Mandoria - Die zwölf Amulette - Maria Meyer - E-Book

Mandoria - Die zwölf Amulette E-Book

Maria Meyer

0,0

Beschreibung

Das einzige Außergewöhnliche an Emily ist der mitleidig-erschrockene Blick, den ihr die Leute zuwerfen, wenn sie erfahren dass sie eine Vollwaise ist... denkt sie zumindest. Aber als ein merkwürdiges kleines Männchen, das behauptet ein Elf zu sein, durch ihr Fenster klettert, ihr ein kostbares Amulett überreicht und darauf besteht, dass sie es nach "Mandorla" begleitet, erfährt Emily, dass sie eine Auserwählte dieser Parallelwelt ist. Sie ist eine der zwölf Amulettträger, die jeweils die Kontrolle über ein Element besitzen und ihre Kräfte einsetzen um Mandorla zu schützen. Doch zum Zeitpunkt von Emilys Ankunft stehen sie vor einer großen Bedrohung. Das Amulett des Lebens - das mächtigste der Amulette wurde gestohlen. Gemeinsam mit dem siebzehnjährigen Sam soll Emily es zurückbringen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 314

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maria Meyer

Mandoria - Die zwölf Amulette

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

„Es bleibt uns keine andere Wahl“, sagte der Zauberer. Seine Stimme war ruhig, aber er war angespannt bis in die Fingerspitzen, die er unter der Platte des schweren Eichenholztisches ungeduldig aneinander tippte. Es war tatsächlich die letzte Möglichkeit, die ihm einfiel, und er brauchte die Zustimmung des Rates. Der Rat aber tagte schon seit Stunden und schien sich einfach nicht mit seiner Idee abfinden zu wollen.

„Aber warum sollte das Amulett jemanden aus der neuen Welt wählen?“, fragte Senius zum hundertsten Mal. „Das ist noch nie vorgekommen, Zalador, nicht ein einziges Mal. Warum glaubst du, dass so etwas plötzlich passiert? Reisen in die neue Welt sind immer ein verdammtes Risiko, das weißt du so gut wie ich.“ Ein zustimmendes Gemurmel ging durch die Mitglieder des Rates.

Zaladors Geduld war am Ende. Er erhob sich von seinem Stuhl, stützte die Hände auf den Tisch und sah mit funkelnden Augen in die Runde. „Natürlich können wir uns nicht sicher sein, dass sie in der neuen Welt ist, aber das ist die einzige Erklärung, die ich anzubieten habe. Wir haben seit Jahren immer wieder Stunden und Stunden hier gesessen und erfolglos nach Erklärungen gesucht, also kann ich wohl annehmen, dass keiner von ihnen eine hat.“ Niemand widersprach ihm. Er merkte, dass sie zögerten. Jetzt musste er sie überzeugen, oder er konnte es aufgeben.

„Mir ist klar, dass es unwahrscheinlich erscheint“, fügte er hinzu, „aber wir haben keine Zeit mehr nach anderen Möglichkeiten zu suchen. Wir befinden uns praktisch im Krieg! Wir haben die Suche in der neuen Welt jetzt fünfzehn Jahre lang aufgeschoben. Die Amulettträger sind eine Einheit, wir können uns diese Lücke nicht länger leisten. Also sollten wir jede Möglichkeit, sie zu finden – und sei sie noch so absurd – in Erwägung ziehen. Ansonsten können wir gleich einen Boten zu Sebulon schicken und ihm unsere Kapitulation mitteilen.“

Noch immer schwiegen sie. Zalador holte tief Luft: „Wer stimmt einer Suche in der neuen Welt zu?“

Er sah sie an, verteilt um den runden Tisch. Senius rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, seine Ziegenbeine baumelten knapp über dem Boden. „Also gut“, er hob die rechte Hand und sah Zalador an. Langsam hoben auch die anderen Ratsmitglieder die Hände, einer nach dem anderen.

„Ich danke Ihnen“, Zalador stieß einen Seufzer aus und ließ sich erleichtert zurück in seinen Stuhl sinken. Zum ersten Mal seit Tagen bemerkte er kaum seinen schmerzenden Rücken. Die kleine Gestalt am Fenster, die davonhuschte und in der Dunkelheit verschwand, bemerkte niemand.

1.

„Morgen kommen die Schulräte in unsere Klasse. Ich möchte, dass ihr euch benehmt.“ Miss Clinton klappte ihren Terminkalender zusammen. „Übrigens hab ich morgen Nachmittag nichts weiter vor. Wir können gerne ein bisschen Nachsitzen einschieben, wenn jemand meint, er hat es nicht nötig, mir zuzuhören“, fügte sie mit plötzlicher Schärfe hinzu und knallte den Kalender auf Ashleys Tisch. Diese zuckte zusammen und ließ dann – nicht ohne die Augen in Richtung ihrer blondierten Freundin Carrie zu verdrehen – Make-up und Lipgloss in ihrer Tasche verschwinden.

Offenbar war an meinem Gesicht abzulesen, was ich davon hielt, sich dreimal täglich mitten im Unterricht zu schminken, denn Ashley drehte sich zu mir um und fragte mit giftigem Blick: „Hast du irgendein Problem, Emily?“

Ich lächelte ironisch und begann, auf dem Rand meines Blattes herum zu kritzeln. Selbst Ashley konnte mich jetzt nicht mehr wütend machen. Denn der Tag, an dem die Schulräte kamen, war immer einer der Besten des Jahres.

Die Schulräte, das war eine Truppe alter, untersetzter Männer mit Hornbrillen und schlechten Zähnen – und Professor Jared Hunter. Jared war schlank und ziemlich groß, hatte dunkle, meistens zerzauste Haare und strahlend grüne Augen und roch immer nach Pfefferminzkaugummis. Eigentlich war er viel zu cool, um ein Schulrat zu sein.

Weil nicht nur ich das so sah, war der Tag an dem die Schulräte kamen auch der einzige Tag des Jahres, an dem Carrie und Ashley mich nicht ansahen, als wäre ich irgendein merkwürdiger Alien, der auf ihrem Bitch-Planeten notgelandet war. An diesem Tag waren sie alle einfach nur neidisch auf mich.

Denn Jared war so was wie ein alter Freund von mir. Er lud mich jedes Jahr in die kleine Eisdiele im Dorf ein, erkundigte sich ob es mir gut ging und plauderte über Gott und die Welt. Natürlich sah ich diese Treffen nicht als Dates oder so was. (Auch wenn ich Ashley diesen Eindruck nicht ausredete. Es war lustig, sie neidisch zu machen.) Jared war immerhin alt genug, um mein Vater zu sein. Und irgendwie war er auch eine Art Vater für mich. Das lag vermutlich zum Teil daran, dass ich ihn schon mein ganzes Leben lang kannte.

Bevor ich ins Internat kam, hatte ich nämlich bei einer Familie in den Bergen gelebt, in der Nähe vom Ben Nevis. Jared gehörte ein kleines Ferienhaus in unserer Straße. Als begeisterter Bergsteiger fuhr er jeden Sommer für ein bis zwei Wochen hin, freundete sich bald gut mit meinen Adoptiveltern an und nahm mich, als ich alt genug war, oft zum Bergsteigen oder Skifahren mit.

Als ich von der kleinen Dorfschule ins Internat gekommen war, hatte ich festgestellt, dass Jared Hunter Professor war und zu den Schulräten gehörte, die jedes Jahr unsere Schule inspizierten.

Sein Besuch in meiner zweiten Schulwoche war eine Erleichterung gewesen, da ich endlich wieder ein Gespräch mit jemandem führen konnte, der nicht ständig Fragen stellte, wie jeder einzelne Schüler meiner neuen Klasse. Wo hatte ich vor der Adoptivfamilie gewohnt? Konnte ich mich noch an meine Eltern erinnern? Ich hasste solche Fragen. Natürlich konnte ich mich nicht an sie erinnern, genauso wenig wie an London. Dort hatten wir gelebt, bis im Gebäudekomplex ein Feuer ausbrach. Elf schwer Verletzte, fünf Tote, dazu gehörten auch meine Eltern, Luke und Sophie Morgan. Damals war ich gerade mal ein Jahr alt gewesen.

Alles was ich über meine Eltern weiß ist, dass sie nicht arm gewesen sein können. Denn sie haben mir eine gehörige Summe Geld hinterlassen, die inzwischen wahrscheinlich nicht mehr ganz so groß ist, weil davon seit fünf Jahren das nicht gerade billige Internat bezahlt wird. Außerdem haben sie kurz vor dem Unfall ein Dokument bei einem Notar eingereicht, das besagt, dass ich auf keinen Fall in ein Waisenhaus gesteckt werden soll. Wenn mich niemand freiwillig adoptierte, sollte man die Familie von ihrem Geld bezahlen.

Der Notar, mit dem ich mich treffen musste, um das Geld für das Internat bezahlen zu können, hat mir von diesem Dokument erzählt. Er hat auch gesagt, dass er sonst niemandem davon erzählen werde, da er einer Schweigepflicht unterliege. Auch ich sollte es lieber für mich behalten, weil es für andere Leute so aussehen könnte, als seien meine Eltern von ihrem jungen Tod und damit von dem Brand nicht überrascht gewesen. Er hat sich anscheinend nicht getraut es so zu sagen, aber ich habe trotzdem verstanden, was er meinte. Seiner Meinung nach besteht die Chance, dass meine Eltern, aus welchen Gründen auch immer, den Brand gelegt haben.

Aber ich glaube das nicht. Ich bin sicher, dass sie es geahnt hatten und Angst hatten, weil sie nicht wussten, was mit mir passieren würde, wenn es tatsächlich so kommen sollte.

Und ich glaube, dass ich das von ihnen geerbt habe. Manchmal ahne ich einfach, wie sich die Dinge entwickeln. Ich bin keine Hellseherin und kann auch nicht die Zukunft voraussagen oder so was. Und nein, verrückt bin ich auch nicht. Aber zum Beispiel hatte ich schon den ganzen Tag auf eine gute Nachricht gewartet, die Miss Clinton ja jetzt verkündet hatte. Und das ist nicht alltäglich, da ich nicht unbedingt das bin, was man als Optimistin bezeichnen würde.

„Schreibt euch das in den Kalender!“, befahl Miss Clinton, „Wer morgen zu spät kommt oder mich auf irgendeine andere Weise vor den Schulräten blamiert, sitzt nach!“

Da lief ich keine Gefahr, da ich sowieso zu den wenigen Leuten gehörte, die pünktlich zum Unterricht kamen. Zufrieden malte ich einen Smiley neben das Datum vom 17.08. und stopfte meine Sachen in die Tasche.

Es klingelte und sofort begannen überall Stühle zu scharren, was Miss Clintons Ausführungen über die Bestrafung potentieller Störenfriede untergehen ließ. „Der Lehrer beendet die Stunde!“, schrie sie in den allgemeinen Tumult hinein, „Setzen!“

Ungeduldig hörten wir zu, wie sie die Hausaufgaben ansagte, bis sie uns endlich nach draußen schickte. Als ich mir meine Tasche überwarf, sah ich plötzlich eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Die alte Kastanie vor den Fenstern des Klassenraumes schwankte sanft im Wind. Ich kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen und sah genauer hin. War da nicht eben ein Gesicht gewesen?

„Raus mit dir Emily“, Miss Clinton machte eine ungeduldige Handbewegung, ohne den Blick von den auf ihrem Tisch verteilten Zetteln zu heben. Ich sah noch einmal über die Schulter, aber zwischen den Zweigen bewegte sich nichts.

„Emily! Hallo, Emily, wach auf!“

Verwirrt öffnete ich die Augen und sah meine Zimmergenossin Rachel, die mich an den Schultern rüttelte. Als sie sah, dass ich wach war, ließ sie mich los und ließ sich mit genervtem Gesicht auf ihr eigenes Bett fallen.

„Du hast geschrien“, meinte sie, „...wieder mal.“ Ich schlug meine Decke zur Seite, lehnte mich an die Wand und stellte fest, dass mein Herz raste und ich völlig verschwitzt war. Für einen Moment tauchte das Bild meines Albtraums wieder vor meinem inneren Auge auf. Ein riesiger Drache mit einem schlangenartigen, von schwarzen Schuppen bedeckten Körper und Reißzähnen, so lang wie mein Unterarm. Es war derselbe Traum, der seit Tagen immer wiederkehrte.

„Wie spät ist es?“, fragte ich, zu erschöpft um auf dem Nachtschrank nach meiner Uhr zu tasten. Rachel strich sich die krausen Locken aus dem Gesicht und warf einen Blick auf ihren Wecker. „Gleich fünf. Ich würde jetzt gern noch ’ne Stunde schlafen, wenn du nichts dagegen hast.“ Mit diesen Worten schnappte sie sich ihre Decke und drehte das Gesicht zur Wand. „Und wenn du dir nicht bald einen Traumfänger oder so was besorgst, will ich eine neue Zimmernachbarin.“ Ich seufzte und sah aus dem Fenster. Der Himmel war schon hell und völlig wolkenlos. Ich stieg aus dem Bett und warf Rachel einen Blick zu. Sie hatte ihre Decke trotz der Wärme im Raum beinahe bis über den Kopf gezogen sodass nur ein Büschel lockiger brauner Haare zu sehen war. „Okay... ich geh duschen“, teilte ich ihrem bewegungslosen Körper mit und öffnete die Tür.

Etwa zwei Stunden später betrat ich den Klassenraum und musste unwillkürlich grinsen. Das Bild, das sich mir bot, hätte es in jede Comedy-Serie geschafft. An die hintere Wand hatte man fünf Extrastühle aufgestellt, auf denen die Schulräte bereits saßen. Auf wundersame Weise hatten es auch die Mädchen, die es mit der Pünktlichkeit sonst nicht so genau nahmen, geschafft, rechtzeitig da zu sein. Eine große Traube von ihnen, die wiederum missbilligend von den schon anwesenden Jungen beobachtet wurde, stand in einer Ecke des Raumes und warf Carrie böse Blicke zu. Diese stolzierte nämlich gerade an den Schulräten vorbei, warf ihr blondiertes Haar in den Nacken und schenkte Jared, der im Moment ganz unvorbildlich Kaugummi kaute und gelangweilt in die Gegend starrte, ein strahlendes Lächeln.

Er lächelte höflich zurück, woraufhin die Mädchentraube in der Ecke in wütendes Tuscheln ausbrach und die Jungs die Augen verdrehten und begannen ihn nachzuäffen, und drehte sich in Richtung Tür, als sie hinter mir ins Schloss fiel. „Emily!“, er stand auf und lächelte jetzt wirklich - Carrie schloss sich der böse Blicke werfenden Traube an.

Jared sah ein wenig blasser aus als sonst und hatte einen Dreitagebart. Trotzdem strahlten seine Augen so lebendig wie immer, als er mich kurz umarmte, was wiederum ein kollektives Tuscheln auslöste, und fragte: „Heute Nachmittag im Venezia?“ Ich lächelte. „Na klar, wie immer.“

Mit einem seltenen Hochgefühl stolzierte ich zu meinem Platz. Ashley starrte mich giftig an und nahm ihren Platz vor meinem ein. „Hast du irgendein Problem, Ashley?“ Sie schnaubte und wandte sich ab. Ich warf Jared einen Blick zu und stellte fest, dass er uns amüsiert beobachtete. Es war nicht nur die Tatsache, dass Ashley und Carrie vor Eifersucht kochten, die mich fröhlich machte. Vor allem war es einfach ein tolles Gefühl ihn wiederzusehen.

Nach der Schule machte ich mich auf den Weg ins Dorf. Noch war der Himmel strahlend blau und die Sonne knallte nur so auf die hellen, gepflasterten Straßen mit den kleinen Läden und den sommerlich bunt gekleideten Menschen herab, aber am Horizont waren schon dunkle Wolken zu erkennen. Weil für heute Nacht Gewitter angesagt war, hatte Miss Clinton mich beschworen auch ja vor dem Unwetter im Internat zu sein.

Bevor ich das Eiscafé ansteuerte, machte ich einen Abstecher in die Bibliothek und lieh mir einen dicken Wälzer über griechische und römische Sagen aus. Morgen war ich in Geschichte mit meinem Vortrag über Odysseus dran. Eigentlich war das für mich ein Heimspiel, Sagen und Mythen interessierten mich einfach. Auf dem Regal über meinem Bett stapelten sich Bücher mit Sagen aus aller Welt, weshalb ich von Rachel regelmäßig von Kopfschütteln begleitete, herablassende Kommentare zu hören bekam. Trotzdem war unsere Geschichtslehrerin, die genau wie ich ihre halbe Freizeit in der Bibliothek verbrachte, immer begeistert, wenn man ausgeliehene Bücher mitbrachte, um daraus ein paar Zeilen vorzulesen.

Das Buch unter dem Arm schlenderte ich dann die Straße weiter hinunter zum Eiscafé Venezia, dem Zuhause des besten Erdbeereisbechers der Welt. Die kleinen Plastiktische waren allesamt besetzt, aber Jared hatte schon einen freigehalten. Er zwinkerte mir zu, als ich mich zwischen Gästen und Kellnern hindurchschlängelte. Schließlich ließ ich mich ihm gegenüber in einen Stuhl fallen und knallte das Buch auf den Tisch. „Puh, ist das warm heute!“, ich legte einen Moment den Kopf in den Nacken und sah in den blauen Himmel, „Es ist schön, dich mal wieder zu sehen.“ Er lächelte, „Es ist schön dich mal wieder zu sehen. Ich bin echt froh, dass es dir gut geht.“

Seine Stimme klang dabei so erleichtert, dass ich stutzte: „Warum sollte es mir nicht gut gehen?“

Er fummelte an einem Zipfel der Tischdecke herum, „Naja, ein Kollege hat mir erzählt, an eurer Schule sei die Schweinegrippe ausgebrochen.“

„Ach Quatsch, das war nur ein Junge. Und der ist schon längst wieder gesund. Du brauchst dir keine...“

„Haben sie sich schon entschieden, Signorina?“, der ältere, italienische Kellner tupfte sich den Schweiß von der Stirn und fischte Block und Stift aus seiner Tasche.

Das war keine schwere Entscheidung, da ich hier immer das Gleiche bestellte, „Einen Erdbeerbecher, bitte.“

„Für mich den Schokobecher“, meinte Jared nach einem kurzen Blick in die Karte.

„Ok, multo bene, kommt sofo... Mamma Mia!“, der Kellner stieß eine Reihe italienischer Flüche aus und stürzte davon, um seine Aushilfe zu beschimpfen, die gerade ein Milchshake auf die Straße gekippt hatte.

Jared warf einen neugierigen Blick auf mein Buch: „Was ist das?“

„Ein Sagenbuch“, ich drehte es herum, sodass er den Titel lesen konnte, „für Geschichte.“

Mit ein wenig zusammengekniffenen Augen deutete er auf das Bild auf dem Einband – eine Vasenzeichnung mehrerer Fabelwesen mit einem Pferdekörper und dem Oberkörper eines Mannes, dort wo der Hals des Pferdes normalerweise saß: „Sind das Zentauren?“

„Genau“, ich zwängte das Buch in meine Tasche und schloss den Reißverschluss, „Warum bist du uns dieses Jahr eigentlich nicht besuchen gekommen? Zu alt zum Bergsteigen?“

Er lachte, „Nein, ich hatte einfach nur... viel zu tun. Keine Zeit, um Urlaub zu machen.“

Ich nickte und mir wurde bewusst, dass ich gar nicht wusste, was ein Schulrat eigentlich den ganzen Tag machte, wenn er nicht gerade in einem Klassenraum herumsaß und die Schule inspizierte. Vielleicht war er deshalb so blass, weil er, statt sich draußen zu sonnen, seine Ferien hinter dem Schreibtisch verbracht hatte. „Du Armer“, ich hängte meine Tasche wieder an den Stuhl, „Tja, mein Sommer war eigentlich ganz gut, wenn man davon absieht, dass Sarah uns für zwei Wochen nach Ayton zu ihren Verwandten verschleppt hat.“ Jared lachte, „Zu Onkel Mike.“ Seufzend nickte ich, „Ganz genau, zu Onkel Mike.“ Sarah war meine Adoptivmutter und über ihren Onkel hatte Jared von mir schon einige Tiraden zu hören bekommen. „Und, wie geht’s ihm?“, fragte er, „Gut?“ Ich verdrehte die Augen, „Zu gut. Der Mann ist siebzig und macht mehr Sportarten als das Internat anbietet.“

„Hoppala!“, der italienische Kellner zwängte seinen rundlichen Bauch zwischen den voll besetzten Tischen hindurch. „Schoko für Sie?“ Jared nickte, „Danke.“ „Ah, und Erdbeer für die Signorina“, mit schwungvoller Geste stellte er beide Eisbecher auf dem Tisch ab.

„Danke. Mmmh, das sieht lecker aus!“, ich machte mich sofort über meinen Eisbecher her und Jared tat es mir nach.

„Aber...“, sagte er plötzlich und betrachtete mich ein wenig beunruhigt, „du hast nicht wieder solche... du weißt schon... hellseherischen Anwandlungen gehabt, oder?“

Jared war der einzige Mensch, dem ich das je erzählt hatte, und ich hatte es Sekunden danach schon wieder bereut, weil er vor Schreck fast vom Stuhl gekippt war und mich danach die ganzen Sommerferien pausenlos auf diese merkwürdige Art von der Seite angesehen hatte.

„Nein“, log ich, „schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich waren das damals nur ein paar verrückte Zufälle.“

„Mmmh“, murmelte er und löffelte wieder in seinem Eis herum, „Und ähm... schmeckt dir das Eis?“ Das war ein etwas plumper Versuch die leicht angespannte Stille, die dieses Thema nach sich gezogen hatte, zu brechen, aber ich war trotzdem froh darüber.

„Klar! Erdbeereis ist einfach das Beste. Und Venezia ist die beste Eisdiele.“

Er grinste ein wenig erleichtert: „Quatsch, Schokolade ist das Beste! Außerdem schmeckt Erdbeereis gar nicht nach richtigen Erdbeeren. Weißt du, wie viele unschuldige, köstliche Früchte für das da sterben mussten?“

Nachdem wir einige Minuten wortreich über Eissorten diskutiert hatten, rief Jared den Kellner: „Wir möchten bitte bezahlen.“

„Denk nicht mal daran, Emily!“, fügte er grinsend hinzu, als ich mein Portmonee zücken wollte. Ich verdrehte die Augen und lächelte: „Danke.“

„Geht doch klar“, er stand auf, „Na dann mal los, der Himmel sieht schon ziemlich düster aus.“

Er hatte Recht, das Gewitter stand unverkennbar kurz bevor, also legten wir den Rückweg zum Internat zügig zurück. Gerade als wir den Hof überquerten, fielen die ersten Regentropfen. Jared stieß die Eingangstür auf, „Na, wenn das kein perfektes Timing ist.“

Ich lachte, „Du musst nächsten Sommer wieder bei uns Urlaub machen, okay?“

„Ich versuch’s“, er umarmte mich und ich bemerkte den vertrauten Geruch nach Pfefferminzkaugummis, „Ich muss jetzt los. Aber es war toll dich zu sehen.“

Ich lächelte, „Dich auch. Mach’s gut.“

Nach dem Abendbrot lag ich im Bett und las das Buch aus der Bibliothek. Es war ein herrliches Gefühl, mich in meine warme Decke zu kuscheln und dabei dem Donner und den Regentropfen, die gegen mein Fenster klatschten, zuzuhören. Da die Lehrer am Freitag nicht so streng waren, wenn wir länger aufblieben, war Rachel zu ein paar von ihren Freundinnen gegangen, um einen Horrorfilm zu gucken. Also hatte ich das Zimmer für mich allein.

Leider war mein Buch eine der nervigen Ausgaben ohne Inhaltsverzeichnis und hatte geschätzte eine Million Seiten. Also blätterte ich hin und her, auf der Suche nach der Sage von Odysseus, als plötzlich ein merkwürdiges Kribbeln durch meinen Körper fuhr. Ich schlug meine Decke zur Seite, legte das Buch weg und sprang auf. Ich hatte das Gefühl mit Energie geradezu vollgepumpt zu sein. Ich musste mich unbedingt bewegen. Am besten laufen, draußen an der frischen Luft. Gewitter hin oder her.

Ich wühlte in meinem Schrank nach der Regenjacke, die ich über den Sommer in die hinterste Ecke verbannt hatte, als ein Klopfen ertönte, das aus dem Klatschen der Regentropfen gegen mein Fenster kaum herauszuhören war. „Herein!“, rief ich und fischte ein Paar wetterfeste Schuhe unter meinem Bett hervor, „Die Tür ist nicht abgeschlossen.“

Aber niemand kam. Genervt öffnete ich die Tür und sah auf den dunklen, leeren Gang. Ich schaltete das Licht ein und wieder aus, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Gut, vermutlich hatte ich mir das eingebildet. Bei den lauten Geräuschen, die der Sturm draußen machte, war das kein Wunder. Ich schloss die Tür wieder und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Regenjacke und die Schuhe. So ein Quatsch, ich wollte doch bei diesem Wetter nicht draußen herumlaufen! Ich nahm einen leeren Bügel aus dem Schrank und wollte die Jacke wieder aufhängen, da ertönte wieder ein Klopfen, lauter und energischer als davor und definitiv nicht von Regentropfen verursacht.

Dieses Mal warf ich Jacke und Bügel auf mein Bett, hechtete zur Tür und riss sie mit einem Ruck auf. Der Gang war und blieb leer. Wer konnte an meine Tür klopfen und dann innerhalb von zwei Sekunden spurlos verschwinden? Als ich noch ungläubig in die Gegend starrte, ließ mich ein drittes Klopfen zusammenschrecken und eine hohe aufgebrachte Stimme rief: „Wären sie so freundlich mir jetzt endlich zu öffnen?!“

Erst jetzt bemerkte ich, dass das Klopfen vom Fenster gekommen war. Nur lag mein Fenster im dritten Stock. Ich sah hinaus. Draußen war es zu dunkel um irgendetwas zu erkennen. Vorsichtig drehte ich den Griff und zog das Fenster auf.

Zusammen mit einem kräftigen Windstoß und einer Menge Regen kam ein kleines, klatschnasses Etwas in den Raum geflogen. Es fiel auf den Boden des Zimmers. Bei genauerem Hinsehen war es ein kleines Männchen etwa in der Größe einer Babypuppe. Seine Kleidung war vom Regen völlig durchnässt. Es trug einen winzigen Mantel und eine Hose aus einfachem braunen Stoff. Seine Schuhe waren grün, genau wie seine Wollmütze. Über die Schulter hatte er ein Lederband geschlungen, an dem ein kleines Säckchen baumelte.

„Ähm, hallo?“, sagte ich, „...Wer bist du?“ Das Männchen kam auf die Beine und baute sich breitbeinig vor mir auf, worüber ich vielleicht hätte lachen müssen, wenn ich nicht zu beschäftigt damit gewesen wäre, den kleinen Grünen sprachlos anzusehen.

Und als wäre er bisher noch nicht merkwürdig genug gewesen, schnellte plötzlich etwas hinter seinem Rücken hoch. Ich brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass es Flügel waren. Sie sahen aus wie die Flügel von Libellen, nur viel größer. Er flatterte damit, bis er mit mir auf Augenhöhe war und legte mit seiner schrillen Stimme los: „Wie lange wolltest du mich denn noch da draußen warten lassen, häh? Denkst du es macht Spaß, bei dem Wetter durch die Gegend zu fliegen?“ Er riss seine Mütze vom Kopf und raufte sich die nassen Haare, sodass sie in alle Richtungen abstanden. „Warum bin eigentlich immer ich derjenige, der solche bescheuerten Jobs erledigen muss?“ Ich wusste nicht wirklich, was ich darauf antworten sollte. Stattdessen starrte ich seine Ohren an, die unter der Mütze zum Vorschein gekommen waren und spitz nach oben zuliefen.

Der Kleine flog einen Looping, landete auf dem Tisch und bediente sich aus Rachels Chipstüte. Nachdem er von einem Chip, der in Relation zu seiner Größe ungefähr die Ausmaße einer Untertasse hatte, abgebissen hatte, meinte er mit etwas gefassterem Gesichtsausdruck: „Also gut.“

Er legte den Chip zur Seite und setzte eine geschäftliche Miene auf: „Dein Name?“ Ich war verwirrt genug ihm zu antworten: „Emily. Emily Morgan. Und wie heißt...“ Er bedeutete mir mit einer herrischen Geste zu schweigen, was aber so niedlich aussah, dass ich nicht wusste, ob ich beleidigt sein oder lachen sollte.

„Alter?“

„Sechzehn. Warum....“ Wieder die gleiche Handbewegung. So langsam ging er mir auf die Nerven.

„Warte!“, befahl er und dieses Mal schwang ein bisschen Aufregung in seinem geschäftlichen Tonfall mit, „Wenn ich dieses Mal endlich richtig liege – und das möchte ich mal hoffen – gehört das hier dir.“ Er fummelte einen Moment an seinem Lederbeutel herum und zog dann eine silberne Kette heraus. Ich betrachtete sie staunend. Auch wenn ich kein Schmuckexperte war, war mir klar, dass sie unglaublich wertvoll sein musste. An der feinen Silberkette hing ein Anhänger, der ebenfalls aus Silber bestand und dessen Rand mit unglaublich filigranen Mustern übersät war. In der Mitte des Anhängers saß ein klarer Edelstein, etwa so groß wie eine Walnuss, der das schwache Licht meiner Zimmerlampe in allen Farben reflektierte und den Hauch eines bunten Glanzes an die Wände warf.

„Das... kann nicht mir gehören“, stotterte ich, „Ich hab es noch nie gesehen.“

Das Männchen verdrehte nur die Augen: „Nimm schon!“

Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Anhänger. In der Sekunde als ich ihn berührte, leuchtete der Stein auf und verströmte Licht in allen Regenbogenfarben. Und da war es wieder. Das Gefühl, das ich vorhin schon gehabt hatte, nur jetzt viel stärker. Ich spürte wie eine seltsame Energie mich durchströmte, es riss mich fast von den Füßen. Ich bemerkte, dass das Männchen, offenbar vom Licht geblendet, eine Hand vors Gesicht geschlagen hatte, aber jetzt neugierig und begeistert zwischen seinen Fingern hervorluchste. Dann, so plötzlich wie es gekommen war, war das Licht wieder erloschen. Nur ein Rest der flackernden unruhigen Energie war in mir zurückgeblieben.

Das geflügelte Männchen fing an wie verrückt im Kreis zu fliegen und zu jubeln. „Ha! Ich wusste es! Ich hab ihm gesagt ich krieg’s hin!“, rief er begeistert. So langsam hatte ich das Gefühl, dass er unter ziemlich starken Stimmungsschwankungen litt. Dann landete er vor mir auf dem Tisch. „Ich bin übrigens Finn.“ Er nahm meine Hand mit beiden seiner winzigen Hände und schüttelte sie.

„Ja...hallo, Finn“, stammelte ich, „Könntest du... mir vielleicht erklären was...“ „Das könnte ich, aber ich überlasse den Laberteil lieber Zalador.“ Er grinste vergnügt. „Jedenfalls gehört das Regenbogenamulett dir“, er zuckte die Schultern, „oder du ihm, wie man’s nimmt. Und das bedeutet...“, seine Augen leuchteten begeistert auf, „Komm mit!“

Er legte einen Tiefflug hin, wobei er seine nasse Mütze vom Boden aufhob und sie über seine zerzausten Haare zog. Vor dem Fenster machte er abrupt halt. „Oh, ich hab vergessen, du kannst ja nicht...“, er räusperte sich, „Nehmen wir die Tür.“

„Wir... Was?“, er gab mir das Gefühl schwer von Begriff zu sein und das machte mich wütend, „Wo willst du hin?“

„Nicht ich, wir“, sagte er langsam in einem Ton, in dem man mit Kleinkindern spricht, und deutete dabei abwechselnd auf sich und mich, „und das Wohin erklär’ ich dir auf dem Weg. Los jetzt. Mach die Tür auf!“, er schwirrte über der Türklinke herum.

„Ach, und was ist, wenn ich nicht mitkommen will?“, fragte ich, „Außerdem wird es vielleicht ein bisschen kompliziert, wenn mir im Flur jemand entgegen kommt und ein kleines Männchen neben mir herumflattern sieht.“

Er schnappte beleidigt nach Luft: „Zuerst einmal bin ich ein Elf! Und außerdem“, er grinste verschmitzt, „willst du mitkommen, weil du neugierig bist.“ Ich biss mir auf die Lippe. Leider hatte er Recht. Ich konnte es schließlich nicht einfach ignorieren, wenn ein Elf in meinem Zimmer landete. „Und was deine Sorge angeht, dass mich jemand sehen könnte...“, fügte er mit wissender Miene hinzu, „Ich schwirre ich schon seit zwei Tagen um eure Schule herum und niemand hat mich bemerkt.“ „Du... Moment“, eine Erinnerung flackerte in mir auf, „Dann hab ich dein Gesicht in diesem Baum gesehen?“ „Er zuckte mit den Schultern: „Vermutlich. Und du hast zwei Sekunden später geglaubt, du hättest es dir nur eingebildet, stimmt’s? Machst du jetzt endlich die Tür auf?!“

Ich griff meine Regenjacke, die noch immer auf dem Bett lag und öffnete die Tür. „Ach, und mach das Amulett am Besten um den Hals“, meinte Finn, bevor er in den Gang hinausschwirrte. Ich sah die Kette mit dem leuchtenden Stein ein wenig verwirrt an, da ich überhaupt nicht gemerkt hatte, dass ich sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Dann hängte ich mir die feingliedrige Silberkette um den Hals, zog die Jacke über und schloss leise die Tür hinter mir.

„Wo ist hier der Ausgang?“, flüsterte Finn. „Hier lang.“ Ich ging voraus und versuchte, mit den flachen Absätzen meiner Schuhe möglichst wenige Geräusche zu erzeugen. Als wir an der Lehrercaféteria vorbeikamen, brannte dort noch Licht und die Tür stand einen Spalt offen. Im Vorbeigehen warf ich einen kurzen Blick hinein und Finn tat einige Zentimeter über mir das Gleiche. Beim Anblick unserer Chemielehrerin Mrs. Shears im knallpinken flauschigen Schlafanzug stieß er ein gackerndes Lachen aus.

Schon oft hatten wir Schüler feststellen müssen, das Mrs. Shears offenbar über ein Radargehör verfügte, aber um Finns Lachen wahrzunehmen, brauchte sie das nicht mal. Ihr Kopf schnellte hoch wie der eines Bluthundes, der seine Beute gewittert hatte. „Wer ist da?“, mit schnellen Schritten durchquerte sie den Raum, Miss Clinton dicht auf ihren Fersen.

„Du Idiot!“, zischte ich, packte Finn an seinem Mantel und zog ihn hinter einen Schrank, der über und über mit Pokalen und Trophäen, die Schüler des Internats gewonnen hatten, beladen war. Unglücklicherweise war der Schrank, wie das Trophäenschränke meistens an sich haben, aus Glas. Die beiden Lehrerinnen traten in den Gang und ich hoffte inständig, dass sie nicht weiter suchen würden. Kämen sie auf die Idee das Licht anzumachen, würden sie uns hinter unserer unsichtbaren Barriere sofort entdecken. Während zum Beispiel Ashley oder ihr bescheuerter Freund Dylan regelmäßig Zigaretten und Alkohol in die Schule schmuggelten, hatte ich eigentlich nie etwas Verbotenes getan. Und jetzt wurde ausgerechnet ich erwischt, wie ich nachts auf dem Flur herumgeisterte. Noch dazu würde Mrs Shears glauben, ich hätte über sie gelacht. Miss Clintons Hand tastete schon nach dem Lichtschalter, als Finn kaum hörbar in die kleinen Hände klatschte und etwas in einer fremden Sprache murmelte. Durch die weitoffenstehende Tür sah ich, wie eine Kaffeetasse auf den Rand des Tisches, auf dem sie stand, zu hüpfte und sich dann herunterstürzte. Ein Klirren ertönte, als das Porzellan zersprang und der Kaffee auf den Boden spritzte.

„Was zum...“, Miss Clinton fuhr herum, „Um Himmels Willen, das schöne Parkett!“ Beide stöckelten zurück in die Caféteria und versuchten die Schweinerei zu beseitigen. Finn verbeugte sich in alle Richtungen vor einem imaginären Publikum und flatterte dann die Treppe hinunter. Ich folgte ihm auf Zehenspitzen. Auf eine verrückte Weise machte das Ganze Spaß.

Trotz meiner Strickjacke fröstelte ich, als wir die Eingangshalle betraten, in der es auch im Sommer sehr kühl war. Wütend betrachtete ich die Gänsehaut an meinen Beinen. Warum hatte ich nicht daran gedacht eine längere Hose anzuziehen? Andererseits konnte man nicht behaupten, dass Finn geduldig gewartet hätte, bis ich meine Sachen zusammengesucht hatte.

Der kleine Elf flatterte vor der schweren Eingangstür. Durch die darin eingelassenen Glasfenster konnte man den Sturm draußen sehen, was nicht gerade Vorfreude in mir auslöste. „Ach ja“, fiel mir plötzlich ein, „hab ich vergessen. Die Tür ist nachts abgeschlossen.“

„Kein Problem“, Finn griff in die Seitentasche seines Mantels und brachte ein winziges Säckchen zum Vorschein. Mit zwei Fingern nahm er eine Prise silbriges, funkelndes Pulver heraus, streute es auf seine Hand und pustete, sodass die winzig kleinen Körner überall am Schloss kleben blieben. Dann murmelte er wieder ein paar unverständliche Wörter und ein leises Knacken verkündete, dass das Schloss geöffnet war. Sofort verschwand das silberne Pulver.

„Würdest du bitte?“, Finn deutete mit ausladender Geste auf die Tür.

Als ich sie öffnete, schlugen Wind, Regen und Kälte mit solcher Wucht in den Raum, dass ich nur noch zurück in mein Zimmer rennen und mir die Bettdecke über den Kopf ziehen wollte. Finn wurde zurückgeschleudert und trudelte einen Moment ziellos durch die Halle. „Könnte ich... Vielleicht?“, druckste er und deutete auf meine Jacke. „Was?“ „Mich festhalten.“ Obwohl ich dabei war, zu einem Eiszapfen zu erstarren, musste ich grinsen. „Ja klar.“

Finn kämpfte gegen den Wind an und klammerte seine kleinen Hände oberhalb meiner Schulter in die Jacke.

Nachdem der Elf auch das eiserne Tor, das das Gelände des Internats begrenzte, mit dem silbrigen Pulver geöffnet hatte, gingen wir eine Weile schweigend dahin. Genauer gesagt ging nur ich. Finn klammerte sich an meine Schulter und quietschte hin und wieder Kommandos wie „Links rum!“ oder „Achtung Pfütze!“ Ich hatte keine Ahnung wie es ihm gelang, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Nur wenn ein Blitz den Himmel erhellte, erkannte ich für einen kurzen Moment den Weg vor mir und jedes Mal wenn ich ihn fragte, wo wir überhaupt hinwollten, meinte er, es würde viel zu lange dauern, das zu erklären. Ich wusste selbst nicht, warum ich nicht einfach auf dem Absatz kehrtmachte und zurück zum Internat ging. Doch, eigentlich wusste ich es schon. Es war wie Finn gesagt hatte: Ich war neugierig. Wer wäre das an meiner Stelle nicht gewesen?

„Also, was ist das für ein Zeug?“, fragte ich irgendwann. „Was?“, er wirkte verwirrt. „Dieses Pulver“, meinte ich, „mit dem du die Türen aufgemacht hast.“

„Ach das meinst du“, er tätschelte den kleinen Lederbeutel, „Das ist Elfenstaub.“

Ich schwieg wieder. Die ganze Sache war einfach so vollkommen verrückt. Gut, wenn er ein Elf war, war das mit dem Elfenstaub nur logisch. Aber wie konnte es sein, dass er ein Elf war?

Nach einer Weile fiel mir auf, dass mir überhaupt nicht mehr kalt war. Das musste daran liegen, dass ich seit einer halben Stunde marschiert war. Geistesabwesend griff ich nach der silbernen Kette um meinen Hals. Irgendwie hatte ich es mir angewöhnt, immer mit Ketten herumzuspielen, wenn ich eine trug. Doch als ich den Stein berührte, zuckte ich überrascht zurück. Der Stein glühte wie ein Stück Kohle. Dabei trug ich ihn schon die ganze Zeit um den Hals und hatte keine Schmerzen gespürt. Probeweise nahm ich die Kette ab. Schlagartig schien die Umgebungstemperatur um mindestens zehn Grad zu sinken. Ich spürte, dass meine Kleidung völlig durchnässt war und dass der kalte Wind mir durch Mark und Bein ging. Schnell streifte ich den Anhänger wieder über meinen Kopf und war sofort von wohliger Wärme erfüllt. Die Wirkung war wie eine heiße Tasse Kakao - nur hundertmal besser.

„Finn“, meinte ich verwundert, „Diese Kette ist...“ Der Elf unterbrach mich mit einem theatralischen Seufzen: „Diese Kette ist das Regenbogenamulett. Eines der zwölf Amulette! Einer der mächtigsten Gegenstände die existieren. Oder je existiert haben. Und du bezeichnest es einfach als Kette?“

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er gespielt resigniert den Kopf schüttelte. „Ach und wir sind da“, fügte er dann hinzu und flatterte ein paar Meter voraus. Wind und Regen hatten inzwischen nachgelassen und irgendwie war es auch heller geworden. Es konnte noch lange nicht Morgen sein, aber vielleicht waren einfach die meisten dunklen Wolken inzwischen verschwunden.

Jedenfalls erkannte ich, dass wir uns auf einer kleinen Lichtung befanden. Ich war noch nie in dem dichten Wald gewesen, der im Westen an das Dorf angrenzte und fühlte mich jetzt, wo ich nicht mehr ständig darauf konzentriert war, nicht zu stolpern oder in Schlammpfützen zu versinken, ziemlich unbehaglich.

„Also warum sind wir hier?“ „Weil ich eine Art von Magie benutzen muss, die man nicht einfach so aus dem Ärmel schüttelt“, erklärte Finn und fummelte an dem Knoten seines Lederbeutels herum, „Dazu braucht man einen magischen Ort.“

„Und dieser Ort ist... magisch?“

„Natürlich! Spürst du nicht, dass die Magie der Natur hier außerordentlich stark ist?“, er musterte mich, „Nein, vermutlich tust du das nicht. Wie auch immer. Hilf mir mal die Äste hier wegzuräumen!“

Auf der Lichtung verstreut lagen einige größere Äste, die vermutlich während des Sturms abgebrochen waren. Nachdem wir sie beseitigt hatten (Eigentlich hatte ich sie beseitigt. Finn hatte sich in die Mitte der Lichtung gestellt, die Hände erhoben und begonnen Worte in der merkwürdigen Sprache, die er schon vorher benutzt hatte, zu rezitieren), öffnete der Elf den Beutel und streute das schimmernde Pulver auf das nasse Gras. Seltsamerweise wurde es nicht vom Wind davongetragen, sondern legte sich in einem makellosen Kreis auf den Boden der Lichtung.

Finn murmelte weiterhin unverständliche Wörter, bis der Kreis zu glühen begann. Erschrocken sprang ich einen Schritt zurück, aber er bedeutete mir mit der Hand in den Kreis hineinzugehen. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich an der weiß glühenden Wand verbrennen würde, die sich inzwischen über dem Kreis aus Elfenstaub gebildet hatte.

Ohne seinen Singsang zu unterbrechen, deutete Finn immer wieder ungeduldig auf den Kreis. Vorsichtig trat ich einen Schritt vor. Der weiße Schimmer von Finns Zauber wurde von den Regentropfen, die überall an den Büschen, Bäumen und Grashalmen hingen, reflektiert, sodass es so aussah, als wäre die Lichtung von Glühwürmchen übersät.

Finns Stimme klang plötzlich gepresst. Er kniff die Augen zusammen und gestikulierte wie wild. Ich hob eine Hand an das schimmernde Licht, um zu sehen, ob es Hitze ausstrahlte, wie eine Flamme. Aber das tat es überhaupt nicht. In dem Moment in dem ich vorsichtig die Fingerspitze in das Licht tauchen wollte, spürte ich, wie Finn von hinten gegen mich stieß und mich in den glühenden Zylinder schubste.

Ich schrie überrascht auf und fiel nach vorne, aber ich kam nicht auf dem nassen Gras auf. Ich schien immer weiter zu fallen. Die Geschwindigkeit nahm mir den Atem und das Licht um mich herum war so grell, dass ich die Augen schließen musste, aber hinter meinen geschlossenen Lidern sah ich bunte Lichter hin und her tanzen. Und dann nach einer Zeit, die einige Sekunden, aber auch einige Minuten lang sein konnte, schlug ich plötzlich hart auf dem Boden auf. Das Licht vor meinen Augen verschwand und der Aufprall nahm mir den Atem.

2.

Ich blieb einen Moment mit geschlossenen Augen liegen. Es fühlte sich einfach gut an. Nach ein paar Sekunden bemerkte ich auch woran das lag. Es war warm, vom Gewitter keine Spur mehr. Ganz kurz genoss ich die Sonnenstrahlen auf meiner Haut, dann richtete ich mich auf, schlug die Augen auf und blinzelte ins Licht.

Die Sonne stand hoch am blauen Himmel. Ich lag auf einem mit Gras bewachsenen Hügel und konnte irgendwo Wasser rauschen hören. Der Boden war trocken und nichts deutete daraufhin, dass es geregnet hatte, nur meine Klamotten waren nach wie vor klitschnass.

„Hey, da ist jemand endlich aufgewacht!“, rief Finns Stimme. Der Elf saß auf einem Apfelbaum, grinste und baumelte mit den Beinen, „Du hättest dir den harten Aufprall erspart, wenn du einfach in den Kreis gegangen wärst. Aber wer nicht hören will, muss fühlen.“ Er klang wie die Hausmutter im Internat.