Neuropsychotherapie der ADHS - Cordula Neuhaus - E-Book

Neuropsychotherapie der ADHS E-Book

Cordula Neuhaus

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Beschreibung

In jahrzehntelanger Arbeit mit ADHS-Kindern und ihren Familien hat sich gezeigt, dass häufig auch ein Elternteil von ADHS betroffen ist. Das heißt, er selbst läuft Gefahr, zu impulsiv zu reagieren, nicht richtig zuzuhören, vergesslich zu sein. Im Elterntraining ETKJ ADHS wird den Eltern durch umfassende Vermittlung der neurobiologischen Hintergründe ein Verstehen der anderen Funktionsweise bei ADHS möglich. mit diesem verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Manual können Therapeuten, Psychologen und Pädagogen die Eltern dazu befähigen, krisenhafte Zuspitzungen schon im Vorfeld zu erkennen und rasch abzubauen. Die 2. Auflage wurde grundlegend überarbeitet und um aktuelle Erkenntnisse erweitert.

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Seitenzahl: 306

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Autorinnen und der Autor

Cordula Neuhaus, Jahrgang 1951, Dipl.-Psychologin und Dipl.-Heilpädagogin, psychologische Psychotherapeutin sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (klinische Verhaltenstherapie).

Psychotherapeutische Praxistätigkeit mit Behandlungsschwerpunkt ADHS mit/ohne Komorbiditäten im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Supervisorin, Dozentin, Referentin), Lehrtherapeutin und forensische Gutachterin. Sie entwickelte ein Elterntrainingsprogramm weiter (MTM nach Paul Innerhofer) zur evaluierten, alltagswirksamen Kommunikation sowie dem zielführenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS unter besonderer Berücksichtigung des selbst betroffenen Elternteils. Daraus entstand der spezifische neuropsychotherapeutisch orientierte Fortbildungslehrgang »ETKJ« für Fachleute im In- und Ausland.

Autorin zahlreicher wissenschaftliche Fachartikel und Bücher, ehemalige Vorsitzende des ADD-Forums Berlin sowie wissenschaftliche Beirätin in mehreren Elterninitiativen.

Gründerin des Kindertherapeutischen Zentrums Esslingen GmbH, 2000 bis 2010 Etablierung einer »Hausunterrichtsgruppe der besonderen Betreuungsform« (mit dem Trägerverein »ADHS Mini-Notschule e. V.«) für nicht mehr beschulbare Kinder/Jugendliche mit ADHS mit dem Ziel der Rückintegration.

Dieses erprobte und preisgekrönte Konzept wird seit 2007 im Privaten Ganztagesgymnasium Esslingen der »Münsinger Schule GmbH« als gemeinnützige Schulträgergesellschaft (seit 2009: »Privatgymnasium Esslingen«) umgesetzt.

Götz-Erik Trott, Jahrgang 1952, seit 1982 in der Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. 1986 Anerkennung als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit 1988 Anerkennung als Psychotherapeut, 1993 Ernennung zum Universitätsprofessor an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg. 1998 Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Seit 1998 in Aschaffenburg in eigener Praxis tätig. Mitglied zahlreicher deutscher und internationaler wissenschaftlicher Fachgesellschaften. Wissenschaftlicher Beirat bei einigen wissenschaftlichen Zeitschriften. Gründungsmitglied des Psychotherapeutischen Kollegs Würzburg e. V. und der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. 

Sabine Townson, Jahrgang 1960, seit 1996 Gesprächskreisleiterin und Vorstandsmitglied des AdS e. V. – Elterninitiative zur Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit und ohne Hyperaktivität. Mitglied im ADD-Forum Berlin, war maßgeblich an der Organisation mehrerer Tagungen beteiligt. Sie ist zertifizierte ADHS-Elterntrainerin (ETKJ), Coach und Referentin in der Weiterbildung von Erziehern und Lehrern, leitet regelmäßig Elterntrainings in Esslingen.

Cordula NeuhausGötz-Erik TrottSabine Townson

Neuropsychotherapie der ADHS

Das Elterntraining für Kinder und Jugendliche (ETKJ ADHS) unter Berücksichtigung des selbst betroffenen Elternteils

2. erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Die 1. Auflage dieses Werks ist 2009 unter der Autorenschaft von Cordula Neuhaus, Götz-Erik Trott, Annette Berger-Eckert, Simone Schwab und Sabine Townson erschienen.Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2. erweiterte und überarbeitete Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 [email protected]

Print:ISBN 978-3-17-041823-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041824-0epub: ISBN 978-3-17-041825-7

Geleitwort

Es ist mir eine große Ehre und Freude, das Geleitwort für das Elterntrainingsmanual von Frau Cordula Neuhaus zu schreiben.

Frau Neuhaus hat bereits in zahlreichen Büchern sowie in Vorträgen gezeigt, dass sie nicht nur über einen großen praktisch-klinischen Erfahrungsschatz verfügt, sondern auch über profunde Kenntnisse zur wissenschaftlichen ADHS-Literatur verfügt.

Ihre Bücher und auch das vorliegende Manual zeugen davon, dass Frau Neuhaus eine Expertin der Störung ist, über Jahrzehnte lange Erfahrung in Diagnostik und Therapie von Kindern mit ADHS verfügt und sich mit viel Empathie authentisch für die betroffenen Kinder und ihre Eltern einsetzt. Dabei schrecken sie auch ideologisch und politisch motivierte Angriffe nicht.

Im Rahmen der multimodalen Therapie, wie sie in den Leitlinien der AG ADHS der Kinder- und Jugendärzte sowie der Kinder- und Jugendpsychiater empfohlen wird, besitzt das Elterntraining einen hohen Stellenwert. Es wird jedoch in qualitativ guter Ausführung nur selten angeboten. Ein ADHS-Elterntraining kann nur effektiv sein, wenn es die Besonderheiten im Verhalten der Kinder mit ADHS berücksichtigt. Folgerichtig sieht es auch Frau Neuhaus als Ziel ihres Trainings an, die Eltern zu befähigen, mit Verständnis und Wissen um die Dysregulation der autonomen Selbststeuerung ihres Kindes – und evtl. auch ihrer eigenen – die Vorläufer von Konflikten zu analysieren und damit den Konflikt zu entschärfen oder abzuwenden. Frau Neuhaus weiß aus langjähriger Erfahrung in der Durchführung von Elterntrainings, dass nicht selten ein Elternteil selbst von einer ADHS betroffen ist. Dies zu berücksichtigen und adäquat damit umzugehen, ist sehr wichtig und stellt eine Besonderheit ihres Manuals dar. In der Literatur wird immer wieder auf die Erfolglosigkeit eines Trainings bei selbst betroffenen Eltern hingewiesen – das von Frau Neuhaus konzipierte Training, das auf ihrer verhaltenstherapeutischen Ausbildung und jahrelangen Erfahrung mit selbst betroffenen Eltern basiert, lässt hoffen, dass auch diese Eltern motiviert und aktiviert werden können, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und zu modifizieren.

Das Manual stellt kein Rezeptbuch dar, das nach Schema X abgearbeitet werden kann. Es erfordert von dem »Trainer«, dass er sich auf dem aktuellen Wissensstand befindet, eine positive Einstellung zu ADHS hat, darauf verzichtet Ratschläge zu verteilen und mit Schuldzuweisung zu arbeiten. Stattdessen sollte er flexibel auf die in der Gruppe sich entwickelnde Dynamik reagieren und einen Dialog zulassen und fördern. Nur so ist es möglich, den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden und die Eltern dabei zu unterstützen, die positive Beziehung zu ihrem Kind wiederzuerlangen bzw. zu erhalten und mit »liebevoller Sturheit« ihr Kind zu begleiten.

Ich hoffe, dass das Manual viele Therapeuten ermutigt, diese wichtige Aufgabe in Angriff zu nehmen und dass damit endlich ausreichend wirksame Elterntrainings zur Verfügung stehen.

Dr. Kirsten Stollhoff

Vorwort

Mein letzter Gedanke, bevor ich anfing zu schreiben, war: Die machen mich kaputt! »Die« sind Kevin, zwölf Jahre, und Aileen, zehn Jahre alt. Wir, meine Frau Briska und ich, lieben unsere Kinder, gar keine Frage, aber es gab in den vergangenen Jahren so viele Momente, an denen meine Nerven dermaßen angegriffen waren. Situationen, aus denen wir beide keinen Ausweg mehr fanden, wo, Gott verzeih mir, ich sie am liebsten an die Wand geklatscht hätte. Aber komischerweise kenne ich das alles schon, nur damals war ich das Kind. Die Reaktionen meines Vaters damals sind meine Gedanken heute, und genau dies möchte ich nicht so an meine Kinder weitergeben.

Ich hatte vor meinem Papa richtig Angst. Ich musste nach seinen Vorstellungen funktionieren, etwas anderes war undenkbar. Heute bin ich der Papa, nur ich bestehe nicht mit Gewalt darauf, dass die beiden sich so verhalten, wie wir es gerne hätten. Aber was kann man tun? Der Stimmungspegel im Haus ist kontinuierlich hochexplosiv. Da die beiden Kinder sich in ihrem Wesen total unterscheiden, ist der Versuch einer gerechten Regelung so gut wie unmöglich!

Kevin, der Ruhige, Träumer, Organizer. Alles muss auf seinem Platz sein, der Schulranzen wird fünfmal am Tag sortiert – ja nichts berühren! Alles wird hinterfragt: »Was ist, wenn?«, »Muss ich zur Bundeswehr oder soll ich erst einen Beruf erlernen?« – so geht das von morgens bis abends.

Aileen, die Hyperaktive, Quirlige, Unordentliche, Quasselstrippe bis zum Abwinken – der »Supergau« war vorprogrammiert. Kein Tag ohne Weinen, Schreien, Schlagen, Nerven und Verweigern. Und wir mittendrin! Durch die ständigen Streitereien, die auch unsere Ehe sehr belasten, kamen wir irgendwann an den Punkt, an dem wir uns fragten: Sind wir schlechte Eltern? Wir schaffen das nicht, auf jeden Fall nicht alleine!

Wie schon gesagt, wir lieben unsere Kinder und sie lieben uns, was sie in den Streitpausen sehr deutlich zu erkennen geben. Sie brauchen uns, aber wohl nicht so. Ich bin mir nicht sicher, ob das ständige Gebrüll von uns beiden nicht genauso schlimm ist wie das Zuschlagen meines Vaters. Körperliche Wunden verheilen, aber die seelischen bleiben. Ob Schlagen oder Kurz-und-klein-Schreien – die Erinnerung bleibt. Ich weiß das!

Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir eigentlich nur die schlimmen Sachen ein. Sicher hatte ich Freunde. Wir waren jeden Tag am Bach oder im Wald, das war wirklich toll. Aber Punkt 17.00 Uhr, wenn mein Vater in die Garage fuhr, war es vorbei. Ich möchte das heute nicht. Meine Kinder sollen sich freuen, wenn ich heimkomme, oder später, wenn sie erwachsen sind, zu uns sagen können – ihr wart und seid gute Eltern (hoffentlich).

Die Hauptleidtragende ist natürlich meine Frau. Es geht los um 6.00 Uhr und endet um 21.00 Uhr, während ich an vielen Tagen die Kinder nur morgens sehe. Aber es gibt ja Handys, und somit kann ich auch tagsüber auf dem Laufenden gehalten werden, was meine Arbeitsleistung im Beruf manchmal sehr beeinträchtigt.

Als vor einigen Monaten eine Kinderpsychologin in unsere Nachbarschaft zog und ich aus beruflichen Gründen in ihrem Haus tätig war, ergab sich für unsere Familie eine einmalige Chance, die meine Frau sofort erkannte. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, welche Konsequenzen das für uns haben würde. Frau Neuhaus nahm sich sofort nach der ersten Anfrage von Briska die Kinder vor.

Zuerst war Kevin an der Reihe. Nachdem er ausgetestet war, kam eine Reihe von Untersuchungen. Zur gleichen Zeit hörte ich zum ersten Mal das Wort ADHS, was mir bis dahin völlig fremd war. Kevin wurde dann mit einem Medikament sozusagen eingestellt, worauf ich nicht näher eingehen kann, weil ich nicht dabei war. Auf jeden Fall bemerkte ich nach den ersten Tagen, dass sich mein Sohn absolut veränderte. Nicht zum Negativen, nein, zum Positiven. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich einen Sohn, der mir freiwillig etwas erzählte und gerne zur Schule ging, was bis dahin undenkbar war. Sicherlich wurden nicht alle Marotten abgestellt, aber immerhin so, dass wir damit sehr gut leben können. Jetzt ist Aileen an der Reihe, und auch bei ihr stellen wir Veränderungen fest.

Um eine funktionierende Familie zu bekommen, dürfen wir die Ursachen und Fehler nicht nur bei den Kindern suchen. Deshalb waren wir am Wochenende bei einem Elterntraining von Frau Neuhaus in Esslingen. Als ich von meiner Frau darüber informiert wurde, dass sie uns angemeldet hatte, war ich überhaupt nicht begeistert. Meine Wochenenden sind durch meinen Beruf sehr kostbar, aber um des Friedens Willen bin ich mitgefahren. Außer uns waren noch acht weitere Ehepaare da, und nach einer kurzen Vorstellung der einzelnen Paare und der Sorgen um ihre Kinder merkte ich schnell, dass diese uns sehr bekannten Verhaltensweisen weiter verbreitet sind, als ich dachte.

Ich fühlte mich in dieser großen Runde richtig wohl. Zum ersten Mal war ich mit Menschen zusammen, mit denen ich mich über unsere Probleme unterhalten konnte. Es war für mich interessant zu erfahren, wie es anderen geht und wie sie sich zu Hause bei den täglichen Kämpfen mit den Kindern verhalten.

Nach dem ersten Tag fuhren wir mit vielen neuen Gedanken, Ideen und sehr viel Hoffnung nach Hause und mit Vorfreude auf den nächsten Tag. Die Erfahrungen, Verhaltensregeln, Richtlinien und Hinweise, die uns vermittelt wurden, waren unglaublich. Wir hatten alles aufgesogen wie ein Schwamm. Auf dem Heimweg musste ich meiner Frau Recht geben, es war für mich und uns sehr wichtig, an diesem Seminar teilgenommen zu haben.

Ich sehe jetzt die ganze Situation mit anderen Augen und kann mich auf die Stresssituation ganz anders einstellen. Vor allem ist mir sehr bewusst geworden, wie wichtig wir Eltern für unsere Kinder sind. Sie stehen und fallen mit uns. Wir sind der einzige Halt für sie. Wir sind die, die sie verstehen, wenn wir uns darum bemühen! Es sind keine dummen Kinder, im Gegenteil, durch Förderung und konsequentes Verhalten, Einhaltung ausgemachter Regeln und Übertragung von Verantwortung in kleinen Schritten, bin ich mir sicher, die tollsten Kinder der Welt zu haben, »denn das sind meine«.

Um das Erlernte nicht in Vergessenheit geraten zulassen, beschlossen wir nach dem zweiten Tag, sofort nach Öffnen der Haustüre mit den Verhaltensänderungen zu beginnen.

Ich muss zugeben, dass ich bisher meinen beiden Kindern nicht allzu viel zutraute. Zu oft wurden wir in der Vergangenheit enttäuscht. Denn schon bei den kleinsten Bitten, etwas für uns zu erledigen, kam ein »Nein, kein Bock!« oder »Mach ich nachher« (bei dem es auch blieb und wir zum guten Schluss den Auftrag selber erledigen mussten). Sollte sich doch einer der beiden bereit erklären etwas zu tun, ging dies meist nur mit einer Belohnung oder zumindest nach der Frage: »Was bekomme ich dafür?«.

Hochkonzentriert und interessiert nahm ich mir jetzt vor, das Verhalten meiner Kinder eine Zeit lang zu beobachten, die kleinen Charaktere zu sortieren, um bei jedem Kind ein spezielles Verhaltensmuster für mich zu erkennen. Da beide (trotz vieler Gemeinsamkeiten, wie ich jetzt erkannte) die totalen Gegensätze sind, war ich mir nicht sicher, ob das Erlernte bei beiden gleichermaßen anzuwenden ist.

Aber die acht Ehepaare, deren Kinder alle auch irgendwie eine »andere« Form von ADS bzw. ADHS aufwiesen, wurden von Frau Neuhaus auch nicht anders beraten. Also muss es doch eine einheitliche Basis geben, eine dicke Wurzel, deren Abzweigungen sich in alle Richtungen bewegen können.

Ich für mich vergleiche es mal mit dem Genuss von zu viel Alkohol. Die einen werden immer lustiger, andere aggressiv oder depressiv, aber die Basis bei allen ist der Alkohol. Vielleicht ist das ein schlechter Vergleich, aber irgendwie muss ich versuchen, es mir vorzustellen.

Bei der Bemühung, das Verhalten meiner Kinder zu beobachten, muss ich zugeben, dass es mich ab und zu innerlich fast zerrissen hätte. Es gehörte bisher ja zur Tagesordnung: ewige Sticheleien und Gemeinheiten, die sich die beiden im Minutentakt zuschoben. Aber jetzt, als ich mich eigentlich zum ersten Mal darauf konzentrierte, fiel mir auf, an was für winzigen Kleinigkeiten sich die beiden hochzogen, um zum guten Schluss den absoluten Höllenstreit entstehen zu lassen (der natürlich ohne ein Eingreifen meiner Frau oder mir nie ein Ende gefunden hätte). Die Emotionen aller Beteiligten waren danach natürlich dermaßen angespannt, dass der kleinste Anlass ausreichte, um den Streit wieder von vorne anfangen zu lassen.

Vor dem Elterntraining in Esslingen waren wir beide 100 %ig in die Streitereien mit eingestiegen. Ich habe mich oft gefragt, wie weit der Lärm wohl in der Nachbarschaft zu hören war! Diese üble Stimmung zog sich dann durch den ganzen Tag, was uns auch so manchen Ausflug, Spaziergang oder Spieleabend ordentlich vermieste. Das Resultat war, dass wir immer weniger mit den Kindern unternahmen, und ich gebe ehrlich zu, dass ich oft gottfroh war, wenn ich das Haus alleine verlassen konnte.

Sobald ich aber dann zur Ruhe kam, tat es mir unsagbar leid, die beiden nicht mitgenommen zu haben. Folglich hatte ich auch an meinen alleinigen Unternehmungen keinen Spaß. Mit einem schlechten Gewissen ging ich nach einiger Zeit wieder nach Hause, um mich dem wieder auszusetzen, weshalb ich das Haus verlassen hatte. Wenn ich jetzt, während ich das aufschreibe, darüber nachdenke, mit was für einer wörtlichen Brutalität ich versucht habe, die Kinder zur Vernunft zu bringen, dann muss ich zugeben, dass ich in diesen Momenten nicht mehr daran dachte, dass mir meine beiden Kinder gegenüber standen, sondern zwei üble Terroristen, die nichts anderes im Kopf haben, als uns den Tag zu versauen.

Nach dem Seminar von Frau Neuhaus war mein einziger Gedanke: »Um Gottes Willen, was hast du getan?«. Über viele Jahre hinweg mussten die beiden sich die übelsten Beschimpfungen meinerseits anhören, um dann trotzdem beim Zu-Bett-Gehen zu sagen: »Papa, wir haben dich lieb!«.

Jeder Erwachsene, mit dem ich das angestellt hätte, wäre auf Lebzeit mit mir böse gewesen. Je mehr ich gerade die ganze Situation analysiere, muss ich feststellen, dass ich mich die ganzen Jahre nicht wirklich für die Sorgen, Ängste und Wünsche meiner Kinder interessiert hatte. Wenn ich jetzt in einen Spiegel schauen würde, müsste ich Kevin und Aileen sehen, die sagen »Hau ab!«, »Lass mich in Ruhe!«, »Kein' Bock!« oder »Keine Zeit!«. Das Problem, das ich jetzt sehe, liegt also zum Großteil auch bei mir.

Aber wie soll ich von einer Minute auf die andere alles ändern können? Wahrscheinlich gar nicht. Schritt für Schritt. Nicht als Wiedergutmachung, nein, weil ich sie liebe und ich die paar Jahre, bevor sie erwachsen werden, ein toller Papa sein will. Gott sei Dank wurden wir aufgeklärt. Ich möchte nicht wissen, wie oft wir schon kurz vor einem familiären »Kollaps« standen!

Aber durch den vehementen Druck, den meine Frau auf mich ausübte, ihr unerlässliches Arbeiten mit den Kindern und früher schon ihre leider völlig frustrierende Suche nach einer Lösung, sehe ich das erste Mal Licht am Horizont. Meine Frau war auf einer Beratungsstelle, bei Therapeuten – hilfloses, unnützes Rumexperimentieren überzeugte weder sie noch mich. Also zog ich mich immer mehr zurück.

Nun gehen wir die Sache gemeinsam an und nicht jeder für sich. Es ist und wird eine Herausforderung bleiben, die ich jetzt gern annehme. Seit die beiden jeden Tag sehr willig ihre Tabletten einnehmen (nachdem auch ihnen von Frau Neuhaus erklärt wurde, was sie haben), hat sich bereits sehr viel verändert. Sie wissen weshalb und warum die Medikamente notwendig sind und zeigen uns, dass auch sie an einer positiven Veränderung interessiert sind. Dies war der erste Schritt, den zweiten werden meine Frau und ich dazu tun.

Bisher dachte ich, dass dies ein Problem unserer Familie ist – intern zuhause. Umso mehr bin ich erschrocken, als man mir sagte, dass man teilweise versucht, diese Kinder mit ADHS aus dem allgemeinen Leben auszugliedern oder einfach in die Ecke zu stellen. Es ist unglaublich, wie viele Kinder in Deutschland unter diesen Symptomen leiden. Wo soll das hinführen? Jetzt habe ich nach vielen Erziehungsjahren endlich erkannt, wie ich meine Kinder und meine Familie retten kann, zumindest meinen Teil dazu beitragen. Und plötzlich stehe ich vor einem Krieg der Welten. Ich denke für mich, dass ich nicht übertreibe.

Es war mir bisher nicht bewusst, dass meine Frau schon seit Beginn der Schulzeit sich in diesem »Krieg« befindet. Endlose Gespräche mit den Lehrern, die alles wissen, nur nicht, wie man mit Kindern mit ADHS umgeht. Endlose Telefonate mit Behörden und Kassen, denen die Familien mit diesen Problemen einfach offensichtlich nur egal sind.

Im Augenblick sehe ich die Lehrer unserer Tochter Aileen als größtes Problem. Bei Kevin läuft auf der Realschule alles rund. Er hat eine Klassenlehrerin, die sich sehr um seine Person bemüht, was sich in seinen Noten widerspiegelt. Er ist in seiner Klasse sehr beliebt, wurde jetzt sogar zum Klassensprecher vorgeschlagen!

Aileen ist einem täglichen Druck ausgesetzt, mit dem sie wahrscheinlich nicht mehr lange umgehen kann. Diesen Druck muss meine Frau jeden Tag aufs Neue abfangen, sie aufmuntern, mit ihr üben, lernen. Mit viel Disziplin hat sich meine Tochter von einer 4 in Mathe auf eine 3,4 im Jahreszeugnis verbessert, was ihre Lehrerin jedoch nur dazu brachte, ihr wieder eine 4 einzutragen mit der Begründung: »Das spornt sie an, besser zu werden!« Na toll, größer hätte sie das Loch gar nicht schaufeln können, um meine Tochter vollends zu beerdigen. »Für was soll ich noch lernen, bringt eh nix, ich hab Angst vor morgen.« Wochen der Arbeit zuhause werden mit einer »Aufrundung« das Gully hinunter gespült. Wir werden in den nächsten Tagen zu zweit das Gespräch mit den Lehrern von Aileen suchen, in der Hoffnung, ein bisschen Verständnis zu erwirken.

Das andere Übel sind die Behörden, allen voran das Jugendamt. Durch viele Tests und Gespräche haben es Frau Neuhaus und eine Mitarbeiterin tatsächlich geschafft, dass mein Sohn Kevin Vertrauen aufbaute, was ich nie für möglich gehalten hätte. Unser vorher so zurückgezogener, ängstlicher Sohn mit seinen Tics und seiner Pummeligkeit ging früher nie raus, traute sich gar nichts. Er geht nach wie vor sehr gerne nach Esslingen und wir freuen uns mit ihm auf die Zeit der Behandlung. Aber irgendwie »darf« es nicht so einfach funktionieren‍(?!).

»Wer diagnostiziert, darf nicht behandeln.« Ein neuer Schlag in die offenen Wunden unserer Familie. Aber so einfach geben wir nicht auf, meine Frau auf jeden Fall nicht! Wir sehen die Erfolge und glauben auch daran, was hoffentlich Berge versetzen kann. Unser Sohn war bedroht von seelischer Behinderung – wie kann man einfach einige Gesetze ändern, die das Wohlergehen unserer Kinder behindern?

Wir haben durch die erlernte Kommunikation bereits am ersten Tag nach dem Elterntraining unsere Kinder dazu gebracht, selbstständig Aufgaben zu übernehmen.

Durch die kalte Witterung fand es meine Frau angebracht, ein warmes Holzfeuer im Ofen anzuzünden. Ohne Aufforderung fragte Kevin, ob er ein Stück Holz in den Ofen werfen dürfte, was bisher für mich nie ein Thema war, denn Kinder und Feuer geht nicht! Aber mit fast zwölf Jahren dachte ich, warum nicht, und erklärte ihn zum »Wächter des Feuers« (unter der Abnahme des Versprechens: »Nur wenn einer von uns dabei ist!«).

Und siehe da, den ganzen Abend ging das Feuer nicht aus. War das Holz alle, nahm er den Korb und ging in den Keller, um Neues zu holen. Bei dieser Gelegenheit ging Aileen gleich mit, um noch ein paar Tüten Milch in die Wohnung zu schaffen.

Briska und ich schauten uns an, nickten uns zu und dachten: »So geht's«. Auch die beiden hatten sichtlich ihre Freude daran, uns diese Arbeit abzunehmen. Ich bin mir absolut sicher, dass wir über einen längeren Zeitraum gesehen, unser Familienleben in den Griff bekommen. Es ist jetzt nur der Anfang, aber ohne Anfang kein Ende. Jeder neue Tag eine neue Herausforderung, an dessen Ende ich zufrieden ins Bett gehen möchte.

Rolf Scharfenecker

Nach fast zwei Jahren und Hochs und Tiefs durch die Pubertät ist die Entwicklung beider Kinder wirklich nur erfreulich. Kevin hat beliebt und sehr kompetent in einem Sozialprojekt der Schule im Kindergarten mitgearbeitet, will Erzieher werden und wird gerade Jungscharleiter.

Aileen zeigte rasch ihre gute technische Begabung, brachte gute Leistungen in der Realschule und »diagnostizierte« das ADHS ihres Vaters ... Derzeit kämpft sie mit den wachsenden Anforderungen in der heftig einsetzenden Pubertät. Sie kümmert sich rührend um die fünf Katzen der Nachbarin Neuhaus.

Präambel

Im amerikanischen Klassifikationssystem psychischer Störungen (DSM-5, 2013 erstmals auf Deutsch 2015 erschienen) wird die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung unter dem Oberbegriff »Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung« beschrieben. Es werden das gemischte Erscheinungsbild (mit Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität/Impulsivität F90.2), das vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsbild (mit vorwiegend den Symptomen der Unaufmerksamkeit F90.0) sowie das (sehr selten auftretende) vorwiegend hyperaktive-impulsive Erscheinungsbild (ohne Unaufmerksamkeit, F90.1) subsummiert in unterschiedlichen Ausprägungsgraden. Die dazugehörenden Entwicklungsdefizite bewirken Einschränkungen bezüglich der sozialen Anpassungsfähigkeit, der Selbständigkeit und der Selbstverantwortungsfähigkeit in einem oder mehreren Lebensbereichen durch eine »andere Funktionssteuerung«, die einem spezifischen »Kommunikationsstil« nötig macht (für alle Subtypen gleichermaßen). Daher wird einheitlich der Begriff ADHS verwendet.

Einleitung

Die jahrelange Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS und deren Eltern (von denen überzufällig häufig ein Elternteil selbst betroffen ist) bringt immer wieder aufs Neue die Erkenntnis, dass in der zentral wichtigen Elternberatung des verhaltenstherapeutischen multimodalen Behandlungsansatzes nicht nur die Anleitung zur Konsequenz, zu klaren Regeln und Strukturen für den Transfer in den Alltag wesentlich ist. Es zeigte und zeigt sich immer deutlicher, wie dies kommuniziert wird: zunächst im Elterntraining durch das Modell des Trainers und durch konkrete »Selbsterfahrung« im Rollenspiel; und dann durch die Eltern bei Instruktionen, beim Einfordern von Regeln, bei Erklärungen und Konfliktentschärfungen ihrem Nachwuchs gegenüber.

»Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, im Gehirn.«

Klaus Grawe

ADHS bedeutet eben nicht nur Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme zu haben, impulsiv und unruhig zu sein, sondern vor allem auch affektlabil, rasch auf dem Gefühl regelrecht »ausrutschend«.

Voraussetzung für eine zielführende Behandlung von Betroffenen mit ADHS (mit und ohne Komorbiditäten, in welchem Alter auch immer) ist, dass der Behandler den speziellen Wahrnehmungs- und Reaktionsstil wirklich kennt – mit der spezifischen Neurodynamik und entsprechenden Regulierungsdynamik und den funktionellen Auswirkungen. Dazu gehört vor allem, dass die Kommunikation (verbal und nonverbal) von Anfang an so erfolgt, dass die Patienten tatsächlich »erreicht« werden.

»Dem Gefühl ausgeliefert«, war der Untertitel des Buches ADHS bei Frauen 2004 von Doris Ryffel-Rawak. Sie betonte die Relevanz der emotionalen Labilität und Hypersensibilität. Krause und Kraus 2014 befürchteten kurz vor dem Erscheinen des DSM-5, dass die Affektlabilität dort ebenso wenig berücksichtig würde wie im DSM-IV.Wender (2009, S. 192) hatte diese charakteristische Stimmungsstörung (schon vor der Adoleszenz bestehend!) als »Wechsel zwischen normaler und niedergeschlagener Stimmung sowie leichtgradiger Erregung« beschrieben. »Die niedergeschlagenen Stimmungslage wird von Patienten häufig als Unzufriedenheit oder Langeweile beschrieben. Im Gegensatz zur ›major depression‹ finden sich kein ausgeprägter Interessenverlust oder somatische Begleiterscheinungen. Die Stimmungswechsel sind häufig reaktiver Art; gelegentlich treten sie aber auch spontan auf«.

Kinder und Jugendliche mit ADHS verstehen offensichtlich Sprache schlichtweg einfach etwas »anders«. Sie kommen mit »Metasprache« schlecht zurecht, fassen z. T. wirklich »wörtlich« auf. So ist z. B. etwas Schwieriges langweilig, weil es eine lange Weile dauert. Sie reagieren zudem früher oder später leider »allergisch« (im wahrsten Sinne des Wortes) auf Worte und Formulierungen, die sich wiederholen, die »extrem« sind, die gereizt, vorwurfsvoll, jammernd, anklagend, drohend, moralisierend-appellierend, verhaltensverschreibend geäußert werden.

In einer förderlichen, unterstützenden und notwendigerweise auch länger anhaltend anleitenden Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS (mit und ohne Komorbiditäten) geht es entsprechend vordringlich darum, in der Familie einen veränderten »Kommunikationsstil« zu entwickeln, mit eindeutigen und präzisen Ansagen und Aufforderungen, die klar, freundlich und wertschätzend transportiert werden.

Auf dem 6. Weltkongress in Vancouver/Kanada im April 2017 bedauerte Louis Rhode von der Arbeitsgruppe ADHS für das DSM-5, dass die Affektlabilität und emotionale Impulsivität nicht im Kriterienkatalog vorhanden sind, da man immer mehr merke, dass genau dies ein zentrales Problem bei ADHS ist.

Ein gewisses Umdenken erscheint in der kognitiven Verhaltenstherapie sinnvoll, wenn man Patienten mit ADHS tatsächlich erreichen will, mit ihnen nachhaltig wirkende kompensatorische Strategien entwickeln möchte, die sie dann auch erfolgreich anwenden können (»selbstwirksam« – und somit allmählich das Selbstwertgefühl steigern).

2016 betonte Gerhard Roth in einem Interview mit dem Titel »Vulnerabilität und Resilienz sind neurobiologisch verankert« über Hirnforschung als unterstützende Wissenschaft für die Psychotherapie, v. a. die Wirkungsforschung betreffend, man müsse sich von einigen traditionellen Annahmen verabschieden, auch in der Verhaltenstherapie.

Resilienz als die innere Widerstandskraft, die jemand genetisch bedingt mitbringt (physisch und psychisch), ist bei ADHS individuell mehr oder minder stark ausgeprägt vorhanden. Diese Fähigkeit des doch immer wieder »auf die Füße kommen« nach Niederlagen, massiven Missgeschicken oder schwerer Krankheit ist dem Zeitgefühl im Hier und Jetzt, dem mangelhaften Lernen aus Erfahrung, dem Vergessen und dem Nicht-Abschätzen-können der Konsequenzen des eigenen Handelns geschuldet.

Im kognitiv-behavioralen Modell der Entwicklung der ADHS im Erwachsenenalter (nach Safren et al. 2004, 2005a, b und 2009) wird davon ausgegangen, dass die neuropsychiatrischen Grundbeeinträchtigungen v. a. der Aufmerksamkeit und Selbstregulation (im Sinn der Impulskontrollstörung?) dazu führten, dass Kompensationsstrategien wie Organisieren, Planen und Abarbeiten (statt aufzuschieben, zu vermeiden) nicht als funktionelle Beeinträchtigungen genutzt wurden, wodurch in der lebenslangen Lerngeschichte Misserfolge im Leistungs- und Sozialbereich zu entsprechend negativem Feedback und dementsprechend zu negativen Gedanken/Überzeugungen führen. Dadurch entstünden Stimmungsschwankungen, Schuldgefühle, Angst und Depression.

Wenn nun in Anlehnung an dieses Modell in der kognitiven Verhaltenstherapie z. B. beim typischen Aufschieben vor allem die Konfrontation mit den negativen Konsequenzen erfolgt (und davon ausgegangen wird, dass nur eine Veränderung auftreten könne, wenn sich ein Betroffener »nahezu hundertprozentig« für die Therapie entschieden habe), könne der Patient dann eine Aufgabe in Teilschritte zerlegen, sie in kleinen Zeitportionen abarbeiten und sich dafür belohnen.

Die langjährige Erfahrung aus der Arbeit mit Patienten der unterschiedlichsten Altersgruppen zeigt jedoch, dass das trotz theoretisch völliger Übereinstimmung des Behandlers und des Patienten über avisierte Ziele so nicht umsetzbar ist, d. h., dass die so antrainierten Strategien nicht überdauernd angewendet werden. Bei der Konfrontation mit Negativkonsequenzen entsteht bei Betroffenen mit ADHS nur sofort ein schlechtes Gefühl mit regelrechtem Wegsacken der Vigilanz und Abschalten des hinteren Aufmerksamkeitssystems. Damit ist ein Zugriff auf Wissen und Erfahrung nicht möglich, der Patient empfindet »Blackouts«. Viele Patienten machen aber bei diesem Vorgehen erst mal »brav« mit, trauen sich nicht, zu hinterfragen – vor allem aus Scham!

Wenn im kognitiv-behavioralen Ansatz diskutiert wird, was man machen soll, wenn der Patient Angst hat, Dinge anzusprechen, und geraten wird, mit ihm zu besprechen, dass die Behandlung eine gewisse Anstrengung erfordere und er versuchen solle, mit Selbstinstruktion sein Verhaltensmuster zu durchbrechen und dabei auch sein Durchhaltevermögen zu trainieren, wird es für Patienten mit ADHS gefühlsmäßig schwierig.

Schon das Wort »Anstrengung« ist meist seit frühen Kinderjahren ein Wort, das gefühlsmäßig sofort Unbehagen hervorruft. Abgesehen davon klingen solcherlei Aufforderungen für Betroffene mit ADHS sofort so, als werde gemutmaßt, man »wolle« bloß nicht.

Erst recht, wenn der Patient ein akutes Problem hat, er aber in der Therapiestunde ein vom Therapeuten bereits festgelegtes Thema bearbeiten soll und ihm klargemacht wird, dass man erst gegen Ende der Sitzung darauf eingehen wird – und dass in der Sitzung danach darauf geachtet werden sollte, ob er Gelerntes auch angewendet hat! Vor allem auch, wenn es um das Erlenen von emotionaler Selbstregulation geht (»Man muss doch nur ...« oder »Tun Sie ihre Wut in die Faust ...«).

Um die Lebensqualität nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die anderen Familienmitglieder wirkungsvoll zu verbessern, kristallisierten sich aus der Durchführung von Elterntrainings über viele Jahre hinweg zwei entscheidende Wirkfaktoren heraus:

Akzeptanz der neurobiologischen Hintergründe von ADHS mit Verstehen der »anderen« Funktionssteuerung/Selbststeuerung sowie der typischen entwicklungspsychopathologischen Aspekte,

einfühlsame und wertschätzende Vermittlung eines spezifischen Kommunikationsstils (nach dem Motto »weniger ist mehr«), besonders bei der Ankündigung und Einforderung von Regeln und Erklärungen v. a. im Kontext Lernen und Deeskalierung drohender Konflikte.

In diesem Elterntrainingsmanual ETKJ ADHS geht es nicht darum, nach »etwas Psychoedukation« Eltern zur Selbsthilfe anzuregen oder »Kochrezepte« zu vermitteln für typische und spezifische Krisensituationen. Letztendlich sollen Eltern mit Hilfe von umfassendem »Störungsbildteaching« und bei Bedarf immer wieder erneutem (und geduldigem) Erklären der Dysregulation der autonomen Selbststeuerung zur Analyse der Vorlaufsituationen eines Konfliktes befähigt werden.

Die Bereitschaft, z. B. gewisse Einstellungen verändern zu wollen, »an sich arbeiten zu wollen«, kognitiv kompensierende Strategien entwickeln zu wollen, steht und fällt damit, dass Betroffene erfahren dürfen, wie sie »ticken«. Unnötige krisenhafte Zuspitzungen können so oft im Vorfeld erkannt und somit abgefangen oder schnell beigelegt werden.

Dies gelingt am besten, wenn die Inhalte des Trainings klar, plastisch und anschaulich (d. h. auch mit sehr konkreten, von Eltern real berichteten Beispielen unterlegt) vermittelt werden, um die tatsächliche und aktive Bereitschaft der Eltern für eine Veränderung unter Einbindung der bereits vorhandenen Ressourcen zu erwirken.

Manche Eltern haben Mühe, sich auf die Erklärungen »nachhaltig« einzulassen, da sie oft in jahrelangen Odysseen ganz andere Hypothesen bezüglich der Verursachung oder den aufrechterhaltenden Bedingungen ihrer Schwierigkeiten gehört haben – oder aber schon immer der Überzeugung waren, dass es »normal« sei, so zu empfinden und zu reagieren.

Vielen gefällt es besser, sich zur Gruppe der »Hochsensiblen« zu gesellen (wobei ausschließlich die Umgebung für Irritationen und Fehlverhalten des Betroffenen verantwortlich gemacht wird. Tatsächlich wird bei der »Hochsensibilität« vollinhaltlich ein Teil von ADHS beschrieben, »Überreaktionen« aber quasi »entschuldigt«, dass der Betroffene ja gar nicht damit anders reagieren könne...).

Irritierend ist für viele, dass sie sich umgeben sehen von Menschen, die genauso »ticken« – bis langsam klar wird, was in der Selbsthilfe immer wieder deutlich wird: Man bleibt unter sich.

Hintergründig haben in aller Regel Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS relativ früh gespürt, dass etwas bei ihnen »anders« ist als bei Gleichaltrigen. Vieles gelingt trotz Anstrengung und echtem Bemühen einfach nicht – leider bei der üblichen Unterstellung der Bezugspersonen, dass »man ja nur nicht wolle«, »sich keine Mühe gebe«, »sich nicht anstrenge«, etc.

Impulsiv, gereizt ausgesprochene Worte wie »müssen, sollen, jetzt, sofort, nie, etc.« werden schnell zu »Unworten« – Sätze wie »Wie oft muss ich Dir noch sagen ...?«, »Wann lernst Du endlich ...?«, »Wenn du dir nur mehr Mühe geben würdest ...« zu »Unsätzen«: die Stimmung kippt, Ärger, Wut oder sofortige Traurigkeit machen Betroffene sofort unfähig, das zu tun, was sie tun sollen.

Alle haben leidvoll erfahren müssen, dass sie durch die erzieherischen Maßnahmen des Erklärens im Sinn eines schlussendlich appellierenden Moralisierens, der »Verhaltensverschreibungen«, Drohung, Negativ-Konsequenzen, Strafen lediglich regelrecht »abgestellt« wurden, wirklich nicht in der Lage waren, so reagieren zu können, wie es gewünscht wurde.

Dieses spezifische Erklären des »anderen« Funktionierens des Gehirns anhand von Zeichnungen und modellhafter Darstellung der »anderen Funktionssteuerung« bei ADHS als »Störungsbild-Teaching« unterscheidet sich markant von der »üblichen« Psychoedukation mit verbalbeschreibender Erklärung der Kernsymptomatik, der Erläuterung des synaptischen Spalts, um u. U. zu erläutern, wie die Medikation wirkt.

Es ist immer wieder faszinierend, wie »eingeschaltet«, präsent und interessiert selbst schon relativ junge Kinder sind, wenn ihnen erläutert wird, wie sie »funktionieren«. Jugendliche sagen oft verblüfft »Woher kennen Sie mich?« – viele Erwachsene fragen nach langen Odysseen »Warum hat mir das noch nie jemand erklärt?«.

Nach Grawe (2004) erscheint es daneben äußerst wichtig, darauf zu achten, dass wirklich nur Veränderungen und Ziele formuliert werden, die nachvollziehbar und plausibel sind und die in den Familien auch tatsächlich erreicht werden können (d. h. »machbar« erscheinen).