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Die bekannte Yoga-Lehrerin Anna Trökes erklärt in diesem fundierten Handbuch eine Übungspraxis, die unsere Lebensenergie besser erfahrbar macht und den Körper von Blockaden und Anspannungen befreit. Die Lebensenergie, in Indien Prana genannt, ist der Dreh- und Angelpunkt für alle Prozesse, die unser menschliches Leben bestimmen. Eine Fülle von genau beschriebenen Übungen zur Erhöhung der Achtsamkeit und Konzentration sowie zahlreiche Bewusstseinslenkungen ermöglichen eine neue Dimension der Selbsterfahrung. Die jahrzehntelange Erfahrung von Anna Trökes und ihre Kenntnis der neuesten Forschungen zu Meditation und Yoga machen Yoga der Energie zu einem Standardwerk des Hatha-Yoga. Yoga-Praktizierende, die grundlegender in Yoga eindringen wollen und Wege suchen, ihre Selbsterforschung nachhaltig zu vertiefen und zu verfeinern, werden hier fündig. Die Konzepte und Praktiken von Mudra, Chakra und Kosha, die Meditationen auf die inneren Räume unseres Bewusstseins und die subtilen energetischen Ströme im Körper bzw. Energiekörper heben die eigene Yoga-Erfahrung auf ein völlig neues Niveau.
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Seitenzahl: 468
Anna Trökes
Der Hatha-Yoga als ganzheitlicher Übungsweg in Theorie und Praxis
Knaur eBooks
Die bekannte Yoga-Lehrerin Anna Trökes erklärt in diesem fundierten Handbuch eine Übungspraxis, die unsere Lebensenergie besser erfahrbar macht und den Körper von Blockaden und Anspannungen befreit. Die Lebensenergie, in Indien Prana genannt, ist der Dreh- und Angelpunkt für alle Prozesse, die unser menschliches Leben bestimmen. Eine Fülle von genau beschriebenen Übungen zur Erhöhung der Achtsamkeit und Konzentration sowie zahlreiche Bewusstseinslenkungen ermöglichen eine neue Dimension der Selbsterfahrung. Die jahrzehntelange Erfahrung von Anna Trökes und ihre Kenntnis der neuesten Forschungen zu Meditation und Yoga machen Yoga der Energie zu einem Standardwerk des Hatha-Yoga. Yoga-Praktizierende, die grundlegender in Yoga eindringen wollen und Wege suchen, ihre Selbsterforschung nachhaltig zu vertiefen und zu verfeinern, werden hier fündig. Die Konzepte und Praktiken von Mudra, Chakra und Kosha, die Meditationen auf die inneren Räume unseres Bewusstseins und die subtilen energetischen Ströme im Körper bzw. Energiekörper heben die eigene Yoga-Erfahrung auf ein völlig neues Niveau.
Vorwort
Zur Gliederung dieses Buches
Zum Entstehungsprozess dieses Buches
1 Einführung in den Weg des Hatha-Yoga und ein kurzer Gang durch die Entwicklung der Yogakonzepte
Die Anfänge des Yoga
Die vedische Zeit
Die Zeit des Vedanta und der Upanishaden
Rolle des Guru
Das Konzept des Selbst
Advaita Vedanta und das Konzept der Koshas
Konzepte des Brahman – Atman und Purusha – Prakriti
Brahman
Atman, ein Ausdruck von Brahman
Purusha und Prakriti
Das Tattva-Prinzip des Samkhya im Tantra
Das Yogasutra als eine wesentliche Grundlage für Erkenntnis und Praxis
2 Einführung in die Lehren des Tantra
Entwicklung des Tantra im Kontext weiterer religiöser Strömungen in Indien
Grundlagen des tantrischen Denkens
Versuche einer Definition
Das tantrische Konzept der alles durchdringenden Vernetzung und Beziehung
Im Dialog mit allem, was ist
Ein stufenweiser Übungsweg
Konzepte von Shiva und Shakti
Die verschiedenen Aspekte von Shiva
Die verschiedenen Aspekte der Shakti
Die Erfahrung der Beziehung zwischen Bewusstsein und Energie
Selbstwahrnehmung und die inneren Sinne
Die inneren Räume
Der Schöpfungsmythos des Tantra und die Bedeutung des Konzepts der Kundalini für den Hatha-Yoga
Stufen der Verdichtung und die irrige Vorstellung der Vereinzelung
Freude, Bhoga und Sexualität im Tantra
Aufstieg der Kundalini
Sadhana – der Übungsweg aus der manifestierten Welt zurück zum reinen Bewusstsein
Der Übungsweg des Buddha und bei Patanjali
Die Übungsschritte im Hatha-Yoga als Prozess der Bewusstwerdung
3 Der Shivaismus von Kaschmir und seine Bedeutung für den heutigen Yoga
Die Schulen des kaschmirischen Shivaismus
Die Spanda-Schule
Die Pratyabhijna-Schule
Die Krama-Schule
Die Kula-Schule
Das Konzept der Verhüllungen im kaschmirischen Shivaismus
Die Verbindung von alltäglicher und spiritueller Erfahrung im kaschmirischen Shivaismus
Vijnana Bhairava Tantra und seine zehn Zugänge zur Erfahrung des Absoluten
Zur Begrifflichkeit des Vijnana Bhairava Tantra
Prana – der erste Zugang
Japa – der zweite Zugang
Bhavana – der dritte Zugang
Weite und Raum – der vierte Zugang
Intensität der Erfahrung – der fünfte Zugang
Mudras und Asanas – der sechste Zugang
Unruhe und Verwirrung – der siebte Zugang
Vikalpa – der achte Zugang
Madhya – der neunte Zugang
Shunya – der zehnte Zugang
Die Methoden des Vijnana Bhairava Tantra
Für alle einen passenden Weg zur Quelle
Shivopaya – Weg des Bewusstseins
Shaktopaya – Weg der Energie
Anavopaya – Weg der individuellen Transformation
Yogapraxis, um Bewusstsein überall im Körper zu erfahren
Einstimmende Meditation
Drehung um die innere Achse im Stand
Seitlicher Armschwung mit Reinigungsatmung im Stand
Bein nach schräg vorne kicken mit Reinigungsatmung im Stand
Arme und Beine mit Schwung überkreuzen
Surya Namaskar A
Surya Namaskar B
Aufrechte Dreieckshaltung (Utthita Trikonasana)
Vorstufe zum gedrehten Dreieck (Parivritta Trikonasana)
Flankendehnung (Utthita Parshva Konasana)
Gedrehte Flankendehnung (Parivritta Parshva Konasana)
Intensive seitliche Dehnung (Parshvottanasana)
Held 1 (Virabhadrasana 1 & Variante)
Held 2 (Virabhadrasana 2) – von innen heraus gestaltet
Nachspüren im Sitzen
Gleichgewichtshaltung im Stand (Utthita Hasta Padangushthasana A)
Baum (Vrikshasana)
Übergang in den Vierfüßlerstand und Hund mit erhobenem Bein
Gebetshaltung (Yoga Mudra Variante)
Sich einspüren in die innere Achse im Sitzen
Drehsitz zur Aktivierung von Ida und Pingala
Dem Verlauf der Nadis im Geiste folgen
Die Mitte (Madhya) erfahren
Nachspüren zum Abschluss
4 Energiekonzepte des Hatha-Yoga
Der Quellentext Hatha-Yoga-Pradipika
Die Stufen der Leiter der Hatha-Yoga-Pradipika
Yama und Niyama im Hatha-Yoga
Asana
Pranayama
Meditation und Samadhi
Prana – der zentrale Energiebegriff im Tantra und Hatha-Yoga
Das Konzept von Prana
Prana im Hatha-Yoga
Die fünf Quellen der Energie (Prana)
Nahrung – erste Quelle der Energie
Bewegung – zweite Quelle der Energie
Gefühle – die dritte Quelle der Energie
Denken – die vierte Quelle der Energie
Spiritualität – die fünfte Quelle der Energie
Übersicht über die Quellen der Energie in uns
Wurzelraum
Unterbauch – Hara
Bauch – Nabel
Brustraum – Herzraum
Hals – Nacken
Stirnraum
Scheitel
Das Zusammenspiel der Gunas und ihr Ausgleich
Konzept der Polaritäten von rechts – links, oben – unten und vorne – hinten
Die Polarität rechts – links
Die Polarität oben – unten
Die Polarität vorne – hinten
Mudra im Tantra und im Hatha-Yoga
Hinführung zur Erfahrung von Mudra
Konzept der Mudra
Wirkung der Mudra
Yogapraxis zur Erfahrung von Prana, Polaritäten und Mudra
Einstimmung: Energielenkung entlang der inneren Achse im Sitzen
Drehung um die innere Achse mit den Händen am Brustbein
Drehung um die innere Achse mit den Armen in der Kerzenleuchterhaltung
Drehung mit erhobenem Arm und gedrehte Dehnung
Katze mit kleinem Energiekreislauf über Diener- und Lenkergefäß
In Merudandasana die Energie der Erde aufsteigen lassen
In der Berg-Meru-Haltung die Energie des Himmels aufnehmen
Adler-Variante (Garudasana) mit Pranalenkung
Vorbeuge (Prasarita Padottanasana) mit Pranalenkung
Held 1 (Virabhadrasana 1) mit Pranalenkung
Vorbeuge im Stand (Uttanasana) mit Pranalenkung
Kindhaltung (Yoga Mudra), alternativ: Bauchlage
Kobra-Variante (Bhujangasana) mit Pranalenkung
Hund, der nach unten schaut (Adho Mukha Shvanasana) mit Pranalenkung
Nachspüren im Sitzen
Gestützter Schulterstand (Viparita Karani Mudra) – mit Pranalenkung
Schulterbrücke (Dvipada Pitham Asana)
Kreisen des Rumpfes (Naropa 11)
Drehsitz (Ardha Matsyendrasana)
Liegende geschlossene Winkelhaltung (Supta Baddha Konasana) mit Yoni Mudra
Meditation mit Yoni Mudra in der Rückenlage
Vor- und zurückschwingen im Sitzen
Meditation zu Mudra
5 Die feinstoffliche Anatomie des Yoga
Die Grundlagen unserer feinstofflichen Anatomie im Hatha-Yoga
Die eigene Erfahrung mit der Wahrnehmung von Energie im Alltag
Energiemedizin und die Wirkung auf den Energiefluss im Körper
Körperwahrnehmung und die Erfahrung von Wohlspannung durch Yoga
Koshas – die Ebenen der Lebensenergie
Vayus – die fünf Wirkungsformen der Lebensenergie
Prana-Vayu – die Kraft, die aufnimmt
Apana-Vayu – die Kraft, die abgibt
Samana-Vayu – die Kraft, die wandelt
Udana-Vayu – die Kraft, die kommuniziert
Vyana-Vayu – die Kraft, die verteilt
Nadis – die Wege der Lebensenergie
Die drei Hauptnadis: Ida, Pingala und Sushumna
Weitere Nadis
Intelligentes Zusammenspiel
Reinigen der Nadis
Granthis – die Blockierungen in den Wegen der Lebensenergie
Granthi im Wurzelchakra
Granthi im Herzchakra
Granthi im Stirnchakra
Auflösen der Granthis
Chakras – die Zentren der Lebensenergie
Shakti und der Weg zurück zur Quelle
Der Weg zurück
Einführung zu den Chakras und deren Potenzial
Chakras als Bewusstseinsebenen erfahren
Die polare Arbeit mit den Chakras
Muladhara-Chakra
Sahasrara-Chakra
Synthese von Muladhara- und Sahasrara-Chakra
Svadhishthana-Chakra
Ajna-Chakra
Synthese von Svadhishthana- und Ajna-Chakra
Manipura-Chakra
Vishuddhi-Chakra
Synthese von Manipura- und Vishuddhi-Chakra
Anahata-Chakra
Yogapraxis zur Erfahrung der Chakras
Bodyscan in der Rückenlage
Geschlossene liegende Winkelhaltung (Supta Baddha Konasana) in der Rückenlage
Geschlossene Winkelhaltung (Baddha Konasana) im Sitzen
Spüren der Beckenschale
Nach unten schauender Hund (Adho Mukha Shvanasana)
Machtvolle Haltung (Utkatasana) im Stand
Kalis Tanzhaltung im Stand
Adho Mukha Shvanasana
Held 1 (Virabhadrasana 1) – Variante zur Kräftigung des unteren Rückens
Held 3 (Virabhadrasana 3) – Variante für Standfestigkeit (auch wenn es wackelt)
Vorbeuge mit erhobenem Bein (Eka Pada Uttanasana) für Standfestigkeit
Kindhaltung (Yoga Mudra)
Den Stirnraum entspannen
Drehung um die innere Achse
In der Rückenlage den Drishthi in der Mitte der Stirn halten
Meditation auf die Mitte der Stirn (Bindu)
Den Bindu subtil pulsieren lassen und lächeln
Meditation auf das Stirndreieck
Den Ursprungspunkt spüren und entspannen
Zwischen Bindu (Mitte der Stirn) und Ursprungspunkt hin und her pendeln – Entspannen im Ursprungspunkt
Ruhen in der Rückenlage
Murccha Pranayama
Den Atem unter dem Nasenrücken ganz fein aufsteigen lassen in den Stirnraum
In die Präsenz und Stille finden
6 Yoga der Energie als ein ganzheitlicher Übungsweg des Hatha-Yoga
Ein kurzer Überblick über die Geschichte des Yoga der Energie
Die Begründer des Yoga der Energie
Anbindung an eine indo-tibetische Tradition (Parampara)
Der didaktische Ansatz des Yoga der Energie
Das methodisch-didaktische Prinzip Vinyasa Krama
Einladung zum lebenslangen Lernen
Yoga der Energie lehren – die spezifisch methodisch-didaktischen Konzepte
Das didaktische Konzept der Ausbildungsjahre auf der Grundlage der Koshas
Wiederholung zur Ausdifferenzierung und Verfeinerung der Übungspraxis
Die Methoden der Schulung der Konzentration im Yoga der Energie in der Übersicht
»Tanz des Atems« und die »Bewegungen und Reibungen des Naropa«
Der Tanz des Atems
Die Reibungen und Bewegungen des Naropa
7 Eine umfassende Sicht auf ausgewählte Methoden des Hatha-Yoga
Die Ebenen des Übens vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen
Ardha Matsyendra – der halbe Drehsitz
Siddhasana – die grundlegende Sitzhaltung
Shavasana – Entspannungshaltung in der Rückenlage
Nadi Shodhana – die Wechselatmung
Ujjayi – die Atmung mit dem Reibelaut
Kevala – der eigentliche Pranayama
Maha Mudra – das erhabene Siegel
Khechari – das Siegel des höchsten Bewusstseins
Danksagung
Anhang
Glossar
Sanskritnamen der Asanas
Register
Literatur
Übungsabfolgen »Tanz des Atems« und »Bewegungen und Reibungen des Naropa«
Der Tanz des Atems
Die Reibungen und Bewegungen des Naropa
Meinen Lehrern Roger Clerc und Boris Tatzky in großer Dankbarkeit und Liebe gewidmet
Der Hatha-Yoga ist heute, nach einigen Jahrzehnten, in denen er noch ein mehr oder weniger exotisches Dasein führte, in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In jedem Fitnessclub, der etwas auf sich hält, in Städten und auf dem Land werden Hatha-Yoga-Kurse angeboten, und die Akzeptanz für diese Übungspraxis ist weitgehend unbestritten.
Inzwischen üben in der westlichen Welt viele Millionen Menschen regelmäßig Hatha-Yoga. Für die meisten von ihnen ist es einfach eine der vielen Möglichkeiten, beweglich und fit zu werden oder zu bleiben, die Gesundheit wiederherzustellen oder zu erhalten, Entspannung zu erlernen oder zu vertiefen oder vielleicht auch nur eine Möglichkeit, einmal pro Woche Gleichgesinnte beim gemeinsamen Üben zu treffen.
Tatsächlich ist kaum jemandem bewusst, dass es sich beim Hatha-Yoga nicht nur um ein altindisches Fitnessprogramm handelt, sondern vielmehr um einen ganzheitlichen Übungsweg, der uns auf allen Ebenen unseres Seins erreichen möchte. Es hat den Anschein, dass eben dieser Aspekt immer weniger bekannt ist, je länger dieser Yogaweg im Westen (und in Indien) geübt wird.
Es lohnt sich jedoch sehr, die Konzepte des Hatha-Yoga, seine Übungsmethoden und die vielen Erfahrungsräume, die er uns anbietet, genauer kennenzulernen, denn sie eröffnen uns eine unschätzbare Sammlung an Ressourcen für unseren Alltag und für unser inneres Wachstum.
»Yoga der Energie« ist eine andere Bezeichnung bzw. ein Synonym für Hatha-Yoga. Yoga der Energie wurde als eigenständiger Yogaweg in seinen Grundzügen schon 1935 (!) in Frankreich begründet. Die Ausarbeitung zu einem methodisch gut durchdachten Übungsweg, der sich an die Menschen im Westen wendet, erfolgte ab 1950. Seitdem wurde seine Übungspraxis zum einen in methodisch-didaktischer Hinsicht, vor allem aber in der Durchdringung und Vertiefung der Inhalte immer weiter verfeinert.
Der Yoga der Energie versteht sich als ein offenes System, in dem alle Aspekte des Yoga – von der Lehre der Yoga-Anatomie bis hin zur Hinführung zu allen Formen meditativer Vertiefungszustände – gleichermaßen gesehen und wertgeschätzt werden und deshalb darin ihren Platz finden. Damit bildet dieses Yogasystem das ganze Panorama eines Übungsweges ab, der tief in den Lehren des hinduistischen und teilweise auch des buddhistischen Tantra verwurzelt ist.
Während die Lehren des Tantra als Sichtweise auf das Leben und als Philosophie im deutschsprachigen Raum lange unbekannt blieben und vor allem von dem verdeckt wurden, was als sexuell ausgerichteter »Neo-Tantra« in den Selbsterfahrungskreisen der 70er-Jahre bekannt wurde, gab es in Frankreich, vor allem an der Pariser Sorbonne und anderen namhaften wissenschaftlichen Instituten, schon eine Reihe von Wissenschaftler*innen, wie z.B. Lilian Silburn oder Tara Michaël, die sich grundlegend mit seinen Texten beschäftigten, sie übersetzten und gleichzeitig auch mit erfahrenen, tief in der Tradition verwurzelten Lehrern wie z.B. Lilian Silburn bei Swami Lakshmanjoo in Indien praktizierten und in das Wissen eingeweiht wurden.
Ich hatte das große Glück, schon 1985 bzw. 1986 den Yoga der Energie zu entdecken. Bereits in den ersten Stunden und Kursen bei meinen zukünftigen Lehrern Roger Clerc und Boris Tatzky während des jährlichen Kongresses der Europäischen Yogaunion (EYU) im schweizerischen Zinal wusste ich, dass ich meine Yogaheimat gefunden hatte. Die nächsten 24 Jahre blieb ich meinen Lehrern auf der Spur, besuchte viele Jahre und über viele Wochen hinweg die Ausbildungen und Fortbildungen zum Yoga der Energie in Frankreich. Bereits 1988 beschlossen mein Lehrer Boris Tatzky, meine Kollegin und langjährige Wegbegleiterin Jutta Pinter-Neise und ich, auch in Deutschland eine »Akademie des Yoga der Energie« zu gründen und in diesem Rahmen eine vierjährige Weiterbildung anzubieten, die alle Aspekte dieses komplexen Übungsweges vermittelte oder doch zumindest erahnen ließ. Von 1989 bis 1999 durchliefen vier Ausbildungsgruppen diese Weiterbildung. Da sich hauptsächlich gut ausgebildete und sehr erfahrene Yogalehrende für diese Lehrgänge interessierten, veränderte sich das Verständnis für die Bedeutung und die Tiefe des Hatha-Yoga-Weges in Deutschland in vieler Hinsicht. 1995 veröffentlichten wir gemeinsam unser Buch »Theorie und Praxis des Hatha-Yoga«, in dem wir in zwölf exemplarischen Lektionen jeweils darlegten, wie sich im Hatha-Yoga bzw. im Yoga der Energie, vermittelt durch eine methodisch-didaktisch und anatomisch ausgerichtete Asana-Praxis, grobstoffliche mit feinstofflichen Elementen (wie z.B. der Entfaltung der inneren Sinne, Prana-Lenkungen und Visualisierungen) verbinden ließen.
Aus persönlichen Gründen beendeten wir 1999 unsere Zusammenarbeit, und jede und jeder von uns ging wieder den eigenen Forschungsschwerpunkten nach. Ich widmete mich fortan viele Jahre den Fortbildungen des Body-Mind Centering®. Meine langjährige Lehrerin in dieser Methode, Friederike Tröscher, beschreibt diese Methode folgendermaßen: »Body-Mind Centering (BMC) beschäftigt sich mit den dynamischen Zusammenhängen von Körper und ›Mind‹ (Geist, Bewusstsein, Gedanken, Gefühle).
Dabei ist BMC weniger ›Technik‹, sondern mehr Methode und Herangehensweise. Die beiden großen Bereiche der Arbeit umfassen die Systeme des Körpers mit ihren unterschiedlichen Geweben und den Prozess der frühkindlichen Bewegungsentwicklung.
Durch angeleitete Somatisationen, Bewegung und Berührung wird die eigene Wahrnehmung geöffnet und vertieft. Immer feiner können Bewegungen der Gewebe und Bewegungsmuster gespürt und in den Ausdruck gebracht werden. Ein tiefer Respekt vor den endlosen Ausdrucksformen des Lebens, die Akzeptanz von all dem, was wir nicht wissen und die Bereitschaft zur Begegnung sind wesentliche Merkmale im BMC. Wie frei der Bewegungsfluss ist, wie ungehindert der Ausdruck, wo Unterbrechungen oder zurückgehaltene Potenziale sind, kann dabei herausgefunden und in Bewegung gebracht werden. BMC öffnet den Zugang zu der uns innewohnenden Intelligenz und bietet Wege für tiefgreifende Veränderung.«1
Nach meiner Grundausbildung im Body-Mind Centering® schloss ich eine weiterführende Ausbildung in »BMC und Yoga« an. Danach war klar, dass ich zum Lehren des Yoga der Energie zurückkehren musste, denn in den fast zehn Jahren, in denen ich BMC lernte, wurde mir deutlich, dass es genau dieser Zugang ist, der uns mit der uns innewohnenden Intelligenz in Kontakt bringt und der im Hatha-Yoga zutiefst angelegt ist. Ich hatte nun weitere Möglichkeiten entdeckt, mich mit Menschen auf den Weg zu machen, um die Beziehung zwischen ihrem Bewusstsein und ihrem »Körper-Sein« auf eine berührende, verständliche und umsetzbare Weise zu entdecken. Mir wurde klar, dass genau das das Anliegen des Yoga der Energie ist: die Yogapraxis aus dem inneren Erleben heraus auf authentische Weise zu gestalten.
Damit das möglich wird, braucht es Kenntnis und Einsicht in die feinstofflichen Konzepte des Yoga der Energie. Sie folgen der sehr viel älteren Lehre von den verschiedenen »Hüllen« (Koshas), aus denen sich jedes menschliche Wesen zusammensetzt.
Dies sind vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen:
die aus Nahrung gemachte Hülle (Anna-Maya-Kosha),
die aus Energie gemachte Hülle (Prana-Maya-Kosha),
die aus dem individuellen Geist gemachte Hülle (Mano-Maya-Kosha),
die aus dem unterscheidenden Bewusstsein gemachte Hülle (Vijnana-Maya-Kosha) und
die aus Glückseligkeit bestehende Hülle (Ananda-Maya-Kosha).
Alle Hüllen wirken aufeinander ein, wobei in der Regel die feinere Hülle auf den Zustand der »grobstofflicheren« Hülle einwirkt, so wie etwa unser (Nahrungs-)Körper auf unseren energetischen Status reagiert und ihm Ausdruck verleiht.
Seit 2017 biete ich eine vierjährige Ausbildung in den klassischen Methoden des Hatha-Yoga an. Jedes Ausbildungsmodul im Yoga der Energie widmet sich dabei der Entdeckung einer der Koshas und ihres Zusammenspiels:
Das erste Ausbildungsjahr bzw. das erste Modul widmet sich der Erfahrung der Polaritäten, die wir verkörpern (links–rechts/oben–unten/vorne–hinten) und ihrem Zusammenspiel und energetischen Ausgleich (= dem Zusammenspiel von Anna- und Prana-Maya-Kosha).
Das zweite Modul widmet sich der Erforschung der inneren Räume (des Becken-, Bauch-, Brust- und Stirnraums und des Scheitels) und der Erfahrung eines jeden dieser Räume als Ausdruck einer bestimmten Form der Energie (= dem Zusammenspiel von Anna-, Prana- und Mano-Maya-Kosha)
Das dritte Modul widmet sich der Erforschung der großen Lebensthemen, die diesen Räumen zugeordnet sind mithilfe der Konzepte der Chakras (= dem Zusammenspiel von Anna-, Prana-, Mano- und Vijnana-Maya-Kosha).
Im vierten Modul werden die Lehren des Vijnana Bhairava Tantra, eines der wichtigsten Grundlagentexte des Tantra, erforscht. Die Meditationen, die uns in diesem Text überliefert worden sind, geben die Ausrichtung für die Übungspraxis vor, die nun alle Techniken des Hatha-Yoga umfasst, vor allem aber die Erfahrung von Mudra. Diese Techniken gründen tief im feinstofflichen Körper und eröffnen einen natürlichen Weg in die Glückseligkeit (Ananda) (= dem Zusammenspiel von Anna-, Prana-, Mano-, Vijñana- und Ananda-Maya-Kosha).
Gemäß dieser Ordnung, die in ihren zahlreichen Verbindungen ein harmonisches Gewebe bildet, werde ich hier im Buch die Konzepte darstellen, auf denen die Übungspraxis des Hatha-Yoga bzw. des Yoga der Energie basiert.
Gleichzeitig soll dieser Yogaweg in den Kontext der Lehren gestellt werden, die ihm vorausgegangen sind und in denen er gründet. Das gilt im Besonderen für die allgemein in Yogakreisen noch weitgehend unbekannten Lehren des Tantra. Sie beschreiben einen mystischen Weg, um das Absolute oder Gott in Form von Bewusstsein (Shiva) und Energie (Shakti) im eigenen innersten Sein auf allen Ebenen (vermittelt durch alle Koshas) erfahrbar zu machen.
Es geht mir darum, den Hatha-Yoga/den Yoga der Energie als einen vollkommenen Übungsweg darzustellen, der gleich einer Leiter mit den untersten Sprossen (der sogenannten »Körperarbeit«) beginnt und der uns auf den höchsten Sprossen bis in die höchsten Erfahrungen meditativer Freude und Glückseligkeit führen möchte.
Entsprechend ist das Buch in folgende Hauptkapitel gegliedert:
Einführung in den Weg des Hatha-Yoga bzw. des Yoga der Energie, einschl. einem Überblick über wichtige Yogakonzepte
Einführung in die Lehren des Tantra, in der wir uns mit den Grundgedanken des Tantra vertraut machen
Einbettung des Hatha-Yoga in den kaschmirischen Tantrismus und seine Bedeutung für den heutigen Yoga
Energiekonzepte des Hatha-Yoga
Die feinstoffliche Anatomie des Yoga und vor allem des Hatha-Yoga
Yoga der Energie als ein ganzheitlicher Übungsweg des Hatha-Yoga
In einem abschließenden Kapitel betrachten wir dann ausgewählte Yogatechniken im Fokus der fünf Koshas.
Wenn wir beginnen, den Hatha-Yoga bzw. den Yoga der Energie auf diese Weise und mit dieser Perspektive zu üben, dann wird er zu einem Teil unseres Lebensweges, auf dem es nichts Besonderes zu erreichen, aber sehr viel zu erfahren gibt. Es ist ein Weg, der so reich und komplex ist, dass eine Lebensspanne nicht ausreichen kann, um ihn zu ergründen. Ist man erst einmal auf diesen Erfahrungsweg eingeschwenkt, gibt es Schicht um Schicht immer Neues zu entdecken – im eigenen Sein, in den Mitmenschen, in der Natur und der Welt, dem Kosmos an sich.
Es ist ein Weg der Selbsterforschung, der Selbsterfahrung, der Bewusstwerdung und der Klärung. Und es ist auch ein Weg, der die Menschen, die ihn gehen, in besonderer Weise nährt.
Ich bin dankbar und voller Freude, ihn nun vorstellen zu dürfen.
Ich habe im Laufe der vier Ausbildungsjahre für jedes Wochenende auf der Grundlage der Transkription der Sprachaufzeichnungen aller Vorträge und Übungssequenzen ein Protokoll geschrieben, das immer um die 60 Seiten umfasste. So entstanden im Laufe der Zeit ca. 1300 Seiten Text.
Dabei ergab es sich ganz natürlich, dass jedes Protokoll die zunehmende Komplexität der Lehrinhalte abbildete und sich daraus im Laufe der vier Jahre eine dichte Vernetzung der Themen ergab.
Deswegen wirst du als Leser*in immer wieder kleine Überschneidungen und Wiederholungen finden, da auch im Laufe der Ausbildung Themen immer wieder aufgenommen, vertieft oder von einer anderen Perspektive aus betrachtet wurden.
Mein Unterricht und dieser Text bilden damit ein Prinzip ab, das in der traditionellen Lehre des Yoga in Indien weitverbreitet ist – und zwar das »Umkreisen« von Themen.
Ich bevorzuge diesen Unterrichtsstil, denn er lässt den Teilnehmer*innen, und jetzt hier den Leser*innen, viel Raum für das eigene Reflektieren der angebotenen Themen und bietet immer eine Vielzahl von Blickwinkeln an, die sich natürlicherweise über die Jahrhunderte entwickeln konnten. Ich hoffe, dass der Schreibstil, der sich daraus für mich ergeben hat, dich gewissermaßen lesend »zum Hinhören« einlädt und so ein innerer Dialog entsteht, der einen entspannten und offenen Kontakt mit dem Wissen ermöglicht.
Um das System und die Konzepte des Hatha-Yoga verstehen zu können, ist es hilfreich zu wissen, worin die Lehren des Yoga im Allgemeinen und die des tantrischen Hatha-Yoga im Besonderen gründen. Jeder Abschnitt der Entwicklung und Entfaltung der Yogalehre über die Jahrtausende hinweg sagt uns zudem etwas über die spannende Frage, wie sich die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Wissen an sich (Vidya) gestaltete.
Die Art und Weise, wie sich diese Beziehung über einen so langen Zeitraum entwickelt hat, zeigt auch gleichzeitig den Weg der Konzepte, mit denen wir heute im Yoga unterwegs sind und die uns – trotz ihres Alters – immer wieder erfahren lassen, wie unverändert hilfreich, förderlich und unterstützend sie bis in die heutige Zeit sind.
Man geht heute davon aus, dass das Wissen des Yoga schon seit undenklicher Zeit mündlich überliefert wurde, weshalb die frühen Texte auch der Tradition der Shruti (= das Gehörte) zugeordnet werden. Gesicherte schriftliche Überlieferungen liegen uns seit ca. 3500 Jahren vor.
Es wird jedoch immer wieder von einigen Indolog*innen und vor allem indischen Yogameistern behauptet, dass das Wissen des Yoga schon seit mehr als 5000 Jahren vermittelt werde und dass es seine Wurzeln in der Industal-Kultur habe. Diese Annahme ist aber (noch) nicht gesichert, ganz einfach, weil wir noch viel zu wenig über die Industal-Kultur wissen. Aktuell sind erst ca. 25 Prozent der Artefakte im heutigen Pakistan ausgegraben, was sich wegen der politischen und wirtschaftlichen Lage in den Regionen, in denen die frühen Hochkulturen gründeten, auch nicht so schnell ändern wird. Bei den bisherigen Ausgrabungen wurden Städte entdeckt, die von einer äußerst fortschrittlichen Stadtplanung zeugen, aber man hat bis jetzt noch kein einziges Gebäude gefunden, was deutlich macht, welcher Kult bzw. welche Religion in einer Stadt wie Mohenjo-daro2 ausgeübt wurde. Auch sind die schriftlichen Zeugnisse noch nicht einmal ansatzweise entschlüsselt. Das bedeutet, dass wir über das religiöse und spirituelle Leben dieser frühen Hochkultur bis jetzt noch so gut wie gar nichts wissen und auch nicht wissen können!
Erst ab der vedischen Zeit (ab ca. 1500 v. Chr.) liegen uns mit den Texten der Veden schriftliche Zeugnisse in Sanskrit vor, die wir übersetzen und verstehen können.
Veda heißt Wissen. Es wurde in vier Texten zusammengefasst: dem Rig-Veda, dem Sama-Veda, dem Yayur-Veda und dem Atharva-Veda. In ihnen ist das gesamte religiöse und weltliche Wissen der Zeit in Form von Hymnen an die Götter des vedischen Pantheons, in Liedern, Opferformeln und Ritualanweisungen zusammengefasst. Wir erfahren in diesen Texten viel über die Art und Weise, wie Menschen in dieser frühen Zeit versucht haben, sich mit dem Absoluten in Beziehung zu setzen.
Die Frühmenschen waren noch komplett mit ihrem Überleben beschäftigt und hatten dabei bereits die Fähigkeiten für einen intelligenten Umgang mit der Lebenswelt und für die bewusste Anpassung, für das Lernen und die Weitergabe von Wissen (Werkzeuggebrauch und -herstellung usw.).
Doch im Laufe der Zeit begann der Mensch auch darüber nachzudenken, wo er herkommt, wie seine Stellung in der ihm bekannten Welt ist, und er begann sich vor allem die zutiefst menschliche Frage zu stellen: Wer bin ich? Warum bin ich anders als die Tiere? Was ist Tod? Was ist Geburt? Dies führte zu einem unglaublichen qualitativen Sprung in der Art, wie sich die Beziehung des Menschen zur Welt gestaltete. Die Menschen wollten nun mehr nachdenken, sie wollten wissen, sie wollten erkennen und einordnen.
In dieser Zeit sind die Texte der Veden entstanden – wie gesagt, hauptsächlich Gesänge und Anweisungen für Rituale. Sie gaben Anweisungen und setzten Strukturen, wie ein Mensch mit dem Absoluten – hier den Göttern des vedischen Pantheons wie Agni (Feuer), Vayu (Wind), Indra (Blitz), Surya (Sonne) und Soma (der Verwalter der gleichnamigen Lebenskraft – in Beziehung treten konnte, um es – bzw. sie – günstig zu stimmen. Das Absolute war für den Menschen dieser Zeit alles das, was er als größer als sich selbst erfuhr, und das waren vor allem die Kräfte der Natur, denen er sich als Viehzüchter oder (Garten-)Bauer ausgeliefert sah.
Es war auch die Zeit, in der die Menschen begannen, sich anders in der Natur zu verorten. Einerseits war es ihnen offensichtlich, dass sie den Kräften der Natur ausgeliefert waren, die immer wieder aufs Neue Überraschungen für sie bereithielt und so eine stete Anpassung erforderte.
Andererseits erschufen sich die Menschen mit ihrer Sichtweise auf das Wesen und die Wirkweise der frühen vedischen Götter Konzepte des Göttlichen, die wir heute in ihrer Form und Struktur als eine Möglichkeit des In-Beziehung-Tretens verstehen, denn sie ermöglichten es den Menschen, mit diesen Kräften zu »verhandeln«.
Sie taten das, indem sie diesen Kräften, denen sie in Form der Götter eine Gestalt gaben, Opfer darbrachten, um sie gnädig zu stimmen. Im Laufe der Zeit kam sogar die Vorstellung auf, dass die Menschen, wenn sie besonders reiche Opfergaben (z.B. das »1000-Pferde-Opfer«) darbrachten, die Götter gewissermaßen in Zugzwang bringen könnten, damit sie den Menschen ihrerseits ein Übermaß an Gunst gewährten.
Später entwickelte sich aus dem vedischen Pantheon, dessen Göttergestalten von den indoeuropäischen Eroberern aus den vorderasiatischen Steppen mitgebracht worden waren, die drei Hochgötter der »hinduistischen Trinität«, die die Kräfte des Erschaffens (Brahma), des Erhaltens (Vishnu) und des Wandels bzw. der Zerstörung (Shiva) symbolisieren.
Dadurch wurde es den Menschen möglich, nun nicht nur mit den reinen Naturkräften, sondern auch mit den Prinzipien der Schöpfung, des Bewahrens und des Wandels zu kommunizieren.
Durch das Opfern in Form von Ritualen, Gebeten oder bestimmten Verhaltensweisen (z.B. dem Üben von Askese) entstand so ein Raum, in dem die Menschen die Beziehung zum Göttlichen bewusster gestalten lernten.
Zunächst opferten sie vor allem auf einer materiellen Ebene alles, was ihnen wichtig war. Die Könige waren zuständig dafür, dass die Opferfeste bedeutend und wirkmächtig waren, damit ihr Volk sich sicher fühlen konnte, wenn z.B. eine Dürre oder Überschwemmung drohte. Wirklich neu in der Gestaltung dieser Beziehung war die schon erwähnte Vorstellung, dass durch bestimmte Gaben oder Handlungen die Götter gezwungen werden könnten, eine bestimmte Gunst zu gewähren. Die Mythen berichten immer wieder über solches Handeln. Ein Beispiel dafür ist die Askeseübung Bhagiratthas, der hundert Jahre auf einem Bein stand und dadurch die Götter dazu zwingen konnte, den himmlischen Fluss Ganges auf die Erde zu lenken.
Für die normalen Menschen, die ein Anliegen an die Götter hatten, galt jedoch, dass sie sich an die Priester wenden mussten, um durch sie mit den Göttern in Kontakt zu treten. Diese hatten sich selbst seit frühester Zeit als die einzig berechtigten Vermittler zwischen dem Göttlichen und den Menschen eingesetzt. Sie agierten in dieser Rolle sowohl für die einfachen Menschen als auch für die Herrscher.
Allein die Priester (Brahmanen) wussten, mit welchen Gebeten und Opferritualen – den Pujas – die Götter zu erreichen waren. So entstand bereits in der Frühzeit in Indien eine unglaublich genaue, vielfältig ausgearbeitete und differenzierte Ritualisierung der Kommunikation mit dem Göttlichen, die bis heute genutzt wird.
Im Laufe der Zeit wurde daraus eine ganze Wissenschaft entwickelt und in den Veden niedergelegt. Die Brahmanen waren die Einzigen, die Kenntnis hatten vom richtigen Umgang mit dem Göttlichen. Sie – und nur sie – kannten die Gesänge, die Abfolge der Rituale, die richtigen Gebete und Gaben. Und vor allem kannten sie die richtige Sprache, um die Götter anzusprechen: die heilige Sprache Sanskrit!
Die Brahmanen hüteten ihr Wissen wie einen Schatz, und so wurde es »geheimes Wissen«, zu dem nur sie Zugang hatten und das so in den Familien von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurde. Brahmanen stellten und stellen ihr Wissen und ihre »Dienstleistungen« seit jeher gegen Bezahlung zur Verfügung. Jeder Tempel ist so im Grunde genommen ein Wirtschaftsunternehmen, von dem die brahmanischen Familien leben, die diesen Tempel unterhalten und sich tagtäglich dort um die Götter kümmern. Deswegen achten bis heute die Brahmanen peinlich genau darauf, dass sie auch für kleinste Dienste gehörig bezahlt werden.
So war der direkte Zugang zum Göttlichen den Menschen über lange Zeit in jeder Beziehung versperrt. Sie wurden in Unkenntnis gehalten, zum einen (sehr grundlegend), weil nur Brahmanen Sanskrit lernen und die heiligen Texte lesen durften, und zum anderen, weil sie die Menschen zutiefst davon überzeugten, dass nur sie wussten, wie man mit dem Göttlichen auf eine angemessene und Erfolg verheißende Weise in Kontakt treten kann. Dadurch begründete die Kaste der Brahmanen ihre bis heute weitgehend ungebrochene Macht.
Zu bedenken ist auch, dass die Antworten, die der Brahmane dem Menschen auf seine Fragen gibt, gefiltert sind. Sie sind gefiltert durch eine ritualisierte Sprache, durch Konzepte und durch Machtinteressen.
Man kann sich also gut vorstellen, dass die wesentlichsten Fragen der Menschen – Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? – auf diese Weise nicht beantwortet werden konnten!
Die Beziehung des Menschen zum Göttlichen blieb deshalb immer einseitig (eine Art Einbahnstraße), und die Menschen wendeten sich vorrangig an ein Konzept (z.B. das von Vishnu als Erhalter und Bewahrer) und nicht an etwas, was ihnen direkt erfahrbar war. So blieb das Göttliche so etwas wie eine riesige Projektion, an die die Menschen sich wandten und hofften, dass jenes in das Universum und die Natur hinein projizierte Konzept ihnen Antworten gab.
Im Laufe der Jahrhunderte verstanden aber immer mehr Menschen, dass das nicht funktionieren kann, und empfanden diese Form für ein so essenzielles In-Beziehung-Treten zunehmend als unbefriedigend, denn sie blieben immer – egal wie viel sie zahlten oder wie viele Pferde sie opferten – auf ihren tiefsten Fragen sitzen. Und dieses Unvermögen war es, was schließlich einen bedeutenden Paradigmenwechsel bewirkte.
Damit wird auch das erste Mal die Vorstellung möglich, dass alle Wesen durch ein großes Netzwerk – Brahman, das Absolute – miteinander verbunden sind. Später, im Tantra, wurde dieser Gedanke des Advaita – der Nicht-Zweiheit – wieder aufgenommen als das Konzept der untrennbaren Verbundenheit von Bewusstsein und Energie bzw. von Shiva und Shakti.
In der Zeit der Upanishaden wurde übrigens auch das Konzept der Koshas – der Hüllen – entwickelt und das erste Mal beschrieben, das ich im Vorwort schon kurz eingeführt habe und das für die Ausformung der Übungspraxis des Hatha-Yoga von großer Bedeutung ist.
Kurz gesagt lässt sich das Zusammenspiel der Koshas so darstellen: Die äußerste Hülle ist der Nahrungskörper (Anna-Maya-Kosha), der durchdrungen ist vom Energiekörper (Prana-Maya-Kosha). Diese beiden wiederum sind durchdrungen von den beiden Schichten des geprägten und des differenzierenden Mentalkörpers (Mano-Maya-Kosha und Vijnana-Maya-Kosha). Wenn alle diese Hüllen vom Bewusstsein durchdrungen sind, wird offenkundig, dass alle diese Hüllen vom Atman belebt sind – und daraus entsteht der Zustand der Freude – Ananda –, die die innerste Hülle erfüllt (Ananda-Maya-Kosha). Ananda scheint auf, wenn ein Mensch wirklich ganz tief versteht, dass das, was ihn im Innersten ausmacht, dieser Atman ist – dieses unzerstörbare Selbst. Der Atman belebt von innen heraus alles – und wenn die äußeren Hüllen am Ende des Lebens vergehen, dann bleibt der Atman übrig.