Net Force. Cyberstaat - Jerome Preisler - E-Book

Net Force. Cyberstaat E-Book

Jerome Preisler

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Beschreibung

Ein neuer Fall für die Net Force

Cyberattacken bedrohen weiterhin die globale Sicherheit, und nur die neue Cyberelite-Einheit, zusammengestellt von der US-amerikanischen Präsidentin höchstpersönlich, kann sich ihr in den Weg stellen. Mit unermüdlichem Einsatz und unorthodoxen Methoden tun sie alles, um die Ordnung der globalisierten Welt zu bewahren.

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Seitenzahl: 534

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DASBUCH

Südchinesisches Meer 2024: Die CS Stalwart, ein Schiff, das im Auftrag der amerikanischen Regierung Seekabel verlegt, verschwindet plötzlich unter mysteriösen Umständen vom Radar. Der Agent Jot Musil und die Hackerin Kali Alcazar forschen im Auftrag der Net Force, einer Cyberelite-Einheit der US-Regierung, nach. In der Zentrale des Unternehmens CloudCable, das das Schiff betreibt, stoßen sie auf eine Mauer des Schweigens, was ihre Vermutung bestätigt, dass die Firma und die Stalwart an einer amerikanischen Geheimoperation beteiligt waren. Mit unermüdlichem Einsatz und unorthodoxen Methoden gehen sie der Sache auf den Grund. Sie stoßen auf zahlreiche Verstrickungen, die sie schließlich zu regierungsfeindlichen Gruppen führen – die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken.

DERAUTOR

Jerome Preisler ist der Autor von Tom Clancys New York Times-Bestsellerreihe »Power Play«. Er hat bisher mehr als dreißig Bücher veröffentlicht und als Experte für Militärgeschichte zahlreiche Vorträge an Schulen, in Museen und Militärstützpunkten gehalten. Preisler lebt in New York.

ENTWICKELT VON

TOM CLANCY

UND

STEVE PIECZENIK

GESCHRIEBEN VON

JEROME PREISLER

NET FORCE

CYBERSTAAT

Aus dem Englischen von Frank Dabrock

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe NETFORCE Threat Point

erschien erstmals 2021 bei Hanover Square Press, Toronto.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 09/2023

Copyright © 2021 by Netco Partners

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Florian Oppermann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock.com

(Syda Productions, yuri4u80, Elena Schweitzer)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-27105-3V001

www.heyne.de

Für Suzanne

Bären und Drachen wüten über Berg und Fluss,lassen Wald und Gipfel erzittern.Dunkler Regen verdüstert die Wolken,blasser Nebel verhüllt die Flüsse.Die Götter des Donners und Blitzes erschüttern die Weite.

– Li Bai, 701 – 762 n. Chr.

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ASYMMETRISCHE KRIEGSFÜHRUNG

1

Südchinesisches Meer10. April 2024

Du bist jetzt genau auf zweihundert Meter«, sagte Murph.

John Murphy, genannt Murph, war an Bord des Kabellegers CSStalwart für die Überwachung der Taucher zuständig.

»Roger«, erwiderte Zak über Funk. Er hieß mit vollem Namen Isaac Tinian und kam aus Warwick, Rhode Island. Er machte diesen Job jetzt seit fünf Jahren, länger als die meisten anderen Männer. Davor war er Polizeitaucher gewesen, was im Lebenslauf für die Bewerbung als Sättigungstaucher ein Pluspunkt war. Aber trotz dieser besonderen Fähigkeiten hatte man ihn erst dank einer Reihe von Empfehlungen für die Ausbildung akzeptiert.

An seinem Kurs hatten fünfundzwanzig Männer und Frauen teilgenommen, und Zak war der Einzige, der immer noch für die Firma arbeitete. Die Aussteigerquote lag also bei sechsundneunzig Prozent.

Er befand sich jetzt fast in völliger Dunkelheit, über sich gewaltige Wassermassen. Das bedeutete, dass er zusätzlich zu seinem Gehalt eine saftige Zulage bekam. Aus gutem Grund. Er kannte die Risiken seines Jobs. Aber er kannte auch den damit verbundenen Nervenkitzel. Dies und die üppige Bezahlung lockten ihn immer wieder aufs Meer hinaus.

Zweihundert Meter.

In dieser Tiefe war der Druck, der auf Zak lastete, zwanzigmal größer als an der Oberfläche. Selbst auf halber Tiefe drang nur noch ein Prozent des Lichtes nach unten. Es war, als wäre man im Weltall, nur dass man weniger erkennen konnte. Das All war steril und leer. Das Meer hingegen war eine organische Suppe, in der Unmengen kleinster Partikel herumschwirrten. Verweste Wasserpflanzen und Tiere und eine endlose Flut aus Fischscheiße. Bei dem ganzen Dreck, der herumtrieb, reichten selbst leistungsstarke Scheinwerfer nicht weit. All das hatte Auswirkungen auf die Psyche. Man kam sich in der Dunkelheit verloren vor.

Aber Zak hatte in seinem Kopf keinen Platz für Angst, Unsicherheit und Zweifel. Vor allem aufgrund seiner Fähigkeit, diese Gefühle zu verdrängen, gehörte er zu dem verschwindend geringen Prozentsatz von Leuten, die diesen Beruf über einen längeren Zeitraum ausüben konnten.

»Systeme arbeiten einwandfrei«, sagte eine zweite Stimme in seinem Ohr. »Wie geht es dir?«

»Alles entspannt.«

»So soll es bleiben.«

»Ja, Rawl.«

Rawl. Jedes Mitglied eines Taucherteams bekam eine Kurzform seines Namens verpasst. Zak scherzte immer, dass sie auch Basketballspieler hätten sein können. Andrew Rawlings war sein Partner in der Taucherglocke. Nachdem sie einen Monat lang in der Glocke statt normaler Luft Heliox geatmet hatten, klangen sie wie zwei Enten in einem alten Zeichentrickfilm. In Rawls Fall wie eine Ente mit breitem Südstaatenakzent. Seine Heimatstadt war Bartlett, Tennessee, und zwischen den Einsätzen lebte er immer noch dort.

Zak sank an seinem Versorgungskabel weiter hinunter. Die Glocke, Beebe, benannt nach dem berühmten Erfinder der Bathysphäre, hing an einem Seil etwa hundertfünfzig Meter weiter oben. Als sie vor wenigen Minuten ihre Arbeitstiefe erreicht hatte, war Zak durch die Bodenluke ausgestiegen, ein kurzes Stück auf dem Gewicht unter der Glocke durchs Wasser geglitten und hatte sich anschließend Richtung Meeresgrund sinken lassen.

Inzwischen konnte er die ovalen Umrisse der Taucherglocke nicht mehr sehen. Er bewegte sich durch pechschwarze Leere; da waren nur noch das schwache, diffuse Leuchten von Beebes Außenscheinwerfern und die geisterhaften blauen Lichter, die ringsumher schwirrten. Lichtblitze, die von verschiedenen Tiefseekreaturen ausgesandt wurden, als wären sie lebende Feuerwerke, die Funken sprühend durcheinanderwirbelten. Es gab kein erkennbares Muster. Ohne sichtbare Orientierungspunkte konnte Zak nicht mal ihre Entfernung schätzen. Die blauen Geister mochten drei oder auch dreißig Meter entfernt sein. Sie waren faszinierend und wunderschön, und sehr gefährlich, wenn er sich von ihnen ablenken ließ.

Er warf einen kurzen Blick nach unten. Links an seinem Helm war eine lichtstarke LED-Unterwasserlampe befestigt und rechts eine Digitalkamera. Beide Geräte wurden über seine Kabel mit Strom versorgt und liefen ohne Unterbrechung während des gesamten Tauchgangs. Die Digicam übertrug ihre Bilder zu Rawl und den Technikern an Deck der Stalwart, sodass sie den Einsatzort in Echtzeit inspizieren konnten.

Unter Zak erstreckte sich, deutlich im Licht seines Helmscheinwerfers zu erkennen, der zehn Meter breite Graben, den der Tiefseetraktor der Stalwart kürzlich in den Meeresboden gepflügt hatte. Der Graben, in dem das Kabel verlegt war, musste von den Gezeiten erst wieder zugeschüttet werden.

»Ich befinde mich jetzt direkt über dem Graben«, sagte er. »Sperrt die Augen auf.«

Er rechnete mit keinerlei Problemen. Man hatte die Stelle aufgrund ihrer geologischen Stabilität ausgewählt. Es gab hier weder Unterwassercanyons noch Abhänge, weder Riffe noch Verwerfungslinien. Nur Schlamm und Kies. Die ebene Fläche erstreckte sich bis zu den Spratly-Inseln … Chinas Gefahrenzone. Denn dort wurde das Unterwasserterrain ziemlich schroff.

Zak ließ sich weiter hinunter. Sein AR-Head-up-Display zeigte an, dass er sich in genau zweihundertdreiundsiebzig Metern Tiefe befand. Direkt westlich der frei liegenden Kabelverbindung und etwa eine Meile von der Landungsstation auf Palawan entfernt.

Einige Momente später setzte er mit den Stiefeln neben dem Graben auf. Er hüpfte an seinem südlichen Rand entlang über den Meeresboden. Das AR-System in seinem Helm war eine etwas ausgefeiltere Version des Dashcam-Systems in seinem Auto. Es diente mehr oder weniger demselben Zweck und blendete in die Videobilder Pfeile, farbige Linien und Daten ein. Es würde ihn zu der Verbindungsstelle führen, die er inspizieren wollte, und einen Signalton von sich geben, sobald er sie erreichte.

Zak war etwa zehn Meter am Graben entlanggelaufen, als er das Piepen vernahm. Eigentlich war das nicht nötig gewesen. Die Stalwart hatte vor zwei Wochen hier einen Multiplexer installiert, bevor sie mehrere sich verzweigende Kabel verlegte, von denen eines bereits in seinem Graben lag. Er konnte sehen, wie es von der Verbindungsstelle zu seinem eigenen Endpunkt im Osten führte.

Er blickte auf die flache Rille hinunter, die verriet, wo das Ursprungskabel Richtung Küste verlief.

»Merkwürdig«, sagte er über Funk. »Seht ihr alle die Live-Bilder?«

»Roger.« Das kam von Murph. »Einen Moment. Ich werfe mal einen Blick auf deine Koordinaten.«

»Du musst an der richtigen Stelle sein«, sagte Rawl. »Man kann sehen, dass das Kabel aus dem Meeresboden ragt.«

Zak erwiderte nichts. Sein Tauchpartner hatte in beiden Fällen recht. Dies war die einzige Verbindungsstelle im Umkreis von Meilen. Und das Positioning System for Deep Ocean Navigation – POSYDON – war genauso zuverlässig wie das GPS an Land. Es bestand kein Zweifel, dass er an der richtigen Stelle war. Aber was ihn verwirrte, war, dass er nichts entdecken konnte. Jedenfalls nichts Ungewöhnliches.

Er wartete. Vielleicht lag ein Fehler vor. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte.

»Zak?« Das war erneut Murph.

»Ich höre dich.«

»Du bist an der richtigen Stelle.«

Das überraschte ihn nicht. Und verwirrte ihn in höchstem Maße.

»Ich kann die Ablagerungen entfernen«, sagte er. »Und die Kabel und den Multiplexer untersuchen, um zu sehen, ob irgendwas nicht stimmt.«

»Gute Idee«, sagte Murph. »Gib mir eine Minute. Fried ist schon auf dem Weg zur Kontrollstation.«

Bill Friedman war der Projektleiter des Taucherteams auf der Stalwart, und die Vorschriften verlangten es, dass er in einem solchem Fall informiert wurde. Jeder Arbeitsschritt musste protokolliert und genehmigt werden. Erst wenn Friedman grünes Licht gab, konnten sie einen Abschnitt des Kabels ausgraben.

Zak wartete. Die blauen Geister wirbelten und tanzten wie Glühwürmchen ringsumher. Niemand wusste, weshalb so viele Organismen hier unten Licht verströmten. Zak hatte gehört, dass sie damit ihre Beute täuschten oder betäubten. Angeblich diente es einigen auch zur Verteidigung, indem sie ihre Verfolger damit auf eine falsche Fährte lockten. Was auch immer der Zweck war, sie lieferten eine fantastische Show. Es war, als kritzelten sie alle gleichzeitig auf eine riesige dreidimensionale Tafel. Mit phosphoreszierender Kreide.

Zak beobachtete gerade eine dieser aberwitzigen Darbietungen zu seiner Rechten, als er in einiger Entfernung eine einzelne, deutlich erkennbare Lichtquelle bemerkte. Er konnte nicht genau sagen, wie weit entfernt sie war. Zunächst sah es aus wie ein kleiner Lichtpunkt. Er war jedoch nicht blau, sondern weiß und wurde von einem diffusen Strahlenkranz umgeben.

Verwundert starrte Zak fünf lange Sekunden in seine Richtung. Das Licht wurde größer, und der Strahlenkranz und der Punkt verschmolzen zu einem einzigen, hellen Kreis. Er schien mit großer Geschwindigkeit näher zu kommen.

»Seht ihr auch, was ich sehe?«, sagte er.

Von oben kam keine Antwort.

»Murph? Rawl? Hört ihr mich?«

Zak wartete. Und je länger er wartete, desto mehr verfinsterte sich sein Gesicht hinter der Maske.

Es kam immer noch keine Antwort.

Die Kontrollstation für die Taucher war eine kastenförmige Einheit in der Mitte des hundertfünfzig Meter langen Hauptdecks der Stalwart. Sie befand sich neben dem Moonpool –jener Öffnung, durch die die Taucherglocke zu Wasser gelassen wurde – und wirkte von außen völlig unscheinbar. Die Station war weder besonders groß noch besonders klein und hatte nur eine Tür und zwei Fenster. Es handelte sich um einen jener geriffelten Baucontainer, in denen auf einer gewöhnlichen Baustelle der Polier seinen Morgenkaffee schlürfte.

Das Innere der Kontrollstation jedoch sah völlig anders aus. Es gab dort an einer Wand zwei Terminals, eines mit einem speziellen Videoüberwachungs- und Kommunikationspult, das andere mit den Messgeräten, Drehknöpfen und Schaltern, die das lebenserhaltende Gasgemisch für das Unterwasserteam regulierten. Ein drittes Pult, an einer weiteren Wand, reinigte und filterte das Gas, das die Taucher ausatmeten, indem es Kohlendioxid, Feuchtigkeit und biologische Schadstoffe entfernte und den verbliebenen Sauerstoff zur Wiederaufbereitung für die Taucherglocke mit Helium mischte. Der Gasmizer war ein effizientes, geschlossenes System, das die Glocke ununterbrochen mit Heliox versorgte.

Alle drei Techniker in der Station waren tot. Sofort beim Betreten hatte Grigor Malkira die Männer an den beiden benachbarten Terminals mit jeweils einer Unterschallpatrone erschossen. Sie hatten nicht mal mitbekommen, was sie getroffen hatte. Die Technikerin, die mit dem Rücken zur Tür am Gasmizer-Pult saß, hatte noch lang genug gelebt, um ihn zu bemerken, und sich zur Tür umgedreht. Grigor hatte ihr eine Kugel ins Herz und eine zweite direkt in die Stirn gejagt. Darauf war sie hintenüber aufs Pult gefallen, und ihr blondes Haar hatte sich wie ein blutiger Fächer über die Schalter und Anzeigen ausgebreitet.

Grigor stand jetzt hinter dem toten Mann am Überwachungspult, seine schallgedämpfte FN Five-seveN in der Hand. Acht Sekunden zuvor hatte er sämtliche Kommunikationsverbindungen zwischen Oberfläche und Taucherglocke und zwischen Glocke und Taucher gekappt. Als Nächstes musste er sich um das Pult zur Sättigungskontrolle kümmern.

Das Fenster der Station befand sich zwischen den beiden Terminals, und als Grigor sich daran vorbeischob, erblickte er draußen einen Mann, der im Schatten des Krans auf die Kontrollstation zukam. Er identifizierte ihn sofort als Friedman, den Projektleiter.

Obwohl die Station sehr eng war, bewegte sich Grigor darin mit ungezwungener Leichtigkeit fort. Er war extrem groß und schlank, und seine Gliedmaßen waren unverhältnismäßig lang, was ihm ein merkwürdiges lang gestrecktes Aussehen verlieh – als bestünde er aus weichem Kitt oder Karamell statt aus Fleisch und Knochen. Als Junge hatten die anderen Kinder in dem russischen detdom immer gescherzt, dass er verschwinden würde, sobald er sich ins Profil drehte.

Mit zwei schnellen Schritten lief er zur Tür zurück und lehnte sich daneben mit dem Rücken flach gegen die Wand.

Einen Moment später erreichte Friedman die Station. Grigor wartete, bis er seinen Finger unter den biometrischen Türöffner hielt, hörte das Klicken der Verriegelung und nahm die Five-SeveN in seiner Hand nach oben.

Grigor war stärker, als seine gummiartige Erscheinung vermuten ließ. Als die Tür sich öffnete und der Projektleiter eintrat, packte er den Mann oberhalb des Ellbogens am Arm und schleuderte ihn Richtung Gasmizer-Pult. Friedman stolperte auf die tote Frau zu, erlangte jedoch das Gleichgewicht wieder, bevor er gegen ihren Körper stieß.

Er drehte sich zu Grigor um.

»Gelfland?«, stieß er mit fragendem Blick hervor.

Grigor feuerte zwei weitere Kugeln ab, und der Projektleiter sackte mit blutverschmierter Stirn leblos zu Boden. Grigor trat die Tür hinter sich zu und formte mit den Lippen einen einfachen Befehl in südwestlichem Mandarin. Der leichte Sha-Akzent war eine Nuance, die seine Ausbilder beim Optimum-Programm erfreut hätte. Ganz besonders die gute alte Anna.

»Ji. Kin leh.«

»Si.«

Er eilte zum Terminal für die Sättigungskontrolle hinüber, stieß den Mann, der zusammengesunken auf dem Pult lag, zu Boden und steckte die Pistole in das Holster unter seinem Anorak. Er hatte sich in den vergangenen Monaten mit dem Bedienfeld vertraut gemacht und konnte innerhalb von Sekunden die Werte zur Lebenserhaltung zurücksetzen.

Grigor ließ seinen Blick über die Anzeige wandern, als er draußen vor der Station das Rattern einer automatischen Waffe hörte. Mehrere Salven, gefolgt von einer Pause, dann weitere kurze Salven.

Er blickte auf seine Uhr. Noch zehn Minuten.

Er erhob sich vom Stuhl und lief über die am Boden liegenden Leichen hinweg und um sie herum aufs Deck hinaus, wo er sich rasch zur Ruderanlage des riesigen Schiffes umdrehte.

Zak wusste, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.

Eigentlich hätte es eine automatische Warnmeldung geben müssen. Eine schnelle Folge von Signaltönen in seinem Ohrstöpsel sowie mehrere zeitgleiche Hinweise in seinem Head-on-Display. Aber das passierte nicht. Die Systeme fielen so kurz hintereinander aus, dass es schien, als wären sie alle gleichzeitig abgeschaltet worden. Plötzlich war er von seinem Lebenserhaltungssystem, der Taucherglocke und der Kontrollstation, getrennt.

Zak öffnete das Ventil für die Notfallflasche auf seinem Rücken. Der Helioxvorrat darin würde für vier Minuten reichen, vielleicht auch ein paar mehr, wenn er seinen Atem kontrollierte. Das genügte nicht, um an die Oberfläche zu gelangen. Er musste sehr langsam aufsteigen, um zu verhindern, dass das Gewebe im Innern seines Körpers platzte. Die Dekompression musste mehrere Stunden dauern und durfte nicht innerhalb weniger Minuten geschehen. Aber wenn die Leute oben von der Situation wussten – und das mussten sie –, dann würden sie alles daransetzen, die Verbindung zu ihm wiederherzustellen. Dasselbe galt für Rawl. Außerdem gab es für den Fall einer schweren Funktionsstörung ein eingebautes Sicherungssystem.

Zak zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Sie würden ihn hier unten nicht sterben lassen. Nicht, wenn sie es verhindern konnten.

Er atmete ein. Nahm nur einen schwachen Zug aus der Notfallflasche. Er wollte sich das kostbare Gasgemisch aufsparen.

Plötzlich leuchtete ihm das Licht direkt in die Augen. Der helle Kreis in der Dunkelheit. Er kam schnell auf ihn zu, knapp über ihm, etwa drei Meter über dem Meeresgrund.

Das Licht fächerte sich auf, wurde vom Geröll im Wasser gestreut, reflektiert und verschluckt. Verwirrt sah Zak, wie das Gefährt hinter dem Licht Gestalt annahm.

Es handelte sich um eine Art Tiefsee-U-Boot. Eine kugelförmige Kapsel. Sie war jetzt unmittelbar vor ihm. Auf jeder Seite befand sich ein großer Arm, und sie erinnerte damit vage an einen Krebs.

Das Boot wurde langsamer, kam aber immer noch näher, bis es schließlich Halt machte. Es trieb jetzt fast über ihm und leuchtete mit seinen Scheinwerfern in die Dunkelheit.

Zak schossen drei Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Ihm war nur allzu bewusst, dass sich seine Notfallflasche mit jedem Atemzug weiter leerte, dass er weder von Rawl noch aus der Kontrollstation etwas gehört hatte und dass eine menschliche Gestalt aus der Kapsel herausschaute.

Unscharf. Kaum sichtbar. Aber sie war da.

Und beobachtete ihn.

Zak war verwirrt und verängstigt. Gefühle, die ihm auf seinen Tauchgängen eigentlich fremd waren.

»Rawl? Murph? Hört ihr mich?«

Schweigen. Das U-Boot trieb eine weitere endlose Sekunde lang reglos im Wasser, bevor ein plötzlicher Stoß aus seinen Strahlrudern es vorwärtskatapultierte.

Erst glaubte Zak, es würde an ihm vorbeisausen. Aber das tat es nicht. Es machte erneut Halt, diesmal direkt über ihm, und seine metallenen Greifarme schnappten nach Zaks Versorgungskabeln. Er spürte einen heftigen Ruck, als sie seine Kabel umschlossen, sich hineinbohrten und sie wie eine gigantische Drahtschere durchtrennten.

Der zweite Ruck war noch stärker. Das Boot hob ihn unsanft in die Höhe und zog ihn nach oben. Seine Füße waren jetzt nicht mehr mit dem Meeresboden verbunden. Das U-Boot trug ihn fort, zerrte ihn durch das pechschwarze Wasser, als wäre es ein hungriges Raubtier und er seine hilflose Beute.

Zak hing unter ihm und konnte nicht das Geringste sehen. Ihm war kalt. Schrecklich kalt.

Er rauschte für eine gefühlte Ewigkeit durchs Wasser und rang verzweifelt nach Luft, während er an den durchtrennten Kabeln hing und das U-Boot ihn forttrug. Sein Heliox ging zur Neige. Der Druck hinter Augen, Kopf und Brust wurde immer stärker. Als würden sie jeden Moment explodieren.

Voller Panik spürte er plötzlich, wie ihm die Sinne schwanden, und er versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben. Aber vergeblich. Er war nicht länger imstande zu denken, versuchte nicht länger, seine Lunge mit Luft zu füllen, fühlte kaum noch etwas. Da waren nur noch die Kälte und ein immer unbestimmter werdendes Gefühl von Bewegung.

Bald würde Zaks Bewusstsein auch sie nicht mehr wahrnehmen, und er würde ganz der Dunkelheit gehören.

Grigor trat aus dem Fahrstuhl auf die Brücke und wäre beinahe über eine Leiche gestolpert. Er blieb stehen und richtete den Blick auf sie. Das Crewmitglied lag in einer roten Lache, und sein weißes Uniformhemd war blutverschmiert.

»Frauen yijing guding hao jiash shi, Zhe chuan shi Frauen de.«

Grigor schaute zu dem Mann, der ihn angesprochen hatte. Er hieß Jochi, war groß gewachsen und muskulös, hatte einen Bart und ausgeprägt mongolische Gesichtszüge. Er stand auf der anderen Seite der blutenden Leiche und trug ein hellbraunes Hemd und die gelbe Leuchtweste eines Schifftechnikers. In seiner Hand hielt er eine kompakte Brügger-&-Thomet-TP9-Maschinenpistole mit Schalldämpfer und 30-Schuss-Magazin.

»Nin shifou yi yu chedui qude lianxi?«, antwortete Grigor in dem Mandarin aus der Küstenregion, das er eben so bravourös gemeistert hatte.

Jochi deutete auf die weit geschwungenen Fenster ringsum. Draußen kräuselte sich der blaue glitzernde Ozean in der Mittagssonne.

»Shi«, sagte er. »Tamen zai lushang.«

Grigor nickte zufrieden. Die Flotte war unterwegs.

Er schaute sich im Raum um. Außer ihm, Jochi und dem toten Mann, der mit dem Gesicht nach oben zwischen ihnen auf dem Boden lag, waren neun weitere Personen hier. Drei von ihnen gehörten zur Brückenbesatzung und saßen leblos und blutverschmiert auf ihren Drehstühlen. Ein weiterer Mann lehnte unter einem Fenster zusammengesackt an der Wand, und sein Hemd war mit Einschusslöchern übersät. Ein fünfter, der Kapitän der Stalwart, hockte am Steuerpult. Man hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt, und die tiefe Schnittwunde sah aus wie ein groteskes Lächeln.

Die restlichen vier Männer waren am Leben. Sie gehörten zu Jochis Einsatzteam und trugen wie er TP9s. Einer von ihnen hatte das Ruder übernommen.

Grigor trat hinter ihn. Die Brücke hatte gewaltige Ausmaße, und die hufeisenförmige Steuerkonsole nahm den größten Teil des Raums ein. Er sah mehrere Reihen Radar- und Sonarmonitore, Navigations-Touchscreens, Steuerknüppel und Felder mit leuchtenden Anzeigen und großen Knöpfen.

Grigor warf einen Blick über die Schulter seines Steuermanns auf die Navigationsdisplays. Der Hauptschirm zeigte an, dass die Stalwart weiter ihre Position vor der Küste von Palawan hielt. Aber das war eine Lüge. Eine Illusion. Ein zweites Navigationsdisplay zeigte ein anderes Bild – die Wahrheit. Inzwischen hatte das Schiff die Umgebung des philippinischen Archipels verlassen und nahm mit seiner Spitzengeschwindigkeit von fünfzehn Knoten Kurs auf die Spratly-Inseln.

Grigor vertraute darauf, dass die Software des Wolfs zur Verschleierung ihrer Position selbst den besten Gegenanalysemaßnahmen verborgen blieb. Sein Angriff auf New York hatte zweifellos seinen Ruf als dunkler Prinz der technologie vampiri gefestigt.

Aber auch so war Grigor zuversichtlich. Die Software eines normalen Autos bestand aus über hundertfünfzig Millionen Zeilen Code. Wie viele steuerten dann ein Schiff? Mehrere Billionen? Es wäre verdammt schwer, einige falsche Zeilen in seinem System zu entdecken.

Das digitale Fernglas auf dem Pult war über das WLAN mit dem Navigationssystem des Schiffes verbunden. Grigor hob es an die Augen, und als die Flotte in seinem Blickfeld erschien, registrierte es ihre genauen Koordinaten und ermittelte die Entfernung. Die Flotte befand sich weniger als zehn Meilen südwestlich des Schiffes.

Grigor zählte insgesamt zehn Boote ohne Kennzeichen … fünfundzwanzig Meter lange Trawler mit hohen Bugen und dem Steuerhaus am Heck. Es handelte sich um jene alten rostigen Eimer, wie sie illegale Fischer zum Fang von Seegurken und Riffmuscheln benutzten.

Grigor nahm das Fernglas herunter und reichte es Jochi, der inzwischen ans Pult getreten war.

Der bärtige Mann spähte durch das Glas über die glitzernde Wasseroberfläche hinweg. »Tamen you henduo caihu«, sagte er. »Diese Leute haben viele Talente.«

Grigor schenkte ihm ein schmales Lächeln.

»Zongguo nan ti«, sagte er.

Jochi signalisierte ihm mit einem Nicken, dass er verstanden hatte. Es war wahrhaft ein chinesisches Rätsel.

Als das U-Boot zur Startrampe des Trawlers zurückkehrte, hing der Taucher immer noch an seinen Versorgungskabeln. Der Körper bot einen grauenvollen Anblick.

Wenn ein Mensch starb und das Herz aufhörte zu schlagen, wurden die Gase in Zellen und Blutgefäßen nicht mehr weitertransportiert und bildeten Tausende winzige Bläschen. Stieg jedoch ein Mensch, der beim Sättigungstauchen starb, zu schnell auf, wurden die komprimierten Bläschen immer größer, bis sie riesig waren.

Das war, als würde man ein kohlensäurehaltiges Getränk schütteln und dann öffnen. Nur dass es sich in diesem Fall um einen menschlichen Körper und nicht um eine Dose handelte, um Blut und nicht um Limonade.

Die drei Deckarbeiter, die den Körper aus der Umklammerung der Greifarme befreiten, waren froh, dass sie Schutzanzüge trugen.

Als sie auf einer Plastikplane den Tauchanzug entfernten, hätten sie einhellig zugestimmt, dass der verstörendste Anblick nicht das Blut war, das aus Poren und Körperöffnungen schäumte, sondern die Augen. Sie waren in ihren Höhlen geplatzt und hatten die Konsistenz von Vanillesoße angenommen. Einer der Männer übergab sich noch an Ort und Stelle in seine Kapuze.

Nachdem man den entkleideten und in die Plane gewickelten Körper für die anschließende Einäscherung fortgebracht hatte, mussten die drei Männer noch Helm und Tauchanzug säubern, bevor sie beides zur Analyse weitergaben.

Die Techniker hätten einen lauen Job, schimpften sie. Stets heimsten sie die Lorbeeren ein, während andere ihre ganze Sauerei beseitigen mussten.

2

New Hampshire/Maine15. April 2024

Mutter Natur war für das Wetter zuständig. Carol Morse für das Spektakel.

Als Einsatzleiterin der neu gegründeten Behörde für Internetsicherheit und Strafverfolgung – Net Force – war Morse fest entschlossen, ihr Revier zu markieren. Sie wusste, dass ihre Ermittlungen die CIA und deren alteingesessene Geheimdienstpartner verärgern würden. Da es bei dem Fall zudem um die Webseite des weltgrößten Onlinehändlers ging, würde es garantiert einen Mordsärger geben.

Erst recht wenn die Lage nur halb so schlimm war, wie sie befürchtete.

Sie hatte ihr Team zur CloudCable-Zentrale in Portsmouth, New Hampshire, geschickt, an Bord der Dragonfly, einem schnittigen Kipprotorflugzeug mit langen Tragflächen, das aussah wie ein Aufklärungsjäger, der nach intergalaktischen Invasoren suchte. Zusätzlich hatte sie von der Außenstelle in Bedford, die eine halbe Autostunde vom Hafen in Portsmouth entfernt lag, ein mobiles Cyberlabor entsandt.

Vielleicht war das des Guten zu viel, aber Morse wusste, wie man die öffentliche Wahrnehmung beeinflusste. Sie wollte einen aufsehenerregenden Start hinlegen und mit ihrer Behörde einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Allerdings lief die Sache nicht ganz wie geplant.

Das lag an Mutter Natur.

Normalerweise hätten sich beim Anflug der Dragonfly alle Augen gen Himmel gerichtet. Aber jetzt gerade waren an der Küste diese Augen in den Häusern bei ihren Besitzern. Schuld daran war der Jahrhundertsturm, der in der Nacht zuvor im Norden Neuenglands gewütet und von Massachusetts bis zur kanadischen Grenze Bäume und Strommasten umgeknickt hatte. Da größere Teile des Stromnetzes zusammengebrochen waren und im Staat eine Ausgangssperre galt, waren die einzigen Leute, die sich momentan draußen aufhielten, die Instandsetzungstechniker … und die waren viel zu beschäftigt, um in den Himmel zu schauen.

Ein ganz anderes Bild bot sich von der Passagierkabine der Dragonfly aus, wo Amenjot Musil vom Ermittlungsteam der Net Force an seinem Fenster saß und in die Tiefe blickte. Der Flug von Manhattans West Side dauerte ungefähr eine Stunde. Die ersten fünfunddreißig Minuten hatte er damit verbracht, auf sein Tablet zu starren und noch einmal die Informationen zum Verschwinden der CSStalwart durchzugehen.

So wenig, wie darüber bekannt war, hätte Musil in fünf Minuten fertig sein können. Aber er war ein gründlicher Mann. Außerdem war seine Begleiterin auf diesem Flug nicht in Plauderstimmung. Falls es sich nur um eine vorübergehende Laune handelte. Vielleicht entsprach das auch ihrer allgemeinen Gemütsverfassung. Musil wusste es nicht, er hatte sie erst kurz vor dem Besteigen der Maschine kennengelernt.

Was auch immer der Grund für ihr Verhalten war, Kali Alcazar hatte keine Lust, sich zu unterhalten. Nicht mit Musil. Jedenfalls nicht heute. Sie hatte sich sogar auf die andere Seite des Gangs gesetzt, obwohl sie beide die einzigen Personen in der Kabine waren. So blieb ihm nichts weiter zu tun, als sich wegen des verschwundenen Schiffes den Kopf zu zerbrechen.

Das hatte er bis vor wenigen Minuten getan, bevor er einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte.

Die Verwüstung am Boden hatte ihn mit Ehrfurcht und Trauer erfüllt. Die ganze Wasseroberfläche war mit Wracks übersät. Musil sah beschädigte und gekenterte Boote, ganze Stege, die sich aus ihren Verankerungen gerissen hatten, und herumtreibende Trümmerteile. Er vermutete, dass das frische Treibholz von Wohnhäusern und Geschäften stammte, und fand es unglaublich, dass diese Region von den schlimmsten Auswirkungen des Sturms verschont geblieben war. Wie musste es erst weiter im Norden aussehen, in den Gegenden, die er mit voller Wucht getroffen hatte?

»Schnallt euch da hinten an«, sagte Lucas, der Pilot, über die Sprechanlage. »Wir werden in fünf Minuten landen.«

Musil legte den Gurt an und blickte über den Gang hinweg zu Kali hinüber, die mit reservierter Miene auf ihrem Platz saß. Sie trug einen wallenden schwarzen Trenchcoat, dessen große, tiefe Kapuze sie über den Kopf gezogen hatte. Oder war es eine Kutte? Was auch immer, mit ihrem Aussehen und Verhalten erinnerte sie ihn an eine vagabundierende Hexenmeisterin – ein Vergleich, den viele Leute durchaus zutreffend gefunden hätten. Als Programmiererin besaß sie tatsächlich nahezu magische Fähigkeiten. Und dabei handelte es sich nicht unbedingt um Weiße Magie, wenn man ihrem Ruf Glauben schenken durfte. Interpol legte ihr eine Reihe spektakulärer Hackerangriffe auf mehreren Kontinenten zur Last. Ebenso Colonel John Howard vom Militärstützpunkt der Net Force in Rumänien. Allerdings hatte er nur Verdächtigungen ausgesprochen. Zumindest erzählte man sich das in der Behörde.

Musil jedoch hielt sich an das Wissen der Weisen. Ich bin nicht gut, niemand ist böse. Wenn man über andere Menschen richtete, verschwendete man nur seine Zeit auf Erden, und er beschloss, die Gerüchte zu ignorieren. Er würde Kali unvoreingenommen begegnen. Ob sie sich nun dazu entschied, mit ihm zu reden oder nicht. Oder überhaupt in seiner Gegenwart.

Er spürte, wie sein Magen einen Satz machte, als die Maschine in den Sinkflug ging. Sie hatte nach dem Flug über den Golf von Mexiko den Hafen hinter sich gelassen, war über einer alten Bogenbrücke eine Linkskurve geflogen und anschließend Richtung Binnenland abgedreht.

CloudCables Firmen- und Produktionszentrale sah wie jedes andere Gewerbegebiet aus – mit Sicherheitszäunen, flachen grauen Betongebäuden und einem asphaltierten, von schmalen Grünflächen unterteilten Mitarbeiterparkplatz. Nur der Hubschrauberlandeplatz am Ende des Parkplatzes fiel ein wenig aus dem Rahmen. Allerdings war das für eine Firma von dieser Größe, mit Regierungsaufträgen und internationalen Handelspartnern, keineswegs übertrieben.

Musil sah, wie auf einem Dock vor dem Gebäudekomplex eine Reihe Leute mit Schutzhelmen zugange waren. Einige saßen auf Gabelstaplern und fahrbaren gelben Kränen. Die meisten jedoch drängten sich um eine Art Tunnel – er erinnerte an eine Fluggastbrücke –, der sich von den Gebäuden zum Wasser erstreckte. Die Arbeiter hatten alle Hände voll zu tun. Mehrere große Metallplatten waren von den Seiten des Tunnels fortgerissen worden oder hatten sich teilweise gelöst. Wahrscheinlich handelte es sich um Sturmschäden. Ein geschwungenes Bahngleis, das aus der am Wasser gelegenen Tunnelöffnung herausführte, hatte den Sturm anscheinend unbeschadet überstanden. Oder man hatte es bereits wieder instand gesetzt. Der Sturm war rasch über die Region hinweggefegt, sodass sich die Teams zügig an die Arbeit hatten machen können.

Die Dragonfly drehte ab und überflog ein niedriges rechteckiges Gebäude im Westen der Anlage. Davor standen etwa ein Dutzend Fahrzeuge, darunter ein langer weißer Transporter mit dem Net-Force-Logo auf den Schiebetüren. Das mobile digitale Forensikerteam aus Bedford.

Über dem Hubschrauberlandeplatz richteten sich die Rotoren des Flugzeugs senkrecht auf, und mit einem leichten Ruckler klappten seine Räder aus. Einen Moment später landete es sanft auf dem Gummibelag.

Musil schnallte sich los und zwängte sich aus seinem Gurtzeug. Kali tat dasselbe. Dann trat Lucas aus dem Cockpit.

»Wir sind da«, sagte er.

»Wir kommen Ihrer Aufforderung gerne nach«, sagte Jack Olsen hinter seinem Schreibtisch. Er war der Geschäftsführer von CloudCable in New Hampshire. »Ich muss Sie nur bitten, mir die entsprechenden Gerichtsbeschlüsse vorzulegen.«

Musil saß auf der anderen Seite des Tisches und musterte ihn. Olsen war ein sportlicher Mann in den Fünfzigern mit Halbglatze; er war glatt rasiert und trug eine Drahtgestellbrille. Seine Haare waren an den Seiten kurz gestutzt, damit sein kahler Schädel weniger ins Auge fiel.

Musil bewunderte die kunstvolle Kaschierung dieses Makels. Glücklicherweise hatte er keine persönliche Erfahrung mit dieser speziellen Prüfung männlicher Eitelkeit, dank der dichten, ungeschnittenen schwarzen Mähne, die sich unter seinem Dastar türmte, dem traditionellen Turban der Sikhs. Was seine Gene ihm hinsichtlich der Körpergröße vorenthalten hatten – er war mit Schuhen 1,65 Meter groß –, hatten sie bei seinen Haaren wieder wettgemacht.

Aber Haare waren hier nicht das Thema. Weder seine noch Olsens. Es ging um Mr. Olsens erstaunlichen Mangel an Kooperationsbereitschaft, obwohl er eigentlich jede Hilfe brauchen konnte.

Musil wusste nicht, was er davon halten sollte.

Er saß mit nachdenklicher Miene in einem Stuhl neben Kali. Im Zimmer war es wärmer als in der Passagierkabine der Dragonfly, und Kali hatte die Kapuze ihres Trenchcoats – oder ihrer Kutte – abgenommen, sodass ihr kurzes kohlrabenschwarzes Haar zu sehen war, das von scharlachroten Strähnen durchzogen wurde. Hinter ihnen, neben der Tür, stand ein junger Kriminaltechniker namens Jase Hudson, die Hände vor dem Körper verschränkt.

»Mr. Olsen, Ihr Schiff wird vermisst«, sagte Musil nach einer Weile. »Wir versuchen herauszufinden, was damit passiert ist.«

Plötzlich wandte Olsen den Blick von ihm ab. Ausstattung und Design des Büros waren modern und minimalistisch gehalten: klare Linien, weiße Wände, weiches Licht, breite Fenster. Das einzige Möbelstück außer dem Schreibtisch und den Stühlen war eine geräumige weiße Aktenkommode. Darauf stand das große Schnittmodell eines Kabellegers. Außerdem die vergrößerte Nachbildung eines Glasfaserkabels im Querschnitt. Und daneben, in einem durchsichtigen würfelförmigen Schaukasten etwas, das aussah wie echte Kabel oder Stecker. Das waren die einzigen Dekorationsgegenstände im Zimmer.

Musil bemerkte, dass Olsen jetzt das Schiffsmodell anstarrte. Offensichtlich schaute er nicht bewusst dorthin. Sein Blick war einfach hinübergewandert. Nach einem Moment schien er sich selbst dabei zu ertappen.

»Ich kenne die meisten Leute an Bord persönlich«, sagte er und richtete den Blick wieder auf Musil. »Offiziere und Besatzung. Die Taucher. Es sind insgesamt siebenundsiebzig Frauen und Männer. Herauszufinden, was mit ihnen passiert ist, hat nicht nur für die Firma oberste Priorität. Es ist mir auch ein persönliches Anliegen.«

»Bei allem Respekt, wo liegt dann das Problem?«

»Ich verstehe nicht.«

»Sie wussten doch, dass mein Team heute vorbeikommt.«

»Ja.«

»Und Sie haben gesagt, dass Sie unsere Ermittlungen unterstützen würden.«

»Ja, natürlich.«

»Was hat sich also geändert?«

Olsen schüttelte den Kopf.

»Von unserer Seite nichts«, sagte er. »Vielleicht hatten wir unterschiedliche Vorstellungen, was Ihren Besuch betrifft. Ich war davon ausgegangen, dass Sie uns informieren wollten. CloudCable gewährt Außenstehenden ohne Gerichtsbeschluss keinen Zugang zu seinen Servern. Dasselbe gilt für Informationen zu einzelnen Personen. Das ist strikte Firmenpolitik.«

Musil dachte einen Moment darüber nach, dann deutete er auf das Schiffsmodell.

»Sir«, sagte er, »ist das die Stalwart?«

Olsen nickte. »Eine exakte Nachbildung. Die haben uns die Ingenieure überreicht, als sie vom Stapel gelaufen ist.«

»Das ist ein beeindruckendes Schiff.«

»Wir sind sehr stolz darauf«, sagte Olsen. »Die Stalwart wurde nach unseren Vorgaben angefertigt. Voll beladen fasst sie an die fünftausend Meilen Kabel. Mit einem Gewicht von knapp viertausend Tonnen. Um die Kabel zu verlegen, kann das Schiff eine Taucherglocke mit einer vierköpfigen Crew zum Einsatz bringen sowie ein unbemanntes Tauchboot und den sogenannten Meerestraktor. Sie sind auf dem Modell ebenfalls nachgebildet, Sie müssen nur genau hinsehen.« Er machte eine Pause. »Alles auf dem Schiff ist auf dem neuesten Stand der Technik.«

»Wie kann es dann einfach verschwinden?«, fragte Musil. »Wenn es einen Notfall gegeben hat, hätte man dann nicht Hilfe gerufen? Eine Nachricht gesendet? Ich hätte gedacht, dass ein automatisches Notsignal abgesetzt wird. Dass es ein GPS-Ortungssystem für das Schiff gibt.«

»Sie haben recht, Agent«, sagte Olsen. »Wir haben uns das auch gefragt.«

»Und Sie haben keine Antworten darauf?«

»Ich wünschte, es wäre so.«

»Warum lassen Sie uns dann nicht unsere Arbeit machen?«

Olsen holte Luft.

»Unsere Branche ist streng reguliert«, sagte er. »Sie verlangen Einblick in unsere Unterlagen, E-Mails, Verbindungsprotokolle und möglicherweise persönliche Mitarbeiterinformationen. Das alles unterliegt der Geheimhaltung und betrifft etwaige Verbindlichkeiten. Wir haben unseren Geschäftspartnern gegenüber finanzielle Verpflichtungen.«

Musil schwieg eine Weile. Er fand, dass Olsen ihm eher auswich, als zu lügen. Was jedoch manchmal Hand in Hand ging, wenn auch nicht immer.

Die CSStalwart verlegte Kabel für ein milliardenschweres Projekt der Regierung und der Privatwirtschaft. Für ein transpazifisches Netzwerk und Cloud-Computing-System, finanziert durch die CIA, die NSA und die Nationale Behörde für Geographische Aufklärung, kurz NGA, und nicht zuletzt durch Olympia.com, den weltgrößten Onlinehändler sowie Cloud-Service- und Streaming-Anbieter. Vor einigen Monaten hatten die Medien über das Abkommen berichtet und über den Widerstand, der sich, angeführt vom Direktor der Net Force Alex Michaels, aufgrund von Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit dagegen formiert hatte.

Musil versuchte, sich in Olsens Lage zu versetzen. Der Vertrag entschied wahrscheinlich über CloudCables Zukunft. Und jetzt hockten hier in seinem Büro Mitglieder eben jener Behörde, deren Direktor der schärfste Kritiker dieses Abkommens war. Als Führungskraft des Unternehmens war Olsen in einer wenig beneidenswerten Position.

Der Agent beschloss, seine Vorgehensweise zu ändern. »Sir, ich verstehe Ihren Standpunkt, aber können Sie uns etwas über den Aufenthaltsort der Stalwart sagen, als sie verschwunden ist?«

»Ganz allgemein, ja«, sagte Olsen. »Wir legen am Meeresgrund eine Fiberglasverbindung zwischen den Städten an der amerikanischen Westküste, den Philippinen, Taiwan und Japan. Allerdings kann ich nichts zur genauen Position der Kabel sagen. Auch das muss ohne richterlichen Beschluss vertraulich bleiben. Aber es ist kein Geheimnis, dass die Stalwart seit Monaten im Südchinesischen Meer unterwegs war.«

»Was laut Peking chinesische Hoheitsgewässer sind.«

»Seit Jahrzehnten erheben die Chinesen diesen Anspruch. Aber niemand nimmt das ernst.« Olsen zuckte mit den Achseln. »Ich bezweifle, dass sie das selbst glauben. Sie haben zwar immer wieder lautstark gedroht, aber nie entsprechend gehandelt.«

»Befürchten Sie, dass sie es diesmal getan haben?«

Olsen schwieg, und Musil wartete.

»Ich stecke den Kopf nicht in den Sand«, sagte Olsen nach einem Moment. »Ich habe es durchaus in Betracht gezogen. Aber auch die Möglichkeit eines Piratenüberfalls. Oder ein Schiffsunglück. Verschiedene Szenarien. Momentan gibt es nur Fragen. Aber CloudCable setzt alles daran, Antworten darauf zu finden.«

»Dann lassen Sie sich helfen.«

»Wir würden das durchaus begrüßen … aber, nochmals, erst müssen die Formalitäten geklärt werden«, sagte Olsen. »Hören Sie, Agent, es tut mir leid, dass ich Sie so auflaufen lasse. Aber letztlich ist sichere Kommunikation unser Firmenkapital. Wenn wir uns nicht an die strengen Abläufe halten, wird man uns mit Klagen überhäufen. Und uns schließlich aus dem Markt drängen.«

Musil strich seinen Bart glatt. Er hatte es versucht. Aber wie das Sprichwort besagte, es gab zahllose Welten hinter den Welten und hunderttausend Himmel über ihnen. Seine Vorgehensweise hatte zu nichts geführt, also musste er sie ändern. Aber dazu musste er fürs Erste einen taktischen Rückzug antreten.

Er zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche.

»Also schön, Mr. Olsen«, sagte er und reichte ihm die Karte. »Wir bleiben in Kontakt.«

Er stand auf, um zu gehen. Doch Kali blieb sitzen und schaute über den Schreibtisch hinweg zu Olsen.

»Haben Sie sonst mit jemandem über die Sache gesprochen?«, fragte sie.

Er zögerte. »Mit wem zum Beispiel?«

»Mit der CIA«, sagte sie. »Oder den anderen Geheimdiensten. Haben Sie mit einem von ihnen gesprochen, bevor wir heute Morgen hier eingetroffen sind?«

Olsen zögerte erneut und sagte dann: »Sie sind unsere Partner. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Schließlich erhob sich Kali von ihrem Stuhl, den Blick immer noch auf sein Gesicht gerichtet. »Danke.«

Olsen stand ebenfalls auf, ging zur Tür und öffnete sie. Kali verließ als Erste den Raum, gefolgt von Musil und Hudson. Olsen nickte lächelnd, sagte aber nichts weiter. Während die Bürotür mit einem leisen Klicken hinter ihnen ins Schloss fiel, liefen die drei den Flur zum Ausgang hinunter.

Die Kriminaltechniker fuhren in ihrem Transporter zum FBI-Büro in Portsmouth zurück, das zehn, zwölf Autominuten Richtung Süden lag. Die Dragonfly hingegen würde nach New York sehr viel länger unterwegs sein. Musil hatte sich von ihrem Besuch mehr erwartet als CloudCables Blockadehaltung und war enttäuscht.

Er lief neben Kali über die Asphaltfläche. Sie hatte den ganzen Morgen vielleicht ein Dutzend Worte gesprochen, allerdings nicht mit ihm. Aber es war ihm nicht entgangen, dass es die wichtigsten Sätze bei ihrem Treffen mit Olsen gewesen waren. Abgesehen von Olsens Antwort.

Die Schiebetüren des Kipprotorflugzeugs standen weit offen, und seine Propeller waren senkrecht gestellt, drehten sich aber noch nicht. Musil sah, dass Lucas davor auf dem Gummibelag wartete.

»Ich habe Neuigkeiten, Jot«, sagte er, als der Agent näher kam. »Die Flugroute hat sich kurzfristig geändert.«

»Was soll das heißen?«

»Wir müssen nach Maine«, erklärte der Pilot. »Ziemlich weit in den Norden. Nach Chacagua Island. Zwei Computerfreaks sind dort letzte Nacht in den Sturm geraten.«

»Weißt du, um wen es sich handelt?«

»Um Natasha Mori. Und die andere Person heißt Bryan … Ich bin mir nicht sicher, ob ich seinen Nachnamen richtig verstanden habe …«

»Ferago?«

»Genau.«

Musil schien verwirrt. »Was haben sie dort gemacht?«

»Keine Ahnung.« Lucas breitete die Hände aus. »Es hieß, Mori sei okay, aber Ferago braucht ärztliche Hilfe.«

Musil kannte die beiden ein wenig. Vor allem Bryan, der früher einmal in der FBI-Abteilung für Cyberermittlungen ein Praktikum absolviert hatte. Ein netter junger Mann, sehr intelligent. Musil hatte ihn zunächst für introvertiert gehalten, bis er erfuhr, dass er Autist war. Bryan und Natasha hatten beide ihren Abschluss in Director Michaels Cyberlabor an der Columbia University gemacht und arbeiteten momentan als Lehrer im Ausbildungszentrum der Net Force.

»Wie lange dauert der Flug zur Insel?«, fragte er.

»Eine halbe Stunde«, sagte Lucas. »Aber wir werden etwas länger brauchen, weil wir bei der Küstenwache in Boothbay Harbor noch einen Zwischenstopp einlegen. Dort gibt es ein neues Krankenhaus mit Vertiport, und ich muss einen Sanitäter abholen. Außerdem können wir dort die Dragonfly aufladen und betanken. Das kann ich allerdings auch auf dem Rückflug machen, falls wir Ferago im Krankenhaus vorbeibringen.«

Musil nickte. »Wir sollten uns auf den Weg machen.«

Kali kletterte bereits in die Kabine, und Musil stieg rasch hinter ihr ein und schnallte sich an. Lucas startete den Motor, und schon waren sie wieder in der Luft.

Olsen wartete zwei oder drei Minuten, bevor er der kleinen Gruppe aus dem Büro folgte, und blieb in der gläsernen Eingangshalle stehen, während sie über den Parkplatz zum Vertiport liefen. Er beobachtete sie, bis ihre Maschine abhob und schnurgerade in den Himmel schoss.

Als sie Richtung Norden sauste, ging er zum Eingang hinüber und trat ins Sonnenlicht hinaus.

Es war ein wunderschöner Frühlingstag, das Wetter in Neuengland zeigte sich von seiner besten Seite. Der Sturm hatte die ganze Feuchtigkeit aus der Luft gesaugt, draußen war es mild und trocken, und es wehte eine leichte Brise. Er lief vom Gebäude fort, und unter seinen Schuhsohlen knackten die herumliegenden Zweige und Äste, die der Sturm gestern Nacht über den Betonweg gefegt hatte.

Olsen stand in der sanften Brise und konnte das Wasser in der Nähe riechen. Mehrere Möwen segelten über den Hafen nördlich des Bürokomplexes hinweg. Das Flugzeug war inzwischen verschwunden.

Schweigend hing er eine Weile seinen Gedanken nach. Er dachte an die Leute auf der Stalwart und fragte sich, wie ihre Angehörigen reagieren würden, falls sie die Wahrheit erfuhren. Welche Konsequenzen das für ihn hätte.

Manchmal, dachte er, war es zu spät für die Wahrheit. Manchmal musste ein Geheimnis gewahrt bleiben. Um jeden Preis.

Plötzlich spürte Olsen, dass sein Herz heftiger und schneller zu schlagen begann. Während ihm die Sonne ins Gesicht schien, schloss er die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Doch ohne Erfolg. Sein Herz hörte nicht auf zu rasen.

Schließlich gab er es auf und griff nach dem Smartphone in seiner Tasche, um eine Nummer im Ausland zu wählen.

3

Washington, D.C.15. April 2024

In Peking war es jetzt zehn Uhr abends und in Washington zehn Uhr morgens. Präsidentin Annemarie Fucillo hätte für ihre anstehende Telefonkonferenz mit dem chinesischen Regierungschef gerne die Zeitzonen getauscht. Die für ihre Schlaflosigkeit berüchtigte Präsidentin lief erst nach Einbruch der Dunkelheit zu geistiger Höchstform auf, und sie musste bei dem Gespräch mit dem Regierungschef hellwach sein. Darum hätte sie es, neben anderen Gründen, bevorzugt, wenn jetzt bei ihm Morgen gewesen wäre.

Aber sie hatte dem strategischen Vorteil, den politischen Winkelzügen, wie auch immer man es nannte, den Vorrang gegeben. Bei den langwierigen Verhandlungen, die der Vereinbarung eines Gesprächstermins vorausgegangen waren, hatte der Präsident auf Lebenszeit Tsao He Feng ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er einen Termin am Morgen bevorzugte. Aber Fucillo hatte auf dem Gegenteil bestanden. Sie kannte ihren ehemaligen Kommilitonen aus Harvard seit Jahren, und der chinesische Führer war in höchstem Maße egoistisch, verkommen und chauvinistisch. Hätte sie es zugelassen, dass er ihr zeitlich voraus war – wenn der Zhongnanhai-Regierungskomplex mit Hochdruck seine Tagesgeschäfte aufnahm und es im West Wing ruhig und still war –, hätte sie ihm ein Gefühl der Überlegenheit vermittelt.

Das kam nicht infrage. Fucillo wollte ihm gegenüber im Vorteil sein. Zum Teufel mit ihrer Präferenz.

Sie saß jetzt im Oval Office, vor sich auf dem Resolute Desk ihren Laptop, während Celia, die First Cat, sich auf dem Teppich im Sonnenlicht wärmte. Fucillos drei wichtigste Experten für Außenpolitik hatten auf den üblichen Sitzgelegenheiten im Raum Platz genommen. Außenminister Tanner Woodbridge saß auf dem Sofa, der nationale Sicherheitsberater Josh Urias im Ledersessel zu ihrer Rechten und die Koordinatorin für indopazifische Angelegenheiten des Nationalen Sicherheitsrats Yen Lee Greenberg an einem Tisch links vom Kamin. Alle drei waren mit Telefonen und Headsets ausgestattet. Greenbergs Laptop stand für persönliche Notizen wie üblich auf ihrem Tisch. Unten im Lageraum erstellten professionelle Protokollanten eine grobe Gesprächsnotiz, die anschließend mit einer vom Server des Weißen Hauses generierten Mitschrift zu einem einzigen Dokument kombiniert wurde, auf das nur die CIA und der Direktor der nationalen Nachrichtendienste Zugriff hatten. Ebenfalls im Lageraum war ein Mitarbeiter der Kommunikationsabteilung, der die Telefonverbindung hergestellt hatte, für insgesamt dreizehn Beamte und Berater des Weißen Hauses, die an dem Gespräch teilnahmen oder dabei zuhörten.

»Mrs. President«, sagte Urias, »wir erwarten Präsident Tsao in drei Minuten am Telefon.«

Fucillo nickte ihm, den Blick auf ihr Tablet gerichtet, kurz zu. Sie las sich die von Greenberg notierten Gesprächspunkte durch, die sie mit den Anwesenden um sechs Uhr morgens bei reichlich Kaffee bereits erörtert hatte. Fucillo war nicht nur für ihre nächtlichen Arbeitsmarathons bekannt, sondern auch dafür, dass sie großen Wert auf gründliche Vorbereitungen legte.

Der Zweck des Anrufs war klar umrissen und von fundamentaler Bedeutung. Die von den USA gecharterte CSStalwart war mitsamt ihrer siebenundsiebzigköpfigen Crew im Südchinesischen Meer verschwunden. Bei ruhiger See. In der Nähe von Riffen und Inseln, auf die die Chinesen ohne jede Grundlage Gebietsansprüche anmeldeten. Dort wimmelte es laut Satellitendaten nur so von den Kleinen Blauen Männern, eine Seemiliz, von der Tsao behauptete, dass es sich lediglich um eine Fischereiflotte handelte.

Der Vorfall war nicht nur rätselhaft, sondern äußerst verdächtig. Tsao hatte über diplomatische Kanäle zu verstehen gegeben, dass er nichts über das Schicksal der Stalwart wisse, und vielleicht stimmte das sogar. Fucillo neigte nicht zu voreiligen Schlüssen. Aber sie wollte ihn davon in Kenntnis setzen, dass sie von seiner Regierung volle Kooperation erwartete und, wenn es um das Leben von Amerikanern ging, seine übliche Geheimniskrämerei nicht hinnehmen würde.

»Noch dreißig Sekunden«, sagte Urias.

Fucillo nickte erneut. Sie hob ihre Kaffeetasse an den Mund, nippte daran, stellte sie zurück auf die Untertasse und griff nach dem Telefon.

GEHEIM/ORCON/NOFORN

STRENGVERTRAULICH

NICHTKOPIEREN

OFFIZIELLESTELEFONPROTOKOLL

BETRIFFT: Telefonat mit Präsident Tsao He Feng, Volksrepublik China

TEILNEHMER: Präsidentin Annemarie Fucillo, USA; Präsident Tsao, VR China

Protokollanten (Lageraum): Shawn Heyward, Carmen Seager, Andrew DeVito

DATUM, UHRZEIT: 15. April 2024, 10:07 – 10:27 Ostküsten-Sommerzeit

ORT: Oval Office, Weißes Haus

»Hallo, Präsident Tsao. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Vielen Dank, dass Sie diesem Gespräch so kurzfristig zugestimmt haben. Wie Sie sich vorstellen können, bin ich äußerst besorgt über das Verschwinden des Kabellegers in der Nähe der Spratly-Inseln.«

»Das kann ich gut verstehen, Mrs. President. Im Namen des chinesischen Volkes möchte ich Ihnen aufrichtig unsere besten Wünsche für die Menschen an Bord des Schiffes übermitteln.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich möchte herausfinden, was passiert ist.«

»Natürlich. Und ich bin überzeugt, dass Ihr Land Antworten auf seine Fragen bekommen wird.«

»Hoffentlich. Allerdings muss ich sagen, dass mir einige beunruhigende Berichte vorliegen.«

»Ach ja? Inwiefern?«

»Wenn ich ganz offen sein darf, die Berichte beziehen sich auf die Anwesenheit und Aktivitäten Ihrer Seemiliz in der Nähe der letzten bekannten Position der Stalwart.«

»Madam, meine Regierung hat ausdrücklich erklärt, dass eine derartige Organisation nicht existiert.«

»Das ist mir durchaus bewusst. Aber wir haben Informationen, dass sich über zweihundert Ihrer Hochseefischerboote um das Yongshu Jiao – wir nennen es das Fiery-Cross-Atoll – zusammengezogen haben, bevor die Verbindung zur Stalwart abbrach. Das sind eine Menge Boote, würden Sie nicht auch sagen?«

»Nur wenn man die Hintergründe außer Acht lässt. Einige der Fischerboote haben aufgrund der Windverhältnisse auf See in der Nähe des Atolls Schutz gesucht. Das ist völlig normal. Es ist wichtig, die Fakten einer sorgfältigen und sachlichen Prüfung zu unterziehen.«

»Sie haben recht. Aber ich werde kein Blatt vor den Mund nehmen. Diese Boote waren in der Region drei Wochen vor Anker. Sehr viel länger, als normale Fischerboote üblicherweise an einer Stelle bleiben. Erst recht, wenn man woanders sehr gut fischen kann.«

»Davon weiß ich nichts. Aber ich kann das überprüfen lassen.«

»Danke, Herr Präsident. Außerdem wissen wir aus zuverlässiger Quelle, dass diese Boote über verstärkte Wände verfügen und mit einer Spitzengeschwindigkeit von achtzehn bis zweiundzwanzig Knoten fahren können. Was die Geschwindigkeit eines normalen Trawlers weit übersteigt. Und mir sind Berichte zu Ohren gekommen, dass sich an Bord Männer mit automatischen Waffen befinden.«

»In piratenverseuchten Gewässern ist es für unsere zivilen Fischer durchaus ratsam, sich zu bewaffnen. Zudem sollte ich Sie daran erinnern, dass dies chinesische Hoheitsgewässer sind. Wir haben also das Recht, die Regeln für eine sichere Überfahrt festzulegen.«

»Dieser Anspruch wird von den meisten Ihrer internationalen Nachbarn bestritten. Aber ich möchte noch einmal bekräftigen, dass meine dringende Sorge der Stalwart gilt.«

»Madam, ich bin mir sicher, Sie wollen damit keineswegs andeuten, dass mein Land etwas mit dem Verlust Ihres Schiffes zu tun hat.«

»Dem möglichen Verlust. Wir sind zuversichtlich, dass die Angelegenheit einen positiven Ausgang nimmt.«

»Wir auch. Selbstverständlich.«

»Wir wollen lediglich herausfinden, was passiert ist. Daher bitte ich Sie, sämtliche Informationen, die Sie bezüglich der Stalwart erhalten, mit uns zu teilen. Das wäre ein Schritt, die Transparenz zwischen unseren Ländern zu verbessern.«

»Natürlich.«

»Sie halten uns also auf dem Laufenden?«

»Wir tun unser Bestes.«

»Danke.«

»Und, Madam?«

»Ja.«

»Noch eine letzte Bemerkung, wenn ich darf. Zum Thema Transparenz.«

»Aber sicher.«

»Ich würde Ihrem Land abraten, die Seekabel auf Breitengrad fünfzehn-fünf und Längengrad einhundertvierzehn-fünf für zukünftige Geheimdienstoperationen anzuzapfen.«

»Wie bitte?«

»Ich denke, Sie haben mich schon verstanden. Aber lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen. Mein Land besitzt keinerlei Kenntnisse von einem Einsatz gegen Ihren Kabelleger. Und es gibt auch keine chinesische Seemiliz. Unsere Seestreitkräfte sind in Belangen der nationalen Sicherheit nicht auf Fischerboote angewiesen. Wie dem auch sei, uns ist klar, dass es sich um eine humanitäre Notlage handelt, und wir werden versuchen, Sie zu unterstützen.«

»Was auch immer Sie tun können, Herr Präsident. Ich danke Ihnen. Ich weiß, dass es in Peking schon spät ist, und nehme an, dass Sie ins Bett wollen.«

»Eigentlich schlafe ich kaum. Die Staatsgeschäfte nehmen mich rund um die Uhr in Anspruch.«

»Also gut, ich will Sie nicht länger aufhalten. Wir bleiben in Kontakt.«

»Auf Wiederhören.«

Präsidentin Fucillo blickte durch ihre neue Gleitsichtbrille zum Außenminister hinüber. Damit konnte sie ihn in der anderen Ecke des Raums erkennen, ohne dass sie dazu wie bisher ihre Lesebrille abnehmen musste. Toll. Die neue Brille hatte einen beliebten, vorlauten Fernsehkommentator zu einigen naheliegenden und vorhersehbaren Sticheleien veranlasst. Die Präsidentin hat oft den Eindruck gemacht, als wüsste sie selbst nicht, wo sie politisch steht. Aber offensichtlich hat sie jetzt endlich den Durchblick.

Nicht so toll. Aber Präsidentin Fucillo scherte sich einen Dreck um seine albernen Belehrungen. Egal als was man sie bezeichnete, sie betrachtete sich nicht als politische Ideologin, sondern als knallharte Pragmatikerin der politischen Mitte. Sie hielt nichts von Schubladendenken, denn das hinderte sie daran, dem amerikanischen Volk ihre Ideen zu vermitteln.

Aber sie konnte damit leben. Solange es sie nicht von der Arbeit abhielt.

»Wovon hat Tsao da geredet?«, fragte sie Woodbridge.

Er beugte sich vor und kraulte Celia hinterm Ohr. »Da bin ich absolut überfragt«, sagte er. »Offenbar hat dem Mistkerl niemand gesagt, dass man an einem heißen Tag nicht in Kuhscheiße treten soll. Sie haben ihm dreimal die Chance gegeben – oder war es viermal? –, die Möglichkeit auszuschließen, dass seine Boote etwas mit dem Verschwinden der Stalwart zu tun haben. Aber er hat nicht eine davon genutzt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das meinte ich nicht. Sie haben gehört, was er zu den Seekabeln gesagt hat.«

»Das ist der übliche Schwachsinn. Seine Leute stimmen immer wieder dieselbe Leier an, ich kann es inzwischen im Schlaf runterbeten. Von ihren historischen Ansprüchen auf mehrere Millionen Quadratmeilen Seegebiet und jeden Fels, der daraus hervorragt. Ansprüche, die Tausende von Jahren bis zur Westlichen Han-Dynastie zurückreichen. Und dann ist da noch das altbekannte Lied, dass wir sie ausspionieren würden. Man sollte das nicht ernst nehmen.«

»Nein. Ich kenne Tsao schon seit meiner Zeit im Außenministerium und seit er Außenminister war. Er handelt wohlüberlegt und gewissenhaft. Er ist niemand, der spontan einen Streit vom Zaun bricht.«

Woodbridge schüttelte den Kopf. »So habe ich seine Bemerkung auch nicht verstanden. Was nicht bedeuten soll, dass er etwas weiß. Allerdings auch nicht, dass er nichts weiß. Aber für mich klang es, als würde er sich verteidigen. Nur für alle Fälle.«

»Inwiefern?«

»Falls er in seinem Umfeld etwas herausfindet, das zum Problem für ihn werden könnte. Wenn man diese verrückten Fischer mit Waffen ausrüstet und sie losschickt, um auf einer Fläche von mehreren Millionen Quadratmeilen zu patrouillieren, können die Dinge ziemlich schnell außer Kontrolle geraten.«

»Ich sehe das wie Tan«, sagte Greenberg. »Der Deal zwischen Olympia und der CIA wurde öffentlich diskutiert und hinterfragt. Eines unserer Kabinettsmitglieder hat das Abkommen in seinem Podcast seit letztem Jahr immer wieder heftig kritisiert. Die Stalwart hat dort draußen Kabel verlegt und keine Spionageoperation durchgeführt. Und Tsao weiß das. Herrgott nochmal, diese Informationen sind frei zugänglich.«

Fucillo schwieg einen Moment. Das Kabinettsmitglied, das Yen erwähnt hatte, war Alex Michaels, der Direktor der Net Force. Sie musste sich mit ihm treffen. Und wahrscheinlich auch mit ihrem CIA-Chef … aber erst mit Alex.

»Okay, Leute. Da kommt noch einiges auf uns zu«, sagte sie. »Es hat mich gefreut, eure gut gelaunten Gesichter zu sehen. Machen wir uns an die Arbeit, auf uns wartet ein langer Tag.«

Woodbridge lächelte zufrieden. Fucillo bemerkte, dass Celia von ihm bekommen hatte, was sie wollte. Sie hatte den Dreh einfach raus.

»Alle aufgestanden!«, sagte er und hob Celia sanft von seinem Schoß.

Tsao He Fengs Dienstwohnung in der Zhongnanhai-Enklave befand sich in einem restaurierten Palast der Qing-Dynastie westlich der Verbotenen Stadt. Durch das offene Wohnzimmerfenster konnte er sehen, wie die Lichter vom Tor des neuen China im Süden den Bach beleuchteten, der sich in neun sanften Windungen durch die Parkanlage schlängelte und in den künstlichen See im Zentrum mündete.

Tsao hatte Präsidentin Fucillos Anruf allein entgegengenommen. Der einzige Protokollant war sein treu ergebener Neffe Kim, der älteste Sohn seiner Schwester, der in einem abhörsicheren Raum zwei Stockwerke tiefer zugehört und sich handschriftliche Notizen gemacht hatte. Kim hatte auch die Telefonverbindung hergestellt. Es gab sonst keine anderen Aufzeichnungen des Gesprächs zwischen den beiden Regierungschefs. In einer Zeit, in der Indiskretionen und Hackerangriffe sämtliche Staatsgeheimnisse und Regierungsziele – sogar die Präsidentschaft selbst – gefährden konnten, war Tsao darauf bedacht, über sämtliche Aktivitäten in seinem Umfeld die Kontrolle zu behalten.

Nachdem er aufgelegt hatte, saß er einige Minuten in Gedanken versunken da und massierte mit der Hand seine weichen, kräftigen Wangen. Es war ein angenehmer Frühlingsabend, und eine Brise wehte den Duft von Blumen und Erde durchs Fenster.

Schließlich hob er den Hörer ab und wählte. Der Minister ging sofort dran.

»Gibt es Neuigkeiten vom Fiery-Cross-Atoll?«, fragte Tsao.

»Noch nicht. General Weis Flug hat ein wenig Verspätung.«

»Ich hätte diesen Verbrecher auf der Insel exekutieren lassen sollen«, sagte er. »Keine Ahnung, warum ich damit gewartet habe.«

»Er sagt, dass er ein kleines Geschenk für uns hat.«

»Wir werden sehen. Und selbst wenn, wahrscheinlich wird uns dieses Geschenk noch auf die Füße fallen.«

»Oder den Amerikanern wegen ihres Spionageversuchs um die Ohren fliegen.«

Für eine Weile schwieg Tsao. Dann knurrte er in den Hörer: »Benachrichtigen Sie mich, sobald die Maschine gelandet ist. Egal, wie spät es ist.«

»Ja. Ich werde Bescheid sagen.«

Tsao knetete erneut seine Wangen. Er konnte den Bach mit den neun Windungen hören, der lieblich wie ein Windspiel in seinem steinigen Bett plätscherte. An diesem Abend jedoch konnte ihn dieses Geräusch nicht besänftigen.

»Ich erwarte Ihren Rückruf«, sagte er und legte auf.

4

Verschiedene Schauplätze15. April 2024

Der Terminal, New York

Carmody stürzte sich wie ein Falke von einem Vorsprung kopfüber hundert Meter in die Tiefe. Die Felswände der Schlucht fielen zu beiden Seiten steil ab, und weiter unten schlängelte sich ein schmaler Ausläufer des Schwarzen Meers sanft zwischen ihnen hindurch, bevor er in einem Stollen verschwand, der tief in den Berghang hineinreichte.

Carmody schwebte jetzt direkt über dem Meeresarm. Er konnte weder sein westliches Ufer noch den Stolleneingang erkennen. Diese Seite des Ausläufers wirkte verwaschen und unscharf wie verschmierte Wasserfarbe. Das verwirrte ihn.

Einen Moment später schoss Carmody wieder nach oben, zur Klippe empor, immer höher, bis er oberhalb des unscharfen Bereichs über den Steilhang glitt. Es wehte ein heißer, staubiger, nicht besonders starker Wüstenwind, und Carmody konnte die zerklüftete Landschaft meilenweit überblicken. Er sah die beiden alten Türme, die den Zufluss des Meeresarms säumten. Sah die Bahngleise, die sich von der anderen Bergseite herüberschlängelten. Aber das Westufer des Meeresarms erstreckte sich immer noch als unnatürlich verschwommene Fläche von links nach rechts über sein gesamtes Gesichtsfeld und vom Fuß des Berges dreißig Meter in die Höhe.

Er hatte genug. Jedenfalls fürs Erste.

Carmody riss sich das VR-Headset herunter und saß jetzt an einem Schreibtisch in einem klimatisierten Büro. Er war schweißgebadet und ein wenig neben der Spur, außerdem war ihm leicht übel. Allmählich gewöhnten sich sein Gehirn und sein Körper wieder an die physische Realität.

Er griff nach einer Wasserflasche auf dem Schreibtisch und trank davon, drückte sie mit seiner kräftigen Hand zusammen und warf sie in den Mülleimer unter dem Schreibtisch.

In zehn Minuten hatte er ein Treffen mit Carol Morse.

Morses Büro befand sich im siebten und obersten Stockwerk des Terminals, einem umgebauten Lagerhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das wie eine Festung aus Backstein und Mörtel in New Yorks Hell’s Kitchen emporragte.

Morse saß an ihrem Schreibtisch, das Gesicht der Tür zugewandt, als Carmody eintrat. Sie war eine schlanke, blonde Frau von Mitte vierzig und trug einen dunkelgrauen Blazer, eine weiße Bluse und eine Platinkette mit einem kleinen blauen Saphiranhänger. Von seiner Seite des Schreibtisches aus konnte Carmody nicht erkennen, ob sie passend zu ihrem Blazer einen Rock oder eine Hose trug. Wie auch immer, er wusste, dass sie todschick, adrett und stets angemessen gekleidet war. Carol Morse war allzeit bereit.

»Mike«, sagte sie. »Kommen Sie doch bitte rein.«

Carmody zog einen Stuhl heran, nahm ihr gegenüber Platz und wartete. Fast zeitgleich registrierte er durch das hohe Flügelfenster hinter ihr den Hudson River und den digitalen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch, der in zufälliger Reihenfolge Fotos ihrer Kinder und Hunde zeigte. Allerdings konnte er keine Bilder ihres Ehemanns sehen, aber vielleicht kamen die noch. Oder auch nicht. Carmody gab nichts auf Klatschgeschichten. Schenkte Gerüchten kein Gehör. Ihre Privatangelegenheiten gingen ihn nichts an. Aber er besaß Augen und Ohren und hatte den Eindruck, dass es wegen ihres Umzugs von Virginia nach New York Probleme gab.

»Kaffee?«

Morse deutete mit dem Becher in ihrer Hand auf die Kaffeemaschine. Sie trank ihren schwarz und ohne Zucker.

»Nein danke«, sagte er. »Ich habe meine morgendliche Höchstdosis schon intus.«

»Wie viele Becher?«

»Drei.«

»Das ist eine ganze Menge.«

»Ich bin runter von fünf. Dafür rauche ich etwas mehr.«

»Es geht doch nichts über eine ausgewogene Lebensweise.«

»Das hält Körper und Geist zusammen.«

Sie hob ihren Kaffeebecher an die Lippen. Der Saphiranhänger an ihrem Hals war eine Nuance dunkler als ihre Augen.

»Ignorier mich einfach«, sagte sie und nippte an ihrem Kaffee. »Ich gönne mir einen, wann immer mir danach ist.«

»Als du mich hast rufen lassen, habe ich gerade ein HIVE-Szenario durchgespielt.«

Morse nickte. HIVE war die Abkürzung für Highly Integrated Virtual Environment, einer Art Online-Trainingsgelände mit einer unbegrenzten Anzahl an Situationen, auf die autorisierte Nutzer rund um die Welt Zugriff hatten.

»Die Krim.«

»Wie hast du das erraten?«

»Für dieses Szenario hast du keine morgendliche Höchstdosis«, sagte sie. »Deshalb.«

Carmody nickte. »Unser Mann hält sich dort seit fünf Monaten versteckt.«

»Ich weiß.«

»Er könnte wer weiß was aushecken.«

»Ich weiß.«

»Wir können nicht ewig warten, bis wir was unternehmen.«

»Du hast recht.«

»Und?«

»Wir brauchen mehr Informationen.«

»Ich habe jede Menge Informationen von seinem Schoßhündchen, Gustav Zolcu.«

»Sicher«, sagte sie. »Aber das reicht nicht.«

Carmody sah sie an. Der Wolf war der gefährlichste Hacker der Welt. Er hatte das Stromnetz in Manhattan lahmgelegt, Hunderte Menschen getötet und beinahe die Präsidentin umgebracht. Alles auf eigene Faust, soweit sie wussten. Und laut Zolcu war er seitdem noch gefährlicher geworden.

»Drajan Petrovik hat inzwischen russische Geldgeber. Er handelt jetzt in staatlichem Auftrag. Schlechte Neuigkeiten für die Menschheit.«

»Bist du sicher, dass wir Zolcu Glauben schenken können?«

Carmody nickte langsam. »Er hat zu viel Angst vor mir, um überhaupt daran zu denken, uns irgendwelche Lügen aufzutischen. Außerdem wäre sein Chef nicht ohne offizielle Genehmigung aus seiner Heimat zu einem Geheimstützpunkt auf der Krim gereist. Und die Krim wird von den Russen kontrolliert.«

Morse saß eine Minute lang schweigend da.