Neues von Oma und Jule - Maria Meyer - E-Book

Neues von Oma und Jule E-Book

Maria Meyer

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Beschreibung

»Warum dürfen Madchen keine Hosen anziehen?« »Wie stark muss eine Nonne sein, um ein Pony zu tragen?« Oma erzählt ihren Enkelinnen von der Zeit nach dem Krieg - als der Pastor noch bestimmte, ob sonntags die Ernte eingefahren werden durfte. Es sind 21 wahre Geschichten vom einfachen Leben auf dem Dorf. Sie handeln vom Schulalltag, der Arbeit auf dem Feld, von lustigen Streichen und kleinen Abenteuern. Nach dem Erzählband »Oma und Jule oder Ein Löwe auf dem Skateboard« ein weiteres informatives und unterhaltsames Vorlesebuch für Schule und Familie, ein Lesebuch für Jung und Alt. Pressestimmen: »Mein derzeitiges Lieblingsbuch [...]« (Land und Forst) »[Frau Meyer hat] mit ihren Geschichten Qualitätsmarken gesetzt. Ihre Geschichten leben.« (Prof. Dr. Eberhard Ockel, Vechta) »[...] die Geschichten zeugen von einer ganz besonderen Beziehung.« (Neue Osnabrücker Zeitung, NOZ) »Das Buch vergleicht erneut die unterschiedlichen Moraleinstellungen damals und heute, vermeidet jedoch ganz bewusst den moralischen Zeigefinger.« (Oldenburgische Volkszeitung, OV)

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Seitenzahl: 213

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»Inzwischen kamen die Wehen in immer kürzeren Abständen. Da kann nur Möllers Mutter helfen, entschied Vater um zehn Uhr nachts. Er nahm die Petroleumlampe in die Hand, hastete über den gefrorenen Acker und kroch unter einem Stacheldraht hindurch, um den Weg abzukürzen. Dann musste er noch eine Weide überqueren, um endlich das Wohnhaus von Möllers zu erreichen.

Ganz außer Atem klopft er an das Schlafzimmerfenster. Aufwachen, aufwachen, hier ist Heini! Anna, du musst sofort mitkommen! Es ist so weit. Anna! Anna!«

Maria Meyer (geb. 1941) bekannt durch den Erzählband Oma und Jule oder Ein Löwe auf dem Skateboard lebt mit ihrem Mann in einer Kleinstadt im Oldenburger Münsterland. Sie war in ihrer aktiven Zeit eine engagierte Pädagogin und hat nach der Pensionierung ein nachhaltiges Leseprojekt auf den Weg gebracht, das von der Stiftung Lesen bundesweit durchgeführt wurde (»Lesestart«). Jule und Charleen Meyer, ihre Enkelinnen, leben mit ihrer Familie in einer kleinen Ortschaft in Niedersachsen. Jule interessiert sich für seltene Pflanzen und Tiere. Zur Zeit züchtet sie Weißbauchigel. Charleens Hobby ist das Tanzen.

For you, Betti, wherever you are …

INHALTSVERZEICHNIS

Der erste Schultag 1948

(oder: Star Wars gegen Butterbrot)

Aufmucken oder kuschen?

Hurra, kein Junge!

Meister Adebar in Gefahr

Dicke Luft in der Schule

Bonbons mit Mäusedreckgeschmack

Kein Empfang auf Handybrötchen

Hoi, Hoi, Heu!

Als die Zeit noch keine Sekunden hatte

Zick, zack, Zigeunerpack?.

Die Liebe in Zeiten des Karussells

Die Roggenmuhme

Kartoffeln suchen

Bastelmaus und Leseratte

Wie Pechmarie zu ihrem Namen kam

Die Schule am Nordpol

Die Nonne und ihr Pony

Los, Maria, schell!

Sie isst noch nicht mal Zuckerbrot

Friede sei mit euch!

Zukunftsvisionen

DER ERSTE SCHULTAG 1948

(ODER: STAR WARS GEGEN BUTTERBROT)

Es ist Anfang August. Nach einer verregneten Ferienzeit hat die Schule wieder begonnen. Oma ist bei strahlender Sonne auf ihrem E-Bike unterwegs nach Rüschendorf, einem ländlich gelegenen Ortsteil der Stadt Damme in Niedersachsen, unweit des Dümmer Sees.

»Seltsam«, denkt sie und schaut kurz hinauf in den wolkenlosen blauen Himmel, »sobald die Schule anfängt, kommt auch das gute Wetter. Das hätte ich den Kindern in den Ferien gegönnt.« Ihr Blick fällt auf die Roggenfelder neben der Straße. Sie sind noch nicht abgeerntet, die Halme biegen sich unter der Last der Feuchtigkeit. Die Ähren, mit Wasser vollgesogen, lassen die Köpfe hängen.

»Für die Bauern wäre es ein Segen, wenn die schöne Witterung anhalten würde«, denkt Oma weiter.

Im Kräutergarten 71 in Rüschendorf angekommen, steigt sie gleich die Treppen hinauf zu Charleens Zimmer, hält aber vor der Tür inne. Charleen – Omas jüngste Enkelin und kleine Schwester von Jule – hat nämlich ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören!« angebracht.

Oma klopft.

»Herein!«, ruft eine genervte Stimme. »Wer ist denn da schon wieder? Ach du, Omi. Komm rein! Ich dachte schon, Jule wär das. Hast du noch einen Bleistift über oder ´nen Ratzefummel?«, äfft Charleen ihre Schwester nach. Sie sitzt am Schreibtisch in ihrem kleinen, sorgfältig aufgeräumten Zimmer mit den fliederfarbenen Tapeten. Auf dem Bett türmt sich ein ganzer Berg Stofftiere.

»Na, wie war der erste Schultag?«, fragt Oma, um vom Zickenalarm abzulenken. Außerdem ist sie heute besonders neugierig. Schließlich war es Charleens erster Tag in der fünften Klasse – an der neuen Schule.

»Normal«, meint Charleen, »ganz normal. Wir haben fast nur gute Lehrer bekommen. Leider auch die Frau Mader in Textilem Gestalten.« Charleen seufzt. »Die ist doof, hat Luca gesagt.«

Oma geht nicht darauf ein. »Dann war's in der Grundschule also viel besser?«

Charleen nickt. »Und wie. Vor allen Dingen in Klasse eins und zwei. Wenn ich an meinen allerersten Schultag denke, Mann, habe ich mich damals darauf gefreut.«

»Und wir haben diesen Tag mit dir festlich gefeiert. Es war ein schöner, sonniger Tag«, erinnert sich Oma. »Wir haben mittags draußen gesessen, die Taufpaten waren auch da und dein Papa hat gegrillt.«

Charleen grinst. »Ja. Für mich war das wie eine Geburtstagsfeier – natürlich auch mit vielen Geschenken. Ach, ich möchte noch einmal so klein sein!«

Sie hat ihre Federmappe ausgekippt, um doch noch nach einem Bleistift für Jule zu suchen.

»Weißt du noch, wie deine Schultüte aussah?«, fragt Oma.

»Klar. Warte, ich hole mal das Album.« Schon springt sie auf und flitzt zum Regal neben dem Schreibtisch. Das Fotoalbum findet sie sofort. Im Gegensatz zu ihren großen Schwestern ist Charleen sehr ordnungsliebend. Bei ihr ist alles am richtigen Platz. Sie schlägt das Album auf.

»Schau, Omi. Eine Star Wars-Schultüte. Hatte Mama gebastelt.«

Oma rückt ihre Brille zurecht. »Oh ja, Charleen, ich erinnere mich. Mit deiner Lieblingsfigur. Den Namen hab ich allerdings vergessen ...«

»Ahsoka«, sagt Charleen. »A-scho-ka. Gehört zu Star Wars, Oma.«

Oma mustert das Foto. Ahsoka ist eine hübsche, kämpferisch wirkende junge Frau. Sie trägt zwei Lichtschwerter in den Fäusten, ihr Gesicht ist kunstvoll tätowiert.

»Weiß ich doch«, erklärt Oma schließlich. »Ahsoka ... den Namen hatte ich dir ja auch einmal auf ein T-Shirt drucken lassen, das ich dir dann zum Geburtstag geschenkt habe. Ahsoka ist mir sehr sympathisch, so wie sie sich im Film zeigt«, fügt sie noch hinzu.

Charleen schaut Oma fragend von der Seite an. »Oma, sag mal ... erinnerst du dich denn noch an deinen allerersten Schultag? Ja? Oh, dann erzähl mir doch mal die ganze Geschichte. Komm, wir machen es uns gemütlich.« Charleen setzt sich mit dem Album aufs Bett und zeigt auf den Platz neben sich. »Komm, Omi!«

Charleen mag die Geschichten von früher, besonders, wenn sie Oma für sich allein hat und die älteren Schwestern sie nicht nerven.

Beide rücken ganz nah zusammen. Oma legt den Arm um Charleen und beginnt zu erzählen.

»Ich wurde im April 1948 eingeschult. Das neue Schuljahr begann damals immer nach Ostern. Erst 1966 erfolgte die Umstellung, so, wie wir sie heute kennen: mit dem Schulbeginn direkt nach den Sommerferien. Sicher war ich genauso aufgeregt wie du damals. Die Einzelheiten stelle ich mir so vor: Wahrscheinlich habe ich morgens keinen einzigen Pfannkuchen mehr runtergekriegt, sondern nur eine Tasse warme Milch getrunken. Dann kam ein Butterbrot, in Pergamentpapier eingewickelt, in den Tornister, und los ging's an der Hand meiner älteren Schwester auf zur Schule.«

»Moment, Omi. Nicht so schnell!«, unterbricht Charleen. »Ich stelle mir das gerade vor. Was hattest du denn an? Das muss ich doch wissen.« Sie schlägt das Album wieder auf. »Schau mal hier – das pinkfarbene Sommerkleid, das hab ich getragen. Das war mein Lieblingskleid. Und die Sandalen mit den Bändern fand ich auch hübsch. Nicht zu vergessen: meine schöne Frisur. Mama hatte mir vorne einen Extrazopf geflochten, die übrigen Haare wollte ich offen tragen.«

»Ja, mein hübsches Kind«, wirft Oma augenzwinkernd ein. »Und wo war heute zum Schulanfang der Extrazopf?«

»Das ist doch schon lange nicht mehr cool.« Charleen zuckt die Achseln. Es scheint sie nicht besonders zu kümmern, dass die Mode so schnell wechselt. »Hattest du denn auch so ein schönes Sommerkleid an, Omi? So wie ich?«

Oma schüttelt den Kopf. »Wahrscheinlich trug ich – da es ja direkt nach Ostern war – noch mein bestes dickes Winterkleid. Dazu eine bunte Schürze. Dann geschnürte, hohe Schuhe und vielleicht noch Schleifen in den dünnen Rattenzöpfen. Leider hatte ich nicht so schönes dickes Haar wie du«, meint Oma und streichelt Charleen zärtlich über den Kopf. Dann fährt sie zügig fort. »Also – am ersten Schultag begleitete Mutter meine Schwester und mich sicher noch bis zur Landstraße. Wahrscheinlich winkte sie uns einmal nach und dann trabten wir eilig los. Wir wollten nämlich die Ersten bei der Schule sein.«

»Warum das denn?«, fragt Charleen neugierig.

»Weißt du«, fährt Oma fort, »es ging nämlich im Dorf ein Gerücht: Wer als Erster am Schulgebäude erscheint, darf auch den ersten Platz in der ersten Bank einnehmen ... Was schaust du so ungläubig, Charleen?«

»Ich versteh nicht, warum das so wichtig sein soll. Vorne auf dem ersten Platz in der ersten Bank sitzen? Ist doch egal, wo man sitzt.«

Oma überlegt. »Nun, der erste Platz war sozusagen der beste Platz in der ganzen Klasse. Später im Schuljahr wurde man mit diesem Platz belohnt, wenn man die beste Leistung gezeigt hatte. Dann durfte man auf dem ersten Platz sitzen, was ich aber nur einmal geschafft habe. Der erste Platz wurde immer wieder neu vergeben«, erklärt sie. »Deshalb rannten Irmgard und ich am Ende so schnell, wie wir konnten. Als wir atemlos bei der Schule ankamen, waren leider schon mehrere Kinder dort. Wären wir doch nur eher aufgestanden oder schneller gerannt! keuchte Irmgard.« Oma schmunzelt. »Nun, wie sich später herausstellte, war unser Ärger umsonst, denn an diesem Tag wurden alle Plätze willkürlich vergeben.«

»Warte, Oma – du hast noch nichts von deinem Tornister, also diesem Schulranzen erzählt.«

Oma nickt. »Ja, stimmt. Den gebrauchten Tornister hatte ich geschenkt bekommen. Er war aus Leder und hatte innen nur ein einziges Fach – also gerade genug Platz für die Tafel, den hölzernen Griffelkasten und das Butterbrot.«

Charleen staunt. »Eine Tafel?« fragt sie. »Du meinst Schokolade?«

Oma lacht. »Nein. Eine Schiefertafel, Charleen. Zum Schreiben. Eine Tafel mit einem Holzrahmen, an der zwei kleine Lappen zum Putzen befestigt waren.«

Charleen runzelt die Stirn. »Und was war mit deiner Fibel und dem Mathebuch? Als ich eingeschult wurde, bekamen meine Eltern schon vor den Sommerferien eine lange Liste. Alles, was draufstand, musste gekauft werden. War ganz schön teuer«, erinnert sie sich. »Den rosa-silbernen Schulranzen hast du ja gekauft, Omi. Erinnerst du dich noch? Zusammen mit dem farblich passenden Turnbeutel und der Federmappe?«

Oma nickt zufrieden. »Jawohl, für solche Dinge sind die Omas wohl immer zuständig. Von der Kindergartentasche bis hin zum Schulrucksack. Falls du einmal Lehrerin wirst – und ich das noch erlebe – würde ich dir auch die erste Aktentasche aus Leder kaufen.«

Charleen grinst. »Keine Chance, Omi. Erstmal werde ich garantiert nicht Lehrerin, sondern ...« Sie stockt, überlegt kurz, aber ihr fällt nichts weiter dazu ein. Offenbar hat Charleen noch keine konkreten Berufswünsche. »Egal«, fährt sie fort. »Was ich sagen wollte, war: Die Lehrerinnen heute haben fast alle einen Trolley zum Ziehen. Keine Aktentasche.«

»Was man nicht im Kopf hat, hat man im Koffer«, murmelt Oma, fährt dann aber laut fort. »Zurück zu meinem Tornister. Ich glaube – ja, eine Fibel war doch drin, die gebrauchte von meiner großen Schwester Irmgard. Und der Griffelkasten. Der war sogar nagelneu. Ein länglicher Holzkasten mit einem Deckel zum Schieben, mit einem wunderschönen Blumenmuster darauf.«

Charleen blättert weiter im Album. »Schau! Hier bist du mit auf dem Foto, Omi, vor dem Gottesdienst. Und hier stehen wir vor der Schule. Und hier ist der Empfang durch die großen Schüler. Dann die erste Stunde. Ich glaube, die Eltern haben solange Kaffee getrunken. Und hier, schau mal, endlich Schule aus! Und da siehst du mich wieder mit der Star Wars–Schultüte.« Charleen genießt im Nachhinein noch einmal alle Szenen.

Ich wundere mich, dass wir keinen Schulanfangsgottesdienst hatten, denkt Oma, wo doch das ganze Leben so religiös geprägt war. Aber ein Gottesdienst auf Latein? Extra für Kinder –?

»Omi?«, fragt Charleen, während sie das Album durchblättert.

»Ja?«

»Wie geht deine Geschichte denn jetzt weiter?«

»Wie ich schon sagte, wir waren nicht die Ersten bei der Schule. Als der Hauptlehrer endlich auf den Schulhof kam, mussten sich alle Kinder vor der Treppe aufstellen. Links die Mädchen, rechts die Jungen, in schnurgeraden Reihen, wie bei der Bundeswehr. Die Großen schoben uns i-Männchen ganz nach vorne. Und dann, nachdem der Lehrer überprüft hatte, ob die Reihen auch wirklich wie mit dem Lineal gezogen waren, durften wir eintreten. Die Mädchen des ersten Schuljahres wurden links vorne in die Bänke eingewiesen, die Jungen rechts.«

»Stopp, Oma, was soll das denn mit dem links und rechts?«, hakt Charleen ein. »Das ist doch pottegal, oder?«

Oma schüttelt den Kopf. »Früher nicht. Es wurde immer und überall nach Männlein und Weiblein getrennt. In der Kirche saßen zum Beispiel die Jungen und die Männer rechts und die Mädchen und die Frauen links vom Hauptgang. Weißt du – auf dem Weg zum Altar geht die Braut auch heute noch zunächst an der linken Seite des Bräutigams. Und nach der Trauung, wenn sie sich umgedreht hat, dann darf sie an der rechten Seite ihres Ehemanns gehen.«

»Dann ist rechts also die bessere Seite? Immer die Männer zuerst, das ist fies!«

»Für eure Familie gilt das aber nicht. Dein Papa hat's immerhin mit vier Frauen zu tun.«

»Vergiss nicht Fibi und Sally, die sind auch weiblich«, wirft Charleen triumphierend ein, »und sie haben ebenfalls Familienanschluss.« Fibi und Sally sind die zwei Hunde der Familie Meyer in Rüschendorf. Neben zehn Kaninchen, drei Meerschweinchen und zwölf Hühnern zählen sie zu den Tieren, um die sich die Kinder tagtäglich kümmern. Ganz hinten im Garten, kurz vor dem Weidezaun, stehen ein großer Hühner- und ein noch größerer Kaninchenstall. Diese Ställe hat Charleens Vater eigenhändig für den Mini-Zoo gebaut.

»Armer Papa!«, meint Charleen schließlich. Offenbar hat sie weiter über die zahlreichen weiblichen Mitglieder des Haushalts und die Anstrengungen, die das Leben mit ihnen mit sich bringen kann, nachgedacht. »Na ja, er wird's überleben.« Sie kuschelt sich wieder an Oma. »Also weiter, Omi! Du musstest also links sitzen?«

»Ja, eingezwängt zwischen vier anderen Mädchen auf einer langen Holzbank. Aufstehen! Beten! Setzen! Die Hände falten! Still sitzen und nach vorne schauen! So lautete die strenge Ansage des Hauptlehrers. Diese Befehle galten nicht nur für uns Neulinge, sondern auch für die anderen sechzig Kinder hinter uns. Der Lehrer unterrichtete nämlich alle Jahrgänge von Klasse eins bis acht gleichzeitig. Wie die Sardinen in der Büchse hockten wir auf den Bänken und niemand rührte sich.«

Charleen staunt. »Sechzig Kinder – und dazu noch die Erstklässler?«, fragt sie. »In einer einzigen Klasse?«

Oma nickt. »Ja. Das ist natürlich eine ganze Menge. Darum beschäftigte sich der Lehrer auch nur höchstens zehn Minuten mit den i-Männchen. Kurz gefasst hieß das: Vor- und Nachnamen aufsagen, dann den ersten Buchstaben lernen.«

»Und der war?

Oma schmunzelt. »Was glaubst du wohl?«

Charleen zuckt die Achseln.

»I«, sagt Oma. »Der erste Buchstabe war das ›i‹. Der Lehrer zeigte uns dazu ein Bild in der Fibel. Da stand ein Junge unter einer Pumpe, aus der eiskaltes Wasser strömte. ›Iiii!‹ schrie der arme Tropf aus Leibeskräften.«

Charleen grinst.

»Und schon war das i für den Lese- und Schreiblehrgang eingeführt«, erklärt Oma weiter. »Jetzt folgte die Übungsphase. Die großen Mädchen aus dem achten Schuljahr knieten sich zwischen die Reihen, um uns beim Schreiben des is auf der Tafel die Hand zu führen. Die Mathestunde verlief ähnlich: die ganze Tafel voll mit der Ziffer 1 schreiben. Hausarbeit: vier Reihen i und vier Reihen mit der Eins.«

Charleen denkt nach. »Also, wir haben zuerst Wörter gelesen und dann Druckbuchstaben geschrieben. Welche, weiß ich nicht mehr, aber mit einem dicken blauen Stift.« Sie schaut auf. »Oma, sag mal, wenn du in der Schule so viel geschrieben hattest, dann brauchtest du zu Hause ja nichts mehr zu tun, deine Schiefertafel war ja voll, oder?«

Oma schmunzelt. »Schön wär's gewesen. Vor Unterrichtsschluss hieß es immer: Tafel abputzen!«

»Und womit?«

»Zunächst einmal mit den Lappen, die an der Tafel befestigt waren. Dann zu Hause mit einem nassen Schwamm, sonst blieb die Tafel ja blind und schmuddelig. Manche Kinder haben auch einfach auf die Tafel gespuckt.«

»Igitt, Oma. Echt eklig!« Charleen verzieht angewidert das Gesicht.

»Na ja, der Lehrer hat's nicht ausdrücklich verboten, obwohl er auf Sauberkeit und Ordnung achtete: Ohren sauber, Fingernägel sauber, ein frisches Taschentuch, Griffel angespitzt? Das war die morgendliche Kontrolle.«

Charleen muss sich wundern. »Ohren sauber? Ich lach mich schrott. Das ging den Lehrer doch nix an.«

»Was das den Lehrer anging, überlegst du? Nun, wenn die Ohren vom Ohrenschmalz verstopft sind, dann kann der Schüler in der Klasse nicht alles verstehen ...«

Charleen runzelt die Stirn, dann aber lächelt sie, denn ihr ist etwas eingefallen. »Na, dann müssten in meiner Klasse aber viele zum Ohrenarzt.« Sie wendet sich Oma zu. »Ich kapier das aber trotzdem nicht, Omi. Was mischte sich der Lehrer da überhaupt ein?«

»Na ja. Der Lehrer war eben der Oberbestimmer, wie du früher gern gesagt hast. Was er sagte, war Gesetz und wurde von den Eltern nicht in Frage gestellt.«

Charleen klappt ihr Album wieder zu. »Noch eine andere Frage, Oma. Wie viele Stunden hattet ihr denn am ersten Tag?«

»Ich glaube zwei.«

»Und wurdest du von deiner Mutter abgeholt?«

»Wo denkst du hin? Die musste doch auf dem Feld arbeiten. Ich bin mit meinem Freund Siegfried nach Hause getrödelt. Wir haben uns noch darüber unterhalten, warum der Lehrer nicht – wie im Vorjahr – jedem Kind wenigstens ein Bonbon geschenkt hatte. Siegfried meinte: Zusammen mit den Flüchtlingen waren wir wohl zu viele Kinder. So viel Geld hatte er bestimmt nicht übrig.«

Charleen seufzt. Wahrscheinlich war sie gerade in Gedanken bei ihrer prall gefüllten Schultüte.

Da wird die Tür aufgerissen und Jule stürmt herein. »Oh, Omi!«, stottert sie ganz verdutzt.

»Jule«, schimpft Charleen energisch, »du solltest doch anklopfen!«

»Entschuldige«, meint Jule mit einem Blick auf Oma, dann wendet sie sich Charleen zu. »Hast du nun einen Bleistift über oder nicht?«

Charleen reicht Jule einen Stummel. »Langt der?«

Jule starrt den Stummel einen Augenblick lang an, dann nickt sie wortlos und macht auf dem Absatz kehrt.

»Warte mal, Jule«, ruft Oma ihr hinterher, »ich hätte von dir natürlich auch noch gern gewusst, wie's heute war.«

Jule hält kurz inne. »Lohnt nicht, Oma.« Ganz lässig winkt sie ab. »Alles langweilig – wie immer.« Und schon ist sie verschwunden.

»Die tut nur so, Omi«, flüstert Charleen jetzt. »Dabei hat sie uns beim Mittagessen die ganze Zeit vollgelabert.«

»Ähm – ›vollgelabert‹ sagst du? Weswegen?«

»Wegen des Neuen!« Charleen wirft Oma einen verschwörerischen Blick zu. »Der jetzt in ihre Klasse gekommen ist ... Den finden alle Mädchen wohl auf Anhieb ganz toll. Ha, ha, dabei ist der sitzengeblieben!«

Also immer noch Zickenalarm, denkt Oma. Wie lange das wohl noch anhält?

AUFMUCKEN ODER KUSCHEN?

Als Oma die Treppe hinuntersteigt, folgt ihr Jule. »Oma, worüber habt ihr eben gesprochen?«

»Über das Thema Schulanfang. Und den ersten Schultag.«

Jule horcht auf. »Oh, interessant. Weißt du noch, was für eine tolle Schultüte ich damals hatte?«

»Klar. Gebastelt von Mama, auf deinen Wunsch hin mit einer schwarzen, feurigen Rakete bemalt. Wurde sogar von der Zeitung prämiert.«

»Genau.« Jule seufzt wehmütig. Sie hatte die Schultüte später noch jahrelang in ihrem Zimmer aufbewahrt. »Ach, eigentlich ist die Grundschulzeit viel zu schnell vergangen.«

Oma nickt. »Dasselbe hat Charleen eben gesagt. Ich merk's wohl, du sehnst dich auch danach zurück ...«

»Ja und nein.« Jule zögert. »J-j-jein, würde ich sagen. Mann, war ich damals schüchtern«, gesteht sie schließlich freimütig ein. Jule wird im Juli vierzehn, und die Grundschulzeit liegt für sie lange zurück.

Oma denkt nach. »Schüchtern warst du, das stimmt. Aber das hat sich – Gott sei Dank! – geändert.«

»Und du, Omi? Wie warst du denn so mit sieben?«, fragt Jule. Die Frage kommt nicht von ungefähr – Jule hat schon seit Längerem festgestellt, dass sie in mancher Weise Oma ähnelt, das heißt, Omas Gene geerbt hat.

»In der Schule war ich – wie ich schon oft erzählt habe – sehr schüchtern. Aber zu Hause nicht.«

Jule fragt mit etwas vorsichtigem Seitenblick nach. »Gab's bei euch dreien eigentlich denn auch mal Zickenalarm?«

Oma nickt. »Na klar. Aber wir Größeren mussten immer nachgeben. Dann hieß es: Ihr solltet euch schämen! Wenn ihr euch noch einmal zankt, dürft ihr nicht zum Spielen raus, basta!«

Jule nickt. »Das passt. Ja, früher habe ich mich oft von Luca unterbuttern lassen – oder Charleen nachgegeben, wenn sie anfing zu heulen. Aber die Zeiten sind vorbei. Heute lasse ich mir nicht mehr alles gefallen.« Sie sieht Oma fragend an. »Und du, Omi? Hast du später denn mal richtig aufgemuckt?«

Oma schüttelt den Kopf. »Selten. Nein, ich habe um des lieben Friedens willen, wie man sagt, fast immer nachgegeben; ich hätte sonst ein zu schlechtes Gewissen gehabt. ›Der Klügere gibt nach‹, weißt du?«

Jule lacht. »Ha! Und du wolltest unbedingt die Klügere sein, Omi! Ja, das kommt mir bekannt vor. Du hast mir oft erzählt, dass die Erwachsenen die Bestimmer waren und ihr Kinder – ohne Widerworte – gehorchen musstet.«

Oma nickt ernst. »Genau so war's. Nach dem Krieg und bis weit in die sechziger Jahre hinein. Aber dann kam die antiautoritäre Erziehung. Da war auf einmal alles erlaubt. Die Kinder durften alles selbst entscheiden.«

Jule wird hellhörig. »So wie in dem Bilderbuch, aus dem du mir ganz früher mal vorgelesen hast?«

»Genau. Das weißt du noch?« Oma freut sich, dass Jule sich daran erinnert. »Das Buch gibt's übrigens immer noch«, fährt sie fort. »Es heißt: ›Der Tag, als Mama und Papa klitzeklein waren‹. Und das zweite heißt: ›Der Tag, als die Kinder keinen Quatsch mehr machten‹. Das war ein Wendebuch.«

»Oh, antiautoritär!«, sagt Jule entzückt. »Das könnten wir hier bei uns zu Hause auch mal eine Woche lang durchspielen, oder? Rollentausch finde ich immer gut.«

Oma wirft Jule einen skeptischen Blick zu. »Jule, mit dreizehn Jahren noch dieses Spiel? Das meinst du doch nicht im Ernst.« Unten an der Treppe angekommen, hält sie inne – und wird mit einem Mal recht nachdenklich. »Weißt du, Jule ... Als du noch klein warst, warst du fast zu gut für diese Welt. Du hast immer nachgegeben. Deine Eltern, die Erzieherinnen und die Lehrerinnen in der Grundschule mussten dich oft ermuntern: Trau dich! Lass dir nicht alles gefallen! Entscheide dich! Sag' ehrlich, was du meinst.«

Jule nickt. »Ich weiß. Diese Phase hat ziemlich lange gedauert. Aber es war ein tolles Gefühl, als ich mich in der fünften Klasse zum ersten Mal getraut habe, einer Lehrerin zu sagen, dass sie mir in einem Mathetest drei Punkte zu wenig gegeben hat.« Sie holt tief Luft. »Mann, hatte ich davor Herzklopfen.«

»Und von da an ging's bergauf? Na, werd mir in Zukunft nicht zu dreist!« Oma hebt lachend den pädagogischen Zeigefinger. »Du weißt, das kann ich nicht ab. Ich bin immer noch so zart besaitet.«

Jule grinst. »Aber – Gott sei Dank! – kein Loser, Omi.« Schnell verschwindet sie im Wohnzimmer.

Oma bleibt noch einen Moment lang verdutzt am Treppenabsatz stehen. War das jetzt ein Kompliment – oder nicht?, denkt sie.

HURRA, KEIN JUNGE!

Charleen hat Geburtstag. Heute wird sie zehn. Wie so oft an ihrem Geburtstag mitten im Juli scheint die Sonne und die Großeltern haben sich auf der Terrasse unter einem Sonnenschirm versammelt. Eine Erdbeertorte steht auf dem Tisch, dazu eine Platte mit Kokoskuchen und Muffins. Die großen Schwestern Jule und Luca haben sich einen Sonnenplatz ausgesucht und reihen sich gerne in die Runde ein.

Katja, Charleens Mutter, bringt gerade Kaffee und Tee heraus, als Opa meint: »Vor zehn Jahren – am Tag deiner Geburt, Charleen, ich habe das Bild noch genau vor Augen – da saßen wir hier nicht so gemütlich bei Kaffee und Kuchen. Wir haben voller Spannung gehorcht, ob das Telefon endlich klingelt.« Und mit einem Blick auf Charleens älteste Schwester fügt er an: »Und als es dann endlich klingelte, wollte Luca sofort den Hörer haben.«

»Typisch Luca«, meint Charleen spontan, »immer will sie die Erste sein, nur weil sie die Älteste ist.«

Luca horcht kurz auf, tippt dann aber weiter auf ihrem Smartphone herum. Wahrscheinlich kennt sie die Geschichte schon.

»Nein, nein, Charleen, hör doch erst mal zu!«, bremst Oma weitere Beschwerden über die große Schwester aus. »Du kannst nicht von heute auf damals schließen. Luca war ja erst fünf, fühlte sich durchaus schon etwas verantwortlich und ihre Fragen waren sehr berechtigt.«

Luca hört auf zu daddeln und blickt auf. »Was habe ich denn Schlaues gefragt?«

»Nun«, antwortet Oma, »was für dich wichtig war: Ist es ein Junge? lautete die erste Frage, und die zweite: Geht es Mama gut? Das war sehr einfühlsam von dir, dass du auch an Mama gedacht hast, Luca.«

»Hattet ihr euch etwa einen Jungen gewünscht?«, wendet sich Charleen ganz erstaunt an ihre Eltern.

»Na klar, nach zwei Mädchen«, meint Papa Martin trocken und lacht, weil Charleen so ein verdutztes Gesicht macht, als wenn sie sagen wollte: »Dann war ich wohl nicht willkommen?«

»Wir haben ja auch einen halben Jungen bekommen«, ergänzt Martin, »so einen Charly, der immer nur mit Jungs spielt.«

Charleen zieht eine Schnute, aber Katja entschärft schnell die Situation für das Geburtstagskind. »Charleen, für uns spielte das Geschlecht überhaupt keine Rolle. Und – zu deinem Trost – Luca und Jule haben sich wirklich während der ganzen Schwangerschaft immer nur eine Schwester gewünscht.« Katja stellt Charleen ein Glas mit Limonade hin. »So, jetzt musst du aber zuerst einmal die Kerzen auspusten, und wir wollen dir auch noch ein Ständchen bringen.«

Charleen holt tief Luft, beugt sich über den Kuchen und bläst mit einem Zug alle zehn Kerzen aus. Die Gäste klatschen und stimmen dann in das Geburtstagslied ein:

»Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst ...«

Charleen hat inzwischen Papas Absicht, sie etwas zu foppen, durchschaut und wendet sich fragend an Oma: »Solltest du etwa auch ein Junge werden, Omi?« Sie weiß, dass Oma ebenfalls aus einem Dreimädelhaus stammt.

»Genau, ich sollte auch ein Junge werden«, erklärt Oma. »Auf einen Bauernhof, egal, ob es der eigene Besitz oder wie bei uns ein gepachteter Hof war, auf diesen Hof gehörte immer ein männlicher Erbe, weißt du. Dabei war ich nicht wie du das dritte, sondern das zweite Mädchen.«

»Also waren deine Eltern enttäuscht, dass du auch nur ein Mädchen warst?«

Oma schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht. Letztendlich waren sie – so glaube ich – überhaupt froh, dass ich lebte und die Geburt überstanden hatte.«