Neue Wirklichkeit - Nadine Erdmann - E-Book
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Nadine Erdmann

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Beschreibung

Als eingeschworenes Team arbeiten Riley, Ayden, Jo und Parker unter dem Namen Hunters in Edinburgh als paranormal begabte Geisterjäger. Privat stemmen sie gemeinsam den nicht immer leichten Alltag, stets darauf bedacht, unter dem Radar des Institute for Paranormal Science zu bleiben. Doch dann geschieht eine Katastrophe, die nicht nur das Leben der Hunters völlig aus der Bahn wirft. Während die vier noch versuchen, sich in der neuen Wirklichkeit zurechtzufinden, bahnt sich geheim gehalten vor der Bevölkerung bereits das nächste Grauen an. Ein Grauen, bei dessen Bekämpfung die Fähigkeiten der Hunters sehr hilfreich sind. Ihre Hilfe könnte allerdings äußerst tödlich für sie enden … Dich erwarten: Geisterjagd im dystopischen Schottland Charaktere mit paranormalen Fähigkeiten Eine starke, liebenswerte Gemeinschaft Found Familiy, Heartwarming Queere Figuren

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Nadine Erdmann

Neue Wirklichkeit

Die Autorin

 

Nadine Erdmann liebt Bücher und Geschichten, seit sie denken kann. Selbst welche zu schreiben, war aber lange Zeit nur eine fixe Idee und so sollte zunächst ein »anständiger« Beruf her. Sie studierte Lehramt, verbrachte einen Teil ihres Studiums in London und unterrichtete als German Language Teacher in Dublin. Zurück in Deutschland wurde sie Studienrätin für Deutsch und Englisch und arbeitete an einem Gymnasium und einer Gesamtschule in NRW.

Der »anständige« Beruf war ihr damit sicher, ihr Herz hing aber mehr und mehr daran, Geschichten zu schreiben. Nach der Krebserkrankung ihrer Schwester entschied sie sich, den Schritt in die Schriftstellerei zu wagen, weil man nicht immer alles auf später verschieben kann. Seitdem veröffentlichte sie drei Reihen (die »CyberWorld«, die »Lichtstein-Saga« und die »Totenbändiger«) in ganz unterschiedlichen Genres.

Da sie düstere Geschichten mit Monstern und Geistern mag, unternimmt sie nach den »Totenbändiger« mit den »Haunted Hunters« jetzt noch einen weiteren Ausflug in die Welt der paranormal Urban Fantasy, diesmal mit einem Touch Dystopie. Wie in all ihren Werken treten auch bei den Hunters wieder queere Figuren auf, da es ihr am Herzen liegt, diese Figuren sichtbar und selbstverständlich zu machen.

 

Mehr über die Autorin:

www.nadineerdmann.de

www.facebook.com/Nadine.Erdmann.Autorin

www.instagram.com/nadineerdmann

Nadine Erdmann

Neue Wirklichkeit

Haunted Hunters

Band 1

Urban Paranormal Fantasy

Kuneli Verlag

Originalausgabe März 2024

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2024 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage (März 2024)

Redaktion: Sonja Becker

Satz: Kuneli Verlag, 63165 Mühlheim am Main

Coverdesign: Pietro D'Angelo

Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com

ISBN 978-3-948194-33-8

www.kuneli-verlag.de

Wir können die Dunkelheit verfluchen –

oder wir zünden eine Kerze an.

(Frei nach Konfuzius)

Kapitel 1

Freitag, 22. März, 18:27 Uhr

Edinburgh

 

Nasskalter Wind strich durch den Garten und raschelte im Stechpalmenstrauch, der im Blumenbeet an der gut zwei Meter hohen Begrenzungsmauer wuchs. Regenwolken hingen schwer am Himmel und es dämmerte bereits. Fröstelnd zog Riley die Schultern hoch und hoffte, dass sie ihren Job rasch erledigen und noch vor dem nächsten Wolkenbruch nach Hause fahren konnten. Bisher tat sich hier im Garten allerdings nichts und ihr Blick glitt immer häufiger sehnsüchtig zu den beleuchteten Fenstern der Nachbarhäuser, hinter denen Wärme und Gemütlichkeit lagen, während sie sich hier draußen den Hintern abfror.

Riley kannte sich mit historischen Baustilen nicht aus, doch selbst ihr war klar, dass die cottage-ähnlichen Häuser dieser Wohngegend schon etliche Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte, hier standen. Alle waren hübsch saniert und modernisiert worden, sodass sie zwar die Nostalgie vergangener Zeiten ausstrahlten, aber trotzdem den Komfort des einundzwanzigsten Jahrhunderts boten. Passend zum idyllischen Ambiente wurden die Gassen mit Straßenlampen beleuchtet, die Gaslaternen nachempfunden waren, und auf dem Weg hierher waren sie an einer Bäckerei und einem Corner-Shop vorbeigekommen, die ohne großen Aufwand als Kulissen für einen Historienfilm hätten dienen können. Dieses Viertel liebte offensichtlich die gute alte Zeit – wann auch immer die gewesen war.

Spießig? Yep. Zu kitschig? Definitiv.

Auf eine schräge Art hatte das zwar einen gewissen Charme, Riley war sich aber trotzdem sicher, dass sie hier nicht wohnen wollen würde. Zu viel Heile-Welt-Fake. Sie wäre sich ständig so vorgekommen, als würde sie in einer Filmkulisse wohnen, die mit dem wahren Leben nichts zu tun hatte. Es bestand allerdings kaum die Gefahr, dass sie jemals hierherziehen würde. Das hier war ein Viertel der gehobenen Mittelschicht. Hier musste sicher niemand zwei Jobs stemmen, um sich Miete, Auto und was man sonst noch so zum Leben brauchte, leisten zu können.

»Scheiße, ist das kalt«, hörte sie Jo ein paar Meter zu ihrer Linken fluchen, als eine weitere Windböe durch den immer düsterer werdenden Garten wehte. »Wenn sich dieses blöde Biest in den nächsten fünf Minuten nicht freiwillig zeigt, jage ich Pyro ins Beet und mache ihm Feuer unterm Hintern.«

Riley musste schmunzeln. Geduld war nicht so Jos Ding. Schon gar nicht, wenn sie frieren musste. Riley warf einen kurzen Blick auf das Blumenbeet, in dem sich nach wie vor nichts tat. Dann sah sie hinüber zu ihrer Freundin, konnte sie jedoch kaum ausmachen. Mit ihrer dunklen Haut und den dunklen Klamotten, die Jo gern bei ihren Einsätzen trug, war sie nachts und in der Dämmerzeit eine Meisterin der Tarnung.

»Ich bin ganz Jos Meinung.« Schon als sie vorhin den Garten mit ihren Feuerkugeln abgeleuchtet hatten, um sich einen Überblick zu verschaffen, hatte es Riley in den Fingern gejuckt, exakt das zu tun, was Jo gerade vorgeschlagen hatte, um möglichst schnell nach Hause zu kommen. Die Woche war verdammt anstrengend gewesen und sie sehnte sich nach einem heißen Tee, ihrem Bett und irgendeiner Serie.

»Bitte lasst es«, kam Parkers Stimme von rechts. Er hatte sich neben dem Stechpalmenstrauch positioniert und hielt einen Kältezylinder griffbereit. »Damit macht ihr den Geist nur aggressiv.«

Im Gegensatz zu Jo war ihr Freund gut zu erkennen, weil der Lichtschein aus einem der Fenster des Nachbarhauses auf ihn fiel. Groß und muskulös stand er da und sein blondes Haar leuchtete wie ein Heiligenschein.

Riley musste grinsen, weil seine Bitte so typisch für ihn war. Parker war in ihrer Truppe der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Der, der immer alles regelte, selbst im größten Stress gelassen blieb und für seine Leute alles tat. Jederzeit. Bedingungslos und ohne viele Fragen zu stellen. Dafür liebte Riley ihn. Parker war wie ein zweiter großer Bruder für sie. Vermutlich, weil er seit einer gefühlten Ewigkeit der beste Freund ihres tatsächlichen großen Bruders war.

Der stand zwischen ihr und Parker und vervollständigte damit den Halbkreis, den sie um das Blumenbeet gebildet hatten. Das Licht aus dem Nachbarhaus ließ Aydens schlanke Gestalt erkennen. Gegen Wind und feuchte Kälte hatte er die Kapuze seines Parkas übergezogen.

»Also ich will dir deine Hoffnung ja nicht nehmen«, meinte er, »aber nach allem, was die Sonders uns gerade erzählt haben, ist das Biest schon jetzt ziemlich aggressiv.«

»Genau deshalb würde ich gern vermeiden, es noch weiter anzustacheln«, gab Parker bedeutungsvoll zurück. »Außerdem wissen wir nicht, wie stark der Geist ist. Vielleicht würde ein Feuerball ihn schon vernichten und das wäre ärgerlich. Wir können das Geld gut gebrauchen. Die Waschmaschine macht es nicht mehr lange und ich bin mir sicher, keiner von uns ist scharf darauf, zum Waschsalon gehen zu müssen, um dort unsere Klamotten zu waschen.«

Jo rieb sich fröstelnd über die Arme. »Wir müssen ja nicht alle Feuerbälle ins Beet jagen. Es reicht, wenn einer von uns das macht. Das wird der Geist schon aushalten. Immerhin kommt er aus Granton Green und letzte Nacht hat er versucht, ins Haus einzudringen.«

»Aber er hat es nicht geschafft«, hielt Parker dagegen.

»Ja, weil das Haus gut gesichert ist.« Riley stopfte eine Strähne ihrer rotbraunen Haare, die der Wind ihr immer wieder ins Gesicht wehte, unter ihre Beanie. »Da kommt selbst der stärkste Geist nicht rein.«

»Trotzdem fände ich es super, wenn Feuerbälle vorerst keine Option wären und wir einfach abwarten, bis sich der Geist von selbst zeigt.«

Jo stöhnte übertrieben. »Aye, Boss. Wir warten – noch fünf Minuten.« Das freche Grinsen in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Parker schnaubte leidgeprüft und Riley konnte sich das begleitende Augenrollen nur allzu gut vorstellen.

Die Zeit kroch dahin und nichts geschah, außer dass der Wind sie weiter frieren ließ. Wehmütig dachte Riley an den heißen Tee und die warme Küche, in der die Sonders ihnen vor einer halben Stunde ihr Problem geschildert hatten. Kirsty, ihre zwölfjährige Tochter, hatte am Tag zuvor einen Geist aus Granton Green in ihrem Garten vergraben, der die Familie daraufhin in der Nacht terrorisiert hatte. Deshalb brauchten sie jetzt Geisterjäger, um das Biest wieder loszuwerden.

Jeder in Edinburgh kannte die Geschichte von Granton Green, selbst Zugezogene wie Riley. Es war der bekannteste Spukort der Stadt. Viele der Ghost-Walk-Touren führten an den eisenbewehrten Mauern des Grundstücks entlang, hinter denen allabendlich nach Einbruch der Dunkelheit wütende Schreie und schauderhaftes Stöhnen zu hören waren. Betreten durfte den Ort niemand außer den Forschenden des Institute for Paranormal Science, kurz IPS.

Vor rund dreihundert Jahren hatte auf dem Gelände das Granton Gaol gestanden, ein Gefängnis mit äußerst schlechtem Ruf. Man hatte dort nicht nur die grausamsten Verbrecher ganz Schottlands eingesperrt, die Insassen waren auch unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht gewesen. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum, da waren Mord und Selbstmord keine Seltenheit gewesen. Die meisten hatten allerdings Hunger, Kälte und Krankheiten dahingerafft. Als eine Seuche ausgebrochen war, die auf die Stadt überzugreifen drohte, hatte man das Gefängnis kurzerhand niedergebrannt – samt aller Insassen. Die Seuche war damit zwar eingedämmt worden, gleichzeitig hatte man aber zig zornige Geister erschaffen, die seitdem nachts auf dem Gelände der alten Strafanstalt umgingen. Da Geister in der Regel an ihren Todesort gebunden waren, hatten sie das Grundstück zum Glück nicht verlassen können. Der Umstand, dass das Gefängnis zum Zeitpunkt des Brandes mit einem hohen Eisenzaun gesichert gewesen war, hatte ebenfalls geholfen, sie an Ort und Stelle zu halten. Geister hassten Eisen und hielten sich davon fern.

Leider hatte allerdings niemand verhindern können, dass viele der Geister im Laufe der Jahrhunderte immer stärker wurden. So stark, dass sie physischen Schaden zufügen konnten, wenn sich allzu Wagemutige auf der Suche nach einem Kick in die verwitterte Brandruine wagten. Es gab Berichte über Kratzer, Blutergüsse und Würgemale. Sechs Menschen hatten sogar den Tod gefunden. Deshalb war das ehemalige Gefängnisgelände schon vor Jahrzehnten zusätzlich mit einer eisenbewehrten Mauer umgeben worden. Vor rund fünfzig Jahren hatte man es dann in Granton Green umgetauft und euphemistisch zur grünen Lunge der Stadt erklärt, die niemand mehr betreten durfte.

Das hatte eine abenteuerlustige Zwölfjährige am Tag zuvor allerdings nicht davon abgehalten, den Ort trotzdem zu erkunden. Da Kirsty nicht paranormal begabt war, war das äußerst leichtsinnig gewesen. Dennoch hatten die Hunters darauf verzichtet, ihr deswegen eine Standpauke zu halten. Zum einen war offensichtlich, dass die Kleine eine solche bereits von ihren Eltern kassiert hatte, zum anderen hätten Parker, Ayden und Jo in Kirstys Alter exakt dasselbe getan, wenn es in London einen ähnlichen Ort wie Granton Green gäbe.

Kirstys Erkundungstour wäre vermutlich niemals aufgeflogen, wenn sie keinen Ziegelstein aus einer der alten Gefängnismauern herausgebrochen und nach Hause mitgenommen hätte. Aus Neugier. Sie hatte herausfinden wollen, ob es tatsächlich stimmte, dass Geister sich an Gegenstände heften konnten, um so die Orte, an die sie gebunden waren, zu verlassen. Zum Glück war es ihr zu riskant gewesen, den Stein in ihrem Zimmer zu verstecken, deshalb hatte sie ihn im Garten neben dem Stechpalmenstrauch vergraben. Von ihrem Zimmer aus hatte sie beobachten wollen, ob ein Geist auftauchte.

Den ganzen Abend über war nichts geschehen. Erst in der Nacht waren Kirsty und ihre Eltern von einem Kratzen an den Fensterscheiben und Rütteln an der Hintertür aus dem Schlaf gerissen worden. Beim Blick hinaus hatten alle drei den Schock ihres Lebens bekommen. Ein Geist hatte versucht, einen Weg zu ihnen ins Haus zu finden. Daraufhin hatte Kirsty ihren Eltern alles gebeichtet und ihre Mutter war gleich am Morgen im Internet auf die Suche nach Geisterjägern gegangen.

Bei GhostGuard Inc. war sie fündig geworden. Die Agentur beschäftigte verschiedene Geisterjägerteams auf freiberuflicher Basis und hatte bei den Hunters angefragt, ob sie den Fall übernehmen würden. Natürlich hatte Parker sofort zugesagt. Deshalb standen sie jetzt hier in der Kälte und warteten darauf, dass der Geist sich endlich zeigte.

»Wir könnten den verfluchten Ziegelstein auch einfach ausgraben«, brach Jo nach weiteren drei Minuten Zähneklappern das Schweigen.

»Keiner von uns rührt diesen Stein an, bevor wir den Geist nicht gefangen haben«, stellte Parker entschieden klar. »Kirsty hatte riesiges Glück, dass der Geist nicht auf sie übergesprungen ist, sonst bräuchte die Familie jetzt keine Geisterjäger, sondern einen Exorzisten. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass wir nicht riskieren wollen, dass einer von uns den brauchen könnte.«

Ayden stieß ein Knurren aus und sparte sich eine Antwort.

Riley warf einen Blick in seine Richtung. Exorzismen durften nur von Fachleuten des IPS durchgeführt werden und ihr Bruder hatte allen Grund, unter dem Radar des Instituts bleiben zu wollen.

»Wir könnten den Ziegel einfrieren, dann kann der Geist nicht auf uns überspringen«, schlug Jo vor.

Sofort schüttelte Ayden den Kopf. »Vergiss es. Ich benutze keine Cryokinese. Es gibt hier viel zu viele Fenster, aus denen man uns sehen könnte.« Er wandte sich zu Riley um. »Deshalb solltest du besser auch keine einsetzen.«

Riley spürte seinen durchdringenden Blick auf sich. Er wollte ihr nichts vorschreiben. Das tat er nie. Er wollte sie nur beschützen. Sie seufzte innerlich. Obwohl sie Aydens Vorsicht verstehen konnte, wünschte sie, ihr Bruder würde etwas entspannter mit den Dämonen umgehen, die er mit sich herumschleppte.

»Selbst wenn uns hier zig Leute aus den Fenstern beobachten sollten, würde niemand etwas bemerken, wenn ich meine Hände in die Erde grabe und erst dann Cryo einsetze.«

Auch ohne unter der Kapuze Aydens Gesicht sehen zu können, spürte sie, dass ihr Bruder über ihre Antwort nicht glücklich war. Er wollte etwas erwidern, doch plötzlich wurde die Umgebung schlagartig noch einige Grade kühler, als der Geist unvermittelt aus der Erde schoss. Mit gräulich weißem Schimmer materialisierte er sich in der Gestalt, die er zu Lebzeiten besessen hatte. Hagerer Körper. Struppiges, schulterlanges Haar. Abgewetzte, altmodische Gefängniskleidung. Sein Gesicht war zu einer boshaft grinsenden Fratze verzogen und Mordlust funkelte in seinen grellweißen Augen. Er wollte sich auf Riley stürzen, die direkt vor ihm stand. Instinktiv hätte sie Cryokinese eingesetzt, hielt sich Ayden zuliebe aber zurück und feuerte stattdessen mit ihrer Kältepistole auf den Geist.

Ihr Bruder tat es ihr gleich. Frostkristalle hefteten sich an den grauweißen Schimmer und zorniges Kreischen hallte durch den Garten, als die Kälte den Geist in seiner Beweglichkeit einschränkte und schrumpfen ließ. Zappelnd und zuckend versuchte er trotzdem zu entkommen, doch Jo und Parker riefen mittels Pyrokinese fußballgroße Feuerkugeln, die verhinderten, dass der Geist nach rechts oder links ausbrach. Hinter ihm schreckte ihn das eiserne Gitter ab, das als Rankhilfe für wilden Wein an der Gartenmauer angebracht war. So in die Enge gedrängt schossen Riley und Ayden weitere Ladungen Kälte auf ihn. Das hasserfüllte Kreischen erstarb, als der Frost den Geist komplett umschloss und weiter schrumpfen ließen, während die Kristalle sich zu einer harten Eisschicht verdichteten und sich dabei immer weiter zusammenzogen. Schließlich schwebte nur noch ein faustgroßer Eisklumpen in der Luft. Von dem Geist selbst war nichts mehr zu sehen.

Rasch griffen die vier mit Telekinese nach dem Klumpen, damit er nicht zu Boden fiel. Das Eis, mit dem Geister eingeschlossen wurden, war zwar robust, trotzdem passierte es hin und wieder, dass es beim Aufprall zerbrach und der gerade eingefangene Geist wieder entkam. Solche Biester waren in der Regel mächtig angepisst, was ein erneutes Einfangen oft schwieriger machte. Nicht nur deshalb war Riley dankbar, eine Para zu sein. Geister zu jagen war so viel leichter, wenn man kinetische Fähigkeiten besaß.

»Ich übernehme ihn«, bot Jo an und ließ den eingefrorenen Geist langsam auf die Wiese sinken, nachdem die anderen ihn losgelassen hatten.

»Das ging erfreulich schnell.« Parker warf Ayden den Kältezylinder zu und zog ein Paar Spezialhandschuhe aus seiner Jackentasche, ohne die man Geisterklumpen besser nicht anfasste.

Außer man beherrschte Cryokinese.

Rileys Finger umspielte feiner, weißer Nebel. Sie klaubte das Eis aus dem Gras und ließ es in den Zylinder gleiten, den Ayden für sie geöffnet hatte. Kälteschwaden stiegen daraus empor.

»Es ist zu dunkel, als dass jemand sehen könnte, dass ich keine Handschuhe trage«, sagte sie leise, als sie den Nebel um ihre Hand wieder verschwinden ließ. »Es hat also keiner mitbekommen, dass ich Cryo eingesetzt habe.«

Ayden verschloss den Zylinder. »Ich hab doch gar nichts gesagt.«

»Aber ich spüre, was du fühlst.«

Ayden schnaubte.

»Hey, ich will genauso wenig wie du, dass jemand mitbekommt, dass wir zwei sowohl Pyro als auch Cryo beherrschen. Ich will meine Cryo aber auch nicht verkümmern lassen. Geisterjagen ist schließlich nicht ungefährlich, da will ich alle meine Fähigkeiten bestmöglich trainieren, um sie, falls es brenzlig wird, auch alle bestmöglich einsetzen zu können.«

Jetzt seufzte Ayden. »Das verstehe ich ja. Aber in den meisten Geisterjägerteams gibt es keine Paras und die kommen auch klar. Ich will einfach nicht –«

»Shit! Achtung!«

Jos Warnung ließ die beiden herumfahren.

Parker und Jo hatten im Blumenbeet den Ziegelstein ausgraben wollen, der nun eigentlich ungefährlich hätte sein müssen. Jetzt kam aber noch ein zweiter Geist aus der Erde geschossen. Wie der erste bildete er mit gräulich weißem Geisterschimmer die Gestalt nach, die er zu Lebzeiten besessen hatte. Männlich, hager, altmodische Lumpen, strähniges Haar. Er hatte einen stoppeligen Bart und eine lange Narbe zog sich quer über seine linke Wange. Wie für Geister typisch leuchteten seine Augen in grellem Weiß. Er wollte sich auf Jo stürzen, aber die rief im Zurückweichen eine Feuerkugel und schleuderte sie ihrem Angreifer ins Gesicht. Der Geist kreischte auf. Kurz zog er sich zurück, wollte dann aber sofort zu einem neuen Angriff übergehen.

»Vergiss es.« Parker grub einen Pyrostrahl in das Wesen, um es von innen heraus zu verbrennen.

Jo hatte sich mehr Sicherheitsabstand verschafft und tat es Parker gleich. Auch Ayden hatte sofort sein Feuer in den Geist gejagt und blickte sich nach Riley um. Kreischend versuchte der Geist, ihnen zu entkommen, aber sie hielten ihn fest im Griff und es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr Pyrofeuer ihn verglühen lassen würde. Zu viert wäre es allerdings wesentlich schneller gegangen.

»Riley?« Jetzt sah auch Parker zu ihr herüber. »Du darfst gern jederzeit tatkräftig ins Geschehen miteingreifen. Dieses Gekreische ist echt nervig und das Biest ist kein Schwächling.«

Riley betrachtete den zappelnden Geist prüfend. »Sollen wir ihn nicht lieber einfangen, statt ihn zu vernichten?« Sie zog ihre Kältepistole. »Wenn wir zwei Geister aus Granton Green verkaufen, verdienen wir damit doch sicher genug für eine neue Waschmaschine.«

»Stimmt«, gab Jo ihr recht, bedachte den kreischenden Geist dabei aber mit einem finsteren Blick. »Obwohl ich ihn für seinen heimtückischen Angriff schon gern ins Nirwana befördern würde.« Sie rief ihr Feuer zurück und zog ihre Kältepistole. »Aber die Waschmaschine ist wichtiger.«

»Ich halte ihn fest, ihr schießt«, koordinierte Parker ihr weiteres Vorgehen.

»Okay.« Ayden ließ sein Feuer ebenfalls verebben und richtete seine Pistole auf den Geist.

»Auf drei. Eins. Zwei. Drei!«

Parker riss seinen Pyrostrahl aus dem Geist, während Jo, Riley und Ayden gleichzeitig Frost auf die Kreatur schossen. Die Kristalle reagierten kurz mit einem hellen Funkeln, als sie auf die Aura des Geists trafen, lösten sich dann aber auf.

Ayden stieß einen Fluch aus. »Das Biest ist durch unser Feuer schon zu warm!«

Er verpasste dem Geist zwei weitere Ladungen. Jo, Riley und Parker feuerten ebenfalls, doch die Frostkristalle schmolzen erneut. Triumphierend stieß der Geist ein keckerndes Lachen aus und versuchte, zu fliehen.

»Ganz sicher nicht.« Riley ließ ihre Pistole fallen. Mit beiden Händen rief sie Kältestränge und formte sie zu zwei Klauen, mit denen sie den Geist packte.

Augenblicklich ging das Gelächter wieder in wutentbranntes Kreischen über. Eiskristalle bildeten sich auf seiner Aura, als Riley die Pyrohitze aus ihm herauszog und ihn gleichzeitig mit ihren Kälteklauen zusammenquetschte. Sie hörte, wie Ayden erneut fluchte. Doch selbst wenn ihnen jemand aus einem der umliegenden Häuser zusah, bezweifelte sie, dass man erkennen würde, dass hier gerade Cryokinese am Werk war. Schoss man Kältewaffen ab, zogen die einen Kondensstreifen durch die Luft, der ganz ähnlich aussah wie die Kältestränge, die sie gerade mit ihrer Cryokinese erschuf.

»Lass ihn los. Er ist kalt genug. Den Rest erledigen wir.« Ayden richtete seine Waffe auf den Geist.

Auch Jo und Parker hielten sich bereit.

Riley hätte den Geist gern vollständig komprimiert. Da sie aber spürte, wie nervös Ayden war, verzichtete sie und ließ ihre Stränge zerfasern. Sofort schossen die anderen. Diesmal blieben die Frostkristalle haften. Im Nu verdichteten sie sich zu einer dicken Eisschicht, die den Geist zu einem faustgroßen Klumpen zusammenschrumpfte. Sacht ließen sie ihn mittels Telekinese ins Gras sinken, während Riley den Kältezylinder holte. Je nach Größe der Geisterklumpen konnte man bis zu vier Stück in den Behältern verstauen. Sie umhüllte ihre Hand mit Kältenebel und steckte den zweiten Geist zum ersten.

Angespannt ließ Ayden seinen Blick über die Nachbarhäuser gleiten. In den beleuchteten Fenstern war niemand zu sehen. Hinter denen, die im Dunklen lagen, war allerdings nichts zu erkennen.

»Ich denke nicht, dass irgendjemand mitbekommen hat, was wir hier tun«, beruhigte Parker ihn, als er bemerkte, wie nervös sich Ayden umschaute. »Sonst hätte es bestimmt neugierige Nachfragen gegeben.«

Riley hatte den Kältezylinder wieder sicher verschlossen und wollte etwas sagen, doch Ayden winkte ab.

»Schon okay.« Seufzend schob er seine Kapuze zurück und fuhr sich durch die braunen Haare. »Ich bin vermutlich wirklich übervorsichtig. Sorry.« Er schenkte Riley ein anerkennendes Lächeln. »Diese Kälteklauen waren ziemlich genial. Sollten wir mal einen Einsatz an einem abgelegenen Ort haben, probiere ich die auch aus.«

Riley erwiderte sein Lächeln und rempelte ihm liebevoll gegen den Arm. »Ich fänd es cool, wenn wir zusammen trainieren. Wir könnten bei einem unserer nächsten Einsätze einen Geist fangen und irgendwo mit ihm hinfahren, wo wir garantiert keine Zuschauer haben.« Sie hielt den Kältezylinder hoch. »Diese zwei hier brauchen wir allerdings erst mal für die Waschmaschine.«

»Klingt nach einem guten Plan.« Er hielt ihr die Hand für ein Highfive hin und sie schlug ein.

Jo und Parker hatten sich derweil wieder dem Blumenbeet zugewandt und gruben nach dem Ziegelstein.

»Da ist er.« Jo legte ihn mit der Schaufel frei, die die Sonders ihnen mitgegeben hatten. »Ein dritter Geist scheint nicht daran zu haften. Ich gehe aber lieber auf Nummer sicher.«

Sie rief ihr Feuer und hüllte den Stein damit ein. Sollte noch ein weiterer Geist ihn als Vehikel benutzen und sich bloß noch nicht gezeigt haben, würde sie ihn spüren.

»Nichts«, verkündete sie einen Moment später. »Einsatz erfolgreich abgeschlossen. Lasst uns schnell Bericht erstatten und dann ab nach Hause.«

»Bin ich sofort dabei.« Riley hatte den Zylinder in ihrer Ausrüstungstasche verstaut und hielt sie jetzt Jo hin, damit sie den Ziegel dazulegen konnte.

»Na, dann schocken wir die Sonders mal damit, dass wir nicht nur einen gruseligen Gast aus ihrem Garten entfernen mussten, sondern gleich zwei.« Jo erhob sich und wischte feuchte Erde von ihren Fingern. »Vielleicht lassen sie dafür ja ein nettes Trinkgeld springen.«

Es begann zu nieseln und die vier beeilten sich, zum Haus zurückzukommen. Die Fenster von Küche und Hintertür waren hell erleuchtet, die im oberen Stock lagen dagegen im Dunkeln. Als Ayden hochschaute, erkannte er trotzdem hinter einem von ihnen Kirstys blasses Gesicht. Nachdem Parker und Jo sie im Informationsgespräch zu ihrem Ausflug nach Granton Green sowie dem Ziegelstein befragt hatten, hatten die Sonders ihre Tochter zurück in ihr Zimmer geschickt, wo sie ohne Handy und Internet ihren Hausarrest absitzen musste. Mit einem mitfühlenden Lächeln winkte Ayden ihr zu. Kirsty zögerte kurz, dann erwiderte sie das Lächeln und winkte zurück.

»Wir waren früher viel schlimmer als sie.« Jo winkte ihr ebenfalls.

Ayden verzog das Gesicht. »Allerdings. Ich hätte den Ziegelstein meinen Eltern unters Bett gelegt.«

Jo lachte auf. »So schlimm warst du nun auch wieder nicht.«

Ayden hob bloß die Schultern, sagte aber nichts dazu, weil sie die Hintertür erreicht hatten. Mr Sonders ließ sie in die Küche und Parker erstattete dem Ehepaar kurz Bericht. Wie erwartet, waren sie schockiert darüber, dass gleich zwei Geister ihren Garten unsicher gemacht hatten, und sie zeigten sich tatsächlich mit einem großzügigen Trinkgeld dankbar, als Parker sich die Bestätigung unterschreiben ließ, dass die Hunters den Auftrag erfolgreich abgeschlossen hatten.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, begleitete Mr Sonders sie zur Vordertür. »Noch einmal vielen Dank für Ihre schnelle Hilfe. Ich hoffe, die Nachbarn haben nichts mitbekommen?«

»Keine Sorge, Sir«, versicherte Parker. »Unser Einsatz blieb unbemerkt. Und natürlich bewahren wir wie bei allen Einsätzen Stillschweigen. Wir verstehen, dass ein Geist in Ihrem Garten zu unangenehmen Fragen führen würde, und natürlich wollen wir nicht, dass Kirsty Schwierigkeiten bekommt.«

»Danke für Ihr Verständnis.« Sonders schüttelte ihm die Hand und verabschiedete dann auch Riley und Jo.

»Seien Sie nicht zu streng zu Ihrer Tochter, Sir«, bat Ayden, als Sonders auch ihm die Hand schüttelte. »Kids bauen manchmal einfach Mist.«

Sonders musterte ihn kurz abschätzend. »Wie alt sind Sie?«

»Dreiundzwanzig. Warum?«

Sonders bedachte ihn mit einem herablassenden Lächeln. »Dann sind Sie noch etwas jung, um Erziehungsratschläge zu geben, denken Sie nicht?«

Ayden verkniff sich die Antwort, die er gern gegeben hätte, und erwiderte bloß professionell das Lächeln. »Sicher. Tut mir leid, Sir. Ich wollte nicht anmaßend erscheinen. Einen schönen Abend noch.«

Kapitel 2

Jo, Parker und Riley saßen bereits in ihrem klapprigen Kombi, als Ayden sich zu seiner Schwester auf die Rückbank fallen ließ.

»Soll ich schnell bei der Agentur vorbeifahren?« Jo startete den Motor. »Das ist kein großer Umweg und dann haben wir den Zylinder heute Nacht nicht in der Wohnung.«

Alle signalisierten Zustimmung, woraufhin Jo den Wagen durch die ruhigen Gassen des Wohnviertels Richtung Hauptstraße lenkte.

Müde lehnte Ayden den Kopf gegen das Seitenfenster und schloss die Augen. Die Woche war schrecklich anstrengend gewesen. Das nasskalte Wetter hatte der Stadt eine Erkältungswelle beschert, die auch dem 24/7-Corner-Shop zu schaffen machte, in dem Riley und er arbeiteten. Fast die Hälfte der Belegschaft war zurzeit krank, sodass Ayden zusätzlich zu seinen Tagschichten auch noch die Nachtschichten übernommen hatte. Riley war in den Spätschichten eingesprungen. Arbeitsrechtlich war das vermutlich nur semilegal, weil sie keine ausreichend langen Ruhepausen einhielten, aber das machte ihnen nichts aus. Zusätzliches Geld konnten sie immer gebrauchen. Fred, ihr Boss, hatte ihnen dabei zum Glück freie Hand gelassen. Er legte großen Wert darauf, dass sein Laden reibungslos lief. Dafür bezahlte er seine Leute sehr fair und sie hatten Mitspracherecht bei den Dienstplänen. Dass Ayden und Riley normalerweise nur die Tagschichten arbeiteten, um abends und nachts Zeit für ihren Zweitjob als Geisterjäger zu haben, war für ihn kein Problem. Ebenso wenig, dass Ayden nur in Notfällen am Wochenende einsprang.

Fred hatte beiden ihre Hilfe in den letzten Tagen hoch angerechnet und deshalb heute einen kleinen Bonus auf ihr Wochengehalt draufgelegt. Außerdem hatte er ihnen einen so großzügigen Wochenendeinkauf spendiert, dass die Vorräte noch für die kommende Woche reichen würden. Da Geld immer knapp war, hatten Ayden und Riley sich über die Anerkennung gefreut. Genauso freute Ayden sich jetzt allerdings auch auf sein Bett und hoffentlich mal sieben Stunden Schlaf am Stück.

Vorne im Wagen lief das Radio und eine Moderatorin begrüßte die Zuhörenden zu den Zwanzig-Uhr-Nachrichten. Wie immer in letzter Zeit drehten sich die Hauptmeldungen darum, dass Präsident Karpov es weiterhin völlig gerechtfertigt fand, mit seinen Truppen ins Nachbarland eingefallen zu sein, um sich in Grenznähe die Landstriche mit Bodenschätzen anzueignen. Seit fast acht Wochen herrschte deshalb Krieg in Osteuropa. EU und NATO verurteilten das Vorgehen Karpovs aufs Schärfste und hatten ihn mit strengen Wirtschaftssanktionen belegt.

Heute war ein weiteres Ultimatum verstrichen, das die Staatengemeinschaft Karpov gesetzt hatte. Dieser hatte sich davon jedoch bisher nicht im Geringsten beeindruckt gezeigt. Im Gegenteil. Statt seine Truppen zurückzurufen, hatte er ein Einkaufszentrum und ein Krankenhaus bombardiert. Man rechnete mit hunderten Toten. Gleichzeitig hatte Karpov den Spieß jetzt umgedreht und den Staaten, die sein Land mit Wirtschaftssanktionen belegt hatten, ein Ultimatum gesetzt: Sollten sie ihre Strafmaßnahmen nicht bis morgen Abend einundzwanzig Uhr osteuropäischer Zeit aufheben, würde er seinerseits zu Sanktionen greifen.

»Mann, der Typ ist einfach nur krank«, knurrte Jo, als sie mit Ende der Nachrichten in die Einkaufsstraße einbog, in der das Büro von GhostGuard Inc. lag. »Könnten sich nicht langsam mal ein paar fähige Geheimagenten in seine Nähe schleichen und ihn samt seiner engsten Vertrauten abmurksen? Wo sind denn die ganzen James Bonds, wenn man sie mal braucht?«

»Vielleicht arbeiten die Geheimdienste ja schon daran.«

Parker hatte während der Fahrt die Unterlagen für die Abgabe des Kältezylinders ausgefüllt und stopfte sie jetzt in die Ausrüstungstasche, damit sie nicht nass wurden. Der Regen war mittlerweile stärker geworden, doch Jo ergatterte glücklicherweise einen Parkplatz nicht weit vom Büro, das zwischen einem Asia-Take-Away und einer Bäckerei lag.

»Ich erledige das schnell.« Parker stieg aus und eilte durch den Regen zur Eingangstür.

Glöckchen klimperten, als er die Tür aufstieß und in den Empfangsbereich eintrat. Drinnen empfingen ihn angenehme Wärme und Gladis, die an ihrem Schreibtisch saß und Papierkram erledigte. Auf einem kleinen Fernseher, der neben einer Kaffeemaschine und einem Wasserkocher auf einem Sideboard stand, lief leise eine Quizshow. Gladis war Ende fünfzig und kümmerte sich bei GhostGuard Inc. nicht nur um die Anfragen der Klienten, sondern verteilte auch die Aufträge an die verschiedenen Geisterjägerteams und bezahlte sie für ihre Einsätze.

»Oh, schon zurück?«, grüßte sie Parker. »Dann war der Geist für euch ja offensichtlich keine große Herausforderung.«

»Nein. Obwohl es nicht nur einer, sondern gleich zwei waren.« Parker gab ihr eine kurze Zusammenfassung und reichte ihr die Unterlagen, in denen die Sonders bestätigten, dass alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt worden war. »Danke für die Zuteilung«, schloss er schließlich seinen Bericht.

Routiniert überflog Gladis die Papiere und zeichnete sie gegen. »Immer wieder gern. Dein Team ist eins unserer zuverlässigsten. Außerdem könnt ihr mit Pyrokinese Geister ohne teure Magnesiumgranaten vernichten.« Sie lächelte verschmitzt. »Das schätzt unser Boss sehr, genauso wie die Tatsache, dass ihr Paras euch besser vor Geistern schützen könnt als nicht paranormal begabte Jägerinnen und Jäger. Damit ist die Gefahr, dass bei euren Einsätzen jemand zu Schaden kommt, deutlich geringer. Es liegt also nicht nur daran, dass ich dich gut leiden kann, wenn ich die Hunters als Erste frage, ob ihr einen Job übernehmen wollt.«

»Trotzdem danke.« Parker erwiderte das Lächeln und holte Zylinder sowie Ziegelstein aus der Tasche. »Wir haben die Geister nicht vernichtet, sondern eingefroren. Und das hier ist der Gegenstand, an den sie sich geheftet hatten, um Granton Green zu verlassen.«

Gladis nahm die Plastiktüte entgegen, betrachtete kurz den Stein und nickte anerkennend. »Gleich zwei Geister samt Haftobjekt, sehr schön. Das Institut wird sich freuen. Noch ein Grund, warum ich Aufträge so gern an dein Team vergebe. Mit dem Einsammeln bringt ihr nettes Extrageld ein. Auch das schätzt unser Boss außerordentlich.« Sie wandte sich ihrem Computer zu. »Ich gebe dem IPS gleich Bescheid, damit sie jemanden zum Abholen herschicken. Geht eure Bezahlung auf das übliche Konto?« Sie klickte sich durch ein Menü.

»Ja, alles wie immer.«

»Okay, dann erledigen wir das sofort.« Ohne ihren Blick vom Bildschirm zu nehmen, tippte sie mit fliegenden Fingern über die Tastatur. Dann drehte sie den Monitor, damit Parker sehen konnte, was sie auf der Internetseite der Bank eingegeben hatte. Parker bestätigte mit einem Nicken, dass alle Angaben korrekt waren, und Gladis schickte den Überweisungsauftrag ab. »GhostGuard Inc. dankt euch für die gute Zusammenarbeit.«

»Wir danken ebenfalls. Und denke gern wieder zuerst an uns, wenn der nächste Auftrag reinkommt.«

Gladis schmunzelte. »Sicher. Grüß Joanna, Haley und Adrian.«

»Mach ich. Sie warten draußen im Wagen.«

»Na, dann macht euch noch einen schönen Abend!«

Kapitel 3

»Wow, womit haben wir denn das verdient?« Gekonnt manövrierte Jo den Kombi in eine Parklücke keine zehn Meter von ihrem Zuhause entfernt. Mehrgeschossige Mietshäuser im viktorianischen Stil reihten sich in ihrer Straße dicht an dicht, was die Parkplatzsuche so gut wie immer zu einem Albtraum machte. Das Viertel gehörte zwar nicht zu den besten, war aber bei den weniger gut Verdienenden sehr beliebt, weil es verglichen mit anderen Ecken der Stadt als sichere Wohngegend galt. Viele hatten deshalb zwei Jobs und sparten zur Not bei den Einkäufen, um die steigenden Mieten stemmen zu können, denn wer hier seine Wohnung verlor, landete in den miesen Gegenden und von dort gab es meist keinen Weg zurück.

Sie stiegen aus und eilten durch Regen und Wind zum Hauseingang. Parker schloss auf und der Bewegungsmelder ließ die Treppenhausbeleuchtung anspringen, als sie eintraten. Es roch nach Gemüsesuppe und geröstetem Toast, und während sie die knarzende Treppe zum vierten Stock hinaufstiegen, drangen die typischen Geräusche eines Mehrparteienhauses zu ihnen auf den Flur: Musik und Fernseher, Geschirrklappern und gedämpfte Stimmen.

Riley wohnte hier seit knapp drei Jahren. Ayden, Jo und Parker sogar schon seit fast fünf. Trotzdem kannten sie bis auf die Peacocks ihre Nachbarn nur flüchtig. Leben und leben lassen war eine Art ungeschriebenes Gesetz in ihrem Haus – und sich aus den Angelegenheiten der anderen heraushalten. Riley wusste, dass Ayden das nur recht gewesen war, als er mit Jo und Parker hier in Edinburgh ein neues Leben angefangen hatte. Sie wäre damals gern sofort mit ihm gegangen, um zu helfen, aber sie war erst siebzehn gewesen und ihre Eltern hätten sie niemals mit ihm gehen lassen. Ayden hatten sie damals endgültig abgeschrieben, deshalb hatten sie sich voll und ganz auf Riley konzentriert, damit sie all das wurde, worin Ayden so eine herbe Enttäuschung war.

Es war eine furchtbare Zeit gewesen und Riley hatte etliche Male kurz davorgestanden, zu Ayden abzuhauen. Doch damit hätte sie ihrem Bruder das Leben nur noch schwerer gemacht, denn ihre Eltern hätten ihn dafür sicher die Hölle heiß gemacht. Deshalb hatte Riley sich zusammengerissen, war brav in London geblieben und hatte die Schule beendet. Doch nur einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag war sie in den Zug gestiegen und ihrem Bruder nach Edinburgh gefolgt.

Seitdem lebte sie hier mit ihm, Jo und Parker in ihrer kleinen WG und sie rockten gemeinsam den Alltag. Ayden hatte ihr im Corner-Shop einen Job verschafft, Jo kellnerte in einem Café und Parker jobbte als Allround-Mechaniker in einer kleinen Werkstatt, die kaputte Haushaltsgeräte reparierte oder ankaufte, um sie wieder in Stand zu setzen und für wenig Geld weiterzuverkaufen. Da jeder von ihnen paranormale Fähigkeiten besaß, hatten sie sich zusätzlich als Geisterjägerteam bei GhostGuard Inc. registrieren lassen. So schafften sie es meist recht gut, über die Runden zu kommen, vorausgesetzt es ging nicht zu viel auf einmal in die Brüche. Ihr Auto war nicht mehr das Jüngste und Parker hatte ihre Waschmaschine schon zweimal repariert, machte ihnen aber keine Hoffnung, dass sie beim nächsten Ausfall noch ein weiteres Mal zu retten war.

»Home sweet home«, seufzte Jo wohlig, als sie die Wohnungstür aufschloss.

Der Duft von Kräutertee und Pasta mit Tomatensoße hing in der Luft und Lichtschein fiel durch die offen stehende Küchentür in den Flur. Während die anderen drei Jacken und Schuhe abstreiften, schob Ayden sich an ihnen vorbei in die Wohnküche.

Wie so ziemlich alles im Haus hatte auch die Küche ihre besten Tage schon hinter sich, doch die Möbel waren hell und gebrauchstüchtig. Jo fand, sie gingen als vintage durch und vintage war wieder angesagt. Um den Raum gemütlich zu machen, hatten sie zwischen den Kühlschrank und die L-förmige Küchenzeile ein kleines Sofa gequetscht, ein paar zusätzliche Regale angebracht und bunte Gardinen sowie einen dazu passenden Flickenteppich gekauft. Auf den Regalen stand ein Sammelsurium an Vorratsdosen und zusammengewürfeltem Geschirr, das sie auf Flohmärkten und in Secondhandshops günstig erstanden hatten und immer mal wieder aufstockten, wenn etwas zu Bruch gegangen war. Am Kühlschrank pappten bunte Magnete, die drei Kinderzeichnungen hielten, und auf dem Sofa lag eine zerwühlte Wolldecke neben zwei Wimmelbüchern.

»Hey, wir sind wieder da«, grüßte Ayden die junge Studentin, die mit ihrem Laptop, zwei Sozialkundebüchern, Textmarkern und einer Kanne Tee am Küchentisch saß.

Melissa lächelte zu ihm hoch. »Das ging schnell.«

»Ja, zum Glück. Lief hier alles gut?«

Sie nickte. »Henry war Zucker. Wie immer. Er wollte allerdings unbedingt in deinem Bett schlafen und ich musste ihm mehrfach versichern, dass du ihn weckst, wenn du zurück bist.«

»Das mache ich.« Ayden zog seine Geldbörse aus der Gesäßtasche seiner Jeans, warf einen Blick auf die Küchenuhr und reichte Melissa ihren Lohn fürs Babysitting. »Danke, dass du an einem Freitagabend so kurzfristig vorbeigekommen bist.«

Abwinkend schüttelte sie den Kopf. »Kein Problem. Ich hatte heute nichts vor, außer ein paar Sachen für die Uni zu erledigen, und das konnte ich auch hier machen. Am Wochenende kann ich allerdings leider nicht, falls du mich da brauchst. Ich fahre mit ein paar Leuten nach Dundee.«

Jo, Parker und Riley kamen in die Küche.

»Hi Melissa.« Jo deutete zur Teekanne. »Bitte sag, dass da noch was drin ist. Draußen ist es total ungemütlich und ein heißer Tee wäre jetzt traumhaft.«

»Leider nein, aber ich koche gern noch mal neuen.« Melissa wandte sich von ihr zu Ayden. »Möchtest du auch einen?« Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln. »Ich wollte sowieso fragen, ob du vielleicht noch ein bisschen Zeit hättest. Für einen meiner Sozialkundekurse will ich ein Essay über Menschen mit paranormalen Fähigkeiten schreiben und da dachte ich, ich könnte dir dazu vielleicht ein paar Fragen stellen und das Interview dann in mein Essay einarbeiten.«

Ayden erwiderte ihr Lächeln, erteilte ihr aber höflich eine Absage. »Sei mir nicht böse, aber ich hab eine echt anstrengende Woche hinter mir und will einfach nur ins Bett. Jo, Parker und Riley helfen dir aber bestimmt mit deinen Fragen.«

Riley nickte, obwohl ihr klar war, dass es Melissa weniger um ihr Essay als vielmehr um Zeit mit Ayden ging. Falls dieses Essay nicht ohnehin frei erfunden war. Seit Melissa sich letzten Monat von ihrem Freund getrennt hatte, versuchte sie immer wieder mit Ayden zu flirten, würde sich an ihm jedoch die Zähne ausbeißen. Riley hoffte, dass sich das nicht auf Melissa als Babysitterin auswirken würde, denn als diese war sie Gold wert. Sie war zuverlässig, flexibel und Henry mochte sie sehr. Es wäre übel, sie zu verlieren, wenn sie erkannte, dass sie sich bei Ayden vergeblich Hoffnungen machte.

»Natürlich helfen wir dir bei deinen Fragen. Ich koche noch mal Tee und dann setzen wir uns zusammen. Und du«, Jo spießte ihren Zeigefinger in Aydens Richtung und deutete dann durch die Tür, »siehst zu, dass du ins Bett kommst. Du siehst völlig fertig aus.«

»Wow, danke für das Kompliment«, schnaubte Ayden ironisch, schenkte Jo aber gleichzeitig einen dankbaren Blick.

Die grinste bloß, machte eine wegwedelnde Handbewegung und wandte sich dem Wasserkocher zu. »Geh schlafen, dann bekommst du morgen auch wieder Komplimente.«

»Aye, Ma’am. Gute Nacht!«, wünschte er in die Runde und verschwand hinaus auf den Flur.

Melissa wirkte nicht glücklich, als sich statt Ayden Parker zu ihr setzte, während Jo sich um den Tee kümmerte und Riley Tassen auf den Tisch stellte.

»Was willst du über uns Paras denn wissen?«, fragte Parker.

»Ja – ähm – alles.« Melissa stopfte ihre Bücher in die Messengerbag, die neben ihrem Stuhl lag. Ihren Laptop ließ sie zwar draußen, doch es entging keinem der drei, dass sie kein Dokument öffnete, um ihnen vorbereitete Fragen zu stellen. »Ich weiß, dass man paranormale Fähigkeiten in drei Bereiche unterteilt: Kinesen, Empathie und dieses In-die-Zukunft-sehen. Wie heißt da der Fachbegriff noch mal?«

»Mantik«, antwortete Parker. »Die meisten mantisch Begabten haben allerdings nur Vorahnungen oder sehen – wenn überhaupt – nur einzelne Bilder.«

Melissa nickte interessiert, machte aber keinerlei Anstalten, mitzuschreiben.

»Mantik ist außerdem sehr selten.« Jo inspizierte den Teebeutel in der Teekanne und entschied, dass man ihn noch einmal aufgießen konnte.

Wieder nickte Melissa. »Am häufigsten ist die Empathie, stimmt’s? Es gibt schließlich ziemlich viele Menschen, die empathisch veranlagt sind.«

»Das stimmt«, antwortete Riley. »Aber nicht jeder Mensch, der sich gut in andere hineinversetzen kann, ist deshalb gleich im paranormalen Spektrum empathisch. Dazu gehört mehr. Je nachdem wie stark ihre Fähigkeiten sind oder wie gut sie diese trainiert haben, können empathische Paras die Gefühle von anderen spüren. Also wirklich spüren, nicht nur sich in jemanden hineinversetzen oder Emotionen nachempfinden. Empathische Paras fühlen Freude, Wut, Trauer oder auch Schmerzen von anderen so, als wären es ihre eigenen Empfindungen. Meist geht das nur, wenn sie Personen berühren. Sehr starke Empathen fühlen es aber auch ohne Kontakt, wenn sie bloß im selben Raum sind.«

Melissa zog die Nase kraus. »Das klingt gruselig.« Dann runzelte sie die Stirn. »Allerdings ist es für Empathen sicher auch echt anstrengend, wenn ständig zig Emotionen von Leuten aus ihrer Umgebung auf sie einprasseln.«

»So stark sind die wenigsten Empathen.« Riley spielte am Henkel ihrer Teetasse. »Und wenn sie es doch sind, haben sie gelernt, die Emotionen anderer abzublocken.«

Melissa nickte nachdenklich. »Stimmt es, dass Empathen wissen, wenn jemand lügt?«

Das Wasser brodelte und Jo goss den Tee auf.

»Ja«, bestätigte Parker. »Starke Empathen können spüren, wenn jemand lügt. Was sie aber nicht sagen können, ist, wie die Wahrheit aussieht. Sie können keine Gedanken lesen.«

Melissa lächelte schief. »Das ist beruhigend.«

»Definitiv.« Jo brachte die Teekanne zum Tisch und setzte sich. »Allerdings können starke Empathen Gefühle beeinflussen und das finde ich persönlich viel beunruhigender.«

Wieder runzelte Melissa die Stirn. »Das heißt, ein Empath könnte mich dazu bringen, dass ich ihn liebe – oder dass ich jemanden hasse – obwohl ich das vielleicht gar nicht will?«

Parker schenkte allen Tee ein. »Ja. Dafür müsste ein Empath allerdings außergewöhnlich stark sein und ich glaube nicht, dass er jemanden zu Gefühlen verleiten könnte, die dieser absolut ablehnt. Das ist allerdings nur eine Vermutung. Wir kennen keine starken Empathen.« Sein Blick streifte kurz Riley. »Die meisten spüren Emotionen nur, können sie aber nicht oder nur schwach beeinflussen.«

Melissa blickte in die Runde. »Und wie ist das mit der Telekinese? Das ist doch eure Begabung, stimmt’s?«

»Yep.« Jo richtete ihren Blick auf einen Textmarker, der neben Melissas Laptop lag, öffnete ihre Hand und der Stift glitt quer über den Tisch zu ihr herüber.

Melissa lachte auf. »Das ist echt cool. Wie machst du das?«

»Ich umschlinge den Gegenstand, den ich zu mir holen will, in Gedanken und ziehe ihn dann zu mir.« Jo ließ den Marker zurück zu Melissa gleiten. »Oder ich schiebe ihn an den Ort, an dem ich ihn haben will.«

Melissa nahm den Stift in die Hand. »Und weil du nicht nur Telekinese, sondern zusätzlich noch Pyrokinese beherrschst, könntest du den Textmarker auch in Flammen aufgehen lassen?«

»Ja. Aber warum sollte ich? Damit zerstöre ich ihn und kann ihn nicht mehr benutzen.«

Melissa ließ ihren Blick durch die Küche wandern. »Und wie stark seid ihr? Könntet ihr alles hier in Flammen aufgehen lassen?«

»Im Prinzip schon«, antwortete Jo. »Das würde allerdings eine Menge Konzentration auf jeden einzelnen Gegenstand erfordern und das ist ziemlich anstrengend. Wenn man wirklich gut ist, kann man als Pyro-Para aber auch Feuer aus dem Nichts erschaffen.« Sie machte eine Geste in die Küche. »Wenn ich hier also alles abfackeln wollen würde, würde ich eher einen Feuerball rufen und ihn einmal durch den Raum wandern lassen, um alles anzustecken.«

»Das heißt, man lernt bei der Pyrokinese zuerst, Dinge in Flammen aufgehen zu lassen, und wenn man das oft genug gemacht hat, kann man irgendwann auch ohne einen Gegenstand Feuer entstehen lassen?«, hakte Melissa nach.

»So ungefähr«, bestätigte Parker. »Als Allererstes stellt man allerdings fest, dass man telekinetisch begabt ist. Ohne Telekinese keine Pyrokinese.«

Melissa musste grinsen. »Man lässt also zuerst Gegenstände durch die Luft wandern und stellt sich dann dabei vor, sie in Brand zu stecken? Und wenn es funktioniert, weiß man, dass man ein Pyro-Para ist?«

»Exakt«, nickte Jo. »Bei manchen funktioniert es sofort, bei anderen erst nach dem x-ten Versuch. Bei wieder anderen gar nicht. Die können dann nur Telekinese.«

»Und wie ist es mit Cryokinese? Stellt man sich dabei vor, dass man den Gegenstand einfriert? Und wenn man das gut kann, kann man auch Eis aus dem Nichts erschaffen?«

»Genau.« Wieder nickte Jo.

»Das klingt echt genial. Beherrscht ihr auch Cryokinese?«

»Nein.« Parker mied den Blick in Rileys Richtung. »Cryokinese kommt deutlich seltener vor als Pyrokinese und man geht davon aus, dass die beiden Fähigkeiten einander so gut wie ausschließen. Es gibt nur sehr, sehr wenige Paras, die beides beherrschen.«

Melissa schwieg einen Moment, als sie kurz darüber nachdachte. »Klingt logisch. Es ist Feuer und Eis. Ist jetzt nicht so überraschend, dass die einander ausschließen, oder?«

»Nope«, gab Jo ihr recht und nippte an ihrem Tee.

»Schließen sich dann auch andere Fähigkeiten gegenseitig aus?«, fragte Melissa. »Können Empathen gleichzeitig auch noch Telekinese und Mantik beherrschen?«

»Prinzipiell schließen die drei Bereiche einander nicht aus«, antwortete Parker. »Bei der Polizei arbeiten einige Paras, die sowohl empathisch als auch telekinetisch begabt sind. Wenn sie beides gut beherrschen, können sie in Verhören Lügen erkennen und bei Schießereien Kugeln mit Schutzschilden aufhalten.«

»Wow, echt?« Melissa wirkte sichtlich beeindruckt. »Wenn sie dann auch noch per Mantik in die Zukunft sehen und Gefahren erkennen können, werden sie auf ihren Revieren sicher wie Superstars gefeiert.«

Parker lächelte. »Vermutlich. Aber mantisch begabt sind nur sehr wenige Menschen und dass jemand tatsächlich alle drei Bereiche in sich vereint, wurde bisher noch nie dokumentiert.«

»Oh. Okay.« Jetzt wirkte Melissa leicht enttäuscht.

Riley fuhr sich über die Augen und unterdrückte ein Gähnen. »Sorry, ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe in dieser Woche genauso viele Extraschichten geschoben wie Ayden. Nimm es mir nicht übel, aber auch ich sehne mich nach meinem Bett.«

Melissa musterte sie kurz. »Kein Ding. Du siehst wirklich müde aus und ich will dich nicht aufhalten.« Sie klappte ihren Laptop zu und stopfte ihn zu ihren Büchern in die Tasche. »Ich sollte ohnehin langsam los. Wir brechen morgen schon früh auf.«

Riley erhob sich und schenkte ihr ein Lächeln. »Dann komm gut heim. Und viel Spaß in Dundee.«

»Danke.« Melissa sah von ihr zu Parker und Jo, während sie ihren restlichen Kram ebenfalls einpackte. »Und danke für die Infos über Paras.«

»Kein Ding«, grinste Jo. »Viel Erfolg mit deinem Essay.«

Kapitel 4

Ayden trat auf den Flur hinaus und hörte mit halbem Ohr zu, wie Melissa in der Küche ihre Fragen stellte, während er Schuhe und Jacke auszog und sie in der winzigen Garderobenecke verstaute.

Außer der Küche gab es noch drei weitere Räume in der überschaubaren Wohnung: ein winziges Bad, das Schlafzimmer von Parker und Jo sowie den Raum, den Ayden sich mit Riley und Henry teilte. Eigentlich war er als Wohnzimmer gedacht, in ihrer kleinen WG diente er Ayden und Riley jedoch als Schlaf- und Henry als Spielzimmer. Ayden trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. Drei Betten waren auf drei der Wände verteilt. Dazwischen quetschten sich ein schmaler Kleiderschrank und zwei Kommoden. Nicht viel Stauraum für die komplette Garderobe von drei Personen, selbst wenn eine davon erst vier Jahre alt und klein für ihr Alter war.

Unter den Fenstern standen zwei Spielzeugkisten und auf dem abgenutzten Dielenboden lag ein Kinderteppich bunt bedruckt mit Straßen und Schienen. Zwei der drei Betten standen zusammen in einer Ecke des Zimmers, eins davon bezogen mit bunter Bettwäsche, die Piraten, Seeungeheuer, Schatzkisten und Totenkopfflaggen zeigte. An der Wand neben dem Bett hing ein Regal mit Kinderbüchern und auf der Kommode, die am Kopfende gleichzeitig als Nachttisch diente, stand ein gelber LED-Halbmond, der schummriges Licht in den Raum warf. Das Piratenbett war leer, stattdessen lag Henry in Aydens Bett, kuschelte mit seinem Teddy und dem T-Shirt, das sein Dad momentan zum Schlafen trug.

Aydens Herz ging auf, als er sich zu seinem Sohn auf die Bettkante setzte und ihn eine Weile lang still betrachtete.

Sein kleiner Mini-Me.

Dasselbe hellbraune Haar, dieselben Gesichtszüge und himmelblaue Augen.

Es war der totale Schock gewesen, als Henry vor vier Jahren ohne Vorwarnung in sein Leben geworfen worden war. Ayden hatte sich verraten gefühlt, ausgenutzt, erschüttert, wütend – und hoffnungslos überfordert. Trotzdem war ihm sofort klar gewesen, dass er dieses kleine Kerlchen beschützen musste und ihn sich von niemandem wegnehmen lassen würde.

Die ersten Monate waren wahnsinnig hart gewesen und ihm war bewusst, dass er sie niemals durchgestanden hätte, wenn Jo und Parker nicht an seiner Seite gewesen wären. Schon vor Henrys Geburt waren sie als Trio zusammen durch dick und dünn gegangen, hatten dabei allerdings auch eine Menge Mist gebaut. Die Tatsache, dass Ayden plötzlich mit einem Sohn dagestanden hatte, hatte ihn gezwungen, quasi über Nacht erwachsen zu werden und sein Leben in andere Bahnen zu lenken. Bis heute rechnete er seinen Freunden hoch an, dass sie sofort bereit gewesen waren, das gemeinsam mit ihm durchzuziehen.

Parker und Jo waren nur ein Jahr älter als er und obwohl sie schon damals ein Paar gewesen waren, hatte ein Kind definitiv nicht auf ihrem Plan gestanden. Zumindest nicht in absehbarer Zukunft. Dennoch waren sie sofort für ihn und Henry da gewesen. Uneingeschränkt und bedingungslos. Ihr einziger Kommentar war gewesen, dass sie nach allem, was Ayden für sie getan hatte, froh waren, ihm endlich etwas zurückgeben zu können. Damit war das Thema für sie erledigt gewesen und sie hatten den neuen Alltag mit Baby gemeinsam mit ihm gerockt. Sobald Riley ein gutes Jahr später volljährig geworden war, war sie ebenfalls nach Schottland gekommen und hatte ihre kleine WG-Familie komplementiert.

Liebevoll betrachtete Ayden seinen Sohn. Ihm war klar, dass er es nicht zuletzt seiner Schwester und seinen beiden besten Freunden zu verdanken hatte, dass Henry ein fröhlicher Sonnenschein war, der unvoreingenommen auf alle Menschen zuging und immer neugierig auf neue Dinge war. Was Ayden jedoch am meisten an seinem Sohn liebte, war dessen sanfte Seele. Henry wollte immer, dass es allen gut ging, und war voller Mitgefühl und Fürsorge für andere. Das machte ihn zu etwas ganz Besonderem und Ayden hatte sich geschworen, alles dafür zu tun, dass niemand dieser Seele Schaden zufügte.

Zärtlich streichelte er seinem Kleinen durchs Haar. »Hey Äffchen.«

Tagsüber hatte Henry kein Problem damit, wenn sein Dad nicht bei ihm war. Er ging gern in den Kindergarten und wenn Ayden mal länger arbeiten oder spontan für eine Schicht einspringen musste, war es völlig in Ordnung, dass stattdessen Riley, Jo oder Parker ihn abholten. Henry liebte die drei über alles. Auch Melissa mochte er und es war okay für ihn, dass sie abends auf ihn aufpasste und ihn ins Bett brachte, wenn die Hunters Geister jagen mussten. Geister waren gefährlich, weil sie Leuten wehtun konnten. Deshalb war es gut, dass die Hunters sie einfingen und die Stadt sicherer machten. Allerdings bestand Henry darauf, dass Ayden ihn nach jedem Einsatz weckte, damit er wusste, dass sein Dad wieder sicher zu Hause war.

Sacht strich Ayden mit dem Daumen über Henrys Schläfe in der Hoffnung, dass der Kleine zwar merkte, dass er wieder da war, aber nicht zu munter wurde. Henry regte sich, blinzelte und ein Lächeln flog über sein Gesicht, als er seinen Dad erkannte. Glücklich, aber völlig schlaftrunken streckte er seinen Arm nach ihm aus.

Ayden nahm ihn hoch und zog ihn auf seinen Schoß. »Wir sind alle wieder zu Hause.«

Sofort schmiegte Henry sich an ihn und grub seine Finger in Aydens Sweatshirt. Dieses Klammern hatte er schon als Baby gemacht und es hatte ihm seinen Spitznamen eingebracht. Auch heute klammerte er noch, wenn er müde war oder seinen Dad brauchte. Ayden liebte diese Angewohnheit sehr. Er schlang seine Arme um Henry und gab ihm einen Kuss auf den schlafzerzausten Haarschopf.

»Geht es allen gut?«, hörte er Henry an seine Brust murmeln.

Versichernd streichelte Ayden ihm über den Rücken. »Ja, wir haben gut aufeinander aufgepasst.«

»Und ich hab euch den Unbesiegbarkeitskuss gegeben.«

Ayden grub sein Gesicht erneut in Henrys Haarschopf. »Ja, der hat auch geholfen«, flüsterte er zärtlich.

»Bleibst du jetzt hier?« Hoffnungsvoll klammerte Henry seine Finger fester in Aydens Sweatshirt. Dass sein Dad in dieser Woche nachts immer weggewesen war, um auf der Arbeit auszuhelfen, hatte ihm nicht gefallen. Er hatte es zwar tapfer hingenommen, aber jede Nacht schlecht geträumt und nur Ruhe gefunden, weil Riley bei ihm geschlafen hatte.

»Ja, ich bleibe hier. Heute Nacht geht keiner von uns mehr weg.« Ayden legte seine Hand auf Henrys Herz, wie er es bei einem Versprechen immer machte. »Versprochen.«

Henry waren die Augen schon wieder zugefallen, doch er lächelte glücklich. »Das ist gut«, nuschelte er und schmiegte sich noch dichter an Ayden.

»Ja, das finde ich auch.« Er blieb noch eine Weile auf der Bettkante sitzen und kuschelte mit Henry, bis dieser wieder fest schlief. Dann stand er auf und legte seinen Sohn in dessen eigenes Bett, wo er entspannt weiterschlief.

Ayden zog sich um und fand dabei einen Dino und einen Drachen in seinem Schlafshirt. Schmunzelnd stellte er die Figuren neben den LED-Mond auf die Kommode. Nachdem in den letzten Monaten Piraten hoch im Kurs gestanden hatten, schienen jetzt Dinos und Drachen die neuen Stars seines Sohns zu werden und dabei nahm Henry es nicht so genau, dass es die einen wirklich gegeben hatte und die anderen erfunden waren.

Aydens Blick fiel auf den Wäschekorb am Fußende von Henrys Bett, in dem frisch gewaschene Wäsche darauf wartete, gefaltet und weggeräumt zu werden. Kurz war er versucht, sie einfach zu ignorieren. Nur noch rasch ins Bad und anschließend ins Bett zu fallen, war äußerst verführerisch. Doch leider würden weder Hauselfen noch Heinzelmännchen den Job für ihn erledigen, deshalb kippte er den Korb auf dem Teppich aus und begann, die Wäsche zusammenzulegen.

Hinter ihm ging leise die Tür auf und Riley schlüpfte ins Zimmer. Lächelnd sah sie zu ihrem Neffen, der mit seinem Teddy im Arm schlummerte. Dann trat sie zu ihrem Bruder und zauste ihm durchs Haar.

»Dir ist schon klar, dass die Wäsche auch noch bis morgen gewartet hätte?«, wisperte sie und setzte sich zu ihm, um zu helfen.

»Das ist schnell erledigt und steht dann morgen nicht mehr auf der To-do-Liste. Du musst mir nicht helfen.« Er deutete in ihre Zimmerecke. »Gönn dir nach dieser Horrorwoche deinen wohlverdienten Feierabend.«

»Mach ich. Aber zuerst helfe ich dir noch. Ich kann meinen Feierabend nicht genießen, wenn ich dir beim Arbeiten zusehen muss. Außerdem sind da auch ein paar von meinen Klamotten drin.«

Ayden schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Danke.«

Durch die Tür hörten sie gedämpft Stimmen, als Melissa sich von Jo und Parker verabschiedete.

»Was wollte sie wissen?«, fragte Ayden leise.

»Nur das, was so ziemlich jeder wissen will und was sie mit ein paar Klicks auch im Internet herausgefunden hätte. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie kein Essay schreiben will. Sie hat bloß nach einem Vorwand gesucht, um mit dir zu reden.« Riley bedachte ihren Bruder mit einem vielsagenden Blick, der schien dem Thema jedoch aus dem Weg gehen zu wollen und faltete bloß kommentarlos einen weiteren Kinderpullover.

Sie seufzte. »Ich weiß, dass du nach Sarah der Frauenwelt abgeschworen hast, und auf eine gewisse Weise kann ich das auch verstehen. Aber du bist doch flexibel. Und du musst nicht wie ein Mönch leben, nur weil du Vater bist.«

Ayden schnaubte. »Das tue ich doch gar nicht. Ich bin aber nicht der Richtige für eine Beziehung.«

Riley rollte die Augen. »Niemand sagt, dass du gleich auf die Suche nach Mr Right gehen sollst. Aber gönn dir doch zumindest mal wieder ein bisschen Spaß mit einem Mr Right Now.« Sie grinste bedeutungsvoll. »Der heiße Typ, der heute Vormittag beim Abkassieren mit dir geflirtet hat, wirkte definitiv offen für ein bisschen Spaß.«

Ayden lachte leise auf und warf ein Sockenknäuel nach ihr. »Wie wäre es, wenn du dich statt um mein Liebesleben um dein eigenes kümmerst?«

Riley zog die Nase kraus, fischte eins ihrer T-Shirts aus dem Wäschehaufen und hielt es so, dass er den Schriftzug darauf lesen konnte.

People … not a fan.

»Menschen nerven mich, deshalb hat es leider sowohl Mr Right als auch Mr Right Now ziemlich schwer.« Sie grinste wieder. »Was aber nicht heißt, dass ich keine Hoffnung habe, irgendwann jemanden zu finden, der nur im exakt richtigen Maß nervt.«

Jetzt musste auch Ayden grinsen. »Klingt wie die Suche nach einem karierten Zebra.«

»Mag sein.« Unbekümmert zuckte sie mit den Schultern und warf die Socken zu ihm zurück. »Aber ich weiß, dass es sie gibt. Immerhin lebe ich mit vier solcher Exemplare zusammen.«

Kapitel 5

Samstag, 23. März, 05:03 Uhr

Edinburgh

 

›Wach auf.‹

Die Stimme drang in Rileys Schlaf.

›Wach auf. … Wach auf!‹

Die gewisperten Worte hallten durch ihren Kopf und wurden immer lauter, drängender, fordernder.

›Wach auf! Wach auf!‹

Riley riss die Augen auf. Sie kannte die Stimme.

›Du musst weg! Weg! Weg! Weg! Du musst hier weg!‹

Das Gefühl von drohender Gefahr ließ ihr Herz rasen und brachte ihr Innerstes zum Vibrieren.

›Weg! Weg! Weg!‹

Das Vibrieren wurde so stark, dass sie kaum noch atmen konnte.

›Weg! Du musst hier weg!‹

Ihre innere Stimme schrie mittlerweile so laut in ihrem Kopf, dass es wehtat. ›Weg! Weg! Weg!‹

Ja, verdammt! Sie hatte es verstanden!

Aber sie konnte sich kaum rühren, solange die Stimme und das furchtbare Vibrieren in ihrer Brust sie gefangen hielten. Ächzend kniff Riley die Augen zusammen, krallte ihre Finger in die Bettdecke und warf den Kopf hin und her. Das Schreien musste aufhören, damit sie wieder klar denken konnte.

»Riley! Verdammt, was ist los?«

Ayden tauchte neben ihrem Bett auf. Er packte sie an den Schultern und brach damit den Bann.

Die Stimme verstummte.

Keuchend riss Riley die Augen auf.

»Was ist los?« Schreck und Sorge standen Ayden ins Gesicht geschrieben, als er sich zu ihr auf die Bettkante sinken ließ.

Riley setzte sich auf und wischte sich mit zittrigen Fingern über die Augen. Mit seiner Berührung hatte Ayden zwar die Stimme aus ihrem Kopf vertrieben, das Vibrieren in ihrem Inneren hielt jedoch weiter an. Es war, als hätte ein dumpfer Gongschlag Schwingungen in Gang gesetzt, die jetzt ein anhaltendes Gefühl von drohendem Unheil aussandten.

»Ich hab die Stimme wieder gehört. Sie hat gesagt, dass ich hier wegmuss.«

Zwei Mal hatte ihr inneres Alarmsystem schon zu ihr gesprochen und zumindest einmal hatte es ihr das Leben gerettet. Diese Stimme war ein Teil von ihr. So wie ihr Feuer und ihr Eis. Sie tat zwar weh, wenn sie ihre Aufmerksamkeit suchte, wollte aber nur helfen und sie beschützen. Wenn die Stimme sich meldete, drohte Gefahr.

Große Gefahr.

»Shit!« Ayden gab sich Mühe, Ruhe zu bewahren, was allerdings nicht leicht war, weil ihm gleich ein gutes Dutzend Horrorszenarien durch den Kopf schossen. »Sind wir alle in Gefahr? Ist was mit dem Haus? Brennt es? Oder gibt es ein Gasleck?« Über die Schulter warf er einen gehetzten Blick zu Henry, der friedlich in seinem Bett schlief. »Müssen wir sofort hier raus?«

Riley schluckte. Nach der Schreiattacke pochte ihr Schädel und das Vibrieren in ihrem Inneren lenkte sie ab.

Reiß dich zusammen und konzentrier dich!, fuhr sie sich selbst an.

Lag Ayden richtig? Wollte ihre Stimme sie vor einer Gefahr hier im Haus warnen? Das Gebäude war alt. Ein Kurzschluss mit Kabelbrand wäre nicht unwahrscheinlich. Genauso wie ein Leck, das Gas oder Kohlenmonoxid austreten ließ.

Ihr Herz stolperte und Panik wollte in ihr hochsteigen.

Nein! Stopp!

Panik brachte nichts. Im Gegenteil. Sie blockierte sie nur.

Entschieden zwang Riley sich zu Ruhe. Sie atmete tief durch, schloss die Augen und horchte dann in sich hinein.

Das Vibrieren zerrte an ihren Nerven, in ihrem Schädel pochte es weiter und ihr Magen hatte sich nervös zusammengekrampft. Auch ihr Herz schlug schneller als es sollte. Davon durfte sie sich jetzt aber nicht ablenken lassen. Sie musste Wichtiges klären.

Ging die Gefahr vom Haus aus?

Riley hörte ihren Herzschlag in ihren Ohren, ignorierte ihn jedoch und horchte tiefer in sich hinein. Das Gefühl von Gefahr war zwar stark, doch als sie sich jetzt mit Sinn und Verstand darauf konzentrierte, erschien es nicht so dringlich, dass sie sofort aus dem Haus stürmen wollte, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie versuchte, noch etwas Konkreteres zu spüren, aber es blieb bloß bei dem unbestimmten Gefühl von Gefahr.

Sie öffnete die Augen und suchte Aydens Blick. »Ich denke nicht, dass uns jetzt gerade hier im Haus akute Gefahr droht. Wo oder wann sie stattdessen drohen könnte, weiß ich aber nicht.«

Ayden atmete sichtlich auf. »Okay. Solange es nicht akut ist, müssen wir nichts überstürzen.« Er reichte ihr eine Wasserflasche, die neben dem Bett stand. »Ich wecke Parker und Jo. Trink was und gönn dir noch einen Moment Ruhe. Vielleicht kannst du dann zusammen mit Parker noch mehr herausfinden.«

»Okay. Und danke.«

Ayden stand auf und drückte ihr versichernd die Schulter. »Keine Angst, diesmal musst du da nicht allein durch.« Mit einem kurzen Blick zu Henry vergewisserte er sich, dass sein Sohn noch immer schlief, bevor er aus dem Zimmer verschwand.

Riley drehte die Flasche auf und trank ein paar Schlucke. Das Wasser tat gut. Sie schloss erneut die Augen und atmete ein paar Mal tief durch in der Hoffnung, auf diese Weise das nervige Pochen hinter ihren Schläfen loszuwerden. Es hielt sich jedoch hartnäckig und weil das Vibrieren in ihr sie wahnsinnig machte, funktionierte das Noch-einen-Moment-Ruhe-gönnen nicht wirklich.