Net Force. Geheimprotokoll - Jerome Preisler - E-Book

Net Force. Geheimprotokoll E-Book

Jerome Preisler

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Beschreibung

Cyberattacken bedrohen die globale Sicherheit

Bei einem verheerenden Hackerangriff auf New York und zwei Bombenattentaten wurden zahlreiche Menschen getötet, die amerikanische Präsidentin kam nur knapp mit dem Leben davon. Die neu gegründete Net Force zur Bekämpfung von Cyberkriminalität macht Jagd auf die Drahtzieher des Anschlags, die sogenannten technologie vampiri, eine weltweit agierende Bande rumänischer Cyberkrimineller. Mit unermüdlichem Einsatz und unorthodoxen Methoden unternimmt die Net Force unter der Leitung von Mike Carmody alles, um die Ordnung der globalisierten Welt zu bewahren.

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Das Buch

Bei einem verheerenden Hackerangriff auf New York und zwei Bombenattentaten wurden zahlreiche Menschen getötet, die amerikanische Präsidentin kam nur knapp mit dem Leben davon. Die von ihr neu gegründete Net Force zur Bekämpfung von Cyberkriminalität macht Jagd auf die Drahtzieher des Anschlags, die sogenannten technologie vampiri, eine weltweit agierende Bande rumänischer Cyberkrimineller. Dabei muss die Net Force allerdings zunächst auf die Mitwirkung ihres frisch gebackenen Direktors für Cyberermittlungen, Leo Harris, verzichten. Harris, der durch seinen geistesgegenwärtigen und beherzten Einsatz während des Anschlags ein noch größeres Blutvergießen verhindern konnte, erholt sich von seinen schweren Verletzungen, die er sich bei der Explosion einer Autobombe zugezogen hat. Unterdessen verschafft sich eine militärische Spezialeinheit der Net Force unter der Leitung von Mike Carmody bei einer verdeckten Operation gewaltsam Zugang zum Unterschlupf der Verbrecher. Unterstützt wird Carmody dabei von der Hackerin Kali Alcazar. Mit unermüdlichem Einsatz und unorthodoxen Methoden unternimmt die Net Force alles, um die Ordnung der globalisierten Welt zu bewahren.

Der Autor

Jerome Preisler ist der Autor von Tom Clancys New-York-Times-Bestsellerreihe »Power Play«. Er hat bisher mehr als dreißig Bücher veröffentlicht und als Experte für Militärgeschichte zahlreiche Vorträge an Schulen, in Museen und Militärstützpunkten gehalten. Preisler lebt in New York.

ENTWICKELT VON

TOM CLANCY

UND

STEVE PIECZENIK

GESCHRIEBEN VON

JEROME PREISLER

NET

FORCE

GEHEIMPROTOKOLL

Aus dem Englischen

von Frank Dabrock

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe NETFORCE Attack Protocol

erschien erstmals 2020 bei Hanover Square Press, Toronto.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2022

Copyright © 2020 by Netco Partners

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Florian Oppermann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von Shutterstock.com

(Syda Productions, EAKS Photography, Senohrabek)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-27104-6V002

www.heyne.de

Für meine Eltern,

Thea und Sam,

in Liebe

Jede Kriegskunst beruht auf Täuschung. Wenn wir zum Angriff bereit sind, muss es so scheinen, als wären wir dazu nicht in der Lage. Wenn wir unsere Streitkräfte einsetzen, müssen wir tatenlos wirken. Sind wir in der Nähe, müssen wir dem Feind weismachen, wir wären weit entfernt. Sind wir jedoch weit entfernt, müssen wir ihm weismachen, wir wären ganz in der Nähe.

– SUNTSU, DIEKUNSTDESKRIEGES

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FEINDLICHER ZUGRIFF

22.–23. November 2023

1

Kreis Satu Mare, Rumänien

Der erste Schnee des Winters bedeckte das Ufer des Someş mit einer Puderschicht, als das Stromnetz vollständig zusammenbrach und der Westen des Landes in Dunkelheit getaucht wurde.

Eine Stunde nachdem der Techniker Nicu Borgos im Electrica-Schaltwerk für den Kreis Satu Mare seine Nachtschicht angetreten hatte, begann plötzlich alles aus dem Ruder zu laufen. Er war hundemüde, weil er sich um seine grippekranke siebenjährige Tochter gekümmert hatte und seiner Frau, so gut es ging, zur Hand gegangen war. Balia, die als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft arbeitete, um die bescheidenen Einkünfte der Familie aufzubessern, litt ebenfalls unter dem Wetter.

Als sie gestern Abend vom Geschäft nach Hause gekommen war, hatte sie Angela mit Erkältungssalbe eingerieben, ins Bett gebracht, sich geduscht und war, ohne etwas zu essen, schlafen gegangen. Normalerweise legte Nicu sich bis neun Uhr abends oder etwas länger aufs Ohr, aber die Laute, die Angela in ihrem Zimmer von sich gab, hatten ihn beunruhigt. Er hatte bei der Pandemie vor drei Jahren seine geliebte Mutter verloren, und es kam immer noch zu schlimmen Ausbrüchen.

Deshalb beschloss er sicherheitshalber aufzubleiben, um nach seiner Tochter zu sehen, und steckte alle fünfzehn bis zwanzig Minuten seinen Kopf durch die Zimmertür. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie schließlich eingeschlafen war.

Darum war Nicu jetzt völlig erledigt und übernächtigt, was vielleicht der Grund dafür war, dass er seinen Augen nicht traute, als er sah, wie sein Cursor plötzlich über den Bildschirm zu wandern begann. Der Computer war mit dem Stromnetz verbunden, und die nummerierten blauen Buttons auf der Monitoranzeige kontrollierten die Leistungsschalter von zehn Umspannwerken im gesamten Landkreis – ein Gebiet von fast viertausendfünfhundert Quadratkilometern mit etwa dreihunderttausend Einwohnern.

Der Cursor landete auf dem Schalter von Umspannwerk eins. Und klickte. Worauf sich unter dem Button ein Dialogfenster öffnete:

Warnhinweis: Das Öffnen des Schalters führt zur vollständigen Abschaltung. Wollen Sie fortfahren?

JANEIN

Nicu griff nach seiner Maus und versuchte, den Cursor aus dem Fenster zu ziehen, weil er glaubte, dass ihr Treiber vielleicht gestört sei. Aber der Cursor reagierte nicht … und wanderte auf das JA.

Rasch wischte er mit der Maus über das Pad, um den Cursor auf das NEIN zu bewegen.

Doch er blieb auf dem JA. Und klickte es an. Das Dialogfenster verschwand, und die Farbe des Buttons wechselte von Blau zu Rot.

Nicu holte tief Luft. Da er bereits seit einem halben Jahrzehnt im Schaltwerk arbeitete, musste er keinen Übersichtsplan aufrufen, um nachzusehen, welches Umspannwerk welches Gebiet versorgte. Er hatte den Plan im Kopf.

Umspannwerk eins befand sich in Lazuri, einer ländlichen Gemeinde aus sechs Ortschaften im äußersten Norden, nahe der ukrainischen und ungarischen Grenze. Ihre sechstausend Einwohner waren jetzt ohne Strom. Während Nicu das klar wurde, sprang der Cursor auf dem Bildschirm zum Button von Umspannwerk zwei.

Verzweifelt packte er die Maus und hob sie über das Pad. Aber das machte keinen Unterschied. Der Cursor klickte erneut. Öffnete ein weiteres Dialogfenster mit der Aufforderung zur Bestätigung. Und wanderte auf das JA.

Klick.

Der blaue Button wurde rot, und Nicu Borgos sah, wie das Umspannwerk augenblicklich abgeschaltet wurde.

»Draga meu Dumnezeu«, krächzte er. »Gütiger Gott.«

Umspannwerk zwei lag in der Stadt Satu Mare. Ihre hunderttausend Einwohner – ein Drittel der Bevölkerung im Landkreis – saßen jetzt vollständig im Dunkeln.

Nicu versuchte, klar zu denken. Tagsüber arbeiteten zwei Personen in der Leitstelle. Zu seiner Linken stand ein zweiter Computer, mit einem separaten Monitor. Vielleicht gab es ja nur mit seinem Rechner ein Problem. Wenn er sich mit dem anderen Computer in das System einloggte, könnte er vielleicht verhindern, dass weitere Schalter geöffnet wurden.

Er rollte seinen Stuhl vor das Gerät und tippte auf die Tastatur. Der Computer beendete den Ruhezustand und zeigte den Anmeldebildschirm für das Bedienpersonal. Nicu gab seinen Benutzernamen und das Passwort ein.

Es erschien die Mitteilung Falsches Passwort. Langsam gab er erneut das Passwort ein, weil er annahm, dass er sich in der Eile vertippt hatte.

Wieder erschien die Mitteilung. Er hatte keinen Zugang zum System.

Nicu richtete sich auf, die Wirbelsäule starr vor Anspannung. Sein eigener Rechner zeigte an, dass Umspannwerk drei, das die zwölftausend Einwohner von Negreşti-Oaş mit Strom belieferte, abgeschaltet war, und als er einen Blick auf den Bildschirm warf, sah er, dass der Cursor zum Button von Umspannwerk vier wanderte … die Verteilerstation für die sieben Ortschaften der Gemeinde Medieşu Aurit. Zusammen versorgten die beiden Anlagen mehr als zwanzigtausend Kunden.

Ihm fiel ein, dass laut Wetterbericht in den Bergregionen heute Nacht die Temperatur unter den Gefrierpunkt sinken sollte, und er war plötzlich verzweifelt. Warum auch immer die Anlagen abgeschaltet wurden, er war diesem sich ausweitenden Notfall nicht gewachsen.

Mit klopfendem Herzen griff er nach dem Notfalltelefon, um seinen Vorgesetzten anzurufen.

Der schwarze BearCat G3 fuhr in nördlicher Richtung die unmarkierte Schotterpiste entlang, die die Stadt Satu Mare mit dem Bauerndörfchen Rosalvea in den Ausläufern der Karpaten verband. Die Scheibenwischer vertrieben dicke, feuchte Schneeflocken, während sich das Fahrzeug so ruhig und leise vorwärtsbewegte, wie das einem Viertonner mit einer Panzerung aus gehärtetem Stahl möglich war.

Hinter dem Steuer saß Scott Dixon von der auf Verbrecherjagd spezialisierten CIA-Eliteeinheit Fox-Team, die seit Kurzem dem Kommando der Net Force unterstand. Neben ihm saß Kali Alcazar. Sie war Ende zwanzig, hatte kurzes silberweißes Haar und trug einen schwarzen Stealth Suit und eine leichte Schutzweste, die beide zur Standardausrüstung gehörten. Der viktorianische Abenteurergürtel und der alte Filmpatronen-Anhänger um ihren Hals hingegen waren persönliche Gegenstände. »Wie liegen wir in der Zeit?«, fragte Dixon.

Kali schaute auf den Bildschirm am Armaturenbrett. Darauf war dieselbe Kontrollanzeige zu sehen, mit der Nicu Borgos sich im Schaltwerk momentan herumschlug. Kurz zuvor hatte Kali beobachtet, wie in kurzer Folge die Stromverbindungen unterbrochen worden waren.

»Pickles«, sagte sie. Das war der dämliche Name des KI-Systems an Bord, den sein Konstrukteur, Sergeant Julio Fernandez, ihm verpasst hatte.

»Ja, K?«

»Outlier«, korrigierte sie. Das war ihr Deckname im Darknet, den sie schon vor langer Zeit angenommen hatte.

»Ja, K.«

»Zeig mir das Stromnetz von Satu Mare an.«

»Ja, K.«

Sie schnalzte mit der Zunge. Fernandez hatte dem KI-System etwas zu viele seiner ausgesprochen lästigen Charaktereigenschaften verliehen. Aber das Gute daran war, dass es, wie Julio, intelligent, präzise und intuitiv war. Also konnte sie damit leben.

Das Bedienfeld vor ihr auf dem Bildschirm wurde durch eine in Sektoren unterteilte Landkarte der Region ersetzt, auf der die Städte und Ortschaften entsprechend der Umspannwerke, die sie mit Elektrizität versorgten, nummeriert waren. Die fünf bereits abgeschalteten Anlagen waren schwarz, die restlichen rot.

Kali sah, wie die sechste ebenfalls schwarz wurde.

»Über die Hälfte der Anlagen ist abgeschaltet«, sagte sie. »In fünf Minuten gibt es nirgendwo mehr Strom.«

»Da draußen ist es bitterkalt, und eine Viertelmillion Menschen ist ohne Licht oder Heizung«, sagte Dixon. »Frauen, Kinder, alte Menschen. Nur um einen einzigen Typen zu schnappen.«

Sie schaute zu ihm hinüber. »Die Hacker – die technologie vampiri – sind der entscheidende Wirtschaftsfaktor in der Region. Und die Regierung stellt sich schützend vor sie. Die Polizei, die Bevölkerung, alle.«

Dixon zuckte mit den Achseln. Sie hatte recht. Bestimmt wäre man im aktuellen Hauptquartier des Syndikats – wo sich der Wolf versteckt hielt – misstrauisch geworden, wenn sie nur im Nachbardorf den Strom gekappt hätten.

»Das kapier ich ja«, sagte er. »Aber es ist trotzdem heftig.«

»Heftiger als die Sache in New York?«

Dixon antwortete nicht. Vor vier Monaten hatten die technologie vampiri einen Cyberangriff gestartet, der die Ostküste in ein Schlachtfeld verwandelt, Hunderte Menschenleben gekostet und beinahe die Präsidentin getötet hatte. Jetzt hatte die Jagd seines Teams nach dem Wolf sie in die tiefste rumänische Provinz geführt, was sie zu Hauptakteuren der ersten gemeinschaftlichen Operation machte, die von den verschiedenen Beteiligten der neuen amerikanischen Behörde für Internetsicherheit und Strafverfolgung durchgeführt wurde. Oder der Net Force, wie sie in der Bürokratensprache der Regierung kurz genannt wurde.

Dixon hatte es echt kapiert.

Der BearCat rollte zwischen den riesigen Nadelbäumen hindurch, die sich zu beiden Seiten der Straße wie Wachposten erhoben. Im Heck saß Gregg Long vom Fox-Team, zusammen mit einer kleinen, von der Task Force Quickdraw ausgeliehenen Einheit – sechs Männer in Kampfmontur, die jeder ein Sturmgewehr Mark 18 CQBR über der Schulter trugen. Außerdem waren neben ihnen an den Seiten des Innenraums kurzläufige Mossberg-590-Flinten befestigt.

»Entfernung zum Zielort?«, fragte Dixon nach ein paar Minuten.

Diesmal verzichtete Kali auf die Hilfe des KI-Systems und tippte auf die Tastatur ihres Laptops, um die GPS-Satellitenkarte aufzurufen. »Zweiunddreißig Meilen.«

Dixon nickte und warf einen Blick auf den Tacho. Er fuhr etwa fünfzig Meilen pro Stunde. In gut einer halben Stunde würden sie ihr Ziel erreichen.

Er nahm eine Hand vom Lenkrad, rückte seinen Ohrhörer zurecht und setzte sich per Funk mit Carmody in Verbindung.

Der Raven flog, die Kipprotoren zum Vorwärtsflug nach vorne geneigt, mit der Höchstgeschwindigkeit von zweihundertachtzig Knoten über die ländliche Gegend hinweg. Die Maschine befand sich auf einer Höhe von sechstausend Fuß, knapp unterhalb der tief liegenden, dichten Wolkendecke. Auf dem Piloten- und Co-Pilotensitz saßen Faye Luna und Ron Cobb von der Net-Force-Abteilung für Cyberüberwachung und Luftunterstützung. Hinter ihnen im Halbdunkel des Cockpits stand Mike Carmody vom Fox-Team und spähte aus dem breiten Panoramafenster durch den zarten Schneeschleier in die Tiefe.

Nach und nach wurden die Häuser in den Straßen und Gassen dunkel. Der Anblick erinnerte ihn an Weihnachtslichter, die alle der Reihe nach ausgestöpselt wurden.

»Preacher, kannst du mich hören?«, meldete sich Dixon über das RoIP. Er benutzte für den Einsatz Carmodys Decknamen.

»Ja«, sagte Carmody, der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte. »Was gibt’s?«

»Der Schnee ist dichter als erwartet«, sagte Dixon. »Benötige Bestätigung, dass ihr uns immer noch folgt.«

Carmody trat an den Touchscreen, der sich über die gesamte Breite des Armaturenbretts erstreckte. Es handelte sich, wie sein Ausbilder es ausgedrückt hatte, um ein riesiges Tablet. Tippen, zoomen, wischen. Die Sensoren an der Außenseite des Flugzeugs – die zum PDAS oder Pilotage-Distributed-Aperture-Sensor-System gehörten – übertrugen eine 360-Grad-Gesamtansicht vom Geschehen am Boden und am Himmel auf das Multifunktionsdisplay.

Der Bildschirm war auf Nachtflug-Modus geschaltet und zeigte mittels Infrarottechnologie und Restlichtverstärkung eine topografische Karte von Satu Mare; er tauchte das Cockpit in ein blassgrünes Licht.

Der Raven war eine Sonderanfertigung des Bell V-280, und Carmody fand, das aufgemotzte Fluggerät wirkte, als käme es direkt aus einem Science-Fiction-Film. Mit seinen Anschaffungskosten von fünfzig Millionen Dollar war es nicht gerade günstig, aber es war jeden Cent wert. Er hatte vorgeschlagen, für die Net Force zwanzig Stück davon zu bestellen. Ihre Einsatzleiterin, Carol Morse, hatte daraufhin einen Antrag für eine Flotte von zehn Flugzeugen gestellt, und der Kongress hatte schließlich die Gelder für zwei davon bewilligt.

Er wählte ein Tracking-Fenster für die beiden BearCats aus und vergrößerte es mit Daumen und Zeigefinger. Darin erschienen die beiden Mannschaftstransporter, zusammen mit den GPS-Daten zu Breiten- und Längengrad, Höhenangaben und Fahrgeschwindigkeit.

»Rover One, ich kann euch deutlich sehen«, sagte er.

»Schön, dass wir jetzt die Einzigen sind, die noch Licht haben.«

Carmody hätte sich jetzt gerne eine Zigarette angezündet. »Okay. Lasst euch nicht aufhalten.«

Er beendete das Gespräch und schaute zu Luna hinüber. Sie hatte dunkle Haare und ein rundes Gesicht und sah aus, als wäre sie erst fünfzehn. Aber Carmody wusste von ihren Fähigkeiten und ihrem Ruf als absolute Spitzenpilotin: zunächst Einsatz mit der Task Force Viper der US Air Cavalry in Afghanistan, anschließend Collegestudium mit einem G. I.-Bill-Stipendium und Dienst in der Krisen-Interventions-Abteilung des FBI. Zusammen mit Cobb hatte sie den einzigen Hubschrauber geflogen, der in den Stunden nach der Attacke auf New York eine Startfreigabe bekommen hatte, und ihr Einsatz hatte den beiden den ausdrücklichen Dank der Präsidentin höchstpersönlich eingebracht.

»Ich sollte mal meine Ausrüstung überprüfen«, sagte er.

»Ja, Sir.« Während Luna mit der rechten Hand weiter den Steuerknüppel festhielt, deutete sie mit der linken auf den Bildschirm. »Wir haben ziemlichen Rückenwind. Gut möglich, dass wir vor der geschätzten Ankunftszeit eintreffen.«

Das Flugzeug schaukelte und vibrierte, als es durch ein Luftloch flog. Carmody drehte sich zur Cockpittür um und umklammerte den Griff. Er musste an Drajan Petrovik denken, den Wolf, und an ihre erste Begegnung in einem dunklen Flur in Bukarest. Daran, wie er seinen verletzten Arm zusammengedrückt und das Blut gespürt hatte, das zwischen seinen Fingerknöcheln hervorgequollen war. Carmody hatte das Blut des Hackers gerochen, in einem Flur, der mit dem Blut toter Männer vollgespritzt war, und er glaubte, es auch jetzt riechen zu können, seinen Geschmack von Kupfer auf der Zunge zu schmecken.

Aber das bildete er sich nur ein. Er hielt inne und holte durch die Nase Luft, als wollte er sich selbst davon überzeugen. Nichts. Nur der sterile, fade Geschmack der gefilterten und recycelten Cockpitluft.

Schließlich trat er durch die Tür und ging zu seinen Männern in der Mannschaftskabine.

2

Băneasa, Rumänien (Vorgeschobene Operationsbasis Janus)

Vierhundertfünfzig Meilen südöstlich von Satu Mare kamen die Midnight Runners zu ihrem allabendlichen Treffen zusammen. Die Gruppe, die die Ärztin Lavonne Hughes mit ihren zwei Krankenschwestern auf dem Stützpunkt ins Leben gerufen hatte, war inzwischen auf etwa ein Dutzend Mitglieder angewachsen. An diesem Abend fehlten allerdings ein paar Teilnehmer, da einige von ihnen in Satu Mare auf Verbrecherjagd waren.

Lavonne, die in der Nähe des südlichen Begrenzungszauns ihr Aufwärmprogramm absolvierte und gerade ihre Waden dehnte, sah, wie drei Nachzügler aus ihrer Baracke geeilt kamen. Sie richtete sich auf und winkte ihnen zu, während ihr Atem in der kalten, von Schnee erfüllten Luft Dampfwölkchen bildete. Da fast ein Drittel des Personals im Landesinneren unterwegs und nur eine kleine Abteilung hiergeblieben war, herrschte auf der Basis eine angespannte Stimmung. Scalpel war der erste offizielle Einsatz der Einheit, seit sie nicht mehr dem Kommando der Armee, sondern der Net Force Quickdraw unterstand. Das war eine riskante und politisch heikle Entscheidung gewesen.

Lavonne war sich nicht sicher, was die Rumänen darüber wussten, aber ihr war zu Ohren gekommen, dass sie nicht halb so viel wussten, wie sie eigentlich sollten. Falls die Spezialeinheit in Schwierigkeiten geriet, drohten ihnen von der Regierung des Gastgeberlandes ernsthafte Konsequenzen, ganz abgesehen davon, was die Hacker gegen sie unternahmen. Die technologie vampiri waren keine typischen Computerfreaks, sondern gewalttätige Verbrecher, bis zu den Zähnen bewaffnet und kampfbereit.

Die Nachzügler stießen zu Lavonne und den anderen am Zaun. Sergeant Pierce und die Gefreiten Ryder und Berra gehörten alle zu Colonel Howards Einheit und hatten gerade ihre Schicht beendet.

»Guten Abend«, sagte sie zu Pierce. »Wie läuft es in der Kommandozentrale?«

»Der Colonel hat sich den ganzen Abend eine Pfeife nach der anderen angesteckt und ist dabei durch die Flure marschiert.«

»Ist bestimmt ein Vergnügen, unter ihm zu arbeiten.«

»Absolut.«

Sie blickte Pierce durch den Schnee hindurch an. »Gibt es Neuigkeiten von unserem Team?«

»Dafür ist es noch zu früh«, sagte er und zögerte. »Außerdem darf ich Ihnen dazu nicht mehr sagen.«

Es klang fast wie eine Entschuldigung. Sämtliche Personen auf dem Stützpunkt hatten die höchste Sicherheitsfreigabe, aber die Einzelheiten zum heutigen Einsatz unterlagen den Beschränkungen für äußerst sensible Informationen und waren nur den unmittelbar Beteiligten zugänglich.

Ob es Lavonne nun gefiel oder nicht, sie verstand das.

»Okay«, sagte sie. »Ihr solltet ein paar Lockerungsübungen machen. Wir sind schon sehr viel weiter.«

Pierce deutete mit dem Kopf hinter sie und neigte ihn leicht nach rechts. »Dehnt Spree auch seine Gesäßmuskeln?«

Lavonne warf einen Blick über die Schulter zu dem Igel, der am Zaun entlang auf sie zugerollt kam und dabei mit seinen Gummiketten in der frischen Schneedecke Spuren hinterließ.

»Nein«, sagte sie. »Dieser Kampfroboter hat einen Hintern aus Stahl.«

Pierce lächelte, und Lavonne erwiderte sein Lächeln. Es gab insgesamt vier Lethal Autonomous Weapon Systems, oder LAWS, vier Wachposten, die die Grenze der Anlage sicherten – Spree patrouillierte im Süden, Nash im Norden, Earl im Osten und Walt an der Westgrenze. Colonel Howard hatte den Robotern den Namen Igel verpasst, aber Lavonne fand, dass sie mit ihren kompakten, gepanzerten Gehäusen und den Sensoren und Waffen wie R2-D2 auf Steroiden aussahen.

»Okay, Sergeant. Im Gegensatz zu Spree muss ich mein Aufwärmprogramm zu Ende bringen«, sagte sie.

»Wir müssen erst mal damit anfangen«, sagte Pierce. »Geben Sie uns drei Minuten?«

»Ich gebe euch sogar fünf.«

»Sie sind die Beste, Doc.«

Pierce und die zwei Gefreiten liefen zum Zaun, wo der Rest der Gruppe sich gerade aufwärmte. Nach fünf Minuten stellten sich alle in einer Zweierreihe auf und begannen, die Grundstücksgrenze entlangzujoggen.

Eine Minute später schloss Spree sich ihnen an.

Mario Perez, ein Spezialist für Roboter und autonome Systeme (24 Delta), sah, dass in der Kantine noch Licht brannte, als er im Schneegestöber daran vorbeifuhr. Er rollte noch zehn Meter weiter und kam mit seinem JLTV Jolt vor dem besseren Wohnwagen zum Stehen, der das Ladengeschäft der Basis beherbergte. Er stieg aus und trottete zur Tür hinauf, und als er feststellte, dass sie verschlossen war, lehnte er den Kopf gegen die Scheibe und spähte ins Innere. Die Neonlampen an der Decke waren ausgeschaltet, aber hinter dem Tresen, an dem Laura die Quittungen des heutigen Tages zählte, konnte er einen schwachen Lichtschein erkennen.

Er klopfte gegen die Scheibe. Laura schaute von der Kasse auf, und als sie ihn dort draußen stehen sah, lief sie um den Verkaufstresen, um ihn hereinzulassen.

»Mario«, sagte sie, während sie die Tür öffnete. »Dóndehas estado? Ich hab mich schon gefragt, wann du kommst.«

Er machte ein verwirrtes Gesicht. »Ich dachte, ich sollte um Mitternacht hier sein …«

»Mitternacht war vor fünfzehn Minuten. Ist deine Schicht nicht um halb elf zu Ende gewesen?«

Er sah sie zerknirscht an.

»Ich bin ein Idiot«, sagte er. »Tut mir leid.«

Sie machte ein finsteres Gesicht und winkte ihn herein.

»Okay, beeil dich«, sagte sie. »Es war ein langer Tag.«

Mario trat ein, während sie das Licht einschaltete.

»Tut mir wirklich leid, Laura«, sagte er. »Das liegt an dem Zeitunterschied. In der Heimat ist es jetzt erst vier Uhr nachmittags. Ich habe einen FaceTime-Anruf gemacht und wohl das Zeitgefühl verloren.«

»Ach ja?«, sagte sie um einen beiläufigen Tonfall bemüht. »Muss wohl jemand ganz Besonderes gewesen sein.«

»Meine Mom«, sagte er. »Mein Dad ist vor ein paar Jahren gestorben. Darum rufe ich sie an Thanksgiving immer an. Das heißt, am Mittwoch davor. Das ist so eine Art Tradition bei uns. Dann unterhalten wir uns ein Weilchen, bevor sie anfängt zu kochen.«

Laura sah ihn an. Abgesehen davon, dass sie erleichtert war, spürte sie, wie ihr ein wenig warm ums Herz wurde. Mario, der aus El Paso, Texas, kam, war der netteste Bursche, den sie je kennengelernt hatte, vielleicht sogar der Mann ihrer Träume. Sie mochte seinen Sinn für Humor, seine herzliche Art, seine ehrlichen braunen Augen … und seine durchtrainierten, muskulösen Arme.

Manchmal stellte sie sich vor, wie diese starken Arme ihre Taille umschlangen und sie dicht an seinen Körper zogen.

»Als die anderen in der Baracke erfahren haben, dass du heute Abend länger geöffnet hast, haben sie bei mir ständig neue Bestellungen aufgegeben«, sagte er und holte sein Handy hervor. »Wenn man das hier sieht, würde man nicht glauben, dass die Hälfte der Leute im Einsatz ist.«

Sie beugte sich vor, um die Einkaufsliste zu lesen.

»Allerdings«, sagte sie.

Mario spürte, wie sein Herz einen Satz machte. Laura Cruz war eins fünfundsechzig groß und hatte dunkle Haare und dunkle Augen; als Tochter eines Venezolaners und einer Amerikanerin war sie in Caracas und Dayton, Ohio, aufgewachsen. Seiner bescheidenen Meinung nach war sie die hübscheste, attraktivste, großartigste Frau der Welt.

»Und«, sagte er, »hast du alles da?«

»Ich habe fürs verlängerte Wochenende die Vorräte an Chips, Brezeln, Limonade und Bier aufgefüllt, vor allem das Bier«, sagte sie und schaute vom Telefon auf. »Ich hoffe, dass das Team rechtzeitig zur Feier wieder zurück ist.«

»Ich auch«, sagte er. »Die Operation ist streng geheim, darum weiß ich nichts darüber. Aber ich glaube, dass sie irgendwo im Landesinneren unterwegs sind.«

Laura nickte bedächtig und zog einen Einkaufswagen aus der kurzen Wagenreihe neben der Tür. »Los«, sagte sie. »Es geht schneller, wenn ich dir helfe.«

»Danke. Alles, was du für dich einpackst, geht auf meine Rechnung.«

Sie lächelte. »Du bist ein Schatz. Aber meine neue Gefriertruhe ist bis oben hin mit Vorräten vollgestopft. Ich will einfach nur zurück in meine Unterkunft, mich duschen und meinen Pyjama anziehen.«

Während er mit ihr den Gang hinunterging, stellte er sich vor, dass sie nach dem Duschen bestimmt wie ein Garten voller lieblicher Blumen duftete und in ihrem Pyjama bezaubernd aussah.

Ein paar Minuten später schoben sie den vollen Einkaufswagen gemeinsam zur Kasse.

»Ich packe alles ein«, sagte er. »Ich bin ein echter Packprofi.«

Laura lächelte. »Davon lasse ich mich gerne überzeugen«, sagte sie und trat hinter die Kasse.

Während Mario seine Einkäufe ordentlich auf den Tresen legte, scannte Laura sie ein. Sie war seine Traumfrau. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Er hatte es bereits gewusst, als sie vor etwa einem Monat im Ladengeschäft angefangen hatte, und damals hatte er auch bemerkt, dass sie keinen Ehe- oder Verlobungsring trug. Obwohl sie sich auf Anhieb gut verstanden hatten und miteinander flirteten, hatte er sie immer noch nicht um eine Verabredung gebeten.

Vielleicht hatte er Angst, einen Korb zu bekommen. Jetzt gerade hatte er jedoch keine Angst davor. Er wusste nicht, warum. Es war einfach so.

»Laura, also … nächsten Samstagabend ist da dieses Konzert in Bukarest«, sagte er, während er Chips, Brezeln und Marshmallows sorgfältig in einer Tüte verstaute. »In der Hochschule. Ein Band-Wettbewerb …«

»Ja«, sagte sie.

»Gehst du mit mir da hin?«

»Ja«, erwiderte sie.

Mario lächelte sie mit leuchtenden Augen an. Er fand, dass sie schön wie der Herbstmond war.

»Warum lächelst du so?«, fragte sie.

»Darum«, sagte er.

»Warum?«

»Weil ich weiß, dass du mich unbedingt küssen willst«, erwiderte er zu seiner eigenen Überraschung.

Eine Sekunde verstrich. Dann eine weitere. Sie schaute ihn über den Tresen hinweg an. Plötzlich riss Mario die Augen auf, weil er es mit der Angst bekam. Was war nur in ihn gefahren, so etwas zu sagen? Diese Worte auszusprechen über … auch wenn sie ehrlich gemeint waren?

Er glaubte, er hatte einen schrecklichen Fehler gemacht, es sich restlos mit ihr verscherzt, als sie schließlich das Schweigen beendete.

»Es reicht nicht, dass eine Frau von einem Mann geküsst werden will«, sagte sie. »Sie muss ihn dazu ermuntern.«

Er schluckte schwer und hatte plötzlich eine trockene Kehle. »Und woran erkennt er das?«

Sie lächelte.

»Wenn er für sie der Richtige ist, merkt er das«, sagte sie und ging ins Büro, um ihren Mantel zu holen.

Wortlos schoben die beiden die Lebensmittel in den Schnee hinaus und verfrachteten sie auf die Rückbank des Jolts. Als sie die letzte Tüte ins Wageninnere hievten, stellte Mario – ebenfalls zu seiner Überraschung – fest, dass er sich kein bisschen unbehaglich oder verlegen fühlte. Im Gegenteil, er fühlte sich vollkommen wohl in seiner Haut. Und in Lauras Gegenwart.

»Kann ich dich zu den Unterkünften zurückfahren?«, fragte er vor dem Wagen.

»Ist schon okay«, sagte sie. Eine Schneeflocke landete auf ihrer Nasenspitze, und sie wischte sie fort. »Ich würde gerne laufen. Außerdem muss ich noch einen Abstecher in die Unterkunft meiner Nachbarin Emily machen. Ich schaue bei ihr nach dem Rechten, während sie über die Feiertage auf Heimaturlaub ist.«

Er nickte. »Okay. Sehen wir uns morgen beim Abendessen?«

»Desde luego. Ich kann’s kaum abwarten.«

Sie drehte sich zum Laden um. Dahinter, auf der Ostseite des Geländes, fünf bis zehn Minuten zu Fuß entfernt, befand sich die kleine Wohnanlage für zivile Mitarbeiter.

Mario sah ihr nach, bis sie im Schnee und in der Dunkelheit verschwand, dann stieg er in den Wagen und holte sein Handy hervor. Er ließ Musik laufen, aber dann fiel ihm ein, dass er die letzte Folge von Alex Michaels Net-Talk-Podcast gehört hatte, und beschloss, den Rest der Folge über die Lautsprecher abzuspielen.

Während er vom Laden fortfuhr, bemerkte er, dass einer der vier Igel vom nahe gelegenen Begrenzungszaun auf die Kantine zusteuerte.

Mario hatte seine Baracke fast erreicht, als ihm klar wurde, dass der Roboter dort nichts verloren hatte.

Dwayne Reese, ein IT-Spezialist (25 Bravo), verkündete, dass er seinem neuesten improvisierten Rap den Titel »Mitternacht in der Kantine« geben würde, obwohl es bereits halb eins war und er sich genau genommen nicht für den Dienst in der Kantine gemeldet hatte, sondern in der Spülküche half, den Abfall zu entsorgen, und jetzt die großen, ausgebeulten Mülltüten nach draußen zu den Containern schleppte.

Nick Savarino, ein Spezialist für Signalunterstützungssysteme (25 Uniform), der mit einer Mülltüte im Schlepptau neben ihm herlief, wusste, was ihn erwartete. Die beiden waren seit einiger Zeit befreundet.

Reese wuchtete die Beutel in den Container und begann, unter den Sicherheitsscheinwerfern hinter dem Gebäude rhythmisch in die Hände zu klatschen. »Mitternacht in der Kantine, der Müll muss vor die Tür, yo. Hört dies aus meinem Munde, zu so später Stunde machen wir die Runde …«

Savarino verdrehte die Augen Richtung Himmel. »Bitte, verschon mich damit.«

Doch Reese ignorierte ihn. Er beugte seine Knie, um seiner Rap-Einlage etwas mehr Schwung zu verleihen. »Komm schon, Bruder«, sagte er.

»Komm schon was?«

»Komm schon, komm schon.« Während er weiter in die Hände klatschte, stellte Reese sich auf die Fußballen und ließ einen Fuß über den Boden gleiten. »Thanksgiving ist schon bald, dann machen wir den Truthahn kalt …«

Savarino musste unweigerlich grinsen und ließ seinen Müllbeutel fallen. Der Klügere gibt nach.

Er nahm Reeses rhythmische Bewegungen auf und schlug mit den Händen in die Luft. »Morgen, Baby, hau’n wir so richtig rein …«

»Her mit dem Wein, los, schenk schon ein …«

»Wenn ich bitten darf, du bist wie die Soße, süß und scharf …«

Die beiden brachen in lautes Gelächter aus. Eigentlich wussten sie nicht, was so lustig war, sie waren einfach nur hundemüde. Da auf dem Stützpunkt wegen der Geheimmission eine nervöse Stimmung herrschte, war jeder Anlass willkommen, etwas Spannung abzubauen.

Außerdem war es der Abend vor Thanksgiving. Selbst noch zu dieser späten Stunde konnten die beiden den Duft von Bratäpfeln und Kürbiskuchen riechen, der aus den Lüftungsschlitzen in der Rückwand der Küche drang, während sie aus dem Innern das Geklapper der Schüsseln, Kochutensilien und Elektrogeräte hörten. Die Köche legten sich mächtig ins Zeug und waren wahrscheinlich bis zum Morgengrauen beschäftigt. Dabei produzierten sie bergeweise Schalen, Lebensmittelreste, Fett, Eierschalen und sonstige Küchenabfälle. Jeder der reißfesten Beutel enthielt zwanzig Kilo Recycling- oder Kompostabfälle, und irgendjemand musste sie entsorgen.

Also hatten Reese und Savarino ihre Hilfe angeboten. Die Küche war genauso unterbesetzt wie der Rest des Stützpunkts, und ihr Personal konnte jede Unterstützung brauchen. Die beiden Technikspezialisten hatten nach der Mitternachtsmahlzeit beim Saubermachen geholfen, um anschließend die prall gefüllten Müllbeutel zu den Containern zu bringen. Es waren insgesamt neun oder zehn Beutel, und auf ihrer ersten Fuhre hatte Reese the Rapper seine Improvisation angestimmt.

Die beiden Männer bewegten sich jetzt auf und ab, zappelten hin und her und rutschten grölend durch den Schnee zwischen den Müllcontainern an der westlichen Grundstücksgrenze und der Rückseite des langen, niedrigen Fertiggebäudes, das Kantine und Küche beherbergte. Wenn sie den Abend vor Thanksgiving schon auf dem Stützpunkt verbringen mussten, fanden sie, durften sie ruhig schon mal die Feiertage einläuten, und so tanzten sie wie zwei betrunkene Elfen umher.

Etwa fünfzehn Meter zu ihrer Rechten registrierte der Igel mit dem Namen Walt ihre Bewegungen und verließ seine übliche Route entlang des Zauns.

Alle vier Igel auf dem Stützpunkt waren mit tödlichen und nicht tödlichen Waffen ausgestattet. Zu den nicht tödlichen Waffen gehörten Nebel- und Tränengaswerfer sowie laserinduzierte Plasmakanonen. Ihr Arsenal tödlicher Waffen bestand aus einem Maschinengewehr Kaliber .50 mit achthundert Schuss Munition, zwei Granatwerfern, die mit insgesamt sechs Granaten bestückt waren, und einem leichten rückstoßfreien Raketenabschusssystem. Die lasergesteuerten 84-mm-Raketen konnten eine Entfernung von über einer Meile zurücklegen und gegen mehrere Ziele gleichzeitig panzerbrechende Sprengköpfe zum Einsatz bringen.

Walt rollte ruhig auf die beiden tanzenden Soldaten zu. Während sein Computerhirn auf Hochtouren arbeitete, kam er drei Meter von ihnen entfernt zum Stehen und nahm sie ins Visier. Reese zappelte wie eine Marionette, und seine zur Seite ausgestreckten, gekrümmten Arme baumelten wie an unsichtbaren Fäden hin und her, als er aus den Augenwinkeln den Igel bemerkte … und sah, dass sich dessen Maschinengewehr in ihre Richtung drehte.

Er blieb wie angewurzelt stehen, und Nick, der immer noch auf den Zehenspitzen umhertänzelte, sah ihn an.

»Was ist los?«, fragte er leicht außer Atem.

In diesem Moment eröffnete der Igel das Feuer. Die erste Salve riss fast Reeses kompletten Unterkiefer fort. Einen Sekundenbruchteil später explodierte auch die obere Hälfte seines Gesichts. So als hätten zwei kurze Wischer eines Radiergummis seinen Kopf verschwinden lassen.

Nick wurde von Angst und Entsetzen erfasst, als das Maschinengewehr ein wenig in seine Richtung schwenkte und erneut eine Salve abfeuerte. Er wurde von Kugeln durchsiebt und sah, wie Teile seines Körpers, an denen noch Fetzen seiner Uniform hingen, durch den Schnee flogen. Er spürte einen zuckenden Schmerz, dann war er tot.

In der Küche klang der Lärm neben den Müllcontainern entfernt wie die Fehlzündung eines Motorrads. Einer der Köche hatte gesehen, wie Reese und Savarino wenige Minuten zuvor den Müll durch die Tür getragen hatten, und er wollte verdammt nochmal wissen, was da los war. Er ließ sein Kuchenblech fallen und rannte zur Tür, während die anderen Männer und Frauen des Küchenpersonals hinter ihm hereilten.

Der Igel drehte sich jetzt Richtung Gebäude. Seine Temperatursensoren hatten mehrere bewegliche Wärmequellen registriert, die auf der anderen Seite der Tür zusammenströmten. Sofort berechnete er das Verhältnis zwischen der Temperatur der Wärmequellen und der Umgebungstemperatur. Dann ermittelte er die Differenz zwischen der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen und ihrem starren Umfeld. Ihre Wärme- und Bewegungsdaten verrieten dem Roboter, dass es sich bei den Objekten um Menschen handelte, und die Hintergrundsubtraktion ergab, dass es insgesamt sieben Personen waren. Sie bewegten sich mit Angriffsgeschwindigkeit.

Das verwirrte Gehirn des Roboters stufte sie als tödliche Gefahr für das Basispersonal ein und gab den Befehl, eine 84-mm-Rakete abzufeuern.

Als der Koch, der das Blech fallen gelassen hatte, die Hintertür aufstieß, hörte er, wie die Rakete mit einem Knall aus dem Rohr schoss. Ihm blieb kaum Zeit, einen Blick auf ihren kegelförmigen Sprengkopf zu erhaschen, bevor sie, einen weißen Rauchschweif ausstoßend, mit fünfhundert Meilen pro Stunde auf ihn zusauste.

Die Rakete schoss durch die Tür, bohrte sich in die Brust des Kochs und hob ihn in die Luft; sie zertrümmerte seinen Brustkorb und zerfetzte seine inneren Organe, sodass er auf der Stelle tot war. Das Geschoss schleuderte seinen schlaffen, zerschmetterten Körper in die Küchenangestellten, die sich hinter ihm im Eingang drängten. Einige von ihnen stießen einen Schrei aus. Die meisten hatten allerdings keine Gelegenheit mehr dazu. Der Sprengkopf explodierte sofort. Es gab einen Blitz und einen lauten Knall, gefolgt von der sengenden Hitze der Druckwelle. Die Personen in der Küche verwandelten sich augenblicklich zu Asche. Spüle, Herd und Gefrierschränke flogen durch die Luft, als wären sie federleicht. Die Wände des Gebäudes wurden wie die Seiten eines Pappkartons nach außen gedrückt. Ein Feuerball breitete sich aus, riss ein gezacktes Loch in Decke und Dach und stieg hoch in den Himmel empor.

Eingehüllt in den rot-orangen Schein der Flammen kam Walt zu dem Schluss, dass er die unmittelbare Gefahr ausgeschaltet hatte, und rollte durch den Schnee davon. Der Igel, der in höchste Alarmbereitschaft für den Verteidigungsfall versetzt worden war – den COCKED-PISTOL-Aufklärungsmodus –, kehrte nicht mehr zum Begrenzungszaun zurück. Er bewegte sich jetzt frei über das Gelände und suchte nach potenziellen Feinden, während hinter ihm von den Trümmern des Küchengebäudes unablässig Flammen in die Nacht emporloderten.

Die sperrige militärische Abkürzung für das Gebäude lautete C4ISR und stand für die noch sperrigere Bezeichnung Command, Control, Communications, Computers, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance Center (Kommando-, Kontroll-, Kommunikations-, Computer-, Nachrichtendienst-, Überwachungs- und Aufklärungszentrale). Das schmale Betongebäude, das sich auf der Nordseite des Stützpunkts befand, war die Operationszentrale, in der Informationen gesammelt und abgeglichen, wichtige Entscheidungen getroffen und Einsatzbefehle erteilt wurden.

Das Basispersonal nannte es einfach nur das Hauptquartier.

Fünf Minuten vor der Explosion an der Westgrenze marschierte Colonel Howard durch die Gänge des Hauptquartiers und stopfte seine Pfeife. Es handelte sich um eine aus Italien importierte handgemachte Savinelli aus Bruyèreholz. Der Tabak war ein Escudo Navy Deluxe, ein Coin-Cut Perique, der in Virginia angebaut wurde und in Skandinavien gereift war. Beides waren Geschenke von Carol Morse, der Einsatzleiterin der Net Force, seiner früheren Kontaktperson bei der CIA. Als Dankeschön dafür, dass er ihr Angebot angenommen hatte, Mitglied der neuen, auf Kabinettsebene agierenden Organisation für Cybersicherheit der Präsidentin zu werden, als leitender Offizier der Quickdraw, ihrer weltweit operierenden schnellen Eingreiftruppe.

Janus war Morses Baby. Das Vorbild für ein geplantes Netzwerk aus geheimen und halboffiziellen Stützpunkten auf dem Boden befreundeter Nationen auf allen sieben Kontinenten. Vier Monate nach Gründung der Net Force war die Basis immer noch ein Versuchsfeld, eine Baustelle. Dennoch spielte sie eine entscheidende Rolle bei der Suche nach dem Hacker, der den Cyberangriff auf New York geplant hatte.

Morse verstand ihr Handwerk. Sowohl auf beruflicher als auch auf persönlicher Ebene achtete sie auf die Details, dachte Howard. Der Escudo, seine Lieblingsmarke, war verdammt gut. Sein Geschmack erinnerte ihn an Weintrauben, an die dicken grünen Trauben, die seine Großmutter während seiner Sommeraufenthalte bei ihr in Oklahoma immer gepflückt hatte. Scuppernongs hatte seine Großmutter sie genannt, diese Trauben, die völlig anders waren als die Sorten, die man zu Hause in Baltimore im Laden zu kaufen bekam. Ihre Haut war dick wie die von Oliven. Wenn man eine davon aß, hielt man sie sich vor den Mund und drückte sie mit den Fingern zusammen, sodass das süße, weiche Fruchtfleisch auf die Zunge spritzte. Auf dem Feld vor dem Bauernhaus seiner Großmutter hatte Howard sie gierig in sich hineingestopft, bis der Saft von seinem Kinn auf sein T-Shirt lief und alles an ihm klebte. Man konnte die Trauben nicht in vornehmer Gesellschaft essen, etwa wenn der Pastor zum Sonntagsessen vorbeikam. Pastor John Joseph Cotes von der Bixby Memorial Church mit seiner Frau und ihrer Tochter Rose.

Rose Cotes mit ihren Mandelaugen, kniefreien Röcken und weichen braunen Beinen. Ein paar Mal hatte er mit ihr zusammen diese Trauben gegessen, die Scuppernongs, als sie sich nach dem Dessert zur Scheune davongeschlichen hatten.

Im Flur vor der Operationszentrale blieb Howard jetzt unvermittelt stehen, um erneut seine Pfeife zu stopfen, während er sich an den Duft des getrockneten Heus und von Roses Haar erinnerte, an den Geschmack der Trauben auf ihren Lippen. Er nahm zwei Medaillons Escudo aus seiner Blechdose, rollte sie zu einer Kugel zusammen und stopfte sie behutsam in die Pfeife, sodass noch etwas Luft darunter blieb. Das war das Geheimnis. Wenn man die Kugeln zu fest hineindrückte, ging der Tabak immer wieder aus.

Er entzündete ein Streichholz, hielt es an den Tabak und saugte an der Pfeife, um ihn zum Glühen zu bringen.

Verdammt gutes Zeug.

Morse kannte ihn in- und auswendig. Inzwischen fragte er sich nicht mehr, woher, und akzeptierte einfach die Tatsache, dass sie wahrscheinlich über eine gute Menschenkenntnis verfügte. Und was sie nicht wusste, was ihr verborgen blieb, brachte sie anderweitig in Erfahrung. Howard hatte sie wie oft persönlich getroffen? Zweimal? Dreimal? Normalerweise führten sie Ferngespräche zwischen Washington, D. C., und Băneasa. Dennoch wusste sie, wie er tickte … und welche Knöpfe sie drücken musste.

Morse war es auch gewesen, die Carmody und seine wilde Truppe auf seinen Stützpunkt entsandt hatte, und das Resultat sprach für sich. Ohne sein Team hätten sie es nicht geschafft, den Wolf in seinem Versteck in Rosalvea aufzuspüren. Aber Outlier? Kali? Eine international gesuchte Straftäterin? Morse hatte ihr ausnahmsweise eine Freigabe gewährt. Sowie Zugang zu den Einrichtungen des Stützpunkts und die Genehmigung, mit dem Raven zu fliegen, dem bestgehüteten Geheimnis der Armee. Er hielt das für Wahnsinn, angesichts ihrer langen Liste von Cyberverbrechen.

Howard wusste zwar, wozu sie imstande war. Was sie geleistet hatte, um Carmodys Fox-Team beim Datenraub in Bukarest zu unterstützen. Aber er wusste immer noch nicht, warum sie ihnen half oder wie weit ihre gemeinsamen Ziele reichten.

Er zog gleichmäßig an der Pfeife, während er das Streichholz darin hin und her bewegte. Der Tabak glühte unter der Flamme auf, und er behielt den Rauch einen Moment im Mund.

Scuppernongs, dachte er und atmete aus. Die Rauchwolke schwebte ein oder zwei Sekunden in der Luft und löste sich dann auf.

Er bevorzugte verbindliche Regeln, klare Grenzen. Aber Kali … sie war wie Rauch. Trotz ihrer Unterstützung in Bukarest wurde er nicht schlau aus ihr. Sie verwischte die Grenzen, und das beunruhigte ihn.

An diesem Abend umso mehr, wenn er an den aktuellen Einsatz dachte. Trotz seiner Einwände war es Morses alleinige Entscheidung gewesen, Kali zusammen mit Carmody in den Einsatz zu schicken. Obwohl ihre Argumente in operativer Hinsicht durchaus einleuchteten, konnte er nur hoffen, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuen würden.

Er schaute zur Schwingtür des Operationszentrums, während er unablässig an seiner Pfeife zog. Abrams, Berra und dieser neue Bursche, Wasserman, behielten dort die Monitore im Auge. Dennoch hatten sie so gut wie keine Neuigkeiten für ihn. Das Scalpel-Team wahrte völlige Funkstille, und das nicht zum ersten Mal. Nach außen musste der Eindruck erweckt werden, dass es sich um eine inoffizielle Operation handelte. Falls die Sache schiefging, könnte das Weiße Haus sich davon distanzieren und bestreiten, dass es etwas damit zu tun habe und mit seinem Wissen gegen internationales Recht verstoßen worden sei. Man würde einräumen, dass es vielleicht etwas großzügig ausgelegt worden sei, mit ein paar Krediten und Auslandshilfen den Schlamassel wieder geradezubiegen und die Rumänen so zum Schweigen bringen. Dies war übliche Praxis in der internationalen Politik, das war Howard schon klar. Aber er war kein Politiker. Er war Soldat. Ein Dutzend seiner Männer begleiteten das Fox-Team, und es gefiel ihm nicht, dass man ihn im Ungewissen ließ.

Er wollte schon wieder nervös auf und ab gehen, als er einen lauten, durchdringenden Knall vernahm, der sich wie ein Donnerschlag draußen vor dem Gebäude anhörte. Er vermutete, dass das mit dem Wetter zu tun hatte, obwohl eigentlich kein Sturm vorhergesagt war. Nur ein leichtes Auffrischen des Windes. Sonst hätte er den Raven nicht starten lassen und den Einsatz verschoben. Aber je näher der Winter in diesem Winkel der Welt rückte, desto wechselhafter und unberechenbarer wurde das Wetter.

Er stand ein paar Sekunden lang da und lauschte, doch er konnte nichts hören. Dennoch fragte er sich, was für ein Geräusch das gewesen war.

Howard ging auf die Eingangstür zu, um einen kurzen Blick nach draußen zu werfen. Er hatte genau zwei Schritte gemacht, als die Sirenen losheulten, und blieb abrupt stehen. Dann wurde die Schwingtür aufgestoßen, und dahinter erschien Abrams, die Augen weit aufgerissen.

»Sir, wir …«

Das war alles, was er hervorbrachte, bevor Howard einen weiteren ohrenbetäubenden Knall hörte, diesmal aus allen Richtungen. Er sah einen hellen Blitz, spürte eine plötzliche Vibration und im Gesicht eine mörderische, sengende Hitze und rief Abrams zu, er solle sich auf den Boden werfen. Aber es war zu spät, Abrams war fort, verschluckt von einem grellen orangen Lichtschein.

Dann waren überall Rauch und Flammen.

»Hey, Sarge! Ich dachte, Sie machen ein kleines Nickerchen.«

Sergeant Julio Fernandez von der Net Force Quickdraw schaute von seinem Tablet auf und sah, wie der Gefreite Glenn Wasserman aus dem Treppenhaus näher kam. Der Sergeant hielt sich einen Finger an die Lippen.

»Sie haben mich nicht gesehen«, sagte er. »Ich habe Howard gesagt, dass ich in meine Unterkunft gehe.«

Wasserman lief an Fernandez’ Tisch vorbei zur Kaffeemaschine. Sie befanden sich im Keller des Hauptquartiers, der früher »das Loch« genannt wurde, in den schlechten alten Zeiten des CIA-Entführungsprogramms und der Geheimgefängnisse. Inzwischen diente das geschützte Untergeschoss – seine Wände bestanden aus stahlverstärkten Betonwänden, und die Luft kam aus einem ABC-Filtersystem – hauptsächlich als Hightech-Konferenzraum, an dessen Ende sich ein kleiner Aufenthaltsbereich mit Kaffeeküche befand.

Es waren noch vier Minuten und neun Sekunden bis zur Explosion in der Operationszentrale.

»Irgendwas vom Scalpel-Team gehört?«, fragte Fernandez.

»Noch nichts, Sir. Der Colonel ist ziemlich nervös. Und das lässt er an uns aus. Sie wissen ja, wie er ist.«

Fernandez stieß ein Lachen hervor, das in ein müdes, übernächtigtes Gähnen überging. »Was glauben Sie wohl, warum ich nach einer Achtzehn-Stunden-Schicht immer noch hier unten rumhänge?«, sagte er. »Anscheinend muss man euch vor ihm beschützen.«

»Sie sind also nicht hiergeblieben, weil Sie genauso besorgt sind wie wir.«

»Natürlich nicht.«

Wasserman lächelte schwach und griff nach der Kaffeekanne. »Lesen Sie eines Ihrer E-Books?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Tablet des Sergeants.

»Ja«, sagte Fernandez. »Jagd nach dem Millennium-Preis. Von Dr. Martin M. Lewy.«

»Was ist denn der Millennial-Preis?«

»Millennium«, sagte Fernandez. »Sehen Sie? Das Problem mit euch Millennials ist, dass ihr immer alles auf euch beziehen müsst.«

»Ich gehöre eher zur Generation Z, Sir, oder liege irgendwo dazwischen. Ich bin 2003 geboren«, sagte Wasserman. »Bei allem Respekt, aber Sie fallen genau in die Altersgruppe der Millennials, Sie sind zwanzig Jahre älter als ich.«

»Und das ist der Grund, warum ich weiß, wie diese Zwischengeneration tickt! Ach, übrigens, wann habe ich Ihnen eigentlich mein Geburtsdatum verraten?« Fernandez nahm den halb vollen Kaffeebecher, der vor ihm stand, und verzog das Gesicht. »Die Brühe ist ja völlig kalt, igitt.«

»Ich gieße Ihnen einen frischen ein. Schwarz und ohne Zucker, nicht wahr, Sir?«

Fernandez starrte ihn an. »Was zum Henker wissen Sie nicht über mich?«

Wasserman grinste und schenkte ihnen Kaffee ein. Er hielt den Sergeant für unfassbar cool. Fernandez war gerade mal vierzig und in Stiefeln mit dicken Sohlen eins zweiundsiebzig groß, und er hatte vor Kurzem seinen kurzen Irokesenschnitt durch einen Brushback Fade, wie er es nannte, ersetzt – auf dem Kopf war das Haar dicht und an den Seiten ausrasiert; außerdem trug er einen akkurat gestutzten Bart, um seinen Look abzurunden und Colonel Howard vollends auf die Palme zu bringen. Er hasste diese Art von Frisur und Gesichtsbehaarung noch mehr als einen Irokesen. Da Fernandez offiziell nicht mehr im Dienst war, trug er ein armeegrünes Muskelshirt über seiner breiten, unbehaarten Brust; darauf prangte die Tätowierung von einem Mann und einer Frau, die wie Bäume aussahen – oder umgekehrt – und einander zugewandt ihre Wurzeln und Äste ineinander verschlungen hatten. Wasserman fand, dass der Mann Fernandez sehr ähnlich sah, hatte das aber nie erwähnt. Außerdem fand er, dass die Frau verdammt scharf aussah, aber das hatte er ebenfalls für sich behalten.

Er trug die Kaffeebecher zum Tisch, stellte einen davon neben Fernandez’ anderem Becher ab und nahm ihm gegenüber Platz. Im Gang über ihnen stopfte Howard gerade seine italienische Pfeife, in Gedanken an Rose Cotes versunken, an ihre ausdrucksstarken braunen Augen und ihre glatten, fohlenartigen Beine. Es waren noch zwei Minuten und einundfünfzig Sekunden bis zur Explosion.

»Jedenfalls heißt es der Millennium-Preis«, nahm Fernandez das Thema wieder auf. Er nippte an dem heißen Kaffee und gab ein genüssliches Brummen von sich. »Im Jahr 2000, als, äh … Millennial-Nachzügler wie Sie scharenweise das Licht der Welt erblickten, wurde dem Wissenschaftsrat des Clay Mathematics Institute eine Summe von sieben Millionen Dollar zugesprochen, um die schwierigsten mathematischen Probleme jener Zeit zu lösen. Man beschloss daraufhin, einen Wettbewerb auszuschreiben, erstellte eine Liste mit den sieben wichtigsten Problemen und schrieb für jede Lösung das sagenhafte Preisgeld von einer Million Dollar aus. Daher der Buchtitel.«

Wasserman sah ihn an. »Eine Million? Im Ernst?«

»Im Ernst«, sagte Fernandez. »Aber die Lösungen dieser Probleme sind kein Kinderspiel. Um Ihnen eine Vorstellung zu geben – eines dieser Probleme, die Riemannsche Vermutung, stammt aus einer älteren Liste, die man im Jahr 1900 erstellt hat. Und bisher wurde nur ein einziges Problem von der Liste des Clay Institutes gelöst.«

»Dieses Griezmann-Problem?«

»Riemann«, korrigierte Fernandez ihn. »Nein, die Poincaré-Vermutung.«

»Hört sich an wie der Titel einer Star-Trek-Folge.«

»Die würde ich mir bestimmt anschauen«, sagte Fernandez. »Die Poincaré-Vermutung ist ein geometrisches Problem, bei dem es um Drei-Sphären- und dreidimensionale Mannigfaltigkeiten geht.« Er bemerkte Wassermans verwirrten Gesichtsausdruck. »Ich lasse die Einzelheiten besser weg. Aber das Entscheidende ist, dass ein russisches Genie einen mathematischen Beweis für die Poincaré-Vermutung erbracht hat.«

»Und die Million gewonnen hat?«

»Genau. Aber er hat das Preisgeld abgelehnt. Stellen Sie sich das vor.«

Wasserman formte mit den Lippen ein stummes Wow. Es waren jetzt noch neunzig Sekunden bis zur Explosion. Im Stockwerk über ihnen blieb Howard plötzlich stehen, als auf der anderen Seite des Geländes ein lautes Dröhnen zu vernehmen war.

Unten im ehemaligen »Loch« konnten Fernandez und Wasserman durch die fußdicken Wände und Decken nichts davon hören.

»Der Wettbewerb läuft also noch?«, fragte Wasserman und nippte an seinem Kaffee.

»Klar doch«, sagte Fernandez. »Und ich will eines der Preisgelder einsacken.«

»Nein.« Der Gefreite suchte in Fernandez’ Gesicht vergeblich nach einem Anzeichen dafür, dass er sich über ihn lustig machte. »Ich meine … wirklich?«

»Sicher«, sagte Fernandez. »Es ist höchste Zeit, dass sich mein Abschluss in Simulationswissenschaft auszahlt.«

»Moment mal. Hat man Sie nicht erst letzten Monat in den Rang eines KI-Designers erhoben?«

Fernandez winkte ab. »Peanuts. Ich versuche, das P-NP-Problem zu lösen.«

Wasserman starrte ihn über seinen dampfenden Kaffee hinweg an. »Das ist ja fantastisch. Schätze ich.«

»Vorausgesetzt, dass ich das Theorem beweisen kann.« Fernandez senkte die Stimme zu einem vertraulichen Tonfall. »Wenn mir das gelingt, könnte es das Gebiet der Computersicherheit verändern, es revolutionieren. Zum einen würde damit die aktuelle Verschlüsselungssoftware überflüssig werden, zum anderen ließen sich dann bessere Sicherheitssysteme entwickeln.«

»Ohne Scheiß?«, sagte Wasserman. »Ich meine, ohne Scheiß, Sir?« Er stellte seinen Becher auf den Tisch. »Wissen Sie, Sie sollten als Gast bei Net Talk auftreten.«

Fernandez schaute ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Was ist Net Talk?«

»Na ja. Net Talk!«

»Ich bin zwar müde, aber nicht taub.« Fernandez runzelte die Stirn. »Ist das eine Gameshow oder so was?«

»Das ist der offizielle Podcast der Net Force, Sarge. Moderiert von Alex Michaels.«

»Moment mal.« Fernandez sah ihn an. »Sie meinen Professor Alex Michaels?«

»Ganz genau, Sir.«

»Unser Chef?«

»Ja«, sagte Wasserman. »Er produziert jeden Monat eine Folge und hat großartige Gäste. So wie in der letzten Folge. Es geht darin um den Cloud-Computing-Deal, der gerade heiß diskutiert wird. Sie wissen schon …«

»CloudCable. Im Wert von zehn Milliarden …«

»Richtig. Normalerweise ist sein Thema die Internetsicherheit …«

»Worüber wir gerade geredet haben …«

»Genau, darum habe ich von dem Podcast erzählt, Sir. In der Sendung, die ich gerade erwähnt habe, war Adrián Soto zu Gast.«

»Soto? Wow. Der Typ ist so was wie mein Held.«

»Kein Scheiß?«

Fernandez nickte. »Ich bin in San Diego aufgewachsen, was Sie, wenn ich es recht bedenke, wahrscheinlich bereits wissen«, sagte er. »Jedenfalls gab es für einen Computerfreak wie mich, der im übelsten Viertel der Stadt aufgewachsen ist, nicht viele Vorbilder. Aber Soto ist der Größte. Ich hoffe, ihn mal persönlich kennenzulernen. Ich meine, jetzt, wo wir Teil der Net Force sind und er ebenfalls dazugehört …« Er kratzte sich am Kinn und brummte vor sich hin. »Da Sie den Podcast erwähnt haben, ich frage mich, wie ich …«

Er sollte seinen Satz nie beenden. Plötzlich ertönte ein lautes Dröhnen, näher als das davor, und diesmal konnten die beiden Männer es deutlich hören. Es kam von direkt über ihnen, und obwohl es durch die dicke Decke gedämpft wurde, war es so laut, dass alles im Raum zu vibrieren begann. Der Tisch, die Stühle, alles rüttelte, schwankte und wackelte wie verrückt. Wie bei einem Erdbeben. Der Kaffee schwappte aus Fernandez’ Becher, obwohl er ihn ruhig in der Hand hielt.

Für einen Moment schaute er auf seine tropfenden Finger, dann stellte er den Becher auf den Tisch. Einen Sekundenbruchteil später wurden seine beiden Becher von einer zweiten gewaltigen Erschütterung umgestoßen.

Fernandez starrte über den Tisch hinweg zu Wasserman, der ihn mit fassungslosem, verwirrtem Blick ansah. Während sein Verstand auf Hochtouren arbeitete, bekam er kaum mit, dass der Kaffee überall an ihm heruntertropfte. Zwei Treppen verbanden den Keller mit dem Erdgeschoss. Eine führte direkt vom Aufenthaltsbereich ins Operationszentrum. Diese Treppe war Fernandez vor ein paar Minuten heruntergekommen, und die Tür war nur ein paar Schritte entfernt. Die andere ging vom benachbarten Konferenzraum ab und führte in einen Flur am hinteren Ende des Gebäudes.

Das Dröhnen war offensichtlich direkt aus der Operationszentrale über ihnen gekommen. Fernandez wollte mit Wasserman nicht geradewegs zum Ausgangspunkt des Lärms laufen, was auch immer die Ursache dafür war. Sie würden die weiter entfernte Treppe benutzen.

»Wir sollten uns beeilen«, sagte Fernandez, sprang von seinem Stuhl auf und rannte, Wasserman dicht hinter sich, Richtung Konferenzraum.

3

Kreis Satu Mare, Rumänien/Teaneck, New Jersey

Carmody bereitete sich in der Mannschaftskabine gerade auf den Einsatz vor, als in seinem Ohrhörer Cobbs Stimme ertönte.

»Null minus fünfzehn Minuten, Preacher«, sagte der Co-Pilot. »Ich dachte, Sie wollen vielleicht mal einen Blick nach unten werfen.«

Rasch überprüfte Carmody weiter seine Ausrüstung. An zwei Gurten trug er eine HK-MP7-Maschinenpistole und in einem Schulterholster aus Nylon eine umgebaute SIG Sauer P225 15 + 1 für .40-S&W-Patronen mit reduziertem Abzugsgewicht, vergrößertem Magazinschacht, Kimme und Korn aus Tritium und Glasfaser sowie einer Foxtrot-Waffenleuchte. In seiner Messerscheide am Bein steckte ein Microtech Combat Troodon mit einer titanbeschichteten Klinge aus Stahllegierung. Das runterklappbare Nachtsichtgerät an seinem Helm lieferte ihm eine Panoramaansicht der Umgebung und war mit dem Raven und der Sentinel-Drohne verbunden, um von ihnen multispektrale Bild-, Radar- und Datenscans abzurufen. In Carmodys leichtem Rucksack befand sich die übliche Sprengstoff- und Überlebensausrüstung – zwei C4-Sprengsätze, eine CamelBak-Trinkblase, ein paar Proteindrinks sowie ein Erste-Hilfe-Set.

Der letzte Gegenstand auf Carmodys Checkliste war das Gerät von der Größe eines Smartphones, das er an seinem Unterarm trug. Er schaltete es ein und wieder aus und vergewisserte sich, dass es richtig festgeschnallt war. Kalis digitaler Dietrich mit Sniffing- und Spoofing-Software war für den Erfolg seines Einsatzes unerlässlich.

Zufrieden trat Carmody neben Cobb ins Cockpit. Als er einen Blick auf den Touchscreen warf, erkannte er die oberen Stockwerke und Türme des Anwesens sofort wieder.

Das Übungsmodell auf dem Stützpunkt, in dem das Fox-Team wochenlang trainiert hatte, war nahezu identisch.

»Das sind Livebilder«, sagte Cobb. »Sentinel ist jetzt auf einer Höhe von fünfzehntausend Fuß. Die Nachtsichtaufnahmen sind farbverstärkt, damit man mehr erkennen kann.«

Carmody studierte die Luftbilder.

Drajan Petroviks Anwesen lag inmitten der Wälder und weit verstreuten Bauernhöfe einer im äußersten Westen Rumäniens gelegenen Bergregion. Während der Vorbereitung hatte Carmody alte Dokumente aufgetrieben, aus denen hervorging, dass es sich um die ehemalige Festung des völlig paranoiden Grafen Anton Graguscu, genannt der Giftmischer, handelte, einem Angehörigen der Königsfamilie aus dem sechzehnten Jahrhundert. Er hatte das Gebäude mit geheimen Fluchtwegen versehen und angeblich seine Frau und seine Zwillingssöhne hinrichten lassen, weil er geträumt hatte, dass sie sich eines Tages gegen ihn verschwören würden.

Das hufeisenförmige Grundstück war unglaubliche sechzig Hektar groß, die Festung befand sich am Fuß der Biegung und das Eingangstor auf der offenen Südseite. Dazwischen lagen verschiedene Nebengebäude und Stallungen, künstlich angelegte und natürliche Bäche und Teiche sowie weitläufige, hügelige Wiesen, auf denen adlige Generäle einst ihr Reittraining absolviert hatten. Die Front und die Seiten der Burg waren von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, der auf der Grundstücksseite von dichten Laub- und Nadelbäumen gesäumt wurde. Man konnte die Festung am besten mit dem Auto über eine gewundene Zufahrt erreichen, die sich vom Haupttor vier Meilen lang bis zu ihrem Vorplatz schlängelte.

Die Zufahrt war im Zweiten Weltkrieg planiert und gepflastert worden, als die nationalsozialistischen Besatzer die Burg als Kommandozentrale der Wehrmacht und Offiziersunterkunft genutzt hatten … bis die Panzer der Sowjets angerückt waren und sie verjagt hatten, worauf die Burg, sich selbst überlassen, in den nächsten siebzig Jahren langsam verfiel.

Die Zufahrt war, wie einige der Nebengebäude, die Drajan Petrovik jetzt als Wachhäuser nutzte, allerdings immer noch in einem guten Zustand.

Er hatte das Anwesen vor mehreren Jahren auf einer Auktion für dreieinhalb Millionen Euro ersteigert. Die Renovierungs- und Modernisierungsmaßnahmen und Umbauten der Mauern, Türme und barocken Treppenhäuser hatten mehrere Monate in Anspruch genommen. Die verfügbaren Fotos von den Innenräumen der Burg stammten allerdings alle aus der Zeit vor der Renovierung, und es gab keinerlei Informationen neueren Datums. Vergeblich hatte Carmody im Internet die Aufzeichnungen der nächstgelegenen Ortschaften Rosalvea und Salta durchforstet.

Es überraschte ihn nicht, dass seine Recherche nichts ergeben hatte. Für die umfangreiche Sanierung war zwar eine Baugenehmigung erforderlich gewesen, und die dafür nötigen Gebäudepläne wurden normalerweise in Onlinedatenbanken archiviert. Aber er wusste, wie der Hase lief. In den beiden Ortschaften der Gemeinde Rosalvea lebten insgesamt sechstausend Menschen – wie auch schon vor fünfzig Jahren und fünfzig Jahre zuvor und die fünfzig Jahre davor. Dort hatte sich kaum etwas verändert, und den Menschen war jede Arbeit recht, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Wolf konnte dort wie der Feudalherr, der das Anwesen einst errichtet hatte, frei schalten und walten. Seine Renovierungsarbeiten hatten den lokalen Bauunternehmern, Handwerkern und Zulieferern einen wahren Geldsegen beschert.

Carmody vermutete, dass er ein paar Beamte bestochen hatte, um das Genehmigungsverfahren zu umgehen – oder die offiziellen Einträge in den Akten löschen zu lassen.

»Falltüren und Geheimgänge«, sagte er. »Uns erwartet das reinste Labyrinth. Und Petrovik hat garantiert ein paar weitere Schikanen eingebaut.«

Cobb nickte. »Es schmeckt mir überhaupt nicht, dass wir nicht herausgefunden haben, was das sein könnte, Sir.«

Plötzlich fiel Carmody ein Satz ein, den er irgendwann mal gehört hatte. Er hatte sich damals in einer Basis nahe der iranischen Grenze, die eigentlich gar nicht existieren durfte, auf einen Einsatz vorbereitet, der offiziell nie stattgefunden hatte.

Wie trainiert man für das Unbekannte?

Der Satz war in einer Talkshow auf einem Soldatensender gefallen. Jemand hörte in einem Zelt der Offiziere Radio, und Carmody schnappte im Vorbeigehen ein paar Gesprächsfetzen auf. Es war eine rhetorische Frage. Die Person, die sie stellte, klang nicht wie ein Soldat. Sie hätte Musiker, Schauspieler oder Schriftsteller sein können. Oder auch Politiker. Genauso gut hätte sie damit Carmodys bevorstehenden Einsatz meinen können, der ebenfalls voller unbekannter Gefahren war.

Wie trainiert man dafür?

Hätte man Carmody danach gefragt, hätte er wohl geantwortet, das sei nicht möglich. Wenn man professionell und erfahren genug war und sein Handwerk beherrschte, verschwendete man keine Gedanken an mögliche Unwägbarkeiten. Es kam allein darauf an, wie man in einer konkreten Situation reagierte. Was auf einen zukommen würde, das ließ sich im Vorhinein nicht in Betracht ziehen.

Er ging jetzt zwischen Cobb und Luna auf das virtuelle Fenster zu. »Ist es okay, wenn ich das Ding mal benutze?«, fragte er.

»Sicher.« Cobb lehnte sich zur Seite, um ihm etwas Platz zu machen. »Aber beeilen Sie sich.«

Carmody streckte die Hand nach dem Bildschirm aus, zog mit Daumen und Zeigefinger ein Kästchen um einen Bereich des Burgdachs und zoomte heran. Der Haupteingang lag auf der Ostseite, zur Ortschaft Rosalvea hin, die über eine zehn Meilen lange Landstraße zu erreichen war. Vom Dach ragten drei vollständig restaurierte Bollwerke empor, das größte im Norden. Der halbovale Beobachtungsposten aus massiven Steinen mit schmiedeeisernem Geländer bot einem Dutzend Personen Platz, und von dort wand sich eine Steintreppe zu einem Eingangsturm mit Torbogen hinunter.

Wahrscheinlich waren die drei Bollwerke Teil des ursprünglichen Gebäudes. Im Westen Rumäniens hatte es in der Vergangenheit zahlreiche Auseinandersetzungen gegeben. Immer wieder war es zwischen Prinzen, Landesfürsten und verschiedenen Volksstämmen zu Bürgerkriegen gekommen. Nacheinander waren Daker, Walachen, Westgoten, Moldawier, Türken, Ungarn und Österreicher dort eingefallen. Graf Graguscu, ein Gote, lebte in einer konfliktträchtigen Region und hatte auf seine Nachbarn bestimmt ein wachsames Auge gerichtet.