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Moderne Methoden haben das Verständnis der Arbeit des Gehirns erheblich erweitert. Dieser Erkenntniszuwachs gründet sich auf Beiträge ganz unterschiedlicher Fachdisziplinen (bildgebende Techniken, Genetik, Psychologie, Anthropologie u. a.). Damit sind die Themen "Lernen" und "Plastizität" neu in den Fokus gerückt. Das Buch erläutert, auch anhand zahlreicher Fallbeispiele, wie Therapie, Rehabilitation und Pädagogik konkret befruchtet werden. Gleichzeitig wird deutlich, wie und wozu die Evolution das Organ "Gehirn" entwickelt hat - ganz im Dienste des Zurechtkommens des Individuums.
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Seitenzahl: 388
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1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Umschlagabbildung: © Sergey - Fotolia.com
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-030651-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-030652-3
epub: ISBN 978-3-17-030653-0
mobi: ISBN 978-3-17-030654-7
Vorwort
EINLEITUNG und GRUNDTHESEN
1 Das Dreieck: Neurowissenschaften – Therapie (Rehabilitation/Pädagogik) – Symptomatik
2 Die Besonderheiten
2.1 Der evolutionäre Ansatz
2.2 Allgemeine und konkrete formale Arbeitsweisen des Gehirns – Umsetzungsmechanismen
2.3 Verbindung der Neurowissenschaften mit der Anwendung (Therapie, Rehabilitation, Pädagogik)
2.4 Jenseits aller Schulen und die Forderung fürs Curriculum – und die Methodenbindung
2.5 Zusammenfassung – 1
2.6 Zusammenfassung – 2
2.7 Zusammenfassung – 3
3 Entschuldigungen und Erläuterungen
3.1 Worum es nicht geht
3.2 Vermenschlichung neuronaler Vorgänge
3.3 Letzte Entschuldigung
HAUPTTEIL
4 Ausgang von den Neurowissenschaften – hin zu Therapie, Rehabilitation, Pädagogik
4.1 Wozu Gehirn?
4.1.1 Einleitung – Zurechtkommen durch Austausch mit dem Körper sowie der sozialen und externen Welt
4.1.2 Evolutionäre Anthropologie – und die Folgen
4.1.3 Zusammenfassung: Die großen Kategorien – adaptiv und sozial
4.2 Umsetzung, prinzipiell-formal; allgemeine Arbeitsweise
4.2.1 Einleitung
4.2.2 Konstruktiv – Deutend – Hypothesenbildend – Top-Down-Dominanz
4.2.3 Redundanz und neuronal selection bzw. das Prinzip von Konkurrenz und Kompetition über Bottom-up-Prozesse
4.2.4 Das Nicht-Bewusste
4.2.5 A priori-Anteile
4.2.6 Reagible und adaptive Netze
4.2.7 Module – Subsysteme
4.2.8 Zusammenfassung – Die formalen neurobiologischen Grundsätze
4.3 Umsetzung – formal-konkret
4.3.1 Zwei Ebenen der neurogenen Aktivitäten
4.3.2 Zusammen feuern
4.3.3 Weitere Co-Engrammierung; das Holistische; Embodiment
4.3.4 Hirn als Konnektom
4.3.5 Kortikale Plastizität – 1: Hirn mag kein Brachland
4.3.6 Kortikale Plastizität – 2: Expansion, Verschmelzung, Schrumpfung
4.3.7 Kortikale Plastizität – 3: Anpassung und Verschiebung
4.3.8 Aktivierung egal woher: Imagination, mentale Imitation, Spiegeltherapie und virtuelle Realität
4.3.9 Spiegelneurone
4.4 Durchführung – inhaltlich
4.4.1 Lernen und Gedächtnis – 1: Einleitung
4.4.2 Lernen – 2: Gedächtnisformen
4.4.3 Lernen – 3: Lernen und Emotionen und das emotionale Gedächtnis
4.4.4 Lernen – 4: Formen des Lernens
4.4.5 Lernen – 5: Lernen als Beziehung (1) – die Inhalte
4.4.6 Lernen – 6: Lernen als Beziehung (2) – der Lernende
4.4.7 Lernen – 7: Lernen und Feedback
4.4.8 Lernen – 8: Lernen und Schlafen
4.4.9 Aufmerksamkeit
4.4.10 Motorik
4.4.11 Plastizität und Reorganisation
4.4.12 Aspekte der Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 1: Einführung
4.4.13 Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 2: »Dabei sein wollen«
4.4.14 Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 3: Bindung/Bindungstheorie
Claudia Oberle
4.4.15 Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 4: Kausalität und Intentionalität
4.4.16 Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 5: Magisches
4.4.17 Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 6: Imitation – Beobachtungslernen
4.4.18 Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 7: Handlungs- und Affektregulation
4.4.19 Entwicklungspsychologie und Entwicklungsneurologie – 8: Spiel
5 Ausgang von der Therapie – hin zu neurowissenschaftlicher Fundierung
5.1 Einleitung
5.2 Evidenzbasierung – oder Theorie-Orientierung – oder Patientenanpassung?
5.3 Therapie, wie das Hirn es mag
5.4 Das allgemeine Prozedere
5.5 Die Komponenten einer Therapie
5.5.1 Der therapiebereite Zustand, die Balance (Vorbereitung und Ziel?)
5.5.2 Das inhaltliche Angebot (was passt?)
5.5.3 Inhaltliche Anpassung im Verlauf (Immer mal wieder »von außen« schauen)
5.5.4 Intensität und weitere Verteilung in der Zeit (Viel bringt viel?)
5.5.5 Beziehung »Aufgabe zu Lernendem« – und therapeutische Beziehung (Auf den Menschen kommt es an)
5.6 Zusammenfassung: Inhaltliche Orientierungen und Perspektiven von Therapie, Rehabilitation, Pädagogik
6 Ausgang von der Symptomatik – hin zu neurowissenschaftlich fundierter Therapie
6.1 Die richtige Deutung der Symptomatik
6.2 Querschnittssymptomatik – 1
6.3 Querschnittssymptomatik – 2
6.4 Motorische Muster – und die Interferenzen
6.5 Wiederlernen von Motorik
6.6 Hemiparese und CIMT
6.7 Hemiparese und Spiegelbewegungen
6.8 Das richtige motorische Üben
6.9 Sensorische Deprivation
6.10 Der richtige Feedback-Kanal
6.11 Motorisches Lernen und Motivation
6.12 Lernen und Beziehung
6.13 Chronisches Schmerzsyndrom
6.14 Anorexie und Körperschema
6.15 Autismus und Oxytocin
6.16 Kognitives Leistungsprofil und Verhalten
6.17 Stottern
6.18 Aphasie und CIAT
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Dass es ohne Gehirn nicht geht, wird schon seit langem vermutet. Aber wie das Gehirn es schafft, Wirklichkeit mit Zusammenhängen und Plausibilitäten sowie Erinnerungen und Emotionen zu kreieren, gerät speziell in den letzten drei Jahrzehnten in den Fokus. Moderne Methoden ermöglichen es, Fragen zu stellen und zu bearbeiten, die früher rein spekulativ waren: Welche Hirnareale übernehmen nach einer Schädigung neue Teilfunktionen? Wie und wo werden Erfahrungen abgespeichert? Arbeitet das Gehirn nach eigenen, neurobiologischen Gesetzmäßigkeiten, und wie kann dann die Vorstellung des »freien Willens« damit in Einklang gebracht werden?
Die Neurowissenschaften sind – zusammen mit der Molekulargenetik – zur meist-beachteten Disziplin der Medizin geworden. Ihre Wirkung reicht aber weit über diese hinaus. Philosophie und Politik, Pädagogik und Forensik sehen sich herausgefordert, ihren ureigenen Zuständigkeitsbereich zu verteidigen. Das durch die Neurowissenschaften geprägte Menschenbild infiltriert fast alle Bereiche der Wissenschaften und des öffentlichen Lebens.
Charakteristisch ist, dass die Annäherungen an Struktur und Arbeitsweise des Gehirns aus ganz unterschiedlichen Richtungen erfolgen: aus den Fachbereichen der Neurophysiologie, der funktionellen Bildgebung, der Entwicklungs- und Neuropsychologie, der evolutionären Anthropologie. Die Zeit erscheint nun reif, diese Befunde zusammenzutragen – und in ihrer Relevanz für Therapie, Rehabilitation und Pädagogik darzustellen.
Die modernen Neurowissenschaften zeigen, dass das Gehirn eine Ausstattung hat, eine ganz bestimmte Aufnahme- und Verarbeitungsform. Diese Struktur bzw. die »unterlegten Programme« bedingen, dass nur ein definierter Teil der Informationen über die Welt und den Körper ankommen, und dass diese in einer ganz bestimmten Art und Weise verarbeitet werden. So konstruiert das Gehirn unsere Welt. Auf der anderen Seite handelt es sich – im angesprochenen Rahmen – um ein flexibles, adaptives Netzwerk, ein »learning system«. Erfahrungen werden in dem Netz gespeichert. Diese Plastizität ist heute besser verstanden – und auf sie kann eingewirkt werden.
Dieses Buch macht physio-, ergotherapeutisch, logopädisch Tätigen Vorschläge, auf dem Boden der Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften eigene Ideen zu entwickeln. Es richtet sich weiter an Neurologen, Neuropädiater, Rehabilitationsmediziner sowie Pädagogen und Psychologen, die an einer entsprechenden Fundierung ihrer Arbeit interessiert sind.
Es handelt sich nicht um ein klassisches Lehrbuch, in dem nur der gesicherte Stand der Forschung ausgebreitet wird. Der Autor ist fasziniert vom Organ »Gehirn« und wäre froh, wenn etwas von dieser Begeisterung überspringt. Manches ist spekulativ, anderes subjektiv. Es geht auch um Anwendung, aber eben nicht nur. Lassen Sie Milde walten. Die Antwort auf die Frage »Cui bono«? erscheint manchmal erst nach und nach am Horizont. Es wird eine bestimmte Sicht des Lebens, des Zurechtkommens des Individuums und des Beitrags, den das Gehirn dazu leistet, dargestellt. Spezielle therapeutisch-rehabilitativ-pädagogische Umsetzungsideen werden in flächigen Kästen für die Leser hervorgehoben. Das ganze Buch ist von dem Gedanken geprägt, dass ein vertieftes Verständnis von Aufbau und Arbeitsweise des Gehirns auch Implikationen für die Anwendungen enthält.
Der Autor studierte vor vielen Jahren Philosophie und Medizin, ohne eine klare Ahnung von den Motiven zu haben. Bald ging es um die klassischen Fragen, die in der Annäherung an große Geister bedacht werden wollten: Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir? Sehr früh faszinierte eine Orientierung der möglichen Antworten am konkreten Leben, an den Bedürfnissen des Menschen. Die Thematik sollte etwas mit dem Körper, dem Organismus einerseits und auch mit den durch die Umwelt gesetzten Herausforderungen zu tun haben. Fragen nach Herkunft und Gegenwart des Menschen konnten in diesem Rahmen gestellt werden. Und wahrscheinlich lag ein Schlüssel zur Antwort im Gehirn. Dieses Organ schien prädisponiert zu sein, um einen Abdruck der evolutionären Entwicklung zu zeigen. Sein Aufbau und seine Funktionen sollten am ehesten die früheren und auch die aktuellen Anforderungen spiegeln.
Warum gibt es ein Gehirn? Die Frage nach dem Grund i.e.S. bleibt weitgehend offen. Eine teleologische Deutung erscheint eher möglich:
Wozu gibt es das Gehirn? Wohl zur Lebensbewältigung, zur Sicherung der Existenz des Organismus bzw. des Individuums - so wie auch Blut einen Beitrag zum Überleben leistet, und Haut, und Leber, und Augen. Der Beitrag ist entweder heute noch klar erkennbar und aktuell – oder er erschließt sich aus den Möglichkeiten und Anforderungen, mit denen sich das Gehirn früher einmal konfrontiert sah.
Damit die Geschichte des Lebens losgehen konnte, muss etwas gesetzt werden: das Interesse bzw. den Antrieb zu (über-)leben. Woher er kommt, wissen wir nicht genau. Die Auswirkungen aber sind immens. Alles hat sich diesem Ziel unterzuordnen. Insofern erscheint der Evolutionsgedanke den Rahmen zu liefern, in dem sich auch das Gehirn entwickelt hat.
Die ersten Jahre, in denen sich der Autor mit der Arbeitsweise des Gehirns beschäftigte, zeigten dieses als ein topisch genau strukturiertes Organ: Aphasie und Apraxie und Ataxie sowie Hemiparese und Hemineglect konnten einzelnen umschriebenen Regionen zugeordnet werden. Die in den 90er Jahren zunehmend auch funktionell einsetzbaren bildgebenden Methoden brachten dann einige Formen des Denkens, Vorstellens, Fühlens direkt zur Darstellung. Es kann heute kein Zweifel mehr daran bestehen, dass all diese mentalen Zustände entweder durch neuronale Vorgänge verursacht werden oder zumindest ein entsprechendes Korrelat haben. Damit stellen sich neue Fragen: Wie kann dann ein bewusster, freier Wille eingreifen? Wie wird Schuld und Verantwortung definiert? Wie stellen wir uns dazu, wenn mit technischen Hilfsmittel die angesprochenen Korrelate beeinflusst werden können, mit der Folge der Änderung des Verhaltens?
Vor einigen Jahren wechselte der Autor von der Uni-Klinik zu einem neuropädiatrisch-rehabilitativ ausgerichteten Fachkrankenhaus. Erst seit dieser Zeit gerät ein neuer Aspekt in den Vordergrund: Wie verbinden sich Erkenntnisse zur Funktionsweise des Gehirns mit Therapie und Rehabilitation. Bedeutet mehr Wissen auch anders therapieren?
All diese Fragen mündeten in die Konzeption des Buches.
Besonders dankbar bin ich:
• Lina Wahlen und Sabine Czak, sowie Caren und Niclas Niemann, die große Teile durchgeschaut oder mitgestaltet haben;
• die Gespräche mit Richard Michaelis stellen den Boden dar, auf dem die Ideen gewachsen sind;
• Manuela Baumgartner, Gabi Schuska, Marion Döbler, Karin Haas und Markus Wolff haben kritisch und konstruktiv ergänzt; die Handschrift von Peter Weber ist in einigen Abbildungen erkennbar, die Formatierung von Martina Großkopf ebenso wie auch der technische Support von Jens Trappe.
• Sabine Kusterer, Christoph Seilacher, Raimund Böckler, Monika Gickeleiter, Rolf Noergaard, Jan Schäfer, Heidi Roller und Judith Bledau-Greiffendorf sowie Nadja Renk, Karin Grundel, Martin Hermann, Ute Bayha, Andreas Oberle und Renate Berger haben mir erlaubt, ihre Perspektive und ihre Anregungen mit einzubauen.
• Claudia Oberle, Diplom-Psychologin aus Stuttgart, hat einen wesentlichen Beitrag (»Bindung – Bindungstheorie«) geliefert. Für ihren Beitrag, das Kapitel 4.4.14, danke ich ihr.
• Schließlich danke ich den Lektoren Annegret Boll und Dominik Rose, deren klare und konstruktive Begleitung das ganze Werk zur Realisierung brachte.
G. Niemann
Schömberg und Tübingen im Herbst 2017
Dieses Dreieck veranschaulicht die eine Grundkonzeption des Buchs. Es geht um die Erkenntnisse, die in den letzten Jahren von den Neurowissenschaften bzgl. der Arbeit des Gehirns zusammengetragen wurden. Neue Methoden werfen neue Schlaglichter. Und diese sollen in der Relevanz für die Umsetzung, also Therapie, Rehabilitation, Psychologie und Pädagogik, diskutiert werden. ( Kap. 4).
Es geht zum einen um formale Kategorien, mit denen das zerebrale Arbeiten beschrieben werden kann (nach der Einführung »«Wozu Gehirn« beschäftigen sich die Kapitel 1.2 »Umsetzung prinzipiell-formal« und 1.3 »Umsetzung formal-konkret« mit diesen Aspekten). Wie kommt es, dass Subjekt und Hirn einerseits und Welt andererseits zusammenkommen? Welche Hard- und Software bestimmen dieses Zusammenkommen?
Danach werden unter 1.4 (Durchführung – inhaltlich) konkret die Phänomene »Lernen, Aufmerksamkeit und Motorik« behandelt. Auch entwicklungspsychologische Themen werden in den Kontext der Neurowissenschaften gestellt und bzgl. der therapeutisch-rehabilitativ-pädagogischen Umsetzung beleuchtet.
Dann wird die Perspektive gewechselt: Wie stellen sich therapeutische Prinzipien im Licht dieser neurowissenschaftlichen Erkenntnisse dar ( Kap. 5). Es ist klar, dass sich hier einige Redundanzen finden. Die Analyse therapeutischer Konzepte bzw. konkreter Maßnahmen verweist ja wieder auf die neurowissenschaftlichen Ausführungen.
Und schließlich erfolgt nochmals eine Richtungsänderung. Es werden einzelne Fallgeschichten konstruiert, die verdeutlichen sollen, wie neurobiologische Ideen in die Therapie einfließen können ( Kap. 6). Gerade hier wurde nicht nur das gesicherte Lehrbuchwissen einbezogen, sondern auch spekulativ – und hoffentlich anregend/herausfordernd – zugespitzt.
Der evolutionäre Gedanke ermöglicht es, ganz unterschiedliche Aspekte des zerebralen Arbeitens zusammen zu bringen. Er stellt die Klammer dar, die den Aufbau und das Agieren bzw. Reagieren des Gehirns plausibel macht (In welchem Kontext hat sich ein Gehirn entwickelt? Welche Funktion hat es? Wie ist es auf die externe und soziale Welt bezogen? Welche Instrumente haben sich herausgebildet, um dem Organismus bzw. dem Individuum Überleben zu ermöglichen?).
Die Grundannahme ist, dass sich das Gehirn bzw. das Nervensystem insgesamt evolutionär entwickelt hat. Dass Struktur und Funktion auf die Welt, die soziale (des Miteinanders) und die externe (der Gegenstände und des Essbaren und der Bedrohungen u. a.), bezogen sind. Nur so ist zu erklären, dass bestimmte Zentren für die Erkennung von Gesichtern reserviert sind, und dass Grundvorstellungen über die Gegenständlichkeit der Welt existieren, bevor ein Säugling sie erfahren haben kann.
Beispiele: Die Irritation eines kleinen Säuglings durch einen sich vergrößernden Kreis an der Decke wird so gedeutet, dass das Kind diesen als sich annähernd und damit potentiell bedrohlich wahrnimmt. Das Schreien und Werben der Säuglinge um die Aufmerksamkeit der Mutter sichert Überleben. Der ganz basale Antrieb des Kleinkindes, dabei sein zu wollen – bei der Abendunterhaltung z. B. – weist darauf hin, dass der Homo sapiens ohne Integration in seine Gruppe nicht überleben konnte. Die Spiel- und Explorationslust sind fundamental für die Beschäftigung mit den Artgenossen einerseits und der komplexen gegenständlichen Welt andererseits, und dienen dem Zurechtkommen. Die neuronalen Netze ermöglichen insofern dem Individuum, zu überleben, Leben weiter zu geben.
Dies soll keineswegs einer simplen Teleologie das Wort reden. Es können nicht alle Phänomene des menschlichen Seins direkt auf die angesprochenen evolutionären Ziele zurückgeführt werden. Der Autor ist sich bewusst, dass Zufälle und weitere Interdependenzen eine große Rolle spielen.
Das evolutionäre Denken scheint manchmal eine Nähe zum kindlichen Zugang zu haben, der mit Kausalitäten und Finalitäten arbeitet, der also die Welt unter den Motiven von Ursachen und Zweckbindungen erschließt. Auch das kann die evolutionäre Psychologie wiederum gut erklären: Nur wenn wir das unterstellen (also Kausalität und Finalität), ergeben sich Möglichkeiten des Verstehens und des daraus abgeleiteten Beherrschens. Und es funktioniert ja auch in vielen Bereichen: Wir erkennen die Gesetze der Physik, der Elektrik, und konstruieren entsprechend unsere Heizsysteme – und unsere Blitzableiter.
Daneben aber gibt es Bereiche, die sich der Anschauung entziehen bzw. die sich nicht in die Koordinaten unseres Zugangs einordnen lassen. Komplexe Systeme könnten dazu gehören, genauso wie quantenphysikalische Phänomene. Möglicherweise wird es irgendwann eine Chaostheorie bzw. einen an die Quantenphysik angelehnten Ansatz geben, der den anthropomorphen evolutionären Gedanken in die Schranken weist bzw. ergänzt. Vielleicht bietet sich aber auch eine Aufteilung der Zuständigkeiten an: Der evolutionäre Ansatz behält die Zuständigkeit für das biologische Leben, während Systemvorstellungen und Chaostheorie eine andere Wirklichkeit beschreiben.
Insofern gründet das Primat des Glaubens an Verstehbarkeit (d. h. prinzipiell auch Beherrschbarkeit) in der menschlichen Psyche, in der Notwendigkeit zurecht zu kommen.
In der Philosophie, der Physik, der Ökonomie, der Statistik speziell, aber auch in der Biologie und Medizin gibt es eine intensive Diskussion über das Zusammenspiel von Zufall und Chaos einerseits und Ordnung bzw. Determinismus andererseits. Die Quantenphysik ist die Paradedisziplin, für die die Unmöglichkeit einer eindeutigen Berechenbarkeit konstituierend ist. Die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation sagt aus, dass Ort und Geschwindigkeit eines Quantenteilchens nicht gleichzeitig exakt gemessen werden können. Von da ausgehend wurde weitere Kritik am Determinismus formuliert. Komplexe Systeme, politischer oder ökonomischer Art, sind nicht suffizient berechenbar. Dies liegt u. a. daran, dass es sich nicht um abgeschlossene Systeme handelt, dass also nicht alle relevanten Einflussgrößen eingeschätzt werden können. Und auch die Wechselwirkungen aller Faktoren können nicht eindeutig gewichtet werden.
Einiges kann auch auf die Entwicklung des Lebens übertragen werden. Diesbezüglich werden speziell die Genetik und die neuronale Vernetzung thematisiert, aber auch die evolutionäre Entwicklung selbst.
Die klassische Genetik kann als Prototyp des Geregelten und damit Verstehbaren angesehen werden. Sie wurde in den letzten Jahren durch Befunde der Epigenetik ergänzt, durch den Nachweis von Einflussfaktoren auf die Genetik i.e.S. Dazu gehört die Genexpression, die vom scheinbar zufälligen Konfigurationszustand der DNA abhängig ist, also davon, ob die DNA gerade frei zugänglich ist oder eher gebunden-verknotet vorliegt. Auch die lokale Konzentration von Transkriptionsfaktoren variiert zwischen den Zellen und auch innerhalb einer Zelle. Sie bestimmt das Ablesen eines Gens. Die DNA-Methylierung, also das Anhängen einer Methylgruppe an einzelne Nukleotidbasen, hat ebenfalls für den Grad der Expression des betroffenen Gens Bedeutung (hemmt sie meist). All diese Faktoren machen die Entwicklung des Organismus auch abhängig vom Zufall.
Auch dies ist ein Feld, in dem sich die Zufallskomponente zeigt. Wir haben Milliarden Neurone, und synaptische Verbindungen, die nochmals um den Faktor 10 000 höher liegen (bei hundert Billionen; 10 hoch 14). Die Aktivitäten all dieser Verbindungen haben Bedeutung. Eine komplette Beschreibung eines elektrischen Zustands zu einem bestimmten Zeitpunkt erscheint aber unmöglich. Andererseits entstehen aus diesem Aktivierungsozean Gedanken, Handlungen und Bewusstsein. Aus der Distanz können Muster erkannt werden: durch Mittelwerte der elektrischen Aktivitäten, durch Gruppen- und Flächenvergleich sowie durch zeitliche Korrelationen. Insofern verbinden sich hier ein sicher auch zufälliges neuronales Feuern auf der Einzelzellebene mit einer »Gestaltbildung« auf der des Organismus.
Auch der Evolution selbst, also der Phylogenese, sind Zufälle zu unterstellen. Wenn nicht ein Meteorit die Erde getroffen hätte, würden heute vielleicht noch die Saurier die herrschenden Lebewesen sein. Vor 65 Millionen Jahren waren die Dinosaurier auf der Erde so dominant wie heute die Menschen. Deren Vorgänger, kleine Ratten-ähnliche Säugetiere, bekamen ihre Chance erst, nachdem die Großen abtreten mussten.
Und bestimmte zufällige genetische Veränderungen konnten nur wirksam werden, da gerade zu der Zeit auch eine entsprechende klimatische Veränderung stattfand. Dies stellte dann für die neue Variante einen Überlebensvorteil dar.
Abb. 1a: Evolution und Gehirn.Die zentralen Themen des Buches: Die Prägung des Gehirns aus der Evolution heraus, und die Beeinflussbarkeit dieses Organs
Abb. 1b: Formung und Beeinflussbarkeit des Gehirns.Aus der Evolution heraus wird das Gehirn verständlich. Anforderungen der sozialen und externen Welt haben das Gehirn in dieser Art geformt. Und moderne Methoden erweitern heutzutage die Möglichkeiten, zu intervenieren.
Wenn man dem Gehirn bei der Arbeit zuschaut, lassen sich allgemeine formale Prinzipien erkennen, mit denen externe Informationen aufgenommen, verarbeitet und verständlich gemacht werden (z. B. die große Bedeutung des un- und vorbewussten Funktionierens).
Und es gibt konkrete formale Mechanismen, die Ausdruck der Aufgabe dieses Organs sind (z. B. die Verstärkung der Verbindung von Nervenzellen, die gemeinsam entladen, da die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass diese auch später wieder etwas Gemeinsames repräsentieren). Bio-Ingenieure würden hier also sozusagen Konstruktionspläne finden, um das Gehirn nachzubauen.
Die Erkenntnisse der verschiedenen neurowissenschaftlichen Disziplinen sollen immer wieder auf ihre pragmatische Relevanz »abgeklopft« werden: Beispiel: Was bedeutet es, wenn sich kortikale Plastizität in einer Ausdehnung des Repräsentationsareals ausdrückt, wenn also die korrespondierende Hirnfläche nach intensivem Training am Klavier größer wird? Und wenn dann die Überlappung dieser Finger-Areale es irgendwann nicht mehr möglich macht, die Finger einzeln anzusteuern? Eine derartige Expansion kann das Erscheinungsbild der Musikerverkrampfung (Dystonie) erklären. Wie kann dann eine entsprechende Therapie aussehen?
Insofern verfolgt der Autor auch das Anliegen, die Kluft zwischen neuen wissenschaftlichen Befunden einerseits und Anwendung in der Praxis andererseits zu verkleinern.
Es wird versucht, Ansätze und Ergebnisse ganz verschiedener Methoden und Disziplinen zusammen zu führen (evolutionäre Anthropologie, Entwicklungspsychologie, Neurophysiologie, Bildgebung, klinische Pathologie u. a.). Damit unterscheidet sich diese Annäherung von vielen Monographien, die gerade im therapeutisch-rehabilitativen Bereich eine bestimmte Grundidee in den Vordergrund stellten (z. B. die Beeinflussung des Tonus oder das Einwirken auf Reflexe und Reaktionen). Die Zeit dieser »Schulen« ist vorbei. Sie starteten immer von durchaus zu der Gründerzeit modernen Ansätzen – und bauten diese dann aus. Sie sind aber nicht in der Lage, sich im Verlauf den sich ändernden wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen (oder verlieren ihre Identität). Heute muss es darum gehen, auch die Heterogenität der Beiträge auszuhalten, zu werten und nutzbar zu machen – und immer wieder Korrekturen und Ergänzungen einzubauen.
Die hier vorgestellten Inhalte sollten in den entsprechenden Gremien diskutiert werden. Der Konsens könnte dann Grundlage für ein entsprechendes Curriculum sein. Da kontinuierlich Modifikationen zu erwarten sind, erscheint eine breite, offene, verschiedene Disziplinen integrierende Diskussion sinnvoll.
Moderne Neurowissenschaften sind Methoden-gebunden. Die Methoden kommen z. B. aus der Physik, wie die Magnetresonanztomographien, oder aus der Biologie bzw. Molekulargenetik. Die Verfeinerung für – bzw. Adaptation auf – die Neurowissenschaften ermöglicht es dann, neue Fragen zu stellen und zu beantworten. Die moderne funktionelle Bildgebung z. B. wirft ein Schlaglicht auf Zentren, die bei bestimmten mentalen Zuständen aktiv sind – bzw. im Rahmen der Reorganisation nach einer Schädigung etwas übernehmen. Die Techniken und Methoden stellen gleichzeitig Chance und Verführung dar: Im Lichte eines neuen Ansatzes erscheinen auf einmal neue Phänomene (Chance).
Gleichzeitig ist das Erscheinen und Deuten dieser Phänomene immer auch an methodische Besonderheiten gebunden – sagt also oft etwas über diese und nicht über den zu untersuchenden Gegenstand aus (Verführung). Beispiel: Die funktionelle Magnetresonanztomographie registriert Durchblutungsänderungen. Normalerweise steigt die Durchblutung, wenn bestimmte Hirnareale besonders aktiv sind. Andererseits muss sich nicht jeder definierte mentale Zustand – jede Emotion, jede Intention oder Imagination – in einer derart umschriebenen Durchblutungsänderung ausdrücken. Auch eine spezielle Verteilung der Durchblutung bzw. Aktivität im Kontext der neuronalen Vernetzung kann eine Rolle spielen. Und dann können auch gerade gehemmte Areale durchaus eine Bedeutung z. B. für diese Emotion, Intention oder Imagination, haben. Außerdem wurden in den letzten Jahren die Algorithmen, die der Auswertung entsprechender Studien zugrunde liegen, kritisch untersucht. Dies führte dazu, dass eine ganze Reihe von Befunden als nicht reproduzierbar eingeschätzt wurde. Die Neurowissenschaften sind also Methoden-gebunden, und sollten zugleich Methoden-kritisch sein.
Zusammengefasst stellt sich der hier durchgängige Ansatz wie folgt dar: Den thematisierten Phänomenen – wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Motorik u. a. – wird ihr Platz in dem Bemühen des Individuums zugewiesen, zurecht zu kommen. Ohne einen Organismus, ein Individuum, das ein Interesse hat, Leben weiter zu geben und überleben will, sind weder Evolution noch Neurobiologie noch menschliches Sein denkbar. Dieses Wollen steht nicht von vornherein in Harmonie mit der externen und sozialen Welt. Insofern ist das Gehirn ein Werkzeug, um das Zurechtkommen zu ermöglichen ( Abb. 2). Diese Aufgaben bilden Struktur und formale Arbeitsweise des Gehirns ab.
Die Grundaussagen sollen zum Schluss thesenartig dargestellt werden:
1. Evolution, Gehirn und Individuum:
a) Die Evolution hat das Gehirn »hervorgebracht«.
b) Dies bezieht sich auf: die formalen Arbeitsweisen (wie das überwiegend unbewusste Agieren oder das Adaptieren im Sinne von synaptischen und kortikalen Umorganisationen in Abhängigkeit vom Gebrauch) und auch die inhaltlichen »Werke« des Gehirns (wie Motorik, Aufmerksamkeit, Lernen, entwicklungspsychologische Motive u. a.)
c) All dies setzt zwingend einen Organismus bzw. ein Individuum voraus, das Interessen hat–wird also erst im Licht des Zurechtkommen-Müssens des »Hirnträgers« verständlich.
2. Neue Methoden und das Verständnis der zerebralen Funktionen:
a) Moderne Techniken und Methoden haben neue Erkenntnisse der Arbeitsweise des Gehirns erbracht.
b) Diese sollten kritisch in ihrer Relevanz beurteilt werden.
3. Implikationen für Interventionen:
a) Das vertiefte Verständnis der zerebralen Funktionen, der Organisationen und Reorganisationsmöglichkeiten, eröffnet gezieltere Interventionsmöglichkeiten in Therapie, Rehabilitation und Pädagogik.
b) Sie können auch als angewandte Neurowissenschaften verstanden werden – und sollten bzgl. dieser Kompatibilität auf den Prüfstand gestellt werden.
Abb. 2: Das Individuum, sein Gehirn und die Aufgabe des Zurechtkommens
Die Beziehungen von Individuum, Gehirn und Welt bzw. eigenem Körper sollen nochmals konkretisiert werden, auch wenn gewisse Redundanzen zum gerade Ausgeführten unvermeidbar sind.
Abb. 3: Die neuronale Ebene und die psychologische, die immer aufeinander bezogen sind.
Wir sind überzeugt davon,
a) dass alle mentalen Vorgänge an bestimmte neuronale Aktivierungen gebunden sind. Sie drücken sich in derartigen Mustern aus. Das bezieht sich auf Gedanken, Vorhaben und Erinnerungen, Gefühle, und auch das damit verbundene Verhalten ( Abb. 3)
b) dass das Gehirn dem Individuum dient, also evolutionär entstanden ist, damit ein Organismus, ein Individuum, ein Subjekt, überleben und zurechtkommen kann.
c) dass das Gehirn – um dieses Zurechtkommen zu gewährleisten – kontinuierlich auf die externe bzw. soziale Welt einerseits und den eigenen Körper andererseits bezogen ist. Es empfängt Informationen und korrespondiert ( Abb. 4).
d) Nur im Lichte eines Lebewesens mit einem derartigen Interesse macht die Arbeit des Gehirns bzw. das Agieren und Reagieren des »Hirnträgers« Sinn. Nur die Setzung eines Organismus bzw. Individuums mit diesem Interesse – mit einem eigenen Zugang zur Welt und zum Körper bzw. einer eigenen Prägung durch diese – verbindet die unterschiedlichen Aspekte zu einer Einheit.
e) Diese Korrespondenz, diese Interaktion in einem offenen System, ruft immer wieder veränderte neuronale Aktivierungsmuster hervor.
f) Dies bedeutet,
– dass einerseits die neuronalen Aktivierungen bestimmte mentale Zustände und Verhaltensweisen hervorrufen,
– dass andererseits auch die Interaktionen (mit der Welt, dem Körper) zu bestimmten neuronalen Aktivierungen führen ( Abb. 3, 4, 5).
– Systemisch gesehen also eine Interdependenz in beide Richtungen. Das Gehirn konstruiert die Welt – und wird durch diese konstruiert. Das heißt, dass Interventionen auch grundsätzlich von beiden Seiten starten können: Man kann Medikamente geben oder magnetisch stimulieren, um die neuronalen Aktivierungen zu verändern (und erreicht damit eine Beeinflussung u. a. des Verhaltens). Oder man ändert etwas an der Korrespondenz mit der externen bzw. sozialen Welt oder dem eigenen Körper, z. B. durch Yoga, einem neuen Partner oder Psychotherapie, und evoziert damit auch eine Änderung seiner neuronalen Aktivierungsmuster ( Abb. 29).
g) Dass auch die Motivation, zum Yoga zu gehen oder sich auf den neuen Partner einzulassen, schon bestimmte neuronale Aktivitäten voraussetzt bzw. sich darin ausdrückt, soll nur erwähnt werden. Wenn dieser Aspekt zu Ende gedacht wird, kann sich zerebrale Verwirrung einstellen. Da das Gesamtsystem aller Einflussfaktoren nicht komplett beschreibbar ist – u. a., weil sich die spontane neuronale Basisaktivität ändert und die Korrespondenz mit der Welt und dem eigenen Körper genauso – ist eine vollständig deterministische Analyse nicht möglich. Dies schließt wiederum therapeutisch nutzbare Annäherungen keineswegs aus.
Abb. 4: Der ständige Austausch
Eine der zentralen Bruchlinien in der neurowissenschaftlichen Diskussion verläuft zwischen denjenigen, die die Autonomie des Gehirns betonen und der anderen Seite, von der die Rolle des Individuums, des Subjekts, herausgearbeitet wird. Die modernen Techniken haben die Hard- und Software des Gehirns weiter aufgeklärt. Und in der Tat wird deutlich, dass viele mentale Zustände an diese Konstruktionspläne gebunden sind. Sie ergeben sich in weiten Teilen daraus. Damit hängt die Diskussion um den freien Willen und die sich daraus ergebende individuelle Verantwortung zusammen. So hat man herausgefunden, dass schon der Motorkortex einen direkten Einfluss auf einfache motorische Auswahlaufgaben hat. Je nach seiner vorherigen Aktivität (z. B. mehrfach die linke Taste zu drücken) entsteht eine Präferenz für die nächste Aufgabe (Pape und Siegel 2016). Auch die sensorischen Aufnahmekapazitäten sind definiert und bestimmen unser Weltbild und unser Agieren. Und speziell die Verarbeitungskategorien des aufgenommenen Materials sind bis zur menschlichen Verknüpfungstendenz im Sinne der Kausalität festgelegt. Das Gehirn erledigt schon eine ganze Menge von allein (Roth 1998). Im vorliegenden Buch finden sich mannigfaltige Beispiele.
Aber, es wird auch betont, dass die Darstellung des Gehirns in einer Art Gegensatz zum Individuum zu kurz greift (Fuchs 2013). Das Gehirn ist ja nicht wie ein Meteorit in uns eingeschlagen. Es hat sich als Teil eines Organismus, eines Subjekts, entwickelt. Und seine Vernetzungen spiegeln auch die konkreten Erfahrungen des einzelnen Individuums. All die Prägungen, die letzthin die Individualität ausmachen, finden sich in der zerebralen Struktur. Also sind Gehirn und Subjekt so nicht trennbar.
Grundsätzlich werden Aufbau und Arbeitsweise des Gehirns nur verständlich, wenn sie auf das Leben, das Zurechtkommen eines Individuums, bezogen werden. Und nach wie vor gibt es Möglichkeiten, Auswahl zu treffen, bewusst zu agieren (auch das drückt sich sicher in bestimmten, selbst-reflexiven, neuronalen Aktivierungsmustern aus).
Technikenund konkrete Mittel: Techniken und konkreter Mitteleinsatz werden nicht thematisiert (es geht also nicht um Medikamente, Botulinum-Toxin, operative Interventionen etc.)
Einzelne neurologische Erkrankungen und Schädigungen: Auch die Behandlungsoptionen einzelner neuropädiatrischer Erkrankungen (Infektionen, Raumforderungen, Epilepsien u. a.) werden nicht abgehandelt (sind oft den konkreten Krankheitsbildern und Schädigungsmustern in den anderen Kapiteln direkt zugeordnet).
Therapie-Schulen: Schließlich wird auch das »Fass der Schulen« nicht aufgemacht, maximal etwas gelüftet (also werden klassische Heilmethoden wie Bobath und andere nicht explizit durchdekliniert).
Es wird hier immer mal wieder heißen: »Das Gehirn macht, deutet, … die Neurone wollen sich vernetzen, fühlen sich nackt…« Es ist klar, dass Neurone überhaupt keinen Willen haben, dass die Kategorie der Nacktheit ihnen Wesens-inkompatibel ist, und dass ein Hirn (allein) nicht denken, fühlen, Brachland überwinden kann. Nur das Individuum denkt, fühlt, verfolgt Interessen… Es handelt sich also um eine Form der Vermenschlichung, der Belegung von Organen mit eigentlich nur Personen zukommenden Attributen. Es liegt ein kategorialer Fehler vor, indem einem Teil Eigenschaften des Ganzen zugeschrieben werden (= mereologischer Fehlschluss) (Bennett und Hacker 2010). Nur didaktische Gründe rechtfertigen vielleicht einen derartigen Sprachgebrauch, den Einsatz entsprechender Metaphern.
Die Sprache kann aber verführen. Insofern gilt es achtsam zu sein und die Phänomene hinter der Terminologie adäquat zuzuordnen ( Kap. 2.7).
Die letzte Durchsicht des über zweieinhalb Jahre entstandenen Textes zeigte doch einige Wiederholungen. Einzelne Aspekte der Arbeit des Gehirns tauchen immer wieder auf. Durch das Bemühen, jedes Kapitel in sich verständlich zu gestalten, sind Wiederholungen innerhalb des Buchs jedoch unvermeidlich. Man kann also auch am Ende oder in der Mitte beginnen. Für manche ist es vielleicht speziell attraktiv, mit den klinischen Fallbeispielen anzufangen ( Kap. 6).
Und Beispiele beziehen sich des Öfteren aufs Tanzen, Sport treiben, Musizieren, sowie auf CIMT und Striche auf dem Boden bei einer Parkinson-ähnlichen Symptomatik. Wenn Sie genervt sind, schreiben Sie eine deftige Mail: [email protected]. Oder Sie freuen sich, etwas wieder zu erkennen und verweilen kurz beim neuen Kontext.
Abb. 5: Die drei SäulenDiese werden in den folgenden Kapiteln immer wieder in Beziehung gesetzt werden. Das Individuum würde darauf aufbauen – wäre also in diesem Schema wie ein Zeltdach in der nächsten Dimension einzuzeichnen.
Wofür ist das Gehirn da? Die Erde existiert seit etwa 4,5 Milliarden Jahren. Gehirne gibt es etwa eine halbe Milliarde Jahre. Dies deutet darauf hin, dass sie sich irgendwie bewährt haben.
Die Bedeutung neuronaler Netze bzw. Gehirne kann in etwa mit der Rolle eines architektonischen Planungsbüros beim Bau eines großen Gebäudes verglichen werden. Die Planer tragen nicht, schrauben und gießen nicht, fügen nichts zusammen, sondern sorgen dafür, dass all die unterschiedlichen Funktionen und Schritte zeitlich und räumlich koordiniert durchgeführt werden – im Sinne des Gesamtprojekts. Sie informieren, geben Vorgaben und Pläne, und korrigieren. Und sie lassen sich teuer bezahlen – normalerweise teurer als die konkret Schaffenden. So ist es auch mit dem Gehirn. Die Neurone verbrauchen mehr Energie (Sauerstoff, Glukose) als fast alle anderen Zellen. Weil sie es uns wert sind. Wahrscheinlich kann man eine einfache Holzhütte auch ohne Architekten bauen. Einen Wolkenkratzer aber würde keiner ohne einen ganzen Stab von Planern errichten wollen. Und die Regelung des Lebens der Säugetiere entspricht dem Bau eines Wolkenkratzers.
Übergeordnetes Ziel – auch der neuronalen Vernetzung – ist also das Überleben bzw. Zurechtkommen des Organismus, des Individuums. Strenge Evolutionsbiologen würden ergänzen: und das Überleben des Individuums wiederum dient eigentlich der Weitergabe der Gene.
Schon aus der Genese von Nervenzellen, eben aus Körperzellen, ergibt sich die enge Verbindung zum weiteren Organismus ( Abb. 4). So wie eine leitende Stabsstelle nur Sinn macht, wenn sie den produzierenden Betrieb kennt und direkt darauf bezogen vermittelt sowie ständig aus dem Betrieb Informationen erhält. So ist auch das Gehirn auf extero- und interozeptive Signale angewiesen. Die elementare Einbettung des nur scheinbar so selbstherrlich und autark regierenden Gehirns in den gesamten Organismus wurde in den letzten Jahren wieder betont. Ohne die Signale aus dem Körper – etwa im Rahmen einer Querschnittssymptomatik – verändern sich nicht nur die Vigilanz, die Wachheit, sondern auch die Stimmungen und Emotionen und das damit verbundene intuitive Begreifen. Man verliert dann also eine wesentliche lebensregulative Kraft.
Als Interozeption werden die Signale aus dem Inneren des Körpers bezeichnet, vom Darm, von der Blase und den weiteren inneren Organen. Sie gelangen meist nicht ins Bewusstsein, spielen aber dafür, dass wir uns »selbst« fühlen und die darauf aufbauende Stimmung eine große Rolle. Auch diese Afferenzen sind in bestimmten Karten – u. a. im Bereich der Insel – angeordnet. Das Bauchgefühl ist eine Umschreibung, die auf den ständigen Austausch zwischen Hirn und Gekröse hinweist. Die beiden teilen auch eine Währung, u. a. die Transmission über Serotonin. Hirn an Darm: «Halt dich zurück, es geht gleich um Flucht«. Darm an Hirn: »Hier gibt es viel Gegrummel, also brauchen wir einen Rückzugsort«. Oder: »Hier ist alles wohlig und entspannt« – und entsprechend färbt das Gehirn dann auch seine weiteren Wertungen.
Körperkarten existieren natürlich auch von unserem Äußeren, den Extremitäten, dem Gesicht etc. Sie entsprechen in der physiologischen Form der Sensomotorik, wie sie vom Homunkulus bekannt sind. Wenn ich also meine Nase berühre, werden die sich dort befindlichen kortikalen Nasenneurone aktiv. Mit diesen Repräsentationen ist unser Körperschema verbunden. Und darauf wiederum bauen wir ein Körperbild auf, eine psychologische Konstruktion. Wie extrem die physiologische Körperkarte und dieses Bild auseinanderfallen können, wird in der Kasuistik über die Anorexie thematisiert. Die physiologische kortikale Körperkarte und auch die psychologische Konstruktion des Körperbildes sind prinzipiell plastisch, sind beeinflussbar. Eben dies kann man therapeutisch nutzen (wie es auch in den Fallbeschreibungen über den chronischen Schmerz und über die Probleme eines Querschnittspatienten angesprochen wird). In den Kapiteln über kortikale Plastizität wird näher auf die Adaptivität dieser Strukturen eingegangen.
Wir können uns auch bzgl. des eigenen Körpers etwas vormachen ( Kap. 4.3.8). Wenn wir uns Botulinumtoxin spritzen lassen, und uns dann morgens im Spiegel ein glatteres Gesicht entgegenstrahlt, dann wirkt sich das auf unser Körperbild aus, und auch auf die damit verbundene Einschätzung, wie schön und jung wir sind. Das kann die Stimmung beeinflussen. In diesem Sinne können kosmetische Maßnahmen antidepressiv wirken.
Auch dies zeigt, dass das Gehirn in einem ständigen Austausch steht. Es enthält Informationen aus dem eigenen Körper und der externen Welt ( Abb. 4). Und diese Informationen beeinflussen die zerebralen Konstruktionen. Es bleiben aber Konstruktionen – was auf den Eigenanteil des Gehirns hinweisen soll. Wie ein impressionistischer Maler, der im Kornfeld steht, und dies dann eigen verarbeitet – also seine Wahrnehmung des Kornfelds konstruiert.
Speziell Imagination, Halluzination, Träume sind kreative Eigenleistungen des Gehirns – und vom Individuum oft kaum von realen Bezugnahmen zu unterscheiden. Sie bleiben aber abgeleitete Formen des Primären, nämlich der Beschäftigung mit dem eigenen Körper sowie der externen und sozialen Welt. Auch ein Spiegelbild kann ja manchmal nicht von der Realität unterschieden werden, und es kann – ebenso wie Träume und Halluzinationen – zu realen Aktionen führen, etwa zu Erschrecken oder Flucht. Aber es bleibt doch eine abgeleitete, eben eine gespiegelte Form. Damit ist zu den zwei Welten übergeleitet.
Für den Homo, den Menschen, gab es immer schon zwei Welten, in denen er zurechtkommen musste: die externe Welt mit Höhen und Tiefen, Kälte und Hitze, Nahrungsangebot und -mangel, Jägern und Beutetieren, also Chancen und Gefahren. Und die soziale Welt mit dem Bedürfnis, einer Gemeinschaft anzugehören, und der Angst, ausgestoßen zu sein – also mit Isolation und Integration, mit Kooperation und Konkurrenz. Die Prägung des Gehirns – und damit der menschlichen Existenz – durch diese beiden Welten soll im Folgenden näher besprochen werden ( Abb. 4).
Es wird im Folgenden immer wieder darauf Bezug genommen, dass sich auch das Gehirn evolutionär entwickelt hat. Irgendwann gingen aus Körperzellen spezielle Zellen hervor, Neurone (vor etwa 650 Millionen Jahre). Sie stellten einen Anpassungsvorteil dar – und »durften deswegen bleiben«. Die Nervenzellen übernahmen ganz spezielle Aufgaben. Es ging um Informationsübertragung bzw. Kontaktvermittlung intern und extern. Dann verbanden sie sich, es entstanden Netze, Ganglien. Die Speicher- und Verarbeitungskapazitäten wuchsen, und damit die Anpassungsfähigkeit des Organismus. Und dann entstanden die ersten Gehirne (bei den Wirbeltieren vor etwa 400 bis 500 Millionen Jahren; den Menschen, die Gattung Homo, gibt es seit etwa 2,5 Millionen Jahren, ebenfalls mit Gehirn). Lange Zeit war evolutionär nicht entschieden, ob es sich um eine Luxusentwicklung oder eine sinnvolle Innovation handelte. Immerhin ist so ein Gehirn kostspielig, es verbraucht ungewöhnlich viel Energie – etwa das 10-fache im Vergleich zu den meisten anderen Körperzellen. Die Möglichkeiten des Reagierens aber und vor allem des Agierens – aufgrund von Gedächtnis und Lernen – nahmen zu. Es ging um das Zurechtkommen in zwei Welten - der externen und der sozialen. Auf die Aufgaben in diesen Welten ist das Gehirn bezogen, hat sich daran entwickelt. Sein Aufbau und seine Funktionen werden in diesen Kontexten verständlich.
Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt. Es handelt sich um einzelne Schlaglichter ganz unterschiedlicher Herkunft – aus dem Gebiet der Psychologie, der Entwicklungsneurologie, der Wahrnehmungsphysiologie oder der evolutionären Anthropologie. Die Beiträge stehen für sich, sind nicht direkt aufeinander bezogen. Der gemeinsame Bezug besteht darin, dass sie verdeutlichen, wie die Anforderungen und Chancen zum einen der gegenständlich-externen und zum anderen der sozialen Welt das Gehirn geformt haben – und damit die Grundlage unseres Verhaltens darstellen.
Auf diese muss sich ein Organismus bzw. Individuum einstellen. Man kann gegen etwas laufen, von oben erschlagen werden, mit Dingen werfen, sich hinter etwas verstecken… Und die Gegenständlichkeit muss vom Gehirn – speziell visuell – aufgenommen werden: Ein identisches Objekt erscheint in der Nähe größer. Unser Gehirn hat aber schon vor vielen hunderttausend Jahren gelernt, dass es so etwas wie Objektkonstanz gibt, dass das Objekt also in der Nähe nicht wirklich gewachsen ist. Also hat es diese perzeptiven Veränderungen schon »eingespeist«. Der zerebrale Rezeptions- und Verarbeitungsapparat ist auf die externe Welt bezogen, bildet diese ab – genauso wie die Welt eben aufgrund der Spezifika der Verarbeitung in einer bestimmten Art und Weise konstruiert wird.
Wesentliche Teile der menschlichen Evolution hängen mit dem Klima, der externen Temperatur, mit Bodenbeschaffung, Wassernähe und den daran gebundenen Nahrungsoptionen zusammen. Und dies hat auch Struktur und Funktionsweise des Gehirns geprägt. Vor Millionen von Jahren ergab sich die Option einer Lebensweise in der Savanne. Dies stellte auch eine Herausforderung für das Seh-System dar. Es wurde in ganz anderer Weise als auf den Bäumen gefordert. Der Mensch als visuell dominiertes Wesen wurde geboren – u. a. mit der Fähigkeit, Entfernungen genau einzuschätzen.
Auch die Vorlieben der Menschen für bestimmte, übersichtliche Landschaften, für die Nähe zum Wasser, auch für die Sicherheit der Höhle oder des geschlossenen Raums haben ihre Wurzel in der ökologischen Prägung.
Abb. 6: Konkaver und konvexer räumlicher Eindruck durch bestimmte Schattierung.Das Licht kommt von oben (zumindest war es über Millionen Jahre so) und fällt einmal in die konkave Mulde leuchtet damit den unteren Teil aus (rechte Seite) – und beleuchtete das andere Mal die konvexe Vorwölbung von oben (linke Seite).
Ein weiteres Beispiel: Die Sonne hat ihre Sicht der Dinge, ihren Schattenwurf, in den menschlichen Wahrnehmungsapparat eingebrannt. Wir interpretieren die Welt automatisch im Sinne der von oben kommenden Lichtverhältnisse ( Abb. 6; in Anlehnung an Ramachandran 2005; und Abb. 7).
Die Sonne des Herzens ist erst eine Erfindung der modernen Schlagerwelt – und konnte diese Wahrnehmung nicht modifizieren.
Abb. 7: Helligkeitsverteilung auf dem Papier– und dreidimensionale Wahrnehmung (von Peter Weber)
Der Homo war immer schon in der externen Welt und musste sich damit auseinandersetzen. Diese »Pflicht« wurde zu einer genetisch verankerten Lust. Das Interesse an den Dingen ist in der Ontogenese deutlich zu erkennen: Kleine Kinder probieren herum, bauen mit Klötzen, stecken Dinge zusammen etc. Es besteht eine intrinsische Motivation, die sicher auch eine Wurzel des späteren künstlerischen, handwerklichen und wissenschaftlichen Agierens ist.
Die externe Welt bietet die Möglichkeit, Dinge als Mittel zum Zweck einzusetzen. Auch andere Hominiden tun dies, indem z. B. Schimpansen ganz bestimmte Steine nutzen, um Nüsse zu knacken. Der Mensch lernte dann, komplexere Werkzeuge herzustellen. Die Idee des fertigen Geräts bestimmte die Herstellungsschritte. Dies ist ein Ausdruck von Abstraktion, da ja das Agieren schon das Endprodukt (abstrakt) voraussetzt. Diese Mentalisierung wird als einer der ganz essentiellen Schritte in der Entwicklung des Homo sapiens angesehen.
Die Notwendigkeit zu jagen in Kombination mit den angesprochenen kognitiven Fähigkeiten führte dann zur Herstellung der ersten Wurfgeschosse. Der Gebrauch der Speere und weiteren Werkzeuge wird von einigen Anthropologen als evolutionärer Druck in Richtung der Herausbildung einer neuen zerebralen Motorik gesehen: Es mussten zeitlich rasch und genau koordiniert verschiedene Muskelgruppen angesteuert werden. Dies war durch ein sequentielles Feedback-Agieren nicht möglich – man kann also die Rückmeldung über das Ausholen und Strecken des Armes nicht abwarten, bis man die folgenden Schritte einleitet. Der gesamte Vorgang musste vielmehr im Sinne eines Musters gespeichert werden (Calvin 1995). Diese Zusammenfassung komplexer motorischer Vorgänge sehen wir heute in der Extremform beim Pianisten oder Turner. Sie können unmöglich die einzelnen motorischen Schritte nacheinander abrufen, auch wenn das Erlernen mühsam war und z. T. über eine sukzessive Aneignung lief. Wenn der Akt dann mal gekonnt wird, läuft er fast automatisch so ab. Dies impliziert auch, dass in dem Stadium eine Veränderung schwierig ist. Ein eingeübter Fehler lässt sich nur schwer korrigieren.
Die Muster- bzw. Speicher- Organisation könnte auch die Plattform für die neuronale Repräsentation der Sprache gebildet haben. Diese setzt ja die Steuerung ganz verschiedener motorischer Outputs voraus, die in toto im Hirn präformiert sein müssen.
Die Welt war und ist immer eine multimodale. Das heißt, visuelle und haptische, ggf. akustische, olfaktorische und vestibuläre Eindrücke treten zusammen auf. Entsprechend ist das Gehirn auf ein derartiges Angebot eingerichtet (s. auch »multimodale Neurone«; Abb. 32). Und wahrscheinlich tun wir gut daran, wenn wir es auch in diesem Sinne immer mal wieder »füttern«. Auch das Erinnern fällt im Allgemeinen leichter, wenn ein bestimmter Vorgang multimodal erfahren, abgespeichert und abgerufen wird. So kann die Entwicklung des kindlichen Mengenbegriffs unterstützt werden, wenn Mengen sichtbar aufgebaut, angefasst, ggf. farblich unterschiedlich demonstriert werden. Im Medizinstudium kann es hilfreich sein, wenn die menschliche Anatomie auch im wörtlichen Sinne erfasst (und im Präparierkurs auch errochen) wird.
Therapeutische Implikationen liegen auf der Hand: Material kann unterschiedlich aufgearbeitet, präsentiert werden. Die Ergänzung des Visuellen mittels haptischer und akustischer Informationen ist z. B. ein gängiger ergotherapeutischer Ansatz.
Aus den evolutionären Überlegungen wird verständlich, dass wir Menschen externalisieren müssen. Damit ist hier gemeint: Überlegungen, Optionen, Pläne werden gern aufgezeichnet, dargestellt – eben extern vergegenständlicht. Dann können wir unser Potential nutzen, das sich an der Beschäftigung mit der externen Welt gebildet hat. Die entsprechende Darstellung ermöglicht einen neuen Zugang. Mit dem so sicht- oder hör- oder anfassbaren Material kann man besser umgehen, Erweiterungen oder Alternativen durchspielen. Beispiele: Die Kommissare nutzen große Tafeln, um in einem Bild Verdächtige, Orte und Bezüge darzustellen; Architekten konstruieren ein Modell, um die einzelnen Teile im Zusammenhang zu verstehen – bzw. alle zusammen als Ganzes auf sich wirken zu lassen.
Gleichzeitig verweist diese Vergegenständlichung auf die Möglichkeit zu einem Austausch. Andere können dann z. B. auf eine Idee, einen Plan, ein Vorhaben, Bezug nehmen – und eine Kommunikation wird möglich. Das Modell der Architekten kann z. B. von Fachleuten, Geldgebern, der Öffentlichkeit kommentiert werden. Und die Wahrnehmung der Tafel im Kommissariat kann dazu führen, dass auch Kolleginnen der anderen Abteilung eine neue Hypothese formulieren, einen alternativen Aspekt herausstellen. Die Externalisierung hat also Bedeutung im sozialen Miteinander – und stellt damit einen Übergang zum nächsten Part dar.
Der Mensch kommt aus der Gruppe. Und er ist ohne die Gemeinschaft nicht lebensfähig. Die soziale Einbindung ist evolutionär und ontogenetisch elementar, Motor und Prägung zugleich:
( Kap. 4.4.13)
Eben weil der Mensch ohne die Anderen nicht existieren kann, ist der Drang, dabei sein zu wollen, schon bei kleinen Kindern so deutlich. Es geht nicht um konkrete Inhalte, die geteilt werden wollen, sondern um das »In-der-Gruppe-Sein«. In früheren evolutionären Zeiten bedeutete das Ausgestoßen-Werden den direkten individuellen Tod. Insofern musste und muss man sich anpassen – und nachahmen. Das Hereinwachsen in die Kultur beruht wesentlich auf Imitation – und ermöglicht Miteinander. Gleichzeitig entstehen so Zeichen der Gruppen-Identität, die auch in der Abgrenzung zu anderen Gruppen Bedeutung haben (Sprache und Gebräuche, Kleidung und Schmuck bzw. Abzeichen).
Wir sind das ganze Leben – besonders in der Kindheit – auf die Erfahrung von Nähe und Sicherheit angewiesen. Dies wird im Kapitel 4.4.14 weiter ausgeführt.
In einer Gruppe kann man nur zusammenleben, wenn man sich auf das Agieren der Anderen einstellen kann. Dafür sorgen u. a. die Spiegelneurone ( Kap. 4.3.9