Net Force. Im Auge der Macht - Jerome Preisler - E-Book

Net Force. Im Auge der Macht E-Book

Jerome Preisler

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Beschreibung

Cyberattacken bedrohen weiterhin die globale Sicherheit, und nur die neue Cyberelite-Einheit, zusammengestellt von der US-amerikanischen Präsidentin höchstpersönlich, kann sich ihr in den Weg stellen. Mit unermüdlichem Einsatz und unorthodoxen Methoden tun sie alles, um die Ordnung der globalisierten Welt zu bewahren.

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DASBUCH

New York 2024: Natascha Mori ist Teil der Elite-Einheit Net Force, die Cyberangriffe auf die Vereinigten Staaten von Amerika abwehrt. Ihre besonderen Fähigkeiten machen sie für das Team unentbehrlich. Offiziell ist sie in einem strengen russischen Internat aufgewachsen, doch tief in ihrem Unbewussten regen sich Zweifel an dieser Geschichte. Als Söldner auf sie angesetzt werden, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen: Was will der russische Geheimdienst von ihr?

Die in dieser Novelle geschilderten Ereignisse sind zeitlich zwischen den Ereignissen Net Force. Geheimprotokoll (erschienen am 12. September 2022) und Net Force. Cyberstaat (erscheint am 13. September 2023) angesiedelt.

DERAUTOR

Jerome Preisler ist der Autor von Tom Clancys New York Times-Bestsellerreihe Power Play. Er hat bisher mehr als dreißig Bücher veröffentlicht und als Experte für Militärgeschichte zahlreiche Vorträge an Schulen, in Museen und Militärstützpunkten gehalten. Preisler lebt in New York.

JEROME PREISLER

NACH EINER IDEE VONTOM CLANCYUNDSTEVE PIECZENIK

NETFORCE

IMAUGEDERMACHT

Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe KILLCHAIN erschien erstmals 2021 bei Hanover Square Press

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2023

Copyright © 2021 by Netco Partners

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition is published by arrangement with Harlequin Books S.A.

This is a work of fiction. Names, characters, places and incidents are either the product of the author’s imagination or are used fictitiously, and any resemblance to actual persons, living or dead, business establishments, events or locales is entirely coincidental.

Redaktion: Werner Wahls

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock.com/Pavel Chagochkin

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-26927-2V001

www.heyne.de

Für Alice Bean Andrenyak, Master Maine Guide sowie Alison Faye Johnson und Doug Grad, die mir halfen, Bryan zu Bryan zu machen.

Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.

Johann Wolfgang von Goethe

Wissenschaft ist der Versuch, der chaotischen Mannigfaltigkeit der Sinneserlebnisse ein logisch einheitliches gedankliches System zuzuordnen.

Albert Einstein

Erster Teil

Verbindungsabbruch

PROLOG

Föderationskreis Sibirien, Russland,

2007

Der schwarze 4x4 Lada Niva wurde vom starken Wind kräftig durchgeschüttelt, als er sich durch die östlichen Steppen oberhalb des Flusses Chernavka kämpfte. Krupin, dicht über das Lenkrad gebeugt, schaltete das Fernlicht ein und spähte angestrengt in das dichte Schneetreiben hinaus. Aber auch das Fernlicht des Lada war dem Beinahe-Whiteout nicht gewachsen. Krupin konnte kaum die Straße ausmachen, deren Ränder selbst dort, wo es sie gab, unbefestigt und kaum erkennbar in die Böschung übergingen.

Er fluchte leise, wobei er einen schnellen Blick in den Rückspiegel warf. Auf dem Rücksitz saß ein ungefähr zehnjähriges, schmächtiges Mädchen, eingezwängt zwischen zwei nervösen Wächtern. Mit ihrem weißen Haar, der blassen Haut – die blasseste Haut, die er jemals gesehen hatte – und den blassgrünen Augen kam sie ihm fast wie eine märchenhafte Feengestalt vor. Zweifellos kein normales Kind, aber doch eindeutig ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Krupin runzelte die Stirn und richtete den Blick wieder nach vorn. Selbst an klaren Wintertagen war die Fahrt durch diese Berglandschaft gefährlich, aber in einem Schneesturm war es reiner Wahnsinn. Wenn sie Glück hatten, war das hier nur ein schnell weiterziehendes Schneegestöber, wie es in den Chernavka-Hügeln oft genug vorkam. Aber wenn es ein großer Schneesturm war, würde er sich festsetzen; die Straße würde dann praktisch unpassierbar werden. Links drängten sich die mit Fichten bewaldeten Abhänge bis dicht an die Straße heran, rechts gähnte der Abgrund des Tals – und nirgendwo eine Möglichkeit, anzuhalten und den Sturm auszusitzen.

Außerdem: Befehl war Befehl, und Krupin dachte, er könnte dem Schlimmsten entgehen, wenn er versuchte, noch vor Einbruch der Dunkelheit sein Fahrtziel zu erreichen. Der Kilometerzähler zeigte ihm an, dass er seit Krasnojarsk gut fünfzig Kilometer zurückgelegt hatte, was bedeutete, dass er ungefähr die halbe Strecke bis zu der geheimen Stadt hinter sich hatte, die nur unter der Bezeichnung Uschur-95 bekannt war – vorausgesetzt, seine Streckeninformationen waren korrekt.

Er musste sich eingestehen, dass das eine recht optimistische Annahme war. Die geheime Stadt gehörte zu dem großen SATO-Netzwerk der sogenannten »Geschlossenen Städte«; solche Städte gab es überall in der Russischen Föderation. Darunter verstand man geschlossene administrativ-territoriale Städte oder Gebiete mit äußerst strikten Reise- und Aufenthaltseinschränkungen. Die geheime Stadt Uschur-95 war weder auf den öffentlichen Landkarten verzeichnet noch wurde sie in öffentlich zugänglichen Akten oder Berichten erwähnt. Es gab auch keine Straßenschilder oder Wegweiser. Wer den abgeschirmt lebenden Menschen in diesen Städten einen Brief schicken wollte, musste sich mit der Postleitzahl der nächstgelegenen Ortschaft begnügen, in der es irgendeine Behörde oder ein Amt gab. In diesem Fall war das die Kleinstadt Uschur im südlichen Sibirien, Zentrum eines Landwirtschaftsgebiets mit wichtigem Eisenbahnknotenpunkt nach Ostsibirien.

»Briefkasten« wurde das oftmals genannt. Und aus gutem Grund. Die Einwohner der Geschlossenen Stadt hatten keine bekannte Adresse, nur diese Postleitzahl, und selbst die Ziffernfolge, die dem Stadtnamen angehängt wurde, bezeichnete einfach nur die ungefähre Kilometerentfernung der Geschlossenen Stadt von der eigentlichen Stadt Uschur.

Oder jedenfalls sagt man so, grübelte Krupin. In ihrer glorreichen Zeit hatten die permanent misstrauischen Apparatschiks vom damaligen sowjetischen Geheimdienst KGB die Ziffernfolge der SATO-Städte auf den Landkarten oftmals beliebig verändert – oder sogar ihre vollen Namen –, um die Spione und Infiltratoren zu verwirren, die sie ständig überall vermuteten. Auch nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Überstaats hatte sich nicht viel verändert. Auch die derzeitigen Bürokraten der Russischen Föderation hatten sich, genau wie ihre Vorgänger in der alten Sowjetunion, daran gewöhnt, sich nur um sich selbst zu drehen wie müde alte Tanzbären im Zirkus. Angst und Verfolgungswahn waren diesen Leuten praktisch angeboren.

So kam es, dass Uschur-95 vor einiger Zeit noch Uschur-76 hieß, als Geschlossene Stadt aber auch die Bezeichnung Krasnojarsk-30 trug. Die unterschiedlichen Bezeichnungen sollten jeden verwirren, der die Stadt zu finden versuchte … und das galt sogar auch für Krupin, obwohl er den Befehl hatte, diese spezielle »Fracht«, nämlich das schmächtige Mädchen auf dem Rücksitz, an diesen geheimen Ort zu bringen – im Auftrag des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der wie der alte KGB in dem berüchtigten Lubjanka-Gebäude in Moskau residierte.

Wie ging der alte Kneipenwitz gleich noch mal?

In Russland liest du nicht die Karte; sie liest dich.

Er schaltete in den zweiten Gang hinunter, als die Straße scharf nach links abbog. Die launenhafte Gangschaltung knackte hart und der Lada bockte, schüttelte sich, brach mit dem Heck aus und rutschte plötzlich auf den schneebedeckten Straßenrand zu. Krupin lenkte den Wagen wieder auf die Fahrspur und stieß durch die zusammengebissenen Zähne eine Serie von Flüchen aus, die dem Fahrzeug galten, aber auch der Regierung und dem Wetter, in dieser Reihenfolge.

»Tut mir leid, dass du so durchgeschüttelt wirst, Kätzchen«, sagte er zu dem Mädchen, nachdem er seinen Wutanfall hinter sich hatte. Da der Wind draußen laut heulte, musste er fast brüllen. »Wollte dich nicht erschrecken.«

Natasha Moris Finger streichelten das kleine Tscheburaschka-Plüschtier in ihrer Manteltasche. Das weiche, handgenähte Knäuel wirkte beruhigend. Obwohl sie sich weder vom Sturm noch von Krupins nervöser Fahrweise beunruhigt fühlte, schließlich hatte sie schon viele heftige russische Stürme erlebt. Auch furchtbare Schneestürme, die die Dächer von den Häusern im Dorf rissen und Lawinen in riesigen, wütenden Wolken aus Weiß ins Tal donnern ließen.

Nein, sie fürchtete sich nicht vor dem Wetter.

Das Fahrtziel jedoch war eine ganz andere Sache.

Man hatte ihr versichert, ihr neues Heim sei ein weitaus besserer Ort als das staatliche Waisenhaus, in dem sie während der vergangenen zwei Jahre gelebt hatte – ein Ort, an dem man wunderbar lernen und Erfahrungen sammeln könne, wo nur wenige, sorgfältig ausgewählte Schülerinnen und Schüler lernen würden, ihrem Mutterland ganz besondere, ehrenhafte Dienste zu erweisen. Sie hatte zwar jeden Augenblick gehasst, den sie im Waisenhaus hatte verbringen müssen, aber wenigstens war es nicht sehr weit von ihrem Heimatort entfernt gewesen, dem Dorf, in dem sie ihren Papa zuletzt gesehen hatte.

Niemals würde sie glauben, was man sich über ihn zuflüsterte. Er hätte sie niemals ohne ein einziges Abschiedswort verlassen. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass ihr Papa eines Tages wieder zurückkehren würde. Sie sehnte sich verzweifelt danach, ihm die Arme um den Hals zu werfen und ihn ganz eng an sich zu drücken.

Sie spürte ihre Hand zittern, mit der sie das Plüschtier drückte, und lockerte den Griff ein wenig. Krupin war so vollkommen auf die Straße konzentriert, dass er ihre Angst nicht spüren würde. Aber die alte Frau, die rechts von ihr saß, würde sie ganz bestimmt fühlen … sofern sie sich nicht größte Mühe gab, ihre Furcht vor ihr zu verbergen. Doch selbst dann – Anna war keine Närrin. Es gab nahezu nichts, das ihren wachsamen Blicken entging.

»Wir erfrieren hier hinten, Krupin!«, beschwerte sich der magere, säuerliche Mann, der links neben Natasha saß. »Mach was dagegen!«

Krupin wies mit einem Kopfnicken auf die Heizungsdüsen am Armaturenbrett. Die jämmerlich schlechte Heizung ratterte laut. »Läuft schon die ganze Zeit auf Hochtouren. Mehr kann ich nicht tun, ser.«

Der Mann knurrte verärgert und schlug die Beine unter den dunklen, knielangen Mantelschößen übereinander. Sein Name war Urban, und Natasha konnte ihn überhaupt nicht leiden. Nicht nur wegen seiner überheblichen Art – ihre Abneigung hatte tiefere Ursachen. An ihm klebte eine zähe Aura, ein schmutziges Braunrot, das nach brennenden Reifen stank. Es brannte förmlich in ihren Augen und ließ einen ekelhaften Geschmack im Mund zurück.

Aber was die Kälte anging, musste sie ihm recht geben. Ihre Lippen waren steif geworden und ihre Wangen fast gefühllos.

Die dicke alte Frau auf ihrer rechten Seite bemerkte, dass sie fror, runzelte die Stirn und zog ihren Schal von den Schultern. Dicke Wolle, mit kleinen Troddeln an den Enden, von geschickten Händen gestrickt.

»Hier, das wird dich wärmen.« In Annas Russisch lag ein schwerer ausländischer Akzent. Sie legte Natasha den Schal um die Schultern. »Ich habe mehr Fett auf den Knochen als du.«

»Dankeschön«, sagte Natasha und meinte es aufrichtig. »Jetzt ist mir schon ein wenig wärmer.«

Anna blinzelte überrascht und starrte das Mädchen verblüfft an. »Du sprichst Deutsch? Das wusste ich gar nicht!«

»Ist das Deutsch? So reden Sie immer, wenn Sie telefonieren.«

Anna starrte sie noch immer an. Als sei ich ein unlösbares Rätsel, dachte Natasha.

Und das war sogar noch untertrieben: Anna war fassungslos, verstört, geradezu erschüttert. Dieses Mädchen behauptete, gar nicht zu wissen, in welcher Sprache sie gerade gesprochen hatte! Und dass sie die Sprache praktisch nebenher aufgeschnappt habe, als sie Anna auf Deutsch telefonieren gehört habe!

Das wäre höchst ungewöhnlich … und höchst beunruhigend. Lubjanka, die Moskauer Zentrale, hatte Anna ein paarmal angerufen, seit man sie als Erzieherin in das Waisenhaus befohlen hatte. Man hatte stets darauf bestanden, sämtliche Telefonate auf Deutsch – Annas Muttersprache – zu führen, damit sie nicht abgehört werden konnten. Aber Anna hatte dabei nur wenig gesagt, solange sich das Mädchen in Hörweite befunden hatte. Und ganz sicher nicht so viel, dass Natasha mehr als nur ein paar Wörter oder unzusammenhängende Satzbrocken hätte aufschnappen können.

Und dennoch hatte sie soeben in grammatisch korrektem Deutsch gesprochen. Anna konnte sich kaum vorstellen, welche Entwicklung der linken Gehirnareale dieses Mädchen durchlaufen haben musste, um aus beliebigen Bruchstücken zufällig mit angehörter Telefonate eine Sprache fließend erlernen zu können.

Anna fing Urbans fragenden Blick auf, achtete aber nicht darauf. Sie war weder seine Freundin noch seine Vertraute. Natasha wäre nicht geholfen, wenn sie und Urban als Einheit auftraten.

Der Allradwagen wand sich einen weiteren Kilometer über die Gebirgsstraße, die dann wieder bergab führte. Annas Magen verkrampfte sich, aber wenigstens wurde das Wetter wieder ein wenig besser, je tiefer sie kamen. Zwar wurde das Fahrzeug noch immer von starken Windböen geschüttelt, aber das Schneetreiben hatte nachgelassen – der Schnee wurde jetzt nur noch horizontal gegen die Windschutzscheibe getrieben.

»Wir sind fast im Tal«, sagte Krupin. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Natasha hatte sich eng in den Wollschal eingewickelt. Sie spürte, wie erleichtert Anna war, und wünschte sich, sie könnte genauso erleichtert sein.

Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, als Krupin die letzten Ausläufer des Gebirges hinter sich ließ und den Wagen über eine gerade, schmale Straße durch das Tal steuerte. Noch immer röhrte der starke Wind um das Fahrzeug und schlug gegen die Fenster wie ein wütender Bär. Seine unerbittliche Wildheit verstärkte die Anspannung der Insassen des alten Lada.

Natasha saß unbeweglich und starrte geradeaus. Durch das jetzt feine, pulvrige Schneetreiben blickte sie auf eine schimmernde Landschaft hinaus. Sie sah die unter ihrer schweren Schnee- und Eislast tief herabhängenden Kiefernzweige, die vom Licht der Dämmerung in eine blau-violett-goldene Aura gehüllt wurden. Die glitzernden Lichteffekte verschmolzen zu schillernden Farbenspielen, die ineinander flossen und sich wieder trennten, wie frische Wasserfarben auf dem Papier. Sie war fast ihr ganzes Leben lang von Wald umgeben gewesen und spürte oftmals, dass die Bäume, vor allem sehr alte Bäume, durch Farben miteinander sprachen. Zweig mit Zweig, Ast mit Ast, Wurzel mit Wurzel.

Der Lada rumpelte über die unebene Talstraße. Der Wind ließ nach. Der feine Pulverschnee trieb jetzt in Wolken heran, tanzte und wirbelte im Dämmerlicht um das Fahrzeug. Die Regenbogenfarben der Flocken erinnerten Natasha an winzige Schmetterlingsflügel, die leise zu Boden sanken.

Plötzlich musste sie wieder an ihren Vater denken. Als sie dieses seltsame Glühen zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte, war sie verstört und verwirrt gewesen. Aber Papa hatte ihre Ängste sofort zerstreut. Er hatte sie auf seinen Schoß gesetzt und sie sanft hin und her gewiegt, während er mit seiner leisen, sanften Stimme ein Lied sang und sie sich allmählich wieder beruhigte.

Schmetterling, Schmetterling,

flog zu den Blumen hin

setzt’ sich auf bunte Blüten.

Ein kleiner Junge, voll Übermut,

fing ihn an den Flügeln

und sperrt’ ihn in ein Glas …

»Was für eine hübsche Melodie«, sagte Anna lächelnd. »Wo hast du das Lied gelernt?«

Natasha blickte sie verwirrt an. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie das Lied leise vor sich hin gesungen hatte.

Sie setzte sich wieder aufrecht. Das kleine Lied war alles, was ihr von ihrem Vater geblieben war. Das Einzige, das ihre innere Leere füllen konnte. Es gehörte ihr und niemandem sonst. Niemand durfte daran teilhaben, sonst würde sie auch diese letzte Erinnerung verlieren.

»Es ist nur irgendein Lied«, log sie. »Das ist alles.«

Anna nickte, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

»Lieder können wunderschön sein«, sagte sie leise. »Ich hätte wirklich gern gewusst, wie dein Lied heißt.«

»Weiß ich nicht.«

»Wirklich nicht? Aber wenn du ihm einen Namen geben könntest – wie würdest du es nennen?«

Natasha antwortete nur mit einem Schulterzucken. Annas Freundlichkeit schien echt zu sein; ihre Farben dufteten nach Pfirsich. Im Heim hatte Anna die anderen Jungen und Mädchen nie so grausam und brutal behandelt wie die anderen Wärterinnen und Wärter. Aber den anderen Kindern gegenüber hatte sie sich immer gleichgültig gezeigt und sich auf niemanden näher eingelassen – mit einer Ausnahme: Natasha.

Sie war sich nie sicher gewesen, ob ihr Annas uneingeschränkte Aufmerksamkeit gefiel oder nicht. Die Erwachsenen hatten offenbar ganz verschiedene Gesichter. Sie konnten sich anderen Menschen gegenüber völlig unterschiedlich verhalten – auch Anna. Manchmal blitzten ihre Farben eisigblau auf und hinterließen einen kalten, metallischen Geschmack im Mund. Dann kam es Natasha so vor, als würde Anna sie studieren, wie ein Tier im Zoo oder ein Insekt unter dem Mikroskop.

Genauso fühlte sich Natasha in diesem Augenblick. Es machte sie wütend.

»Ich will ihm keinen Namen geben«, sagte sie trotzig. Denn kein Name könnte schöner sein als der, den ich für das Lied habe.

Anna blickte sie lange nachdenklich an. Dann lächelte sie.

»Wir haben eine lange Fahrt hinter uns; ich will dich nicht mit meinen Fragen quälen. Du musst sehr müde sein.«

Natasha gab keine Antwort. Tatsächlich fühlte sie sich hellwach.

Der Lada war eine Weile recht schnell vorangekommen, doch jetzt bremste Krupin ab, als sie sich einer Straßengabelung näherten. Natasha, noch immer ein wenig verstört durch Annas bohrende Fragen, reckte den Kopf vor, um durch die Windschutzscheibe blicken zu können. Eine schmalere Seitenstraße führte von der Hauptstraße weg; neben ihr stand ein Verkehrszeichen aus Metall – ein roter Kreis mit einem weißen Querbalken in der Mitte. Auf einem weißen Schild, am selben Pfosten direkt darunter, stand in schwarzer Schrift: Wchod Ogranichen 30 km.

Krupin bog in die Seitenstraße ein, obwohl das rote Schild bedeutete, dass die Durchfahrt eigentlich verboten war. Sein Befehl berechtigte ihn dazu.

Sie fuhren die verbotene Straße entlang. »In ein paar Minuten sollten wir die Stadtmauern sehen können«, erklärte Krupin.

Natasha starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie hatte die Stadtmauern bereits erblickt und vermutete, dass die Entfernungsangabe auf dem Straßenschild nicht stimmte – die Stadt lag viel näher. Aber weil die anderen Insassen nichts sagten, hatten sie die dunklen Umrisse vermutlich noch nicht bemerkt.

Das überraschte sie nicht. Sie war daran gewöhnt, Dinge lange vor allen anderen zu bemerken. Vor allem im Dunkeln, wenn ihr Sehvermögen am schärfsten war.

Krupins Sehvermögen war offenbar gut genug, um die Bahngleise sehen zu können, die links von der Straße verliefen. Allerdings konnte man die orangenen Signallichter auch kaum übersehen, die sich auf den Schienen spiegelten. Die Gleise schnitten durch die Schneedecke; es sah fast so aus, als würden sie senkrecht vom Talrand herabführen, bis sie auf die Straße stießen und neben ihr zur Stadt hin einschwenkten.

»Das ist die Uschur-Eisenbahn«, erklärte Krupin und wies mit einer flüchtigen Handbewegung darauf. »Die wichtigste Verbindung für die Versorgung der Stadt. Mit der Bahn kann man bis nach Moskau fahren – allerdings muss man sechsmal umsteigen und viertausend Kilometer durch das Gebirge tuckern.«

Natasha blickte schweigend durch das Seitenfenster. Der Sturm war stark abgeflaut; die Umgebung leuchtete plötzlich in lebhaften Spektralfarben. Farben, die sich über die Baumwipfel legten, unter den Signallampen der Gleise schimmerten und über der Motorhaube des Lada flimmerten wie winzige Fische unter der Wasseroberfläche.

Und dann ragte die Mauer deutlich genug aus der Dunkelheit, dass auch die anderen sie sehen konnten.

Anna hob den Kopf; das Tor kam schnell näher. Davor standen Wachhäuschen; Warnlichter blinkten und Schranken versperrten die Durchfahrt, im gleichen Rot gestrichen wie das Verkehrszeichen an der Straßengabelung. Oben auf der Mauer verliefen drei Reihen Stacheldraht.

Der Anblick schnürte ihr fast die Kehle zu. Die Mauer war schwarz, massig, hoch und unüberwindbar. Sie verschwand in großem Bogen nach rechts und links in der Dunkelheit, offenbar bildete sie einen riesigen Mauerring.

Natasha wollte die Mauer nicht länger anschauen; sie richtete den Blick auf den Kontrollposten am Tor. Zum ersten Mal, seit sie diese Reise angetreten hatte, wurde sie von tiefer Angst gepackt; sie fühlte sich endgültig verloren.

»Sperren sie hier die Schmetterlinge ein?« Sie war selbst überrascht, dass sie so eine Frage zu stellen wagte. Zumal sie selbst nicht hätte erklären können, was sie damit meinte. Es war, als hätte jemand anderer aus ihr gesprochen.

Die alte Frau tätschelte sanft ihren Arm. Aber in ihrem Blick lag ein seltsamer Ausdruck.

»Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«

Natasha glaubte das nicht. Ihre Hand in der Tasche zitterte und umklammerte das Stofftier noch fester.

Anna bemerkte, wie das Mädchen auf den Anblick der Stadtmauer reagierte, sagte aber nichts. Natasha war die lebende Bestätigung, dass das Projekt Pinnacle funktionierte. Ihre Werte waren einzigartig; nicht einmal der Teenager Grigor Malkira hatte solche Werte erreicht. Aber Natasha hatte ein sehr leicht erregbares Gemüt, das Anna sehr deutlich signalisierte, wie aufgewühlt, verängstigt und verstört das Mädchen innerlich war. All das würde man sorgfältig überwachen müssen.

Anna starrte die Mauer an. Sie erinnerte sie an eine andere, angeblich unüberwindbare Barriere aus Beton, die, einen halben Kontinent von hier entfernt, einst in Berlin gestanden hatte. Nie würde sie den Augenblick vergessen, als die Mauer schließlich gefallen war. Damals war sie eine junge Frau gewesen, Beamtin im Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik. Noch immer erinnerte sie sich lebhaft, wie die Wachtürme umgestürzt und auf den Boden gekracht waren. Nur ihrer sorgfältigen Vorbereitung hatte sie es zu verdanken gehabt, dass sie – eine Mitarbeiterin der gefürchteten Stasi – nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland nicht ins Gefängnis gesperrt worden war. Oder, was noch schlimmer gewesen wäre, dem Volkszorn ausgesetzt worden wäre.

Mehrere Minuten vergingen. Achsen und Getriebe des Geländewagens knackten und quietschten, als er über die von Schlaglöchern übersäte Straße rumpelte und vom Wind hin und her gestoßen wurde. Anna saß stumm auf ihrem Sitz; Natasha wurde immer wieder gegen sie gestoßen. Am Checkpoint hielt Krupin an und ließ das Fenster herab. Eiskalte Luft blies herein, als er dem Wärter seinen Ausweis zeigte.

Der Blick des Wärters zuckte vergleichend zwischen Krupins Gesicht und dem Ausweisfoto hin und her. Krupin wartete schweigend, als der Wärter noch einmal die Übereinstimmung überprüfte – dieses Mal noch gründlicher und misstrauischer. Krupin verzog keine Miene. Endlich nickte der Wärter befriedigt und gab die Ausweiskarte zurück. Die Schranke wurde angehoben.

Auf dem Rücksitz riss Natasha die Augen auf. Anna spürte, dass sie sich näher an sie herandrängte, dass sich der Körper des Mädchens versteifte und ihr Arm starr wie ein Brett wurde. Aber trotz allen Mitleids, das sie für das Mädchen empfand, schwieg sie. Selbst wenn sie gewollt hätte – sie hätte Natasha nichts Tröstliches sagen können.

Das verhinderte ihr Schuldgefühl. Sie war wie gelähmt.

Die Schranke stand nun senkrecht; Krupin drückte ein wenig auf das Gaspedal und der Wagen rollte langsam an. Der Schatten der gewaltigen Mauer legte sich wie eine riesige schwarze Decke über den Wagen.

Sekunden später verschlang ihn die Dunkelheit.

1

HIVE,

4. April 2024

»Wow«, sagte Bryan Ferago. »Tasha, das ist der reine Wahnsinn.«

Physisch befand er sich in einem riesigen, festungsähnlichen Ziegelsteingebäude, das »Terminal« genannt wurde und in Hell’s Kitchen, einem Viertel im Stadtbezirk Manhattan, New York, lag. Der Terminal war ein umgebautes Lagerhaus aus dem 19. Jahrhundert, diente jetzt aber als Ostküsten-Hauptquartier der Staatlichen Behörde für Internetsicherheit.

Net Force, kurz gesagt.

»Echt?«, fragte Natasha Mori zurück. »Meinst du das im Ernst?«

Sie befand sich physisch rund zehn Kilometer weiter südlich, auf der anderen Seite des East River, in einem Apartment in Williamsburg, Brooklyn. Zurzeit teilte sie sich das Apartment mit Duncan Ulysses, mit dem sie das Techno-Music-Duo Dev Zero bildete.

Bryan schaute sich fasziniert um.

»Im Ernst«, sagte er. »Gefällt mir total.«

Natasha lächelte. Sie und Bryan – oder vielmehr ihre beiden Avatare – befanden sich im Highly Integrated Virtual Environment, kurz HIVE genannt. Die Hochintegrierte Virtuelle Umgebung war von Net-Force-Direktor Professor Alex Michaels entwickelt worden. Vor noch nicht allzu langer Zeit war HIVE nichts weiter als ein spezieller Raum in Michaels’ Labor in der Columbia University gewesen, in dem die schädlichste Malware verwahrt wurde, die jemals geschaffen worden war, eine Art digitaler Seuchenspeicher. Michaels war es gelungen, frühere Cyberangriffe zu reproduzieren, sie forensisch zu analysieren, Modelle der Evolution dieser Bugs zu konstruieren und ihre Verbreitung im Internet durch wirklichkeitsnahe Simulationen nachzuvollziehen. Daraus sollten dann Erkenntnisse für ihre Bekämpfung abgeleitet werden.

Heutzutage jedoch war der Original-HIVE nichts weiter als ein Relikt, da er in kürzester Zeit obsolet geworden war. In den vergangenen Monaten hatte Michaels die Funktionen und das Leistungsspektrum des HIVE auf eigenständige VR-Headsets übertragen, sodass autorisierte Nutzer auf den HIVE zugreifen konnten, wo immer auf der Welt sie sich auch befinden mochten. Die Net-Force-Initiative zur Rekrutierung neuer Mitarbeiter war inzwischen voll im Gange, weshalb Michaels seine konzeptuelle Vorstellung des HIVE zu einer Art virtueller Versammlungshalle erweitert hatte. Hier konnten sich die neuen Kandidaten und die Auszubildenden remote treffen, Ideen austauschen und sich mit ihren über die Welt verstreuten Lehrern und Kollegen in einer schier unbegrenzten Zahl von Arrangements verbinden.

Deshalb waren Bryan, der in dem Lagerhaus im Hell’s Kitchen saß, und Natasha, die sich in ihrem Apartment in Brooklyn aufhielt, in diesem Moment nicht als physische Personen unterwegs, sondern schwebten als Avatare – V-Bryan und V-Natasha – wie auf einem magischen Teppich durch einen der immersiven Räume im riesigen Cloud-Netzwerk des HIVE.

Ein Raum, in dem Natasha unzählige Schmetterlinge herumflattern ließ.

Virtuelle Schmetterlinge natürlich. Schmetterlinge jeder Art, Form und Farbe. Es gab große orange-rote Monarchen und winzige gelbe Zwerg-Bläulinge. Es gab Ritterfalter, Würfelfalter, Edelfalter, Tagpfauenaugen und Hairstreaks; weiße, kupferrote, blaue, giftgelbe. Ihre Flügel mochten einfarbig, gefleckt, mit Bändern verziert, von feinen Adern durchzogen oder fast übernatürlich leuchtend sein. Sie flatterten und schwärmten durch den Raum, bildeten große, pulsierende Wolken – zu Hunderten, zu Tausenden stoben sie auseinander und vereinigten sich wieder in kaleidoskopischen Flugformationen.

Bryan schaute sich wie gebannt um. Er zog die Knie an, legte die Arme darum und schaute fasziniert dem farbenfrohen Schauspiel der Schmetterlinge zu, die um ihn herumflatterten.

»Also, Bryan«, sagte Natasha, »willst du mir nicht sagen, warum du hier bist?«

Keine Antwort.

Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass ihm das alles zu intensiv vorkommen könnte. Menschen wie er, die unter einem der Subtypen des Autismus-Spektrums litten, kamen womöglich mit dem grellbunten Farbenwirbel nicht zurecht.

»Bry …?«

»Alles okay.«

»Sicher?«

»Ja.« Nach ein paar Sekunden drehte er sich zu ihr um. »Tasha – ist das hier dein glücklicher Ort?«

Auf die Frage war sie nicht vorbereitet – so konkret hatte sie noch nie darüber nachgedacht. Sie suchte nach einer Antwort.

»Na ja, wirklichglücklich bin ich, wenn ich auf der Bühne stehe«, sagte sie schließlich. »Dieser Raum … hierher komme ich, um mir über etwas klar zu werden. Das ist etwas anderes.«

Bryan schwieg eine Weile. Seidig glänzende violette Flügel flatterten mit kaum hörbaren Wispergeräuschen um seinen Kopf. Ein großer smaragdgrüner Schwalbenschwanz erzeugte kleine Luftwirbel direkt vor seinem Gesicht.

Bryan breitete die Arme aus, als wollte er den ganzen Raum umfassen. »Das hier hilft dir beim Nachdenken?«

»Die Schmetterlinge, meinst du?«

Er nickte stumm.

Natasha dachte darüber nach. Heute war er wieder voller Überraschungen. »Es geht nicht ums Nachdenken. Ich benutze Software zur Vorhersage von Stimmungen. Emotionstracker. Dafür gibt es jede Menge praktische Anwendungen. Aber hier … ich glaube, sie helfen mir, mir gegenüber ehrlich zu bleiben.«

»Bist du das denn nicht immer?«

»Sagen wir mal, ich habe manchmal monumentale Ausfälle.«

Bryan beobachtete eine Kaskade von großen orange-schwarzen Monarchfaltern. Dann wandte er sich wieder zu ihr um. »Worüber willst du dir jetzt gerade klar werden?«

Stille. Aber Bryan war heute offenbar nicht aufzuhalten.

»Das … geht nur mich selbst etwas an«, sagte sie schließlich. »Lassen wir es dabei.«

Sie bereute die brüske Zurückweisung sofort. Dunkle Schmetterlinge flatterten in dichtem Schwarm um sie herum.

»Immer noch alles okay bei dir?«, fragte sie.

»Ja, alles okay.«

»Das ist das erste Mal für mich, verstehst du.«

Er schaute sie an. »Was meinst du damit?«

»Ich habe noch nie jemand anderen in diesen Raum gelassen. Das macht dich zu etwas Besonderem. Den Raum nenne ich den ›Schmetterlingsfänger‹. Nach einem alten Kinderlied, das ich in Russland gelernt habe. Als ich noch ein kleines Mädchen war.«

Sie schwiegen, umgeben vom Flattern unzähliger Flügel, alle so fein wie der Atem eines Neugeborenen.

»Gefällt mir«, sagte Bryan nach einer Weile.

»Ja?«

»Der Name, meine ich.«

»Ich weiß«, sagte Natasha. »Aber jetzt bist du dran, Kumpel. Warum wolltest du, dass wir uns virtuell treffen?«

»Ich zeig’s dir. Hast du was gegen einen Merge einzuwenden?«

Natasha schüttelt den Kopf. »Nein, fang an.«

Der Schmetterlingsschwarm teilte sich plötzlich vor Natashas Augen wie ein riesiger, schimmernder Vorhang. Sie flog in grelles Sonnenlicht hinaus; geblendet schloss sie kurz die Augen. Über ihr wölbte sich der blaue Himmel, unter ihr lag eine Meeresbucht in noch tieferem Blau. Und als sie den Blick ein wenig hob, entdeckte sie weiter draußen in der Bucht einen strahlend weißen Sandstrand, dahinter eine Uferböschung, auf der sich dünne, schwache Bäume mit ihrem freigespülten Wurzelwerk wie mit Klauen im Boden festklammerten.

»Bry – wow! Das ist unglaublich!«

Bryan nickte. »Das ist die Insel Chacagua«, erklärte er. »Sie liegt in Maine – wo ich aufgewachsen bin.«

Sie glitten auf die Insel zu, schwebten nur wenige Meter über der Wasseroberfläche. Als sie sich dem Strand näherten, blickte Natasha nach rechts an Bryan vorbei und entdeckte eine Meerenge, die Chacagua vom nahen Festlandufer trennte. Links erstreckte sich eine kleine Bucht, eingefasst von einer kahlen Felswand, die fast hundert Meter in die Höhe ragte – mehr als zweimal höher als die höchsten Erhebungen auf der Insel. Die Klippe fiel praktisch senkrecht zum Meer ab und trug keinerlei Vegetation.

Bryan bemerkte, dass Natasha zum oberen Rand der Klippe hinaufblickte.

»Das ist die Adlerklippe«, sagte er. »In der kleinen Bucht ist es fast immer ruhig. Die steilen Klippen auf beiden Seiten schützen die Bucht vor Wind und Stürmen. Bei Ebbe sind wir als Kinder oft von der Insel zu den Klippen hinübergewatet – es gibt da einen Gezeitenübergang.«

»Einen was?«

»Erklär ich dir später«, antwortete Bryan. »Die Inselbewohner, die Chacaguer, machten das oft. Zum Ufer hinüber zu waten, meine ich. Sie kamen aufs Festland herüber, verkauften ihre Töpferwaren und solches Zeug, und gingen wieder auf ihre Insel zurück. Aber das ist schon lange her.«

Sie näherten sich dem Strand. Erst als sie ganz nahe darüber schwebten, sah Natasha, dass es kein Sand war, sondern pulverisierte, von der Sonne gebleichte winzige Muschelfragmente.

»Leben Menschen auf diesem Inselparadies?«

Bryan schüttelte den Kopf. »Sie ist seit Langem unbewohnt. Ab und zu kommen Wissenschaftler auf die Insel, die ein Projekt betreiben. Aber sonst niemand.«

Sie glitten noch näher heran. Eine kühle Brise kräuselte die Wasserfläche. Bryan schaute zu ihr hinüber. »Ich gehe übernächste Woche auf die Insel. Wenn wir keinen Dienst haben.«

Sie wusste, was er meinte. Sie waren beide beim CyberOperations Training Center – das allgemein nur Net Force Boot Camp genannt wurde – als Trainer tätig, und übernächste Woche standen die Frühjahrsferien an.

»Und jetzt zeigst du mir die Insel, weil …?«

»Weil ich dich gern mitnehmen möchte.«

»Was?« Sie schaute ihn verblüfft an. »Meinst du das im Ernst?«

»Ja, absolut. Wir könnten eine Nacht im Freien oder im Zelt schlafen. Und anschließend noch im Haus meiner Mutter vorbei schauen. Sie lebt immer noch in Bishop, meiner Heimatstadt. Bishop liegt auf der anderen Seite der Bucht. Mum ist nicht zu Hause – seit sie pensioniert ist und nicht mehr bei der NOAA arbeitet, überwintert sie in Florida.« Er hielt kurz inne, als er ihre verständnislose Miene sah. »Die NOAA ist die Nationale Wetter- und Ozeanografiebehörde«, erklärte er. »Natürlich hat sie Heizung und Wasser abgeschaltet, aber es gibt drei Schlafzimmer. Wir könnten dort übernachten.«

Natasha schaute ihn immer noch verwundert an. »Damit wir uns richtig verstehen – du willst also, dass ich mit dir auf eine unbewohnte Insel gehe und dort im Freien übernachte?«

»Genau.«

»Und anschließend noch zu einer Pyjamaparty im unbeheizten, wasserlosen Haus deiner vor dem Winterwetter geflohenen Mum?«

»Genau.«

»Klingt doch total super.«

»Ja, nicht wahr? Also bist du dabei?«

Die Antwort war typisch Bryan, dachte Natasha. Er nahm jedes Wort wörtlich. Ehrlich, arglos und ohne jeden Hintergedanken.

»Nicht so schnell«, sagte sie. »Soweit ich weiß, haben wir immer noch April. Ist es im April in Maine nicht noch ganz schön kalt?«

»Ja, manchmal, aber …«

»Ich sage das nur, weil ich in Russland so viel Kälte erlebt habe, dass es mir für den Rest meines Lebens reicht.«

»Ich habe mir natürlich die Wettervorhersage angeschaut, Tasha. Könnte sein, dass es nachts ein bisschen kühl wird. Aber wir werden Isomatten mitnehmen, und bei meiner Mutter gibt’s einen alten Holzofen …«

Natasha zögerte. »Das alles klingt ein bisschen pervers, aber ich gebe zu, es ist eine verlockende Einladung. Nur habe ich eben noch vier Auftritte im Klub. Freitag- und Samstagabend …«

»Ich könnte dich direkt nach der letzten Show abholen. Und ich bringe auch Sandwiches mit.« Er grinste verlegen. »Ich mache prima Sandwiches.«

Sie schaute ihn nachdenklich an. »Wie lange planst du das schon?«

Sein Grinsen wurde ein wenig breiter. »Vier Tage und sechs Stunden.«

Ehrlich, arglos, ohne Hintergedanken und sehr präzise. Sie saß stumm an ihrem Tisch in der Wohnung und starrte durch die virtuellen Augen ihres Avatars auf die virtuelle Küste der Insel hinunter. »Bryan und Natashas großes Inselabenteuer«, sagte sie nachdenklich. »Klingt irgendwie spannend.«

»Du wirst dich in Chacagua verlieben«, sagte Bryan. »Außerdem könntest du bei Mums Forschungsprojekt mithelfen. Es passt ziemlich gut zu dem, was wir bei der Net Force machen.«

»Hey, warte mal. Gerade eben hast du mir doch erzählt, Annie sei pensioniert?«

»Ist sie auch. Jedenfalls offiziell. Aber sie mischt immer noch ein wenig mit. Außerdem möchte ich dir noch etwas vorstellen.«

»Etwas?«

Er nickte.

»Nicht jemanden?«

Er schüttelte den Kopf. Natasha blickte ihn fragend an.

»Okay, ich habe angebissen«, sagte sie schließlich. »Etwas wie in …?«

»Das Internet der Bäume«, sagte er und lächelte so breit, offen und strahlend, wie sie ihn noch nie hatte lächeln sehen.

2

Gibraltar, Iberische Halbinsel,

6. April 2024

Aurelion Braithwaite hatte eine Taverne an einer staubigen Nebenstraße als Ort für das Treffen mit seinem neuen – oder potenziellen – Klienten gewählt. Die Straße führte vom Stadtzentrum zur Katholischen Kirche am Europe Point. Der Wirt war ein alter, fauler Bock aus Oviedo, der sich kaum die Mühe machte, hinter seinem Bartresen hervorzukommen, damit er sich nicht um diese lästigen Gäste kümmern musste, und wenn er nicht hinter dem Tresen abtauchen konnte, starrte er die Gäste mürrisch an. Aber er zapfte immer gutes Bier, und die meisten Bedienungen waren australische Blondinen mit einem befristeten Arbeitsvisum.

Was Braithwaite fast so etwas wie heimatliche Gefühle gab.

Er saß an einem der Tische vor dem Lokal unter der großen Markise und wartete auf einen Krug mit eiskaltem Estrella Damm. Der Pub zog nicht viele Touristen an, aber das hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Das Haus stand auf der flachen Südspitze der Halbinsel und stieß mit der Rückwand fast an den Felsen. Von hier aus hatte man einen unübertrefflichen Blick, nicht nur auf den Felsen von Gibraltar, sondern auch auf die Küste. An klaren Abenden konnte Braithwaite von hier aus die andalusische und jenseits der Gibraltar-Straße die marokkanische Küste sehen und beobachten, wie das Mondlicht auf zwei Kontinente herabflutete.

Ein solcher Abend war heute. Mild, klar, eine leichte, angenehme Brise aus Südwest. Einfach wundervoll.

Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. Inzwischen war es 20:35 Uhr – Urban hätte schon vor fünf Minuten hier sein sollen. Braithwaite beschloss, ihm noch genau zehn Minuten zu geben.

Braithwaite trank noch einen Schluck Bier, genoss den sauberen, süß-würzigen Geschmack. Stunden könnte er hier verbringen, auf das Meer hinausblicken und ein wenig mit der Bedienung flirten. Aber Verspätungen waren für ihn ein Zeichen von Unhöflichkeit oder gar Geringschätzung, und beides konnte einer wie er nicht hinnehmen.

20:38 Uhr. Er sah einen silbernen Mercedes B-Klasse auf den Parkplatz an der Nordseite des Pubs einbiegen und vermutete, dass der Mann nun endlich angekommen war. Die B-Klasse war ein am Flughafen oft gebuchter Luxusmietwagen und passte bestens zu einem hochrangigen Beamten des Sluschba wneschnei raswedki, kurz SWR, des Auslandsnachrichtendienstes der Russischen Föderation. Das spanische Kennzeichen war ein weiteres verräterisches Detail – Gibraltar International Airport lag schließlich unmittelbar diesseits der spanischen Grenze und Mr. Urban war höchstwahrscheinlich zu Fuß direkt vom Flughafen zur Vermietstation gegangen.

Von seinem Sitzplatz aus konnte Braithwaite den Ankömmling nicht beim Aussteigen beobachten. Vom Parkplatz führte der Zugang zum Vorplatz durch die Gaststube; der Mann würde den Pub durch die Seitentür betreten, die zum Parkplatz führte, am Bartresen und Speisesaal vorbeigehen und durch den Haupteingang herauskommen, von wo er alle Sitzplätze auf dem Vorplatz überblicken konnte. Allerdings würde er wohl zwei bis drei Minuten benötigen, um sich durch die kleine Menge am Tresen zu drängen.

20:43 Uhr. Urban trat aus der Tür, ein groß gewachsener, magerer Mann in einer schwarzen Lederjacke. Er entdeckte Braithwaite unter der Markise sofort. Der Russe wurde von einem großen, hässlichen Schlägertypen begleitet, aber das war keine Überraschung. Braithwaite hatte nicht erwartet, dass einer wie Urban ohne Bodyguard hier antanzen würde.

Urban kam direkt zu Braithwaites Tisch herüber. Sein Gang war recht steif; sein muskulöser Lakai blieb ein, zwei Schritte hinter ihm.

»’N Abend.« Braithwaite blickte zu dem Russen auf, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben. »Ich warte hier seit einer halben Stunde. Aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass ich pünktlich bin.«