinunter und kam in einen ovalen Raum mit einem Durchmesser von sieben Metern, dessen Boden mit demselben puderartigen Staub bedeckt war wie der Gang oben. In den Wänden des Raums gab es drei niedrige Torbögen – einen zu ihrer Linken, einen zu ihrer Rechten und einen weiteren ziemlich genau in der Mitte, direkt vor ihr. Sie waren etwa anderthalb Meter hoch, als wären sie von Zwergen gegraben worden. Kali spürte die kalte, trockene Luft, die sanft durch die Torbögen hereinwehte, und erinnerte sich an den Windhauch weiter oben.

Sie setzte sich auf eine der unteren Stufen, zog die Wasserflasche von ihrem Gürtel und nahm zwei hastige Schlucke. Sie konnte hier nicht lange bleiben. Wenn eine unbefugte Person die versteckte Wandplatte in Luciens Bibliothek öffnen wollte, musste sie fast seine gesamte KI manipulieren, sie sehr viel stärker infiltrieren als nötig war, um das Sicherheitssystem zu überlisten und zu kontrollieren. Und Lucien hatte bestimmt dafür gesorgt, dass das nicht so einfach war. Aber etwas Ähnliches war vor fünf Monaten auf dem Janus-Stützpunkt passiert, und man hatte ihn in Schutt und Asche gelegt. Sie musste also mit dem Schlimmsten rechnen. Und sie musste sich beeilen.

Sie nahm den Manning aus ihrer Tasche und legte ihn in ihren Schoß. Dann zog sie ein kleines Schweizer Armeetaschenmesser aus ihrer Jacke und schlug das Buch am vorderen Spiegelblatt und Vorsatzblatt auf. Sie bestanden aus altem, dickem Marmorpapier. Kali klappte die kleinste Klinge des Messers aus und ließ die Spitze langsam über den oberen Rand des Spiegelblatts gleiten. Dann trennte sie den äußeren Rand von oben nach unten auf. Nachdem sie die beiden Seiten des Spiegelblatts vom Buchdeckel gelöst hatte, steckte sie das Messer wieder ein, hob vorsichtig das Blatt an und schob zwei Finger darunter.

Als sie sie wieder herauszog, umklammerten sie ein hauchdünnes Blatt Papier. Es war wächsern und durchscheinend wie Transparentpapier und sorgfältig in der Mitte zusammengefaltet, und auf die Rückseite war in schwarzer Farbe eine Rosenblüte aufgeprägt.

Sie faltete das Blatt auseinander. Auf der Vorderseite war eine gezeichnete alte Karte von Paris zu sehen. Aber Kali wusste, dass es sehr viel mehr war. Der oberirdische Bereich der Stadt war nur mit schwachen Linien skizziert, während mehrere Ebenen das verzweigte Labyrinth aus Stollen, Kammern, Katakomben, Kanälen und Aquädukten darunter zeigten. Das Stollensystem südlich der Seine – am linken Flussufer – hieß Le Grand Réseau Sud, das große südliche Netzwerk. Oberhalb des Flusses befand sich Le Réseau Nord, das nördliche Netzwerk, ein sehr viel kleinerer Bereich, der aus zwei getrennten unterirdischen Stollensystemen bestand. Eines erstreckte sich Richtung Westen, bis zum Rand des achtzehnten und siebzehnten Arrondissements, und umschloss Luciens Viertel. Das andere, unterhalb des auf einem Hügel gelegenen Bezirks Montmartre, reichte drei Meilen Richtung Osten. Zwischen den beiden Systemen verlief im Zickzack der eine Meile lange Stollen, den Kali von der Treppe aus entlanggelaufen war. Ein großes rotes handgemaltes X am Ende des Stollens markierte den Deckel über dem Schacht … und der runde Raum darunter war ihr momentaner Aufenthaltsort, eine Art Knotenpunkt, von dem drei gerade Gänge abzweigten.

Einer der Gänge war rot hervorgehoben, ein anderer mit Blau markiert. Der rote Gang führte nach Osten, zum Stollensystem in Montmartre, und endete nach einigen Biegungen unterhalb des Hügels in der Zeichnung einer Rose. Der blaue Gang war sehr viel länger. Er verlief ebenfalls ein Stück Richtung Osten, knickte dann aber unter dem Parc des Buttes-Chaumont scharf nach Süden ab. Auf diesem Abschnitt, der zur Seine führte, gab es zahlreiche Abzweigungen.

La Route de Sable, las Kali. Die Sandige Straße. Das war der Untergrund-Highway, der die beiden Teile des nördlichen Netzwerks mit dem großen südlichen Netzwerk verband. Sie schätzte seine Länge auf sechs Meilen. Er kreuzte im fünften Arrondissement unterhalb des Place de la Bastille die Seine und führte dann in den südlicheren Arrondissements in einem Bogen, der die Form eines U oder Hufeisens hatte, Richtung Nordwesten. Kali folgte mit dem Zeigefinger seinem ungefähren Verlauf und las die Namen der verschiedenen Wegpunkte. Sie waren in Luciens akkurater Handschrift geschrieben. Rattengasse (Wo die toten Menschen ihre Knochen verloren), Halle des Wilden Königs, Der Thron. Moorgate.

Ihr Finger verharrte auf einem Ort namens Die Leere Kapelle zwischen den beiden Enden des U … der sehr viel näher am östlichen als am westlichen Ende lag. Offensichtlich handelte es sich um eine große, rechteckige Kammer. Darin stand in Blau eine Anmerkung:

Der hagere Notar ;-)

Kali lächelte schwach. Dieses Emoticon war typisch Lucien. Und natürlich die Namen der Orte. Er liebte T. S. Eliot. Aber seine hintersinnigen Scherze waren jetzt nicht wichtig.

Kali überflog noch einmal kurz die Karte und richtete den Blick dann auf die drei Torbögen. Wenn sie es richtig gesehen hatte, führte der linke in die nördlichen Vororte von Levallois-Perret und der mittlere auf den Weg, den Lucien rot markiert hatte. Sie war sich sicher, dass sie darauf am direktesten zu ihm gelangen würde. Falls er sich hier unten in Sicherheit gebracht hatte. Aber …

Aber der Typ mit der Augenklappe und seine Kumpels rechnen damit, dass du ihn aufsuchst. Genau das wollen sie doch. Begreifst du nicht, dass sie ein Spielchen mit dir spielen? Sie haben deine Ankunft abgewartet, bevor sie etwas unternommen haben.

Sie hörte diese Gedanken mit Carmodys Stimme. So deutlich, dass sie vor Verwunderung beinahe geblinzelt hätte. Es schien, als hätte er über die Schulter hinweg mit ihr gesprochen.

Sie holte tief Luft, blickte zu dem Torbogen rechts von sich und schaute erneut auf die Karte.

Nach einem Moment faltete Kali sie wieder zusammen und steckte sie in ihre Jackentasche, nahm ihren Rucksack ab, verstaute das Buch darin und wickelte einen der Riemen um ihre Hand. Dann erhob sie sich von der Metallstufe, rannte zum Torbogen und legte sich auf den Bauch.

Es wäre für den querschnittsgelähmten Lucien nicht leicht gewesen, sich durch eine dieser Öffnungen zu zwängen. Auch mit Unterstützung. Sie selbst würde es kaum schaffen, und sie wog nicht mal sechzig Kilo.

Sie schob den Rucksack hinein und krabbelte hinterher. Der Torbogen war niedrig und eng, führte aber in eine geräumigere Kammer. Kali sprang auf und sah sich im Schein ihrer Stirnlampe um. Sehr viel geräumiger … und höher. Die Decke war gut und gerne zehn Meter hoch, und die Wände genauso weit voneinander entfernt.

Sie schnallte den Rucksack um und marschierte weiter. Nach einigen hundert Metern kam sie an eine Abzweigung und folgte ihr.

Der Gang verlief, wie auf der Karte eingezeichnet, Richtung Süden. Kali rannte weiter. Der Boden unter ihren Füßen war weich und weiß wie Talkumpuder.

Die Sandige Straße. Statt Richtung Osten zu laufen, wo sie Lucien zu finden hoffte, bewegte sie sich von ihm fort, auf das große südliche Netzwerk zu, um ihrerseits ein kleines Spielchen zu spielen.

Die Ligne de Petite Ceinture – die kleine Ringbahn – war eine zweihundert Jahre alte Eisenbahnstrecke, die Paris früher vollständig umrundet hatte, um zwischen fast dreißig Bahnhöfen Passagiere und Güter zu transportieren. Wie die Geisterstationen der Metro waren die Bahnsteige und Gleise schon vor Jahrzehnten stillgelegt worden, und man hatte die von der Vegetation überwucherten Gleisbetten zum Schutz der Bevölkerung abgesperrt. Einige Teilbereiche hatte man saniert und zu freundlichen Grünflächen umgewandelt, aber viele längere Streckenabschnitte hatte man einfach sich selbst überlassen.

Am Rand des im Süden gelegenen Quartier du Bel-Air im zwölften Arrondissement marschierten jetzt zwei Männer durch einen Teppich aus trockenem braunem Unkraut und Gestrüpp die Gleise entlang. Sie waren auf dem Hintern durch ein Loch im Absperrzaun gerutscht und hatten sich auf das Kiesbett hinuntergelassen.

Sie bildeten die dritte Einheit.

Die beiden Männer liefen in einem gleichmäßigen Tempo zwischen den Bahngleisen entlang. Einer von ihnen, ein dunkelhäutiger Sibirier tatarischer Abstammung namens Luka, war drahtig und kleinwüchsig wie ein Jockey. Er trug eine blaue Strickmütze, an deren Bund eine Stirnlampe befestigt war, und hatte kurz geschorenes, gekräuseltes schwarzes Haar. Sein Begleiter, Oleg, war ein rotwangiger Weißrusse mit dem massigen, hochgewachsenen Körper eines Holzfällers. Er hatte schulterlanges blondes Haar, das lose unter einer Rennfahrerkappe hervorwallte. Er trug ebenfalls eine Stirnleuchte.

Das Unkraut auf dem Gleisbett, das knapp bis über Lukas Knie und bis über Olegs Waden reichte, strich raschelnd über ihre Beine. Die Männer trugen für ihre Mission heute Nacht warme Steppwesten, dicke Jeans und Arbeitsstiefel mit breiten Kappen. Wie die übrigen Teams in Paris waren die beiden ehemalige Mitglieder der GRU, aber im Gegensatz zu den anderen waren sie im Nacken nicht mit einem roten Blitz tätowiert.

Das war kein Zufall. Denn sie gehörten innerhalb der Elite einer Elite an: der Tschornaja sotnja, der Schwarzen Hundert, einer geheimen Bruderschaft von Killern, die unter der Herrschaft von Zar Alexander dem Zweiten gegründet worden und fast zwei Jahrhunderte später Teil der russischen Spezialkräfte war … wobei die Zahl der Mitglieder inzwischen auf dreißig geschrumpft war.

Sie teilten ein einzigartiges Erbe. Die Mitgliedschaft in der Schwarzen Hundert war ein Geburtsrecht. Bereits ihre Väter waren Killer gewesen. Genau wie ihre Großväter, Urgroßväter und Ururgroßväter. Die Ausbildung begann bereits im Kindesalter.

Da die Führung der Bruderschaft jede Form von neuronaler Modifikation strikt ablehnte, hatte man Oleg und Luka vom Programm des Kremls, das die Mitglieder des Blutigen Blitzes ausbildete, freigestellt. Doch das schmälerte keineswegs ihren Wert für das Direktorat. Oder für die Wagner-Gruppe, die sie sofort nach Beendigung ihres Militärdienstes angeheuert hatte. Bei der paramilitärischen Organisation handelte es sich nur auf dem Papier um ein Privatunternehmen, da sie unter der Hand vollständig vom Verteidigungsministerium finanziert wurde – was sie faktisch zu Russlands Schattenarmee machte.

Bei der Wagner-Gruppe erwarben sich die beiden weitere Verdienste, als man sie der Spezialeinheit Rusitsch zuteilte. Die Einheit erledigte die Drecksarbeit, mit der sich sonst niemand die Hände schmutzig machen wollte – Giftmorde und Einsätze mit Kampfgas und Massenvernichtungswaffen, die für die Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft Kriegsverbrechen darstellten. Im Zuge von Putins Kriegseinsätzen in Syrien und der Ukraine hatten die beiden ihre Aufträge zu hundert Prozent erfüllt.

Aber die Belobigung, die sie für ihre Verdienste erhielten, war kein Ersatz für Geld. Nachdem sie erfahren hatten, was Braithwaite Global ehemaligen Rusitsch-Söldnern zahlte, beschlossen sie, trotz ihres Vertrags mit der Wagner-Gruppe Russland zu verlassen. Sie überquerten die Grenze zur Ukraine und reisten weiter über Polen nach Norddeutschland. Von dort aus kontaktierten sie dann das australische Unternehmen, das ihnen sofort einen äußerst lukrativen Exklusivvertrag anbot.

Trotz der Ablehnung neuronaler Modifikationen durch ihre Bruderschaft trugen Luka und Oleg jeder eine Daten-Kontaktlinse mit Mikro-LED-Display, Wärmesensoren, Breitbandfunk und einem Augmented-Reality-Display von der Größe eines Sandkorns. Die puckförmigen Computer an der Vorderseite ihrer schwarzen Lederhalsbänder verfügten über Prozessoren, GPUs und kabellose Transceiver, die ihre Daten mit einer Bildwiederholfrequenz von tausend Bit pro Sekunde an die Kontaktlinsen übertrugen. Auf diese Weise hatten sie viele der taktischen Vorteile der Cybermodifikation, ohne sich einem irreversiblen Eingriff zu unterziehen und, wie sie glaubten, unter den entsprechenden Nebenwirkungen zu leiden.

Die beiden Männer folgten den Gleisen jetzt für etwa dreihundert Meter, bogen um eine Kurve und erblickten vor sich einen großen, gewölbten Tunneleingang. Ein paar Schritte im Tunnel stand ihr Führer mit einer flackernden altmodischen Karbidlampe in der Hand, hinter der er sich als zuckende Silhouette abzeichnete.

»Bonsoir, meine Herren«, sagte er. »Gab es irgendwelche Probleme?«

»Wir haben mühelos hergefunden, falls du das meinst«, sagte Oleg.

Der Führer nickte. Er hieß Anton – zumindest hatte er ihnen diesen Namen genannt –, war eins siebzig groß, schmächtig und wog siebzig Kilo. Er trug einen Fischerhut aus Ölhaut, dessen Krempe er in die Stirn gezogen hatte, dazu Arbeitshosen und Watstiefel. Auf den Rücken hatte er einen großen Rucksack geschnallt und um die Taille eine Bauchtasche.

Luka deutete auf die Lampe. »Willst du wirklich dieses alte Ding da benutzen?«

Anton lächelte. »Sie brennt zwölf Stunden lang. Ich mag es gerne unkompliziert.«

»Also, wie geht’s weiter?«

Der Führer griff in seine Jacke und zog ein überdimensionales Blatt Papier heraus. Es war zweimal gefaltet.

»Hier. Werft einen Blick darauf. Aber ich brauche sie gleich wieder.«

Es handelte sich um eine Karte mit Ortsnamen und kartografischen Zeichen. Sie waren in einem kursiven, stilisierten Zeichensatz gedruckt, um den Eindruck zu erwecken, sie wären von Hand geschrieben.

»Sie basiert auf der Karte Guillemots für die Inspection générale des carrières. Aus den 1770ern. Aber schaut mal auf die Rückseite.«

Luka drehte die Karte um. Im Schein seiner Stirnlampe war eine aufgestempelte Rosenblüte zu erkennen.

»Dieser Stempel weist sie als eine der wenigen Karten aus, die das nördliche Netzwerk in allen Einzelheiten präzise darstellen. Die meisten Karten zeigen nur die Stollen im Süden.«

»Und was meintest du, wo du sie her hast?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber ich kann mich glücklich schätzen, sie zu besitzen.«

Luka tauschte mit Oleg Blicke aus und gab Anton die Karte zurück. Der Führer faltete sie wieder ordentlich zusammen und steckte sie in seine vordere Westentasche.

»Okay, bleibt dicht bei mir. Und passt auf der linken Seite auf, wo ihr hintretet.« Der Führer hielt seine Karbidlampe über einen schmalen Graben, der längs der Tunnelwand verlief. Er war etwa zwei Meter tief und einen Meter breit. »Der Kanal soll verhindern, dass es nach einem Unwetter zu einer Überschwemmung kommt«, erklärte er. »Aber wie ihr sehen werdet, dient er noch anderen Zwecken.«

Er drehte sich um und führte die beiden weiter in den Tunnel, wobei er genau zwischen Gleisen und Wand entlanglief. Nach etwa fünfzig Metern blieb er stehen und hielt erneut seine Lampe über den Kanal.

»Seht ihr, wo der Fels wie eine Art Vorsprung von der Tunnelwand absteht? Direkt darunter befindet sich die chatière.«

Die Männer spähten nach unten, in den orangen Schein der Lampe. Die Öffnung befand sich auf der linken Seite des Grabens. Da sie von dem Felsvorsprung verdeckt wurde, würde man sie nicht bemerken, wenn man nicht gezielt danach suchte.

»Wir können froh sein, dass der verdammte Regen aufgehört hat«, sagte Oleg. »Ich habe gesehen, wie der Kanal hüfthoch mit Wasser vollgelaufen war. Aber jetzt ist er schön trocken.«

Der langhaarige Russe gab ein Knurren von sich. »Die Öffnung ist ziemlich eng.«

Anton ging am Rand des Grabens in die Hocke. »Alles ist relativ. Wusstet ihr, dass ein normaler Sarg gerade mal sechzig Zentimeter breit ist? Verglichen damit, ist hier noch Luft.«

»So kann man es auch sehen«, sagte Oleg. »Du bist ein aufgeweckter Bursche, Anton.«

Der Führer lachte. »Schwarzer Humor ist hier unerlässlich. Ihr werdet sehen.« Er gab dem bärtigen Mann die Lampe und ließ sich in den Kanal hinunter. »Kannst du mir die Lampe reichen? Danke.«

Luka gab ihm die Lampe zurück und folgte ihm, sein Kamerad kletterte als Letzter hinunter. Tatsächlich war dort unten genug Platz, um sich ungehindert zu bewegen.

Die chatière, die Katzenklappe, war ebenfalls etwas größer, als es von oben den Anschein hatte. Anton deutete mit dem Kinn auf die Öffnung. »Wir werden mit den Beinen voran da reinsteigen. Zum Glück verlaufen die Gleise zwanzig Meter tiefer als die Straße, sodass wir mit der Kammer auf der anderen Seite auf einer Höhe sind. Es geht gerade mal dreißig Zentimeter nach unten.«