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Anna Trökes präsentiert mit Yoga der Energie ein einzigartiges Lehr- und Praxisbuch zum Hatha-Yoga. Wie können wir unsere inneren Sinne schärfen und die tieferen Schichten unseres Seins erfahren? Anna Trökes zeigt, dass der scheinbar so bekannte Hatha-Yoga in Wirklichkeit ein Yoga-Weg der Energie ist und aus der Tradition des Tantra stammt. Die Lebensenergie Prana ist der Dreh- und Angelpunkt für alle Prozesse, die unser menschliches Leben bestimmen. Die Übungen zur Intensivierung der Achtsamkeit und Konzentration sowie zahlreiche Bewusstseinslenkungen ermöglichen eine neue Dimension eigenen inneren Erlebens. Die jahrzehntelange Erfahrung von Anna Trökes und ihre Kenntnis der neuesten Forschungen zu Meditation und Yoga fließen in dieses aktuelle und hilfreiche Buch mit ein. Es ist inzwischen erwiesen, dass der im Westen hauptsächlich verbreitete Hatha-Yoga wesentlich aus der Philosophie und Spiritualität des Tantra entstanden ist. Aus welchen Traditionen und Quellen er ursprünglich schöpft und wie wir diese faszinierenden Ideen auch praktisch umsetzen können, zeigt Anna Trökes in diesem einzigartigen Handbuch. Grundlegende Texte wie die Hatha-Yoga-Pradipika und das Vijnana Bhairava Tantra werden hier erstmals in einen stringenten Zusammenhang mit dem Hatha-Yoga gebracht. Yoga-Praktizierende, die Wege suchen, ihre Selbsterforschung nachhaltig zu vertiefen und zu verfeinern, werden hier reich beschenkt. Die Konzepte und Praktiken von Mudra, Chakra und Kosha werden ebenso behandelt wie die Meditationen auf die inneren Räume unseres Bewusstseins und die subtilen energetischen Ströme im Körper. Durch diese Übungen können wir Blockaden und Anspannungen lösen und unsere eigene Yoga-Erfahrung auf ein völlig neues Niveau heben.
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Seitenzahl: 347
Anna Trökes / Bettina Knothe
Neuro-Yoga
Wie die alte Weisheitspraxis auf unser Gehirn wirkt
Knaur e-books
Auf welche Weise kann man durch achtsamen Yoga neue und heilsamere Formen des Denkens und Fühlens schaffen? Und wie prägen diese sogar unsere Hirnstruktur? Wo gibt es Überschneidungen in den Kernaussagen des Yoga-Sutra von Patanjali mit den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften?
Dass wir unseren selbstgeschaffenen emotionalen und mentalen Mustern nicht einfach ausgeliefert sind, hat schon Patanjali gezeigt. Bereits vor 2000 Jahren schuf er mit dem Yoga-Sutra ein wirkungsvolles Instrumentarium. Wie und warum dieses wirkt, erfahren wir heute aus den revolutionären Erkenntnissen von Hirnforschung, Biologie und Psychologie. Daraus ergeben sich spannende Konsequenzen, die man in seinem Leben berücksichtigen lernen kann. Ein höheres Maß an Selbstwirksamkeit, Freiheit und Freude sind hierbei eine natürliche Folge.
Yoga kann viele Gesichter und Namen haben. Gerade in den letzten Jahren entstehen mehr und mehr Namen für scheinbar neue Übungsmethoden des Yoga. Dieses Buch reiht sich jedoch nicht in diese Folge ein, es geht gerade nicht darum, eine neue Weise des Übens zu definieren, sondern vielmehr darum, die Grundlagen jeder Yoga-Praxis besser zu verstehen.
Denn wie auch immer eine Übungsmethode des Yoga heißen mag, im Kern möchte sie den Übenden dabei unterstützen, einen klaren Geist zu kultivieren, damit sie oder er die wahre Natur erkennen kann.
Fast alle Wege des Yoga sehen diese, hier frei nach Patañjali zitierte, Basis als ihr eigentliches Ziel. Jeder Übungsweg, egal ob durch alte Traditionslinien über Generationen hinweg überliefert oder durch die vielfältigen Neuschöpfungen der letzten Jahrzehnte entstanden, steuert immer wieder auf dieses gleiche Ziel zu. Die Wege zu diesem gemeinsamen Ziel jedoch können verschiedener gar nicht sein.
Während sich einige in bewegungsloser Meditation auf ihr wahres Selbst konzentrieren, versuchen andere mit Atemübungen den Geist zur Ruhe zu bringen. Manche Wege muten sportlich an und die körperliche Fitness scheint wesentlich, andere legen ihren Schwerpunkt auf subtile philosophische Betrachtungen. Wieder andere folgen langsamen, vom Atem getragenen Bewegungsfolgen, um in der körperlichen Dynamik mentale Stille zu finden. Auch statisches minuten- bis stundenlanges Verharren in Positionen und schnelle wiederholende Bewegungen umfasst das weite Spektrum der Übungswege, die unter dem Namen Yoga zusammengefasst sind. Es ist schwer bis unmöglich, Yoga über die konkrete Praxis zu definieren. Eine Definition kann erst durch die Ausrichtung auf das Ziel gelingen.
Wie kann es aber sein, dass so unterschiedliche Übungswege immer wieder zum gleichen Ziel, dem klaren Geist führen? Was ist überhaupt dieser, immer wieder beschriebene, klare Geist? Welche Veränderungen lassen sich in unserer Psyche und in unserem Gehirn basierend auf den unterschiedlichen Techniken feststellen? Kann moderne Psychologie und Neurowissenschaft diesen Zustand näher erklären und uns helfen, ihn besser zu verstehen? Genau mit diesen Fragen beschäftigen sich Anna Trökes und Bettina Knothe in diesem Buch und eröffnen so eine neue Sichtweise auf die uralte Tradition des Yoga.
Moderne Forschungsergebnisse helfen uns, die Wirkungsweisen des Yoga besser nachzuvollziehen und so über Jahrtausende überlieferte und immer wieder neu sich entwickelnde Techniken in einem klareren Licht zu sehen. Sie helfen uns, deutlicher zu erkennen, welche neuronalen Anpassungen durch die verschiedenen Übungen hervorgerufen werden. Wo und wie sich diese Anpassungen gegenseitig ergänzen und wie ganz unterschiedliche Ansätze überraschend ähnliche Lernprozesse in uns anstoßen. Uraltes Erfahrungswissen begegnet so neuen Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung. Dieses Buch macht das Zusammentreffen für uns nachvollziehbar und zeigt Zusammenhänge und Hintergründe auf. Daraus entsteht ein neues, klareres Verständnis von dem, was Yoga ist, und über seine Praxis. Dieses Buch ist ein wertvoller Leitfaden für alle, die in diese Hintergründe des Yoga und seiner Wirkungsmechanismen eintauchen möchten.
Dr. Ronald Steiner
Arzt und Yogalehrer – AshtangaYoga.info
Jede Autorin und jeder Autor, die versuchen, die Wirklichkeit unseres Gehirns und seiner Wirkzusammenhänge zu beschreiben, steht vor der Schwierigkeit, einen enorm komplexen und vielschichtigen Inhalt in einer linear organisierten Sprache wiedergeben zu müssen. Genau wie bei den Yoga-Konzepten hängt auch in unserem Nervensystem, unserem Geist und unserem Körper alles mit allem zusammen. Den Grad der Vernetzung beginnen wir gerade erst zu erahnen, und wahrscheinlich wird er uns in seiner ungeheuren Komplexität immer unfassbar bleiben. Das lehrt Respekt und vor allem Demut.
Wir, die Autorinnen, haben unzählige Bücher verschlungen und durchgearbeitet. Wir haben Kongresse und Symposien besucht, viele inspirierende Vorträge führender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehört und uns ganz auf unser wundervolles Thema eingelassen. Wir haben viele lange und intensive Gespräche geführt, um uns unserem Forschungsgegenstand, nämlich den erstaunlichen Überschneidungen zwischen der Yoga-Lehre und den Erkenntnissen der Neurowissenschaften, zu nähern.
Um der Komplexität und der Vernetztheit wenigstens annähernd gerecht zu werden, haben wir uns entschlossen, bestimmte Themen wie zum Beispiel das Konstrukt unserer Persönlichkeit, die verschiedenen Wahrnehmungsqualitäten, die Entfaltung von Emotionsregulation oder das System der Spiegelneuronen bewusst mehrfach und in unterschiedlichen Zusammenhängen darzustellen. Diese bewussten Wiederholungen möchten der Leserin und dem Leser helfen, möglichst vielen Aspekten dieser spannenden Themen begegnen zu können. Bei der Erarbeitung der Inhalte haben wir sehr oft Mindmaps gemalt, die uns sehr darin unterstützt haben, komplexe Strukturen miteinander in Beziehung zu setzen und durch ihre Veranschaulichung besser zu verstehen. Besonders das 5. Kapitel, das das Eingewobensein aller Aspekte unseres Wahrnehmens, Denken und Fühlens – und damit unseres Gewordenseins – betrachtet, versucht sprachlich eine solche Mindmap abzubilden.
Kurz: Wir haben alles versucht, uns gestalterisch und sprachlich den Inhalten so zu nähern und diese so aufzubereiten, dass sie Ihnen als Leserin bzw. Leser trotz ihres hohen Grades an Komplexität verständlich werden und Sie sich eingeladen fühlen, dieses Wissen nutzbringend in Ihren Alltag zu integrieren.
Es ging uns darum, Wissen wachzurufen und Einsicht und Erkenntnis zu ermöglichen. Zu diesem Zweck stellen wir Ihnen ein Instrumentarium an Wissen, Erkenntnissen und Methoden vor und zur Verfügung, das Ihnen zur Grundlage der Arbeit an und mit sich selbst (im Sinne der Selbstentfaltung und Transformation) werden kann.
Dabei ist uns sehr bewusst, dass wir nur das erörtern und beschreiben können, was uns zum jetzigen Zeitpunkt bedeutungsvoll erscheint und was wir zu verstehen meinen. In welchem Maße sich die Bewertung von Bedeutungsvollem und vor allem unser Verständnis wandeln, erfahren wir, die Autorinnen, sehr intensiv im Prozess des Durchdenkens, des Schreibens und des erneuten Durchdenkens in den vielen Durchgängen des Korrekturlesens. Im Grunde genommen erfahren wir unseren Text als etwas Lebendiges, das sich nie in seiner Gesamtheit, sondern immer nur als das darstellt, was es in gerade diesem Moment zu sein scheint. Unser Text ist eine solche Momentaufnahme unseres aktuellen Wissens- und Erkenntnisstandes – und er kann auch gar nichts anderes sein.
Bettina Knothe & Anna Trökes,
Berlin im Mai 2014
Wir schwimmen Tag für Tag im Strom des Lebens, und wie es halt so ist, hören wir dabei die meiste Zeit nicht auf das geflüsterte Verlangen unseres eigenen Herzens.
Jon Kabat-Zinn
Was ist Yoga? Diese Frage steht oft am Anfang eines neuen Yoga-Kurses mit Teilnehmenden, die noch nie Yoga praktiziert haben. Sie wird gelegentlich gestellt, wenn Menschen sich für Yoga interessieren und für sich entscheiden müssen, mit welchem Yoga-Stil sie anfangen wollen.
Da Yoga etwas ungemein Komplexes und Vielschichtiges ist, beziehen wir als Yoga-Lehrerinnen uns bei dieser Frage in unserem Unterricht gerne auf Bilder aus dem Alltag, um unser Verständnis von Yoga zu vermitteln. So beispielsweise:
Yoga heißt, mit sich selbst wieder in Kontakt und in Beziehung kommen.
Yoga heißt, sich mit sich selbst anzufreunden.
Yoga heißt, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und sich selbst etwas Gutes zu tun.
Dahinter steht die Idee, dass alle Menschen mit den Vorstellungen von Kontakt, Beziehung und Freundschaft etwas anfangen können, weil sie mit diesen Begriffen eigene Bilder, Erfahrungen und Vorstellungen verbinden können, die positiv gefärbt sind. Wir wählen diese Begriffe aus, weil wir annehmen, dass unsere Teilnehmenden mit ihnen etwas Positives verbinden. Selbstverständlich können wir nicht wissen, was sie auf der Grundlage ihrer momentanen Verfassung tatsächlich mit »Kontakt«, »Beziehung« und »Freundschaft« assoziieren und wie sich diese Aspekte für sie anfühlen. Aber wenn sie Yoga üben, werden sie auf jeden Fall Gelegenheit haben, im Kontakt mit sich selbst Erfahrungen damit zu machen und diesen Empfindungen nachzugehen. Wenn Yoga-Praxis und Unterricht bewirken, dass sie sich eingeladen fühlen, sich (wieder) auf sich selbst einzulassen, dann wird sie der Yoga sicher darin unterstützen, sich zunehmend in dem zu gründen, was ihnen guttut und was sie geistig und körperlich gesund erhält.
Einer der angesehensten und bekanntesten Grundlagentexte des Yoga ist das Yoga-Sutra (sutra: Leitfaden), das dem Weisen Patañjali zugeschrieben wird. Er definiert den Yoga dort (YS I,2) mit den Worten »yogas citta vritti[1]nirodhah«, was zumeist übersetzt wird mit: »Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Aktivitäten des Geistes.« Aus unserer Sicht beschreibt diese Definition den Kern des Yoga-Weges, der uns in einen mentalen Zustand zu führen vermag, der gekennzeichnet ist durch Unmittelbarkeit und Klarheit sowie ein intuitives Verstehen, wer wir wirklich im tiefsten Wesenskern sind. Dieser Kernaussage werden wir in diesem Buch folgen.
Das Yoga-Sutra ist einer der Texte, der uns in diesem Buch begleiten wird. Obwohl zweitausend Jahre alt, ist dieser Text doch so klar und so zeitlos in seiner Analyse des menschlichen Geistes, dass er uns auch heute noch als ein unverzichtbarer Ratgeber zu verstehen hilft, wie wir »funktionieren« und was wir tun können, um zu persönlicher Klarheit, innerer Ruhe und innerer Freiheit zu finden.
Ein weiterer Yoga-Text, auf den wir uns beziehen, ist die Bhagavadgita (ein berühmter Lehrdialog, der ca. 400 v. Chr. entstand). Außerdem wird in unsere Darstellungen indirekt auch immer wieder buddhistisches Gedankengut mit einfließen. Siddharta Gautama praktizierte viele Jahre intensiv Yoga, bevor er Erleuchtung fand und zum Buddha wurde. In seinen Lehren entwickelte Buddha den psychologischen Ansatz der Yoga-Praxis konsequent weiter. Vieles davon floss wiederum in spätere Konzepte des Yoga ein, sodass es zu einer Durchdringung älteren und neueren yogischen und buddhistischen Gedankenguts kam, die wir heute manchmal in ihrem Ursprung kaum noch zu unterscheiden vermögen.
Schlüsselbegriffe innerhalb unserer Yoga-Praxis und Yoga-Lehre sind Innehalten und achtsames Gewahrsein. Sie sind für uns bedeutsam, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass sie es uns erlauben, Zugang zu unserer unbewussten Welt von Erinnerungen, Gewohnheiten, Einstellungen, Konzepten und Alltagsautomatismen zu finden.
In diesem Buch gehen wir davon aus, dass jede Yoga-Übungspraxis Spuren im Nervensystem hinterlässt, und zwar sowohl hervorgerufen durch den Prozess der Wahrnehmung an sich als auch durch unsere Verarbeitung motorischer, sensorischer und kognitiver Eindrücke, mit denen uns diese Praxis konfrontiert. Diese Eindrücke treffen auf die bereits in uns bestehenden neuronalen Abbildungen unserer Körper- und Bewegungsempfindungen. Gleichzeitig schaffen sie durch das aufmerksame Spüren und Bewegen aber auch neue, sinnliche erfahrbare Abbildungen im Nervensystem und im Gehirn. Vermittelt durch unsere Aufmerksamkeit entsteht in uns ein subjektives oder emotionales Gewahrsein, bei dem wir uns selbst be-wusst in unserem sensorischen Erleben beobachten, und zwar dergestalt, dass wir zu uns selbst etwas Abstand bewahren. Das erlaubt es uns, uns selbst beim Handeln, Spüren und Denken zuzuschauen, und es erschafft in uns etwas, was sich im Yoga größter Wertschätzung erfreut: die Instanz des inneren Beobachters oder – wissenschaftlich ausgedrückt – eine Metaposition, bezogen auf das eigene Erleben. »Meta«, was sinngemäß »dahinterstehend« heißt, bedeutet, dass wir gewissermaßen hinter das treten, was wir gerade erfahren, und uns so aus dem Geschehen zurückziehen. Dadurch verändert sich verständlicherweise unsere Perspektive komplett.
Yoga bietet uns in diesem Sinne neben einer Philosophie, die seit Jahrhunderten immer wieder neu durchdacht und angewandt wird, noch eine außerordentlich differenziert ausgearbeitete und vielfältige Methodik, die uns darin unterstützen möchte, Momente und Erfahrungen des Innehaltens in unserem Alltags- und Lebensprozess zu etablieren. Im Innehalten finden wir allmählich zu einem sensiblen Empfinden von Präsenz und lernen, einen hohen Grad bewusster Aufmerksamkeit zu entfalten und beizubehalten. Das wiederum ermöglicht uns, psychische Erfahrungen im JETZT unmittelbar zu spüren, sie auszuhalten, anzunehmen und achtsam mit ihnen umzugehen – eine Fähigkeit, die wir als Selbstwirksamkeit bezeichnen.
Das Yoga-Sutra ist in einer sehr dichten und komprimierten Sprache verfasst. Es vermittelt einerseits den Eindruck, dass Patañjali jemand war, der sehr genau beobachtet hat. Zum anderen hinterlassen die Texte des Yoga-Sutra bei uns Autorinnen den Eindruck, als habe sich die Struktur des Denkens und Reflektierens in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden im Kern so gut wie gar nicht verändert.
Deswegen lohnt es sich auch, ganz genau hinzuschauen, wie Patañjali das definiert, was wir in der deutschen Sprache »Geist« nennen. Er verwendet dafür das Wort citta, wörtlich: »das Gesehene, das Beobachtete, das Erkannte« (Deshpande/Bäumer 1977:23). Citta wird auch als der Bereich oder als das Feld in uns bezeichnet, in dem wir wahrnehmen, denken, fühlen, uns an etwas erinnern, in dem wir uns unserer Gefühle gewahr werden und unsere inneren Bilder erfahren können. Eliade nennt Citta »die psychische Kraft, welche die von außen kommenden Empfindungen ordnet und erhellt«[2]. Es ist auch die Instanz in uns, die es mir ermöglicht, zu wissen, dass ich es bin, die oder der da sieht, hört, denkt und fühlt. Aus diesem Grunde übersetzt Sriram citta mit »das meinende Selbst« (Sriram 2006:32).
Das deutsche Wort »Geist« mag als erste Übersetzung für den Begriff Citta stehen, es gibt jedoch unserer Meinung nach nur sehr ungenau die Vielfalt der Funktionen von Citta wieder. Denn: Der Begriff »Geist« wird sehr oft mit Vernunft und Verstand gleichgesetzt; dabei gerät aus dem Blick, dass auch unsere Empfindungen und unsere Gefühle Teile des Geistigen sind. Unsere Lebenserfahrung wie auch die moderne Hirnforschung zeigen nämlich, dass alle diese Erscheinungsformen des Geistigen auf das intensivste miteinander vernetzt sind. So können wir uns den Citta auch physisch als das milliardenfach verknüpfte Netz von Nervenzellen vorstellen, in dem alle unsere mentalen Inhalte bewahrt werden und aktiv sind. Und dazu gehören neben unserem Verstand eben auch unser Gemüt (also unser emotionales Bewusstsein) wie auch der gesamte riesige Fundus unserer Erinnerungen, unserer inneren Bilder, der Konzepte, auf die wir uns ständig unbewusst beziehen, und nicht zuletzt auch unsere Intuition (also unsere Gabe, etwas jenseits von Konzepten und Worten zu verstehen und zu wissen).
Im weiteren Verlauf dieses Buches werden wir uns an einer Definition von »Geist« (engl.: mind) orientieren, wie er von dem bekannten Neurowissenschaftler Daniel Siegel entwickelt wurde. Danach ist »Mind« etwas, das (uns) durch folgende Qualitäten erfahrbar wird:
Mind ist selbstorganisiert, das heißt, er erschafft und verändert sich aus sich selbst heraus.
Mind ist emergent, das heißt, er trägt in sich die Fähigkeit, aus dem Zusammenwirken unterschiedlichster Faktoren (wie z.B. Eindrücken und Erinnerungen) neue Qualitäten des Verstehens und Erkennens zu entwickeln.
Mind ist verkörpert, das heißt, unsere Erfahrungen haben sich bis auf die zellulären Ebenen »eingeschrieben«. Ohne das Zusammenwirken mit dem Körper, der ihn beherbergt, würde er nicht funktionieren.
Mind ist relational (bezogen auf etwas), das bedeutet, er ist immer veränderlich und eingebunden in ein Geflecht von Beziehungen.
Siegel definiert Mind als »einen selbstorganisierten, emergenten Prozess, der in uns und zwischen uns auftaucht und sich dann – auf sich selbst bezogen – immer wieder reguliert. Das, was dabei ständig reguliert wird, ist der Fluss von Energie und Information« (Siegel, Vortrag in Graz 2013). Kurzgefasst könnte man sagen, dass unser Mind ein Prozess ist, der ständig aktiv Energie und Informationen reguliert.
Um sowohl dieser komplexen Definition gerecht zu werden, als auch die diversen Bedeutungen des Sanskrit-Worts citta zu würdigen, haben wir uns dazu entschlossen, in vielen Fällen anstelle von »Geist« das englische Wort »Mind« zu verwenden.
Alle Aktivitäten unseres Mind sind abhängig davon, wie er in der Kindheit und Jugend geprägt wurde.[3] Dies umfasst die Fähigkeit des Geistes, wahrzunehmen, zu empfinden, also Zugang zu unseren Gefühlen zu bekommen bzw. zu unserem Denk- und Reflexionsvermögen, zu unseren Erinnerungen und zu unseren inneren Bildern. Darauf weist schon die Wortbedeutung von citta als »das Gesehene, das Beobachtete, das Erkannte« deutlich hin. »Prägung« meint hier, dass etwas einen prägenden Eindruck in uns hinterlassen hat, bedingt dadurch, wie unser Gehirn in den ersten Tagen, Monaten und Jahren des Lebens genutzt und gefordert bzw. gefördert wurde, und was wir in dieser Zeit sehen, beobachten und erkennen konnten.
Vor diesem Hintergrund begreifen wir, dass Citta – der Mind – auf eine Weise strukturiert wurde, dass er nur das in sich entwickeln kann, was er an Information und Strukturen angeboten bekommt und dann entsprechend im Gehirn verarbeiten kann.
Ein Kind verfügt nach der Geburt über unendliche Möglichkeiten zur Vernetzung seiner Gehirnzellen. Was aus diesen Vernetzungsoptionen tatsächlich ausgewählt wird, wird durch das Angebot und die Qualität an Reizen, Kontakten und Bindungen bestimmt, die von außen an es herangetragen werden. Diejenigen Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster, die sich für ein Kind subjektiv als wesentlich herausstellen, um in einer Gemeinschaft überleben zu können, bilden sich weitestgehend aufgrund dieser Nutzung und werden durch Wiederholung als Muster stabilisiert. Was uns durch solche frühen Erfahrungen eingeprägt wurde, ist zwar keinesfalls unveränderlich, hinterlässt aber zunächst einen so starken Eindruck, dass es die Funktionsweise (das Wie) unseres Mind stark bestimmt.
Das Yoga-Sutra beschreibt die vielfältigen Aktivitäten des Geistes (die Vrittis[4]) im täglichen Leben. Unser Mind ist demnach – und auch das zeigt unsere eigene Lebenserfahrung – fast ununterbrochen in Bewegung. Wir sind ständig dabei, zu empfinden, zu denken, zu fühlen oder uns zu erinnern; und wir erfahren fortwährend, dass innere Bilder, Vorstellungen oder manchmal auch Melodien unseren mentalen Raum (den Citta) erfüllen. Im Verlauf unserer Yoga-Praxis versuchen wir, diesen Raum zu ordnen, ihn überschaubarer zu machen – und vor allem, ihn immer mehr zu leeren.
Die Neurowissenschaften sprechen hinsichtlich unserer Fähigkeit, unseren Mind immer wieder neu zu gestalten, vom plastischen Gehirn. Auch diese Vorstellung, nämlich dass das Gehirn plastisch, also veränderbar und formbar ist, gab es im Yoga schon immer. Ja man könnte sogar sagen, dass sich in diesem Gedanken Sinn und Anspruch unserer Yoga-Praxis gründen. Sie zeigt uns einen Weg – einen von vielen möglichen Wegen –, der uns darin unterstützen kann, alte und unbewusste Prägungen bewusster wahrzunehmen, unseren Mind besser in all seinen Funktionen und Mustern kennenzulernen sowie kompetenter und handlungsfähiger all den leidvollen körperlichen und mentalen Spannungen begegnen zu können, die uns Leid verursachen. Der Yoga lehrt uns zu verstehen, dass wir zwar mit einer bestimmten mentalen Ausstattung kommen, aber nicht notwendigerweise mit ihr auch wieder gehen müssen. Besonders diese Erkenntnis möchten wir in unserem Buch mit Ihnen teilen.
Neue Ansätze in den Neurowissenschaften, der Positiven Psychologie und der Psychotherapie sowie der ressourcenorientierten Persönlichkeitsentwicklung beschäftigen sich seit Jahren verstärkt mit den Themen Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit. Alle diese Methoden bemühen sich um integrative Ansätze, die uns ermächtigen sollen, unser persönliches Wohlbefinden zu begründen, angemessen mit Wandel- und Krisensituationen umzugehen sowie offene und achtsame Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Welt als Ganzes zu pflegen. Der Yoga verknüpft dieses Anliegen im Rahmen seiner Philosophie und Übungspraxis: Hier ist der Weg das Ziel, und das, wodurch der Yoga sich definiert (der Zustand des stillen, klaren Mind), beschreibt gleichzeitig auch den Prozess, den wir durchlaufen, um diese innere Verfassung in uns zu entwickeln.
Der Yoga lehrt uns, über die Beobachtung unserer Bewegungen, unserer Haltung, unserer Atmung und unserer Gedanken mehr über uns selbst zu erfahren. Jede dieser Beobachtungen hinterlässt ihre Spuren in unserem Gehirn, insbesondere in den Bereichen, die für die Körperwahrnehmung und die Bewegungsmuster zuständig sind. Und es erscheint uns als sehr wahrscheinlich, dass, wenn wir Yoga in Verbindung mit einem so klaren konzeptionellen Rahmen üben, wie ihn das Yoga-Sutra oder andere Yoga-Texte bieten, sich auch jene Gehirnregionen verändern, die es uns ermöglichen, soziale und ethische Entscheidungen zu treffen, also zunehmend soziale und emotionale Kompetenz zu entfalten.
Das betrifft insbesondere unser Stirnhirn bzw. die gesamte präfrontale Region. Und zwar aus folgendem Grund: Im Yoga beschäftigen wir uns kontinuierlich damit, unseren Fokus und unsere Sichtweise so zu verändern, dass wir zusammenführen und einschließen, anstatt auszuschließen und auszugrenzen. Diese Suche nach integriertem Wissen und kohärenter Struktur[5] sollte sich nach unserem Verständnis auch im Gehirn abbilden. Wir sprechen deshalb gerne davon, dass wir vermittels Yoga in unserem Gehirn die Fähigkeit der Kohärenz stärken können.
Wir Menschen sind fühlende und (selbst)reflektierende Wesen. Die Existenz und das Zusammenspiel dieser Eigenschaften sind ein großes Geschenk. In diesem Spiel ist jedes Gehirn an Erweiterung interessiert. In »Erweiterung« steckt »weit werden«. Und: Unser Gehirn ist immer »interessiert« an Vernetzung, an Sinnfindung und an Sinnstiftung. Das bedeutet, dass es immer versucht, das Erlebte, Empfundene, Gedachte und Überdachte zu einem für uns sinnvollen Resultat oder einer sinnstiftenden Erfahrung zu verbinden. Auch diese Fähigkeit wird als Kohärenz bezeichnet.
Die Art, wie das Yoga-Sutra oder die Bhagavadgita unseren Mind betrachtet, lässt deutlich werden, dass sehr vieles von dem, was wir wahrnehmen (also: für wahr nehmen), was wir an Konzepten erschaffen oder was als Erinnerung und Erfahrung in der Tiefe unseres Gehirns abgelegt ist, dazu beiträgt, dass wir sowohl große Freude und Verbundenheit als aber auch Leid erfahren.
»Jede Aktivität unseres Geistes kann sowohl dazu beitragen, uns Beschwernis zu verursachen, oder aber dazu beitragen, dass wir Erleichterung erfahren bzw. glücklicher werden.« (YS I,5, Desikachar)
Doch leider werden wir uns ganz oft nicht bewusst, wie sich unser Denken und Fühlen, die Art unserer Erinnerungen und die Auswahl von Konzepten, aus denen heraus wir unsere inneren Einstellungen entwickeln, auf unser Wohlbefinden oder Unbehagen auswirken.
Deshalb sind das Etablieren von Innehalten und das achtsame Gewahrsein die beiden Kernkompetenzen, die wir vermittels einer Yoga-Praxis zu entwickeln suchen. Die Verankerung dieser Qualitäten im eigenen Alltag ist eine große Herausforderung, und das Entwickeln von Achtsamkeit insgesamt sogar ein lebenslanger Übungsweg. Beides aber wird uns zuverlässig in unser eigenes inneres Sein führen – und steht damit ganz im Gegensatz zu unserem ständigen Aktivsein im Alltag. Wenn es uns gelingt, sowohl das Innehalten als auch die Achtsamkeit im eigenen Leben zu etablieren, dann können wir damit etwas erschaffen, was das Yoga-Sutra »Gegenströmung« (pratipaksha) nennt. Damit ist die Kraft gemeint, die den ungünstigen und destruktiven Tendenzen und Strömungen unseres Mind etwas entgegenzusetzen vermag.
Unserer persönlichen Erfahrung nach müssen wir uns bewusst und klar entscheiden, diesen Weg zu gehen. Um die Orientierung zu behalten, brauchen wir klare Konzepte und eine »Landkarte«. Und wir brauchen eine persönliche Vision, die uns unser eigenes Bemühen sinnvoll erscheinen lässt und uns dazu motiviert, auch in schwierigen Zeiten am Ball zu bleiben.
Doch auch Konzepte und Visionen wollen erarbeitet werden. Damit sie innerhalb unserer persönlichen Wertvorstellungen, Lebensumstände und Ansichten zu einer verlässlichen und belastbaren Methode werden können, bedarf es sowohl unseres beständigen Bemühens (abhyasa) als auch der Fähigkeit, uns bezüglich dessen, was wir tun, immer wieder selbst zu hinterfragen.[6]
Hier setzt unser Verständnis von Yoga in Verbindung mit Achtsamkeit an. Unsere Erfahrung hat uns gezeigt, dass Achtsamkeit so etwas ist wie der »Ariadne-Faden«, der uns sicher durch das Labyrinth unseres Mind zu führen vermag und der uns hilft, sogar in seine Abgründe einzutauchen, ohne uns in ihnen zu verlieren. Wenn wir achtsam Yoga üben, in Verbindung mit den wundervollen und hilfreichen Denkansätzen, die uns die Yoga-Philosophie bietet, dann können wir allem in uns furchtlos begegnen. Wenn wir die Schriften des Yoga lesen und uns mit seiner Philosophie beschäftigen, dann sind wir immer eingeladen, uns mit der klaren, sinnstiftenden, haltgebenden und vor allem seit Jahrtausenden erprobten Struktur zu verbinden, die wir dort vorfinden. Diese Struktur ist ungemein hilfreich, und zwar zum einen, weil sie uns hilft, unseren persönlichen Weg der Achtsamkeit zu gestalten und ihn zu beschreiten; zum anderen schafft sie günstige Bedingungen dafür, dass wir allmählich eine stabile und doch gleichzeitig gelöste Geistesverfassung in uns etablieren können. Eine solche innere Gestimmtheit verstärkt wiederum unser Vertrauen, dass wir auf unserem Übungs- wie auch auf unserem Lebensweg immer wieder alles neu ausprobieren und auch Fehler machen dürfen. Es geht darum, dass wir uns selbst die Chance geben, »mit uns so zärtlich und liebevoll umzugehen, dass wir uns zumindest immer für Momente mit uns selbst ›zu Hause‹ fühlen« (Reddemann/Wetzel 2011:13). Darin liegt unsere Chance: uns tief mit uns selbst zu befreunden. In solch einer zugewandten Beziehung zu uns selbst gibt es kein wertendes »Richtig« oder »Falsch«, »Gut« oder »Schlecht«. Vielmehr sind wir immer wieder angehalten, uns zu fragen, ob das, was wir denken, fühlen und wie wir handeln, für uns und unsere Umwelt eher günstig oder ungünstig bzw. eher förderlich oder hinderlich ist.
Diesen Zusammenhang empfinden wir als sehr bedeutsam in Bezug auf die Stärkung unserer persönlichen Ressourcen und die zunehmende Entfaltung von Selbstwirksamkeit. Wir betrachten den Yoga als ein Instrument, eine Möglichkeit, an unsere inneren Ressourcen anzudocken, und wir meinen, dass er uns viele Gelegenheiten gibt, übend unsere Kompetenzen und Potenziale immer wieder ein Stückchen weiter auszudehnen. Seine klare philosophische Struktur ist wie eine verlässliche Begleitung, die es uns ermöglicht, wohlwollend an der Erweiterung unserer Grenzen zu arbeiten. Im Gegensatz zu den üblichen Bewertungen wie »richtig« oder »falsch« herrscht hier das Prinzip der »Fehlerfreundlichkeit«.
Im Zusammenspiel von Yoga und Achtsamkeit geht es daher unserer Ansicht nach darum, für uns selbst bewusst innehalten zu können, mit uns selbst förderlich umzugehen und uns zu erlauben, neugierig, offen, akzeptierend und liebevoll unsere Grenzen zu erforschen und auszudehnen.
Yoga unterstützt uns, unsere Achtsamkeit zu schulen und ein Gespür für unsere physische, emotionale und mentale Befindlichkeit zu erlangen. Den Ausgangspunkt unserer Yoga-Praxis bezeichnen wir im ersten Kapitel als den Zustand des »sich selbst überlassenen« Gehirns. Wir stellen Ihnen dort Erklärungsmodelle aus der Yoga-Philosophie über die Funktionsweise unseres Mind vor, über die Art und Weise, wie wir Wahrnehmungen erfassen und verarbeiten. Unser Anliegen ist es, denjenigen Bezugspunkt der Yoga-Philosophie, der uns durch das ganze Buch führen wird – das Yoga-Sutra des Patañjali –, darzulegen.
Im zweiten Kapitel wechseln wir die Perspektive und beschäftigen uns damit, was nach dem heutigen Stand neurowissenschaftlicher Forschung im Gehirn geschieht. Wir beschreiben die Anatomie und Physiologie des Gehirns und betrachten ausgewählte und für unser Anliegen relevante Gehirnfunktionen etwas genauer. Vor allem interessiert uns, wie wir Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Motivation und Gefühle steuern, mentale Konzepte entwickeln, Verhalten bewerten können, und welche Auswirkungen achtsames Gewahrsein auf die neuronalen Bedingungen und funktionalen Systeme des Gehirns haben kann.
Mit diesen Grundlagen kehren wir im dritten Kapitel wieder zurück zur Yoga-Philosophie und untersuchen verschiedene Wege, die es ermöglichen, in uns ein Zeugenbewusstsein und Achtsamkeit zu etablieren. Wir beziehen uns dabei immer wieder auf die neuronale Plastizität des Gehirns; denn wir glauben, dass, wenn wir uns die Qualität neuronaler Vernetzung bewusst machen und lernen, Achtsamkeit als Weg zur Kontaktaufnahme mit uns selbst zu etablieren, dies einen ganz wesentlichen Stellenwert für unser Wohlbefinden darstellt, und zwar in allen Lebensbereichen. Wir führen in diesem Kapitel außerdem ein Modell ein, mit dem es möglich wird, ein individuelles Zeugenbewusstsein zu etablieren: die »Nabe des Bewusstseins« (nach Daniel Siegel). Wir orientieren uns dabei methodisch an den vier Yoga-Wegen, die uns in der Bhagavadgita vorgestellt werden.
An diese Wege anknüpfend entwickeln wir im vierten Kapitel entlang der Elemente Asanas, Atem, Entspannung und Meditation praktische Übungsschritte für eine Yoga-Praxis, die sich nachhaltig günstig auf unseren Körper, unser Nervensystem, unser Gehirn und damit unseren Mind auswirken kann.
Das fünfte Kapitel geht den Schritt über die individuelle Yoga-Praxis hinaus. Bis dahin stand das Interesse im Vordergrund, wie wir mit den Erkenntnissen aus der gemeinsamen Betrachtung von Yoga-Praxis, Yoga-Philosophie und Neurowissenschaften unser Leben selbstwirksam und stimmig (kohärent) gestalten können. Im fünften Kapitel wird es unser Anliegen sein, uns als diejenigen, die Yoga üben bzw. sich für Yoga interessieren, in Beziehung zu unserer sozialen und kulturellen Mitwelt zu setzen. Hier kommen wir abschließend wieder auf die großartige Fähigkeit unseres Gehirns zur Neuroplastizität zurück und gehen dem Aspekt nach, in welcher Weise wir uns in Wechselbeziehung mit unserer Umwelt begeben und darin unsere eigene Geschichte schreiben – die Geschichte, die wir in der Yoga-Praxis allmählich aufzuspüren beginnen, die wir uns dabei bewusster zugänglich machen und auf die wir Zeit unseres Lebens gestaltend einwirken.
Sobald wir beginnen, unsere Achtsamkeit zu schulen, wird uns bewusst, in welchem Maße sie eigentlich ungeschult ist! In unserer Kultur gibt es bisher so gut wie keine Ansätze, bereits bei Kindern die Aufmerksamkeit und den Mind zu schulen. Aus diesem Grunde weisen sehr viele Kinder in der westlichen Welt zunehmend größer werdende Defizite in dieser Hinsicht auf, denn insbesondere die sehr früh beginnende und äußerst intensive Beschäftigung mit Smartphones und Computerspielen gewöhnt das heranreifende Gehirn daran, dass Aufmerksamkeit immer an einen Reiz gebunden ist. Da piept es, blinkt es, bewegt sich schnell über den Bildschirm – und lockt so die Aufmerksamkeit. Wenn jedoch nichts piept, nichts blinkt oder sich bewegt – also die Reize ausbleiben –, empfindet ein in dieser Weise geprägtes Gehirn sehr schnell Langeweile und wird unruhig.
Auch Menschen, die noch nicht mit dem ständigen Einfluss der digitalen Welt aufgewachsen sind, sind in der Regel daran gewöhnt, dass ihnen äußere Reize angeboten werden, um ihre Aufmerksamkeit zu binden. Sehr häufig fühlen sich solche Menschen im Yoga-Unterricht dann unwohl, wenn die Übungspraxis deutlich entschleunigt wird und längere Ruhephasen auszuhalten sind; ohne den gewohnten ständigen Stimulus wird ihr Geist – und in der Folge ihr Körper – unruhig und zappelig. Deswegen bevorzugen sie Yoga-Stile, die ihnen einen schnellen und schweißtreibenden Workout anbieten, wie Vinyasa Flow, Bikram- oder Power-Yoga.
Was macht diesen Menschen die Ruhe so unangenehm, ja oft sogar qualvoll?
Es ist die Dynamik ihres Gehirns, in Wechselwirkung mit ihrem Mind, deren Aktivitäten wie ein wilder Strom an- und abschwellen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Mind »ein Prozess ist, der den Fluss von Energie und Informationen regelt« (Siegel 2007:24), dann ist der Mind dieser Menschen ungeregelt, was bedeutet, dass in ihm weder der Fluss von Energie noch der der Informationen einem nennenswerten Zugriff oder einer spürbaren Regulierung unterliegt. Sie sind gewissermaßen so gut wie ständig im »Autopilot-Modus« unterwegs. Siegel hat ein hilfreiches Bild entworfen, wenn er einen solchen Mind mit einem Fluss vergleicht, der – sich selbst überlassen – ständig zwischen den beiden Ufern von Chaos einerseits und Starrheit andererseits hin und her schießt.
Dabei meint »Chaos« hier alle Aktivitäten, die im Gehirn in schneller Folge spontan entstehen: all die Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen, Stimmungen usw., die im Kopf umherwirbeln und die im Buddhismus und im Yoga oft mit einer Horde wild zwischen den Bäumen herumhüpfender Affen verglichen wird.
»Starrheit« bezeichnet hingegen die mentalen Muster, nach denen wir funktionieren, ohne sie je zu hinterfragen. Aus ihnen erwachsen unsere inneren Einstellungen, die festlegen, wie die Welt, wie wir selbst und wie andere Menschen sein sollen. Wenn dann das, was geschieht, nicht unseren Vorstellungen und Erwartungen entspricht, entsteht daraus wieder Unruhe bis hin zum Chaos.
Siegel weist darauf hin, dass in diesem Zickzack zwischen den Ufern des Chaos und der Starrheit die Ursache für alle psychischen Störungen zu suchen sei. Doch wie lässt sich dieser Zickzack-Kurs abschwächen und eines Tages vielleicht beenden?
Es ist die Fähigkeit unseres Mind, sich aus dem Entweder-oder zu lösen und ein Sowohl-als-auch zu entwickeln, also seine Fähigkeit zur Integration, die in der Lage ist, den mentalen Strom von Informationen und Energie auszugleichen und zu regulieren. Darauf werden wir im nächsten Kapitel ausführlich eingehen.
Patañjali beschreibt in seinem Yoga-Sutra nicht nur die Aktivitäten unseres Mind, sondern hinterfragt sie gleichzeitig auf ihre Wertigkeit und Gültigkeit. Dieser kritische Ansatz gegenüber all dem, wozu unser Mind fähig ist, entspringt der Beobachtung, dass sehr viel von dem, was wir wahrnehmen (also: für wahr nehmen), was wir an Konzepten erschaffen oder woran wir uns erinnern, dazu beiträgt, dass wir Leid erfahren.
Der Sanskrit-Begriff vritti stammt von der Wurzel vrit, die »wählen, vorziehen« bedeutet, aber auch »sich drehen, bewegen«. »Vritti bedeutet daher die Form, die das Wählen im Bewußtsein nimmt, und den fluktuierenden Strom des Bewußtseins«, heißt es bei Deshpande/Bäumer (1977:23).
Bevor wir jedes der insgesamt fünf Vrittis einzeln genauer betrachten, scheint es uns hilfreich, sie im großen Zusammenhang der Hirnaktivitäten zu begreifen; denn dadurch werden sowohl die Auswahl der Vrittis unter allen Möglichkeiten des Wahrnehmens als auch ihre Beschreibung und Einschätzung verständlich. Deshpande/Bäumer führen aus: »Vritti ist eine Bewegung, die von der Neigung des Menschen, zu wählen und zu entscheiden, in Gang gesetzt wird. Wählen setzt Freiheit voraus. Aber ein Wählen, das sich mit dem Gewählten identifiziert, stellt eine Begrenzung der Freiheit dar, in der sie zu einer Tätigkeit wird, die von vergangenen Eindrücken des Gemütes oder der Gehirnzellen ausgelöst wird. Echte und sinnvolle Freiheit darf aber nie von der Vergangenheit bestimmt werden. Vritti ist aber eine Tätigkeit, die in den festen Bahnen der Gewohnheit und Konvention abläuft und die daher der Vergangenheit verhaftet ist.« (Ebd.:24)
Um wählen zu können, müssen wir bewerten, und genau das tut das Gehirn in jedem Moment. Jeder Reiz wird nicht nur daraufhin überprüft, ob er es überhaupt wert ist, weitere Beachtung zu bekommen, sondern es wird auch sofort geprüft, ob er angenehm/sympathisch oder unangenehm/unsympathisch ist. Wie wir später sehen werden, beruhen diese Wertungen auf unbewussten Prägungen. Entsprechend dieser Beurteilung bekommt er dann gewissermaßen noch eine Prioritätsstufe zugewiesen, da im Alltag fast immer mehr Eindrücke samt nachfolgender Reflexion zur Bearbeitung anstehen, als das Gehirn in seinen bewussten Bereichen bewältigen kann – schließlich können wir nicht zwei Sachen gleichzeitig denken, sondern immer nur einen Gedanken dem anderen folgen lassen. Unsere Wahrnehmung springt dabei in der Regel zwischen verschiedenen Gedankensträngen, Gefühlen, Assoziationen oder Erinnerungen hin und her, und zwar umso schneller und hektischer, je höher das Angebot an Reizen ist. Osho, der, wie Patañjali, unseren Mind mit größter Genauigkeit zu beobachten liebte, verglich ihn gerne mit einer Autobahn zur Stoßzeit, auf der die unterschiedlichen Vrittis sich wie Autos drängeln und schieben. Ständig versucht ein Gedanke den anderen zu überholen, ein Reiz den anderen zu verdrängen. Jede einzelne geistige Regung ist dabei bemüht, den ganzen Raum des Mind für sich zu beanspruchen und unsere Wahrnehmung oder unsere Überlegungen oder unsere Gefühle in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wenn wir dieses Bild einmal in Ruhe auf uns wirken lassen, wird sehr schnell klar, warum wir oft gar nicht wissen, »wo uns der Kopf steht« oder warum wir den Eindruck haben, in einem Gedankenkarussell gefangen zu sein.[7]
Schauen wir uns nun die fünf Aktivitäten unseres Citta im Einzelnen an. Es sind: richtige Wahrnehmung, falsche Wahrnehmung (Irrtum), Vorstellung bzw. Denken in Konzepten, Schlaf und Erinnerung.
Es heißt bei Patañjali, dass das richtige Wahrnehmen (Desikachar) bzw. das gültige Wissen (Deshpande/Bäumer 1977) auf direkter Wahrnehmung, auf Schlussfolgerung oder auf der Überlieferung (d.h. in der Autorität der heiligen Schriften) gründet.
Unter normalen Umständen treffen Menschen in ihren Gemeinschaften untereinander Vereinbarungen, was sie als »gültiges Wissen« oder »richtige Wahrnehmung« (also für wahr) erachten.
Jede Form der Wahrnehmung hinterlässt deutliche Spuren im neuronalen Netzwerk des Gehirns, vor allem aber solche, die – da als richtig und gültig angesehen – nicht hinterfragt werden. Jeder äußere oder innere Reiz, der aufgrund dieser Prägungen als »richtig« identifiziert wird, wirkt im Sinne einer Bestätigung und verstärkt diese neuronale Verschaltung. Gerald Hüther nennt das, was dann entsteht, in seinen Vorträgen gerne eine »neuronale Autobahn«, also eine tief eingefahrene Spur, die kaum noch oder gar keine Nebenwege mehr zulässt.
Um wieder zu einer spontanen oder sogar einer »reinen« Wahrnehmung zu gelangen, müssen alle eingeübten, immer wieder bestätigten und zunehmend verstärkten Reaktionen auf das Wahrgenommene stillgelegt werden; das ist auch die eigentliche Bedeutung des Wortes nirodha, das den Yoga-Zustand beschreibt.
Im Yoga trainieren wir, uns bewusst von all dem zurückzuziehen, was normalerweise in dem Moment, in dem wir einen äußeren oder inneren Sinnesreiz wahrnehmen, automatisch vor sich geht.
Pramana – die richtige Wahrnehmung – kann dann bedeuten, dass eines Tages so etwas möglich wird wie die reine Schau einer unmittelbaren Wahrnehmung. Damit ist sie frei von den Prägungen der Vergangenheit und gegründet auf einem Geist, der sich befreien konnte aus dem Gefängnis von Neigungen und Abneigungen; also einem Geist, der nicht wählt und der das, was er wahrnimmt, lediglich zur Kenntnis nimmt. Pramana ist dabei immer noch ein Vritti, also »das, was wählt«. Es ist aber eine Geistesverfassung und Bewusstheit denkbar, in der wir eben ganz bewusst nicht wählen, also nichts »mit dem Eindruck machen«, der durch die Sinne entsteht. In diesem Sinne meint Pramana auch die spontane Erfahrung und Einsicht, die wir im Zustand der Meditation machen. Pramana als unmittelbare Erkenntnis ist die Form der Wahrnehmung, die im Yoga als günstig angesehen wird und die deshalb durch das Einüben achtsamen Gewahrseins und der Beruhigung der mentalen Aktivitäten zunehmend etabliert werden soll.
Viparyaya wird neben »falscher Wahrnehmung« auch mit »Verblendung« oder »Irrtum« übersetzt. Aus Viparyaya entsteht falsches Wissen. Meist entsteht diese falsche Wahrnehmung, dieser Irrtum absichtslos und weitgehend unbewusst, zum Beispiel dadurch, dass wir uns nicht die Mühe machen bzw. nicht die Zeit nehmen, genauer hinzuschauen, und uns trotz eines nur oberflächlichen und vielleicht sogar flüchtigen Eindrucks eine Meinung bilden.
Wir wagen zu behaupten, dass fast alle Aussagen, die mit »Du bist …«, »Es ist …« etc. beginnen, im Grunde genommen falsche Aussagen sind. Sie resultieren aus unseren Erfahrungen, unseren Konditionierungen und Erwartungen und sind so gesehen reine Projektionen. Mit dem Objekt, der Person oder dem Sachverhalt, um den es geht, haben sie häufig nur äußerst wenig zu tun und sagen also mehr aus über den, der die Aussage tätigt, als über das, worüber diese Person meint, etwas zu wissen.
Desikachar vertritt die Ansicht, dass falsche Wahrnehmung diejenige Aktivität in unserem Geist ist, die unser Leben am meisten bestimmt (Desikachar 1997:26). Viparyaya ist eine Erkenntnis, die dem Wesen der Sache nicht entspricht. Daraus, dass wir meinen, etwas zu wissen, was wir gar nicht wissen oder gar nicht wissen können, entsteht Verblendung.