Nevernight - Das Spiel - Jay Kristoff - E-Book
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Nevernight - Das Spiel E-Book

Jay Kristoff

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Beschreibung

»Nevernight – Das Spiel« ist der zweite Band der epischen Fantasy-Serie von »New York Times«-Bestseller-Autor Jay Kristoff. Die epische Rachegeschichte geht weiter. Nachdem Mia einen der Männer umgebracht hat, die für die Zerstörung ihrer Familie verantwortlich sind, bleiben noch zwei über: Kardinal Duomo und Konsul Scaeva. Beide sind jedoch vor der Öffentlichkeit abgeschirmt und für Mia unerreichbar. Schlimmer noch: Die Rote Kirche selbst scheint Scaeva zu schützen … Um an ihn heranzukommen, geht Mia ein großes Risiko ein: Sie kehrt der Kirche den Rücken und begibt sich selbst in die Sklaverei, um als Gladiatorin an den Großen Spielen in Gottesgrab teilzunehmen. Mia merkt schnell, dass sie diesmal zu weit gegangen ist, denn auf dem blutigen Sand der Arena gibt es keine Gnade und nur eine Regel: Ruhm und Ehre – oder Tod. »Nevernight – Das Spiel« ist bildgewaltige Fantasy für die Leser von Anthony Ryan (»Das Lied des Blutes«), Patrick Rothfuss (»Der Name des Windes«), Sarah J. Maas (»Throne of Glass«) und Leigh Bardugo (»Das Lied der Krähen«).

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Seitenzahl: 941

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Jay Kristoff

Nevernight

Das Spiel

Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Prolog]Dramatis Personae[Motto]Erstes Buch Das rote Versprechen1 Parfüm2 Feuermess3 Schatten4 Opfergabe5 Hingabe6 Sterblichkeit7 Hunger8 Gebete9 Schritte10 Geheimnisse11 Donner12 OffenbarungZweites Buch Blut und Ruhm13 Ausstieg14 Atmen15 Recht16 Honig17 Sturmwacht18 Gloria19 Aufgabe20 Drei21 Bitte22 Stille23 Weißfeste24 ObsidianDrittes Buch Das Spiel25 Fäulnis26 Silber27 Trennung28 Narben29 Aufstand30 Zwischenspiel31 Wahrlicht32 Sanfte Berührung33 Anfangen34 Magni35 Weg36 GottesgrabDicta Ultima[Karte: Gottesgrab – Die Stadt aus Brücken und Gebein]Danksagung

Für meine Feinde

Ohne euch hätte ich es nicht geschafft

Gut Wende euch, meine edlen Freunde. Wie schön, euch wiederzusehen.

Ich gestehe, ich habe euch in der Zwischenzeit vermisst. Und wie gern begrüßte ich euch jetzt, da wir wieder vereint sind, mit einem Lächeln und überließe euch sogleich der Schilderung von Mord und Rache, gewürzt mit einer wohldosierten Prise geschmackvoll formulierter Unanständigkeiten. Doch bevor wir wieder zusammen zwischen die Seiten schlüpfen, kann ich nicht umhin, ein warnendes Wort vorauszuschicken.

Die Erinnerung ist eine Verräterin, eine Lügnerin und eine nichtsnutzige Diebin. Und auch, wenn sich die Besetzung unserer Erzählung sicherlich tief in eure Gedankenwelt eingebrannt hat, müssen wir doch auch auf die Geringeren unter euch Sterblichen Rücksicht nehmen.

Wie wäre es also mit einer kleinen Auffrischung?

Dramatis Personae

Mia Corvere – Assassine, Diebin und Heldin unserer Erzählung – wenn man überhaupt von einer Heldin sprechen kann. Ihr Vater Darius wurde auf Befehl des itreyanischen Senats hingerichtet, Mia schwor Rache und ließ sich von dem gefürchtetsten Assassinenbund der Republik, der Roten Kirche, in der Kunst des Tötens ausbilden.

Obgleich sie die Aufnahmeprüfung nicht bestand, wurde sie nachträglich zur Klinge (sprich, zur Assassine) ernannt, nachdem sie den Meistern der Kirche bei einem Luminatii-Angriff das Leben gerettet hatte.

Mia ist von itreyanisch-liisianischer Herkunft. Und sie ist eine Dunkelinn – jemand, der die Dunkelheit beherrschen kann. Allerdings weiß sie selbst nur wenig über die eigenen Kräfte, und der einzige andere Dunkelinn, den sie je kennenlernte, starb leider, bevor er ihr die ersehnten Antworten geben konnte.

Tragisch, ich weiß.

 

Herr Freundlich – ein Dämon, Mitreisender oder Vertrauter (je nachdem, wen man fragt) aus Schatten, der Mias Angst verschlingt. Er rettete ihr, als sie noch ein Kind war, das Leben, und er behauptet, selbst nur wenig über seine wahre Natur zu wissen. Allerdings ist er dafür bekannt, dass er hin und wieder lügt.

Er erscheint in Gestalt einer Katze, obwohl er ganz und gar keine ist.

 

Eclipse – ein weiterer Schattendämon, allerdings in Wolfsgestalt. Eclipse war die Mitreisende von Lord Cassius, dem früheren Oberhaupt der Roten Kirche. Als Cassius beim Angriff der Luminatii starb, band sich Eclipse an Mia.

Wie es mit Hunden und Katzen meistens so ist: Sie und Herr Freundlich verstehen sich nicht besonders gut.

 

Der alte Mercurio – Mias Lehrer und väterlicher Freund, bevor sie zur Roten Kirche stieß. Mercurio war selbst lange Jahre eine Klinge der Kirche, hat jedoch den aktiven Dienst quittiert und lebt jetzt in Gottesgrab. Der alte Itreyaner besitzt einen Laden, Mercurios Curiositäten, und ist der Schwarzen Mutter noch immer verpflichtet.

Davon abgesehen ist er der schlechtgelaunteste Drecksack, den man unter den drei Sonnen finden kann.

 

Tric – ein Akolyth der Roten Kirche, darüber hinaus Mias Freund und Geliebter. Tric war von itreyanisch-dweymerischer Herkunft. Eigentlich hätte er zur Klinge ernannt werden sollen, doch dann rammte ihm Ashlinn Järnheim mehrfach ein Messer ins Herz und stieß ihn am Stillen Berg in den Abgrund.

Um das Versprechen zu halten, das sie Tric gegeben hatte, ermordete Mia daraufhin Trics Großvater Schwertbrecher, den König der Dweym-Inseln.

Was ein wenig unbedacht war, wenn man es sich recht überlegt …

 

Ashlinn Järnheim – eine Akolythin der Roten Kirche und früher einmal eine von Mias engsten Freundinnen. Ash stammt aus Vaan und ist die Tochter Torvar Järnheims, der früher ebenfalls einmal als Klinge diente. Um sich für die Verstümmelungen zu rächen, die er im Dienst der Mutter erlitt, ersannen er und seine Kinder einen Plan, der die Kirche vernichtet hätte, wäre Mia ihrer Verschwörung nicht rechtzeitig auf die Schliche gekommen.

Ashs Bruder Osrik kam bei den folgenden Kämpfen ums Leben, aber Ashlinn konnte fliehen.

Ihre Gefühle für Mia beschreibt man wohl am besten als … kompliziert.

 

Naev – eine Gehilfin der Roten Kirche und eine enge Freundin Mias. Sie führt die Versorgungszüge für die Kirche durch die Wisperwüste. Naev wurde von der Weberin Marielle aus Eifersucht entstellt, aber als Dank für Mias Hilfe während des Luminatii-Angriffs gab Marielle Naev ihre frühere Schönheit zurück.

Naev vergisst und vergibt niemals – einer der Gründe, weswegen sie sich mit Mia so gut versteht.

 

Drusilla – die Verehrte Mutter der Roten Kirche und trotz ihres scheinbar hohen Alters eine der tödlichsten Dienerinnen der Schwarzen Mutter überhaupt. Drusilla ließ Mia bei ihrer letzten Prüfung durchfallen, und nur auf Betreiben von Cassius, dem Herrn der Klingen, wurde Mia im Nachhinein doch noch zur Klinge ernannt.

Drusilla ist, um es einmal vorsichtig auszudrücken, nicht gerade Mias größter Fan.

 

Solis – der Shahiid der Lieder, der die Akolythen der Roten Kirche in der Kampfkunst unterweist. Mia fügte ihm bei ihrem ersten Übungskampf einen Schnitt im Gesicht zu. Solis schlug ihr im Gegenzug den Arm ab.

Wie ihr euch denken könnt, kommen die beiden wunderbar miteinander zurecht.[1]

 

Spinnentod – wurde schon das fünfte Jahr in Folge zur »gefährlichsten Shahiide für das Leben ihrer eigenen Schüler« gekürt und ist die Herrin des Saals der Wahrheiten. Mia war eine ihrer begabtesten Akolythinnen, aber nachdem sie Drusillas letzte Prüfung nicht bestand, ist ihr auch Spinnentod nicht mehr besonders gewogen.

 

Mauser – der Shahiid der Taschen und Meister der Diebe. Charmant, schlagfertig und dem Entwenden von Gegenständen ebenso zugetan wie dem Tragen von Damenunterwäsche. Der Itreyaner fühlt Mia gegenüber keine große Feindschaft, was ihn beinahe schon zum Vorsitzenden ihres Fanclubs macht.

 

Aalea – die Shahiide der Masken und Meisterin der Geheimnisse. Es heißt, es gäbe auf der Welt nur zwei Arten von Leuten: jene, die Aalea lieben, und jene, die ihr noch nicht begegnet sind.

Sie scheint Mia tatsächlich sehr gernzuhaben.

Schockierend, was?

 

Marielle – eine der beiden Albino-Sorcerii im Dienst der Kirche. Marielle ist eine Meisterin der alten ysiirischen Magik des Körperwebens und in der Lage, Haut und Muskeln so zu formen, als wären sie aus Ton. Der Preis, den sie für ihre Fähigkeit bezahlt, ist jedoch hoch – ihr eigener Körper ist scheußlich anzusehen, und es steht nicht in ihrer Macht, etwas daran zu ändern.

Marielle schert sich nicht um andere Menschen, außer um ihren Bruder Marius – um den jedoch vielleicht zu viel.

 

Marius – der zweite Sorcerii, der im Stillen Berg dient. Marius ist ein Blutbeschwörer und kann den Lebenssaft eines Menschen manipulieren. Dank den Künsten seiner Schwester ist er unvergleichlich attraktiv.

Allerdings meine ich, mich an ein altes Sprichwort zu erinnern: Es ist nicht alles Gold, was glänzt …

 

Aelius – der Chronist des Stillen Bergs, der die Aufgabe versieht, eine gewisse Ordnung in das große Athenaeum der Roten Kirche zu bringen.

Wie alles andere in Niahs Bibliothek ist auch Aelius tot.

Ein Umstand, dem er offensichtlich etwas zwiespältig gegenübersteht.

 

Husch – ein ehemaliger Akolyth der Roten Kirche, inzwischen zur Klinge ernannt. Husch spricht nie, sondern kommuniziert in einer Art Zeichensprache, die Lautlos genannt wird.

Der Itreyaner half Mia bei ihren letzten Prüfungen, betonte jedoch, dass sie keine Freunde seien.

 

Jessamin Gratianus – eine Akolythin der Roten Kirche aus Mias Jahrgang, die jedoch nicht zur Klinge ernannt wurde. Jessamin ist die Tochter des Marcinus Gratianus, eines itreyanischen Zenturios, der für seine Treue zu Darius »Königsmacher« Corvere – genau, Mias Vater – hingerichtet wurde. Jess macht Darius für den Tod ihres Vaters verantwortlich, und da sie ihn aus naheliegenden Gründen nicht mehr belangen kann, richtet sich ihr Groll gegen Mia, obwohl die beiden Mädchen eigentlich sehr viel gemeinsam haben.

Beispielsweise den Wunsch, Konsul Julius Scaeva aufzuschlitzen wie ein Schwein.

 

Julius Scaeva – dreimal hintereinander gewählter Konsul des itreyanischen Senats. Seit der Niederschlagung der Königsmacher-Rebellion vor sechs Jahren regiert er allein, obwohl eigentlich zwei Konsuln an der Spitze der Regierung stehen sollten, und das auch nur für eine Amtszeit. Aber für Scaeva scheinen diese Regeln nicht zu gelten.

Die Hinrichtung von Mias Vater wurde auf seinen Befehl und in seiner Gegenwart vollstreckt, und er verurteilte ihre Mutter und ihren kleinen Bruder dazu, im Stein der Weisen zu verschmachten. Außerdem ordnete er an, dass Mia in einem Kanal ersäuft werden sollte.

Ja, er ist ein ziemliches Arschloch.

 

Francesco Duomo – Großkardinal der Kirche des Lichts und mächtigster Mann in der Priesterschaft des Ewigsehenden. Gemeinsam mit Scaeva und Remus fällte er die Urteile über die Königsmacher-Rebellen.

Duomo ist die rechte Hand des Aa auf Erden. Der bloße Anblick eines heiligen Relikts, das von einem Mann seiner Überzeugung gesegnet wurde, reicht aus, um Mia größte Qualen zu verursachen.

Von daher könnte es sich als etwas knifflig erweisen, ihn abzustechen und ausbluten zu lassen.

 

Justicus Marcus Remus – ehemaliger Justicus der Luminatii-Legion und Befehlshaber beim Angriff auf den Stillen Berg. Während der sich zuspitzenden Konfrontation mit Mia machte Remus einige kryptische Bemerkungen über ihren Bruder Jonnen. Bevor er sich aber genauer hatte erklären können, erstach Mia den Justicus.

Zu seinem Verdruss, wie sich denken lässt.

 

Alinne Corvere – Mias Mutter. Obwohl in Liis geboren, stieg Alinne in den Sälen der itreyanischen Republik zu großem Einfluss auf. Sie war ein politisches Genie und eine Dona von nicht geringem Ansehen und Willenskraft. Während ihrer Gefangenschaft im Stein der Weisen, jener Kerkerfestung, in die man sie und ihren kleinen Sohn nach der gescheiterten Rebellion ihres Mannes gebracht hatte, starb sie elend in geistiger Umnachtung.

O ja, ich habe sie auch sehr gemocht.

 

Darius »Königsmacher« Corvere – Mias Vater. Noch als Justicus der Luminatii-Legion tat er sich mit dem General Gaius Maxinius Antonius zusammen, um diesen auf den Königsthron zu heben. Die beiden Männer stellten eine beachtliche Armee auf und marschierten gegen die eigene Hauptstadt, wurden aber am Vorabend der Schlacht gefangen genommen. Der Anführer beraubt, zerbrach ihr Heer. Ihre Soldaten wurden gekreuzigt, und Darius selbst wurde an der Seite seines Königskandidaten Antonius gehängt.

So nahe beieinander, dass sie sich fast hätten berühren können.

 

Jonnen Corvere – Mias Bruder. Er war zur Zeit der Rebellion seines Vaters noch ein Baby und wurde auf Befehl Julius Scaevas zusammen mit seiner Mutter in den Stein der Weisen gesperrt. Dort starb er, bevor Mia die Chance hatte, ihn zu retten.

 

Aa – der Vater des Lichts, auch der Ewigsehende genannt. Die drei Sonnen – bekannt als Saan (Sehend), Saai (Wissend) und Shiih (Beobachtend) – gelten als seine Augen, und tatsächlich ist meist mindestens eines am Himmel zu sehen. Das führt dazu, dass eine echte Nacht, auch Wahrdunkel genannt, nur alle zweieinhalb Jahre für eine Woche eintritt.

Aa ist ein wohlmeinender Gott, freundlich gegen seine Untertanen und gnädig gegen seine Feinde. Behaupten jedenfalls die Priester. Und wenn ihr das glaubt, edle Freunde, verkaufe ich euch eine Gottesgraber Brücke.

 

Tsana – die Herrscherin des Feuers. Jene, die unsere Sünden hinfortbrennt, die Reine, die Schutzgöttin der Frauen und der Krieger und die erstgeborene Tochter von Aa und Niah.

 

Keph – die Herrscherin der Erde. Jene, die ewig schläft, die Esse, Schutzgöttin der Träumer und Narren und die Zweitgeborene von Aa und Niah.

 

Trelene – die Herrscherin der Meere. Jene, die einmal die Welt trinken wird, das Schicksal, Schutzgöttin der Seeleute und Halunken, die drittgeborene Tochter von Aa und Niah und Zwillingsschwester von Nalipse.

 

Nalipse – Herrscherin der Stürme. Jene, die sich erinnert, die Gnadenreiche, Schutzgöttin der Heiler und Anführer, Viertgeborene von Aa und Niah und Zwillingsschwester von Trelene.

 

Niah – Mutter der Nacht. Unsere Hohe Frau gesegneten Mordes, auch bekannt als die Gurgel. Als Schwesterweib des Aa herrscht Niah über ein lichtloses Gebiet im Jenseits, das als der Abgrund bekannt ist. Ursprünglich übernahmen sie und Aa die Herrschaft über den Himmel zu gleichen Teilen. Doch dann widersetzte sich Niah dem Gebot ihres Gatten, nur Töchter zu gebären, und schenkte Aa einen Sohn. Zur Strafe wurde sie von ihrem Geliebten vom Himmel verbannt und darf nur alle paar Jahre für kurze Zeit zurückkehren.

Und was dann wohl mit ihrem Sohn geschah?

Wie ich schon letztes Mal sagte, edle Freunde, davon zu berichten würde zu viel verraten.

Der Wolf hat kein Mitleid mit dem Lamm. Der Sturm bittet die Ertrinkenden nicht um Vergebung.

MANTRA DER ROTEN KIRCHE

Erstes BuchDas rote Versprechen

1Parfüm

Nichts stinkt so übel wie ein Leichnam.

Es dauert eine Weile, bis es damit so richtig losgeht. Na schön, die Chancen stehen gut, dass man sich sowieso schon im Augenblick des eigentlichen Ablebens in die Hosen macht oder aber kurz danach – so ist das nun einmal mit dem menschlichen Körper. Aber ich meine gar nicht den ordinären Gestank von Scheiße, edle Freunde. Ich spreche von diesem Parfüm schlichter Sterblichkeit, das einem die Tränen in die Augen treibt. Vielleicht vergehen eine Wende oder zwei, aber wenn die Gala erst einmal in vollem Gange ist, dann wird man sie so schnell nicht vergessen.

Bevor die Haut schwarz wird und die Augen weiß und der Bauch sich aufbläht wie ein entsetzlicher Ballon, geht es schon los. Es lieg eine gewisse Süße in dem Geruch, die einem die Kehle hinunterkriecht und den Magen rotieren lässt wie ein Butterfass. Wahrscheinlich spricht es etwas Urzeitliches im Menschen an. Jenen Teil in uns, der sich auch vor dem Dunkel fürchtet. Der weiß, ohne den Hauch eines Zweifels, dass es ganz egal ist, wer man ist oder was man tut: Irgendwann werden die Würmer ein Festmahl feiern, denn an irgendeiner Wende ist es so weit – man selbst und alles, was einem lieb und teuer ist, werden sterben.

Dennoch braucht es seine Zeit, bis Leichen so verwest sind, dass man sie meilenweit riechen kann. Und als Tränentrinkerin etwas von diesem scharfen, süßen Gestank in den ysiirischen Wisperwinden erschnupperte, war ihr daher sofort klar, dass die Leichen schon mindestens zwei Wenden dort lagen.

Und dass es verdammt viele sein mussten.

Sie brachte ihr Kamel mit einem kräftigen Ruck an den Zügeln zum Stehen, wandte sich zu ihrer Truppe um und hob die Faust. Der Kutscher des Zuges hinter ihr sah ihr Signal, und die lange, gewundene Kette aus Wagen und Zugtieren verlangsamte sich unter Spucken und Knurren und Trampeln. Die Hitze war brutal – zwei Sonnen brannten den Himmel blendend blau und die Wüste um sie herum gleißend rot. Tränentrinkerin griff nach dem Wasserschlauch, der an ihrem Sattel hing, und trank einen lauwarmen Schluck, während ihr Unterführer zu ihr aufschloss.

»Ärger?«, fragte Cesare.

Tränentrinkerin nickte in Richtung der Straße, die sich nach Süden zog. »Riecht jedenfalls so.«

Wie alle ihres Volkes war die Dweymeri groß – mindestens sechs Fuß sieben Zoll – und bestand nur aus Muskeln. Ihre Haut war tiefbraun, wobei ihre Gesichtszüge von den typischen, verschnörkelten Tätowierungen bedeckt waren, die alle Bewohner der Dweym-Inseln trugen. Eine lange Narbe teilte ihre Stirn und zog sich über das milchweiße linke Auge bis hinunter über die Wange. Sie war wie eine Seefahrerin gekleidet und trug einen Dreispitz und einen alten Kapitänsrock. Inzwischen jedoch bestanden die Meere, auf denen sie segelte, nur noch aus Sand, und die einzigen Planken, über die sie schritt, gehörten zu ihrem Planwagen. Nachdem sie bei einem Schiffsunglück ihre gesamte Crew mitsamt der Ladung verloren hatte, war Tränentrinkerin zu dem Schluss gelangt, dass die Mutter der Meere sie abgrundtief hasste – sie und jedes Schiff, auf dem sie fuhr.

Also hatte sie beschlossen, es mit der Wüste zu versuchen.

Die Kapitänin beschattete ihr Auge vor dem gleißenden Licht und spähte über das Land. Die Wisperwinde krallten sich in ihre Kleidung und rissen an jeder Faser, und sie spürte, wie die Härchen in ihrem Nacken kribbelten. Bis zu den Hängenden Gärten waren es immer noch sieben Wenden, und es war nicht ungewöhnlich, dass Sklavenjäger auch in der Sommertiefe an dieser Straße ihrem Gewerbe nachgingen. Aber noch standen zwei der drei Sonnen hoch am Himmel, und sie hoffte, dass es so kurz vor Wahrlicht zu heiß für einen dramatischen Überfall war.

Aber der Gestank war unverkennbar.

»Dogger«, rief sie. »Graccus, Luka, holt eure Waffen und folgt mir. Staubgänger, du schlägst weiter den Eisensang. Denn, das sag ich dir, wenn mir ein Sandkrake an der Muschi knabbert, werde ich aus dem Abgrund zurückkehren und dir dein bestes Stück abbeißen.«

»Aye, Käpt’n!«, rief der große Dweymeri zurück. Dann wandte sich Staubgänger wieder der Apparatur aus Eisenrohren zu, die auf dem letzten Wagen angebracht war, hob ein langes Rohr und schlug damit auf die anderen Stangen ein. Die misstönende Melodie des Eisensangs vermischte sich mit dem nervtötenden Wispern, das unaufhörlich über die nördliche Wüste pfiff.

»Was ist mit mir?«, fragte Cesare.

Tränentrinkerin grinste ihre rechte Hand an. »Du bist zu hübsch für unsere kleine Exkursion. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Bleib hier und behalte die Herde im Auge.«

»Die leiden alle ziemlich unter dieser Hitze.«

Sie nickte. »Gib ihnen Wasser, während du hier auf uns wartest. Sie können sich die Beine etwas vertreten. Aber lass sie nicht zu weit laufen, das ist hier eine üble Gegend.«

»Aye, Käpt’n.«

Cesare zog seinen Hut, während Dogger, Graccus und Luka ihre Kamele zu ihrer Anführerin hinüberlenkten. Trotz der sengenden Hitze trugen die Männer dicke Lederwesten, und Dogger und Graccus waren mit schweren Armbrüsten bewaffnet. Luka schwang wie immer seine Schleuderklingen, den Zigarillo lässig im Mundwinkel. Für den Liisianer waren Pfeil und Bogen Waffen für Feiglinge, und er war so gut mit seinen Schleudern, dass Tränentrinkerin ihm nicht widersprach. Wie er es aushielt, bei der Hitze noch zu rauchen, war ihr allerdings ein Rätsel.

»Klappe halten und Augen auf«, befahl sie jetzt. »Sehen wir uns das mal an.«

Das Quartett ritt ein Stück durch felsiges Ödland, dem Gestank entgegen, der mit jedem Augenblick heftiger wurde. Nun waren die Männer und ihre Kapitänin zwar die härtesten Drecksäcke, die man unter den drei Sonnen finden konnte, aber riechen tat man trotzdem. Dogger drückte einen Finger seitlich gegen seine Nase und blies erst aus einem und dann aus dem anderen Nasenloch eine ordentliche Portion Rotz, während er bei Aa und all seinen vier Töchtern fluchte. Luka zündete sich den nächsten Zigarillo an, und Tränentrinkerin überlegte kurz, ob sie ihn bitten sollte, sie einmal daran ziehen zu lassen, und wenn es noch so heiß war. Nur, um den Geruch aus der Nase zu bekommen.

Etwa zwei Meilen die Straße hinunter stießen sie auf die Überbleibsel einer kleinen Karawane. Zwei Anhänger und vier Kamele, die aufgedunsen im Licht der Sonnen lagen. Tränentrinkerin gab ihren Männern ein Zeichen, und sie alle stiegen ab, um sich mit gezogenen Waffen zwischen den Trümmern umzusehen. Die Luft war schwer vom Summen winziger Flügel.

Allem Anschein nach war es ein echtes Schlachtfest gewesen. Pfeile ragten aus dem Sand und spickten die Wagenseiten. Tränentrinkerin entdeckte ein herumliegendes Schwert. Einen geborstenen Schild. Eine lange Spur getrockneten Blutes, die wie die Kritzelei eines Verrückten aussah, und ein wildes Tanzmuster aus Fußabdrücken rund um ein erkaltetes Kochfeuer.

»Sklavenjäger«, murmelte sie. »Vor wenigen Wenden.«

»Jo«, sagte Luka nickend und zog an seinem Zigarillo. »Sieht so aus.«

»Käpt’n, ich könnte hier etwas Hilfe gebrauchen«, rief Dogger.

Tränentrinkerin ging um die getöteten Tiere herum, und Luka, der sie begleitete, wedelte die dicke Fliegensuppe beiseite. Sie sah Dogger, der seine Armbrust zwar gespannt hatte, aber nicht zielte, und die andere Hand beschwörend hob. Und obwohl er zu den Kerlen zählte, die sich beim Halsabschneiden vor allem darüber Sorgen machten, dass sie keine Blutspritzer auf die Schuhe bekamen, sprach er jetzt ganz sanft und leise, wie mit einer nervösen Stute.

»Ganz ruhig, ganz ruhig«, raunte er. »Alles in Ordnung, Mädchen …«

Noch mehr Blut war hier über den Sand gespritzt, dunkelbraun auf tiefem Rot. Nicht weit entfernt sah Tränentrinkerin die verräterischen Erdhügel frisch aufgeworfener Gräber. Und als sie ihren Blick in Doggers Richtung wandte, sah sie auch, auf wen er da so beruhigend einredete.

»Beim brennenden Schwanz des Aa«, murmelte sie. »Das ist ja mal ein Anblick.«

Ein Mädchen. Höchstens achtzehn. Bleiche Haut, ein bisschen versengt und gerötet vom Licht der Sonnen. Langes schwarzes Haar, über den dunklen Augen zu einer Ponyfrisur geschnitten, das Gesicht mit Dreck und getrocknetem Blut verklebt. Trotzdem erkannte Tränentrinkerin sofort, dass sie eine echte Schönheit vor sich hatte, mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Die Schönheit hielt einen zweischneidigen Gladius umklammert, dessen Klinge vom jüngsten Gebrauch schartig war. Um ihren Oberschenkel und um die Rippen hatte sie ein paar Lumpen gewickelt, deren Blutflecken offenbar älteren Datums waren als die auf ihrem Obergewand.

»Du bist ja eine hübsche kleine Blume«, sagte Tränentrinkerin.

»B-bleibt mir vom Leib«, warnte das Mädchen.

»Ganz ruhig«, schnurrte Tränentrinkerin. »Jetzt brauchst du dein Eisen nicht mehr, meine Kleine.«

»Das beurteile ich selbst, wenn’s Euch recht ist«, gab das Mädchen mit zitternder Stimme zurück.

Währenddessen glitt Luka seitlich an das Mädchen heran und streckte schnell die Hand aus. Aber sie fuhr blitzschnell herum, trat gegen sein Knie und stieß ihn in den Sand. Und dann musste der Liisianer keuchend feststellen, dass sie hinter ihn gehuscht war und die Spitze ihres Gladius unterhalb des Nackens gegen seine Haut presste. Seine Lippen, die wie immer den unvermeidlichen Zigarillo umklammerten, waren plötzlich staubtrocken.

Sie ist schnell.

Die Augen des Mädchens blitzten, als sie fauchte: »Bleibt mir vom Leib, oder ich bringe ihn um, das schwöre ich bei den vier Töchtern.«

»Dogger, geh mal ein Stück zurück, sei so gut«, befahl Tränentrinkerin. »Graccus, leg die Armbrust beiseite. Macht der jungen Dona mal ein wenig Platz.«

Sie behielt ihre Männer im Auge, während sie nun genug Abstand hielten, dass sich das Mädchen zumindest ein wenig entspannte. Dann trat die Kapitänin langsam und mit beruhigend erhobenen Händen vor.

»Wir wollen dir nichts tun, kleine Blume. Ich bin nur eine Kauffrau, und das sind meine Männer. Wir reisen zu den Hängenden Gärten, wir haben die Leichen gerochen und wollten mal nachsehen, was hier passiert ist. Das ist die Wahrheit. Bei Mutter Trelene, ich schwöre.«

Das Mädchen behielt Tränentrinkerin wachsam im Auge. Luka verzog den Mund, als die Klinge seinen Hals ritzte und Blutstropfen auf den Stahl perlten.

»Was ist hier passiert?«, fragte Tränentrinkerin, obwohl sie die Antwort schon kannte.

Das Mädchen schüttelte den Kopf, und Tränen quollen zwischen ihren Wimpern hervor.

»Sklavenjäger?«, fragte Tränentrinkerin. »Das ist hier eine üble Gegend.«

Die Lippen der Kleinen bebten, und sie umklammerte ihre Klinge fester.

»Warst du mit deiner Familie unterwegs?«

»M-mit meinem Vater«, stieß das Mädchen hervor.

Tränentrinkerin sah sie abschätzend von oben bis unten an. Sie war nicht groß und ziemlich dünn, aber kräftig und hart. Offenbar hatte sie sich unter den Wagen verkrochen und sich etwas Leinwand von der Bespannung abgerissen, um dahinter Schutz vor den Wisperwinden zu finden. Trotz des Gestanks war sie in der Nähe der Trümmer geblieben, wo es noch reichlich Vorräte gab und man sie zudem leichter finden würde. Sie war also schlau. Und obwohl ihre Hände zitterten, führte sie ihre Klinge doch so, als ob sie genau wusste, was sie da tat. Luka hatte seine Waffen schneller verloren als eine Braut das Höschen in der Hochzeitsnacht.

»Du bist keine Kaufmannstochter«, stellte die Kapitänin fest.

»Mein Vater war ein Söldner«, antwortete das Mädchen. »Er begleitete die Karawanen aus Nuuvash.«

»Wo ist dein Papa jetzt, kleine Blume?«

»Da drüben.« Ihr brach die Stimme. »Bei d-den anderen.«

Tränentrinkerin sah zu den frisch ausgehobenen Gräbern. Vielleicht drei Fuß tief. Trockener Sand. Wüstenhitze. Kein Wunder, dass es hier so scheußlich stank.

»Und die Sklavenjäger?«

»Die habe ich auch verscharrt.«

»Und worauf wartest du hier jetzt?«

Das Mädchen sah in die Richtung, wo Staubgänger den Eisensang bediente. So weit im Süden war die Gefahr nicht groß, auf Sandkraken zu stoßen. Aber der Eisensang kündigte eine Karawane an, und eine Karawane verhieß Hilfe. Es schien nicht in ihrer Absicht zu liegen, bei den Toten auszuharren, egal, ob ihr Papa hier bei ihnen begraben war oder nicht.

»Ich kann dir etwas zu essen geben«, sagte Tränentrinkerin, »und dich zu den Hängenden Gärten mitnehmen. Und dir versprechen, dass meine Männer dich mit unwillkommenen Annäherungsversuchen verschonen werden. Aber dafür musst du das Schwert loslassen, meine Blume. Der kleine Luka gehört nämlich nicht nur zu unseren Wachen, er ist auch unser Koch.« Tränentrinkerin ließ sich zu einem kleinen Lächeln hinreißen. »Und wie mein Ehemann dir bestätigen würde, wenn er noch unter uns weilte, würdest du nicht wollen, dass ich unser Abendessen zubereite.«

Wieder traten Tränen in die Augen des Mädchens, als es zu den Gräbern hinübersah.

»Wir werden ihm einen Grabstein setzen, bevor wir weiterziehen«, versprach Tränentrinkerin mit sanfter Stimme.

Jetzt flossen die Tränen, und das Gesicht der Kleinen zog sich zusammen, als hätte jemand hineingetreten. Sie ließ das Schwert sinken, und Luka nutzte die Gelegenheit, um sich loszureißen und zur Seite wegzurollen. Sie aber blieb vornübergebeugt stehen wie ein schiefes Porträt, und das blutverklebte Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein Vorhang.

Fast tat sie der Kapitänin leid.

Vorsichtig ging Tränentrinkerin ihr über den blutgetränkten Sand entgegen. Noch immer umschwärmte sie eine Wolke von Fliegen. Dann zog sie ihren Handschuh aus und streckte der Kleinen ihre schwielige Hand entgegen.

»Man nennt mich Tränentrinkerin, vom Meerspeer-Clan.«

Das Mädchen hob die zitternden Finger. »M…«

Mit einem Ruck packte Tränentrinkerin sie am Handgelenk, wirbelte sie herum und schleuderte sie über ihre Schulter auf den Boden. Die Kleine kreischte bei dem Aufprall laut. Zur Sicherheit trat Tränentrinkerin noch einmal zu, aber nur moderat – gerade so fest, wie sie es für nötig hielt, um ihren Widerstand zu brechen.

»Dogger, leg ihr die Eisen an, sei so gut«, befahl sie. »An Händen und Füßen.«

Der Itreyaner nahm die Handschellen, die er am Gürtel trug, und schloss sie um die Gelenke der Kleinen. Die heulte und trat um sich, als sie wieder zu sich kam, während Dogger die Fesseln nur noch straffer zog; Tränentrinkerin machte ihrem Geschrei mit einem harten Tritt in den Bauch ein Ende. Sie würgte und wand sich. Nach einem weiteren Tritt, diesmal gegen die Rippen, rollte sie sich wie eine Kugel zusammen.

»Hoch mit ihr«, befahl die Kapitänin.

Dogger und Graccus zogen das Mädchen wieder auf die Beine. Tränentrinkerin packte ein paar Haarsträhnen und riss ihr den Kopf zurück, bis sie ihr in die Augen sehen konnte.

»Ich habe dir versprochen, dass keiner meiner Männer sich dir auf unziemliche Weise nähern wird, und dazu stehe ich. Aber wenn du hier weiter Ärger machst, dann werde ich dir auf eine Art und Weise weh tun, die dir sicherlich auch sehr unziemlich vorkommen wird. Hast du kapiert, kleine Blume?«

Das Mädchen konnte darauf nur nicken. Das lange schwarze Haar klebte verfilzt in ihren Mundwinkeln. Tränentrinkerin nickte Graccus zu, und der massige Mann zerrte ihre Beute an den Trümmern der Karawane vorbei und warf sie auf den Rücken seines grollenden Kamels. Dogger durchsuchte bereits die Wagen und plünderte Fässer und Kisten. Luka tastete nach dem Schnitt, den er davongetragen hatte, und warf einen verärgerten Blick auf den Gladius des Mädchens, der auf der Erde lag.

»Wenn du dich von der kleinen Ziege noch mal so nassmachen lässt«, warnte Tränentrinkerin, »dann lass ich dich als Futter für die Staubunholde hier, kapiert?«

»Aye, Käpt’n«, murmelte Luca zerknirscht.

»Hilf Dogger beim Durchsuchen der Wagen. Bringt alles Wasser, das ihr findet, zu unserem Zug. Was sich mitzunehmen lohnt, steckt ihr ein. Den Rest verbrennt ihr.«

Tränentrinkerin spuckte aus, vertrieb die Fliegen von ihrem guten Auge und marschierte über den blutgetränkten Sand zu Graccus hinüber. Dann schwang sie sich auf ihr Kamel, das sich nach einem scharfen Tritt wieder in Bewegung setzte, und die beiden ritten zum eigenen Wagenzug zurück.

Cesare wartete auf dem Kutschbock und zog ein ziemlich missmutiges Gesicht, das sich allerdings aufhellte, als er das Mädchen sah, das stöhnend und halb bewusstlos über dem Höcker von Graccus’ Reittier lag.

»Für mich?«, fragte er. »Das wäre doch nicht nötig gewesen, Käpt’n.«

»Sklavenjäger haben eine Handelskarawane überfallen und sich dabei ein bisschen übernommen.« Tränentrinkerin nickte zu dem Mädchen hinüber. »Sie ist die einzige Überlebende. Graccus und Dogger bergen die Wasservorräte aus den Trümmern. Die könnt ihr anschließend an die Herde verteilen.«

»Da ist schon wieder einer an Hitzschlag eingegangen.« Cesare deutete zum Ende des Wagenzugs. »Hab ihn entdeckt, als ich die anderen rausgelassen habe, damit sie sich die Beine vertreten. Damit ist schon ein Viertel der Ware auf dieser Fahrt hinüber.«

Tränentrinkerin zog sich den Dreispitz vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern über die schweißgetränkte Kopfhaut. Dann sah sie zu der Ware, Männer und Frauen und eine Handvoll Kinder, die blinzelnd zu den gnadenlosen Sonnen hinaufsahen, während sie zwischen den Käfigen umherstolperten. Nur wenige lagen in Eisen – die meisten waren so erledigt von der Hitze, dass sie nicht die Kraft für einen Fluchtversuch hatten, selbst wenn sie gewusst hätten, wohin sie hier draußen laufen sollten. In der ysiirischen Wisperwüste konnte man auf nichts hoffen, außer auf den Tod.

»Keine Angst«, sagte sie mit Blick auf das Mädchen. »Sieh sie dir an. Das ist eine Prise, die uns für unsere Verluste mehr als entschädigen wird. Da hat uns eine der Töchter zugelächelt.« Sie wandte sich an Graccus. »Sperr sie zu den Frauen. Bis wir zu den Gärten gelangen, bekommt sie die doppelte Ration. Ich will, dass sie auf dem Markt wie das blühende Leben aussieht. Und falls du auch nur einen Finger an sie legst, schneid ich dir alle zehn ab und verfüttere sie an dich zum Frühstück, kapiert?«

Graccus nickte. »Aye, Käpt’n.«

»Treibt die anderen wieder in die Käfige. Lasst den Toten hier für die Ruhelosen liegen.«

Cesare und Graccus machten sich an die Arbeit, während Tränentrinkerin ihren Gedanken nachhing.

Sie seufzte. In wenigen Monaten würde auch die dritte Sonne aufgehen. Das hier war vermutlich die letzte Fahrt vor dem Wahrlicht, und die Götter hatten sich offenbar verschworen, um ihr einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine zu werfen. Schon eine Woche nach der Abreise aus Rammahd war der Blutfluss unter der Herde ausgebrochen und hatte eine ganze Wagenladung ausgelöscht. Der kleine Cisco war ermordet worden, als er sich zum Pinkeln davongeschlichen hatte – höchstwahrscheinlich hatte ihn ein Staubunhold erwischt, nach dem zu urteilen, was von ihm übriggeblieben war. Und jetzt drohte diese verfluchte Hitze, den Rest ihrer Ware zu vernichten, noch bevor sie den Markt überhaupt erreichten. Sie brauchte nichts weiter als ein paar Wenden mit einer kühlen Brise. Vielleicht auch einen kurzen Regenschauer. Dabei hatte sie auf dem Sturmaltar von Nuuvash noch ein kräftiges junges Kalb geopfert, bevor sie aufgebrochen waren. Aber hatte Frau Nalipse das vielleicht zu schätzen gewusst?

Nach dem Schiffsuntergang vor ein paar Jahren, der sie fast ruiniert hatte, war Tränentrinkerin ihrem Schwur treu geblieben, sich vom Wasser fernzuhalten. Der Handel mit menschlicher Ware war auf See ein noch riskanteres Geschäft als an Land. Aber verdammt, die Mutter der Meere versuchte immer noch, ihr das Leben schwerzumachen, selbst wenn sie dafür ihre Schwester, die Mutter der Stürme, um Hilfe bitten musste.

Kein noch so kleiner Hauch Wind.

Kein noch so kleiner Tropfen Regen.

Aber immerhin war diese hübsche Blume frisch, und Kurven wie ihre würden auf dem Markt einen guten Preis einbringen. Es war ein glücklicher Zufall, sie hier draußen gefunden zu haben, mitten in diesem ganzen Dreck, noch dazu vollkommen unbeschädigt. Die ysiirische Wisperwüste war mit ihren Räuberbanden, den Sklavenjägern und den Sandkraken kein Ort für so ein junges Ding. Dass Tränentrinkerin auf sie gestoßen war, bevor ihr irgendwer oder irgendwas anderes den Garaus machen konnte, zeigte doch wohl, dass ihr eine der Töchter gewogen sein musste.

Es war fast so, als hätte jemand dem Zufall auf die Sprünge geholfen, damit sich alles genau so fügte …

 

Das Mädchen wurde in den vordersten Wagen zu den anderen jungen Frauen und den Kindern gesteckt. Der Käfig bestand aus sechs Fuß hohen, verrosteten Eisenstangen. Der Boden war völlig verdreckt, der Gestank nach verschwitzten Körpern und verfaultem Atem fast so schlimm wie der der toten Kamele. Der große Kerl namens Graccus war nicht gerade sanft mit ihr umgegangen, hatte sich aber an den Befehl seiner Kapitänin gehalten und seine Hände nur dazu benutzt, sie auf den Boden zu schleudern, die Käfigtür zuzuknallen und den Schlüssel im Schloss umzudrehen.

Die Kleine rollte sich auf dem Boden zusammen. Spürte, wie die anderen Frauen sie anstarrten und die Mädchen und Jungen sie mit neugierigen Blicken maßen. Ihre Rippen schmerzten von den Tritten, die sie abbekommen hatte, und die vergossenen Tränen hatten blasse Rinnen durch das Blut und den Dreck auf ihren Wangen gewaschen. Sie bemühte sich, ihre innere Ruhe zurückzugewinnen. Schloss die Augen. Atmete.

Dann endlich spürte sie sanfte Hände, die ihr aufhalfen. Es war eng in dem Käfig, aber ihr blieb genug Platz, um sich in eine Ecke zurückzuziehen, den Rücken hart gegen die Gitterstäbe gepresst. Als sie die Augen öffnete, sah sie ein junges, freundliches Gesicht, dreckverschmiert, mit grünen Augen.

»Sprichst du Liisianisch?«, fragte die Frau.

Das Mädchen nickte stumm.

»Wie heißt du?«

Mit geschwollenen Lippen flüsterte sie: »Mia.«

»Bei den vier Töchtern.« Die Frau schüttelte den Kopf und strich dem Mädchen über das Haar. »Wie ist so ein hübsches Püppchen wie du denn nur an so einen schlimmen Ort geraten?«

Das Mädchen sah auf den Schatten zu ihren Füßen hinab.

Dann hinauf zu den schimmernden grünen Augen.

»Tja«, seufzte sie. »Das ist die Frage, nicht wahr?«

2Feuermess

Vier Monate zuvor

König Francisco XV., alleiniger Herrscher über ganz Itreya, nahm am Rand der Bühne Platz. Er trug ein Wams und eine Hose aus reinstem Weiß, und seine Wangen waren mit rosa Puder bestäubt. Die Juwelen auf seiner Krone funkelten, als er sprach, die Hand feierlich an die Brust gelegt.

»Stets strebt ich zu regieren nach der Art,

die weise und gerecht beurteilt ward,

drum muss ich nun, dem Bettler gleich,

die edle Stirn …«

»Mitnichten!«, ertönte es von links.

Tiberius der Ältere trat auf, umgeben von seinen republikanischen Mitverschwörern. Ein silberner Dolch blitzte in der Hand des Alten. Mit entschlossen vorgerecktem Kinn und blitzenden Augen sprang er über die Bühne und stieß seinem Monarchen die Klinge tief in die Brust, einmal, zweimal, dreimal. Die Zuschauer stießen überraschte Schreie aus, als rotes Blut hervorspritzte und sich auf die polierten Bühnenbretter ergoss. König Francisco presste die Hand gegen sein durchbohrtes Herz und sank auf die Knie. Und mit einem letzten Aufstöhnen (das etwas zu theatralisch ausfiel, wie einige später meinten) schloss er die Augen und starb.

Tiberius der Ältere hielt seinen Dolch in die Höhe und sprach die schicksalsschweren letzten Zeilen.

»Das Herzblut ward vergossen, die Folgen einerlei,

Kein Preis zu hoch, geht’s gegen Tyrannei,

Wisset denn, ihr Freunde, nicht mir zulieb tat ich den Stoß,

Blutrot legt ich der Freiheit die Klinge in den Schoß.«

Tiberius sah sich im Publikum um, den blutigen Dolch noch in den Händen. Während er sich tief verbeugte, fiel der Vorhang, und schwerer, roter Samt verhüllte die Szene.

Die Zuschauer klatschten, und die Musik schwoll jetzt noch einmal an, um das Ende des Stücks anzuzeigen. Die arkemischen Kronleuchter an der Decke strahlten heller und vertrieben die Dunkelheit, die während des letzten Akts geherrscht hatte. Applaus wogte durch das belebte Auditorium, über die Ränge und bis zur Rückfront des großen Saals. Und dort fand er eine junge Frau mit langem rabenschwarzem Haar, blasser, perfekter Haut und einem Schatten, der dunkel genug für drei war.

Mia Corvere stimmte in den Beifall ein, obwohl sie ihre Augen während des Stücks tatsächlich anderswo als auf der Bühne gehabt hatte. Ein kühler Hauch glitt über ihren Nacken, verborgen in den Schatten, die ihr Haar warf. Das Flüstern Herrn Freundlichs drang samtweich an ihr Ohr.

»… das war verstandserweichend grässlich …«, erklärte die Schattenkatze.

Mia antwortete leise, während sie die schlechtsitzende Maske vor ihrem Gesicht gerade rückte. »Ich fand, das Hühnerblut war ein netter Einfall.«

»… dir ist klar, dass dieses spektakel dreißig minuten unseres daseins gekostet hat, die wir nie zurückbekommen werden …«

»Wenigstens haben sie das verdammte Licht wieder angemacht.«

Das Publikum durfte noch eine Weile länger klatschen, bevor sich der Vorhang wieder hob und König Francisco gesund und munter hervortrat, wobei die durchbohrte Schweinsblase, die sein »Herzblut« enthalten hatte, noch unter seinem rotgetränkten Hemd hervorlugte. Er fasste seinen Mörder bei der Hand, so dass sie beide das Messer mit der Federklinge festhielten, und dann verbeugten sich Tiberius der Ältere und Francisco XV. gemeinsam.

»Frohe Feuermess, edle Freunde!«, rief der ermordete König.

Der Applaus verebbte allmählich, während die Schauspieler die Bühne verließen, und nun, da die Aufführung vorüber war, wurde wieder gescherzt und gelacht. Mia nahm einen Schluck aus ihrem Glas und sah sich im Saal um, dankbar für das helle Licht.

»Also gut, wo steckt er …«, raunte sie.

Sie war, ganz wie es sich für eine Markgeborene gehörte, zu spät erschienen. Der Ballsaal platzte bereits aus allen Nähten, was kein Wunder war – die Soireen von Senator Alexus Aurelius erfreuten sich allgemein größter Beliebtheit. Inzwischen spielte das zwölfköpfige Orchester auf dem vergoldeten Balkon an der Rückseite des Raumes eine fröhliche Melodie. Mia beobachtete die markgeborenen Edelleute, wie sie in gestärkten Gehröcken auf die Tanzfläche traten und die Arme um die eleganten Donas legten, deren karmesinrote, silberne und goldene Abendroben im Licht der arkemischen Kronleuchter schimmerten.

Die Gesichter verbargen sich hinter einer schwindlig machenden Flut von Masken mit den verschiedensten Formen und Themen. Mia entdeckte quadratische Voltos und lachende Punchinellos, Dominos, die nur das halbe Gesicht bedeckten, mit Edelsteinen geschmückte Bemalungen, schimmerndes Elfenbein und Fächer aus Pfauenfedern. Die beliebtesten Motive in diesem Salon waren die Dreifachsonne des Aa und wunderschöne Variationen des Tsana-Antlitzes. Schließlich war Feuermess, und die meisten Leute wollten sich zumindest den Anschein geben, den Ewigsehenden und seine Erstgeborene zu ehren, bevor man sich dann den üblichen Ausschweifungen des Festabends hingab.[2]

Mia trug eine blutrote schulterfreie Robe aus liisianischer Seide, die sich in vielen Schichten bis auf den Boden ergoss. Das Unterbrustkorsett war fest geschnürt, und eine Kette aus dunklen Rubinen schmiegte sich an ihr Dekolleté. Aber obwohl sie durchaus zu schätzen wusste, dass Korsett und Rubine ihre Vorzüge hübsch in Szene setzten, so machten die bewundernden Blicke, die sie allenthalben bekam, das Atmen doch nicht leichter. Ein Tsana-Antlitz verbarg ihre Züge – die Maske zeigte den Helm der Kriegergöttin und war am Rand mit Feuervogel-Federn geschmückt, ließ aber Mias Lippen und Kinn frei, so dass sie zumindest problemlos etwas trinken konnte. Und rauchen. Und fluchen.

»Beim scheißverdammten Abgrund, wo steckt er?«, murmelte sie und ließ den Blick über die Feiernden gleiten.

Wieder fühlte sie den kühlen Hauch und das leise Flüstern an ihrem Ohr.

»… guck nach oben zu den logen …«, schlug Herr Freundlich vor.

Mia hob den Kopf und blickte über die wogende Menge zu den Wänden rund um die Tanzfläche hinauf. Senator Aurelius’ Ballsaal war wie ein Amphitheater gestaltet: An einer Seite befand sich die Bühne, die Sitzplätze waren in konzentrischen Ringen drum herum angeordnet, und es gab eine Reihe privater Logen, von denen man auf das Fußvolk herabsehen konnte. Hinter dem Rauch und den langen Bahnen reiner Seide, die von der Decke hingen, konnte sie tatsächlich einen hochgewachsenen jungen Mann ausmachen, der einen langen weißen Gehrock und eine schwarze Krawatte trug. Die Goldstickerei auf seiner Brust zeigte das Zwillingspferd seines Familienwappens.

»… gaius aurelius …«

Mia hob ihre elfenbeinerne Zigarillospitze und zog nachdenklich daran. Das Gesicht des jungen Mannes wurde halb von einem goldenen Domino mit Dreifachsonnen-Motiv verdeckt, aber das markige Kinn und das attraktive Lächeln waren dennoch zu erkennen, als er sich zu einer schönen jungen Frau in eleganter Robe hinunterbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

»Sieht aus, als hätte er schon jemanden gefunden, der ihm Gesellschaft leistet«, raunte Mia, während warmes Grau über ihre Lippen quoll.

»… nun ja, er ist der sohn eines senators. da wird er die nimmernacht wohl kaum allein verbringen …«

»Jedenfalls nicht, solange ich das verhindern kann. Eclipse, sag Taube, er soll sich bereithalten. Es kann sein, dass wir schnell aufbrechen müssen.«

Ein leises Grollen drang aus den Schatten unter ihrem Kleid.

»… TAUBE IST EIN IDIOT …«

»Gerade deswegen müssen wir sichergehen, dass er wach ist. Ich denke, ich werde unserem geschätzten erstgeborenen Senatorensohn einmal hallo sagen. Und seiner Freundin auch.«

»… zwei sind sich oft selbst genug, mia …«, warnte Herr Freundlich.

»Das ist wohl wahr. Aber zu dritt kann man auch viel Spaß haben.«

Mia löste sich aus ihrer ruhigen Ecke und schwebte durch den Ballsaal wie der Rauch von ihren Lippen. Lächelte über die Komplimente und lehnte höflich ab, wenn man sie zum Tanzen aufforderte. Schritt kühn an zwei Wachleuten in edlen Uniformen vorbei, die am Fuße einer Treppe standen, und tat so, als hätte sie dazu jedes Recht der Welt. Und daher bezweifelte auch niemand, dass es sich genau so verhielt – zumal sich ohnehin im ganzen Saal nur geladene Gäste befanden. Fünf geduldige Nimmernächte hatte Mia gebraucht, bis sie die entsprechende Einladung aus dem Hause Dona Grigorios hatte stehlen können.[3]Und die Masken, die von der markgeborenen Noblesse bei jedem Fest so gern getragen wurden, machten es ihr leicht, sich unerkannt unter die Gäste zu mischen. Vor allem, nachdem sie ihre Kurven in eine Form gepresst hatte, die bestens geeignet war, den Blick von ihrem Gesicht abzulenken.

Mia klappte ein kleines Etui mit Spiegel auf, überprüfte ihre Schminke und zog das dunkle Rot ihrer Lippen noch einmal nach. Dann nahm sie einen letzten, tiefen Zug von ihrem Zigarillo, trat ihn mit dem Stiefelabsatz aus und stolperte gekonnt durch den Samtvorhang in Aurelios Loge.

»Oh, Entschuldigung«, stieß sie hervor.

Don Aurelius und seine Begleitung sahen milde überrascht auf. Die beiden saßen auf einem langen, mit Knittersamt bezogenen Diwan, und auf dem Tisch vor ihnen befanden sich halbleere Gläser und eine Flasche feiner Rotwein aus Vaan. In gespieltem Schreck schlug Mia sich die Hand vor die Brust.

»Ich dachte, die hier sei leer. Bitte vergebt mir.«

Der junge Don nickte andeutungsweise. Sein schönes Lächeln war dunkel vor Wein. »Schon vergessen, Mi Dona.«

»Würde es Euch …« Mia stieß einen unsicheren Seufzer aus. Dann nahm sie ihre Maske ab und fächelte sich damit Kühlung zu. »Entschuldigt, aber dürfte ich Euch einen Augenblick lästig fallen und mich setzen? Hier drin ist es heißer als bei Wahrlicht, und in diesem Kleid bekommt man kaum Luft.«

Aurelius ließ den Blick über Mias jetzt unmaskierte Züge schweifen. Über die schwarzen, kunstvoll mit Kajal umrandeten Augen. Über die milchweiße Haut und den tiefroten Schmollmund, über das Edelsteincollier an ihrem schlanken Hals. Dann folgte ein verstohlener, schneller Blick auf die nackte Haut darunter, während Mia demonstrativ ihr Korsett zurechtrückte.

»Gern doch, Mi Dona«, erklärte der Don lächelnd und deutete auf den noch freien Diwan.

»Aa segne Euch.« Mia ließ sich auf den Samtbezug sinken, während sie sich weiter Luft zufächelte.

»Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle. Ich bin Don Gaius Ner aus Aurelius, und meine hübsche Komplizin hier heißt Alenna Bosconi.«

Bei der besagten Begleiterin handelte es sich um eine liisianische Schönheit, die etwa in Mias Alter war – vermutlich, ihrem Aussehen nach, die Tochter eines Administratii aus der Gegend. Dunkles Haar und dunkle Augen, olivfarbene Haut. Der Goldchiffon ihres Kleides wurde zusätzlich durch das Metallpulver betont, das sie sich auf Lippen und Lider gerieben hatte.

»Bei den vier Töchtern, ich liebe Euer Kleid«, platzte Mia heraus. »Ist das von Albretto?«

»Ihr habt ein gutes Auge.« Alenna hob ihr Glas. »Kompliment.«

»Ich habe nächste Woche eine Anprobe bei ihr«, behauptete Mia. »Vorausgesetzt, dass meine Tante mich irgendwann einmal wieder aus dem Palazzo herauslässt. Ich habe den Verdacht, dass sie mich morgen in ein Kloster verfrachten lassen will.«

»Wer ist denn Eure Tante, Mi Dona?«, fragte Aurelius.

»Dona Grigorio. Eine verknöcherte alte Ziege.« Mia deutete auf den Wein. »Darf ich?«

Aurelius beobachtete mit belustigtem Blick, wie sie sich ein Glas einschenkte und es gleich wieder leerte. »Vergebt mir, ich wusste gar nicht, dass die Dona eine Nichte hat?«

»Das überrascht mich nicht im Geringsten«, seufzte Mia. »Jetzt bin ich schon fast einen Monat in Galante, und sie lässt mich einfach nicht vor die Tür. Ich musste mich heimlich nach draußen schleichen, um heute Abend hierherzukommen. Mein Vater hat verfügt, dass ich den Sommer bei ihr verbringen soll, damit sie mir beibringt, wie man sich als gottesfürchtige Tochter des Aa verhält.«

»Was also heißt, dass Ihr das im Augenblick nicht tut?«, fragte Aurelius mit einem Lächeln.

Mia zog ein Gesicht. »Jetzt mal ehrlich, man könnte glauben, ich sei mit einem Stallburschen ins Bett gegangen, so hat er sich angestellt.«

Aurelius nahm die Flasche zur Hand und neigte fragend den Kopf. »Noch etwas Wein?«

»Ihr seid zu großzügig, mein Herr.«

Aurelius schenkte ein und reichte ihr das volle Glas. Mia nahm es mit wissendem Lächeln, ließ ihre Fingerspitzen über das Handgelenk des jungen Dons streifen und spürte die arkemische Spannung, die über ihre Haut lief. Alenna setzte ihr Glas an die goldenen Lippen und bemerkte mit einem Hauch von Ärger in der Stimme:

»Da ist nicht mehr viel drin, Gaius.« Ihr Blick lag warnend auf der Flasche.

Mia sah die junge Frau an und schob sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Falls sie Angst hatte, so wurde sie von den Schatten zu ihren Füßen vollständig geschluckt. Mit seidiger Eleganz erhob sie sich vom Diwan und ließ sich neben der goldenen Schönheit nieder. Und während sie Alenna in die Augen sah, trank sie einen kleinen Schluck Wein. Er war süß, samtweich und tanzte dunkel auf ihrer Zunge. Dann nahm sie Alenna das leere Glas aus der Hand, schob ihr eigenes hinein und führte es, die Finger ihrer beiden Hände miteinander verflochten, an die goldenen Lippen.

Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass Aurelius sie fasziniert beobachtete. Sie lächelte und flüsterte gerade laut genug, dass es über die Musik zu hören war:

»Ich teile gerne.«

 

Aurelius stand hinter ihr und ließ die Hände über ihre nackten Arme und Brüste streifen. Mia spürte seine Lippen erst an ihrem Ohr und dann an ihrem Kinn, und sie griff nach hinten und grub ihre Finger in sein Haar. Während sie sich gegen das Harte in seinem Schritt drängte, suchte sie seinen Mund und seufzte, als er eine Spur brennender Küsse über ihren Hals zog. Seine Bartstoppeln kitzelten leicht. Schließlich fand er die seidene Schnürung ihres Korsetts und löste sie mit langsamen, sicheren Bewegungen.

Alenna stand hinter ihm, knöpfte ihm die Jacke auf und ließ sie auf den Boden gleiten. Die Röte ihrer Wangen war nicht allein auf den Wein zurückzuführen, als sie mit langen Fingernägeln sein Seidenhemd zerriss und seinen Oberkörper entblößte. Mia tastete nach seiner straffen Brust und ließ die Finger über die klar hervortretenden Bauchmuskeln gleiten. Seine Lippen waren auf ihrem Nacken; sie fühlte seine Zähne und ermutigte ihn seufzend, als er heftiger zubiss. Dann suchte sie wieder seinen Mund. Aber mit seiner freien Hand packte er ihr langes Haar, bog ihr den Kopf zurück, weiter und noch weiter, und sie bekam eine Gänsehaut, als er ihr das Korsett abstreifte.

Von oben drang leise Musik, die in ihrem vielstimmigen Stöhnen beinahe unterging. Zuvor waren sie die Treppe hinuntergestolpert, und Aurelius hatte Mia und Alenna mit spielerischen Klapsen auf den Po vor sich hergetrieben. Die Wachleute des Hauses hatten nicht auf die drei geachtet, als sie sich an ihnen vorüberdrängten, und Mia hatte Aurelius die Lippen gegen den Hals gedrückt, als er kurz stehen blieb, um der goldenen Schönheit einen langen Kuss zu geben. Er schob Mia gegen die Wand und fasste ihr zwischen die Beine, um sich noch im Flur mit geschickten Fingern weiter voranzutasten. Sie hatten es kaum bis in sein Zimmer geschafft.

Wie in den meisten Palazzos der Markgeborenen befanden sich die Schlafzimmer auch hier in den Kellergewölben, in denen man dem gnadenlosen Sonnenlicht am besten entfliehen konnte. Die Luft war kühler, das Licht der arkemischen Kugeln gedämpft und rauchig. Mias Korsett fiel auf die Dielenbretter, und Aurelius schob ihr die Hand unters Kleid. Sie seufzte, als seine Hände ihre Brüste umfingen und eine ihrer harten Brustwarzen so fest zwickten, dass sie leise maunzte. Sie tastete nach seinem Gürtel, stellte fest, dass Alennas Hände dort auch schon angekommen waren, und machte sich gemeinsam mit ihr daran, die Schnalle zu öffnen. Gleichzeitig spürte sie, wie Aurelius’ Hände tiefer glitten und ein Prickeln ihre Haut erfasste, während seine Finger über ihren Bauch strichen und in das weiche Fell und die wartenden Lippen darunter tauchten.

Sie stöhnte auf, als seine Finger ihren Tanz begannen, und merkte, dass ihre Knie weich wurden. Versuchsweise bewegte sie den Kopf, um mit ihren Lippen seinen Mund zu suchen, aber er hielt sie so fest am Haar gepackt, dass sie keuchend aufgab. Seufzend schob sie ihren Hintern nun so weit zurück, dass sie gegen seinen Schritt stieß, und wand sich in dem Rhythmus, den er vorgab.

Nachdem sie den Gürtel gelöst hatten, riss die schöne Liisianerin die Knöpfe seiner Hose auf, und Mias Finger glitten hinein. Sie fand ihr Ziel sofort und lächelte über sein Stöhnen, als sie seine Hitze in ihrer Hand spürte. Alenna griff ebenfalls zu, und sie beide strichen über seinen Schaft, während sein Finger in Mia hineinglitt und ein Sternenregen hinter ihren Augen explodierte.

Aurelius wandte sich um, küsste Alenna auf den Mund, umfing ihre Zunge mit seiner. Mia löste seine Finger aus ihrem Haar, krallte sich dafür in seinem fest, versuchte wieder, den Senatorensohn zu küssen. Aber ihre Haut prickelte, als sie spürte, wie er beiseitetrat, während sie warme Lippen auf ihrer Schulter fühlte, auf ihrem Nacken und sich warme Hände um ihre Taille legten.

Aber nicht seine …

Alennas Fingerspitzen tanzten ihre Arme hinauf, flatterten über ihre Brüste. Mia begann, schneller zu atmen, als sie ihre Finger um Alennas Kinn legte und langsam ihren Kopf zu sich bog, bis sie einander ins Gesicht sahen.

Sie war schön, die Lippen voll wie nach einem Bienenstich und leicht geöffnet, und das schummrige Licht ließ die Begierde in ihren Augen erkennen. Ihre Brust hob und senkte sich, als sie sich noch immer bekleidet gegen die inzwischen fast nackte Mia drängte. Aurelius küsste Alennas Nacken, während die eine lange schwarze Haarsträhne von Mias Wange zurückstrich. Ein Kribbeln ging durch Mias ganzen Körper, als die schöne Liisianerin sich vorbeugte, um sie zu küssen. Näher. Näher. Noch näh…

»Nein«, sagte Mia und drehte sich weg.

Alennas Augen verdunkelten sich verwirrt, und sie blickte über ihre Schulter zu Aurelius. Der junge Don hob eine fragende Augenbraue.

»Nicht auf den Mund«, beharrte Mia.

Die goldenen Lippen der schönen Liisianerin verzogen sich zu einem wissenden Lächeln. Dunkle Augen wanderten über Mias nackten Körper und nahmen alles genau in sich auf.

»Dann eben überall sonst«, hauchte sie.

Alenna strich über ihre Wangen, über die Edelsteine an ihrem Hals, und dann beugte sie sich quälend langsam vor und presste ihre Lippen an Mias Hals.

Mia seufzte, spürte die Gänsehaut, aber in ihr war keine Angst. Sie legte den Kopf in den Nacken, ergab sich, und ihre Augenlider flatterten, als Alenna ihre Brüste umfasste, über ihre Hüften strich und ihren Hintern streichelte. Für einen Augenblick war da nichts mehr als diese Hände, diese Lippen, die knabbernden Zähne, der warme Atem auf der Haut, der Mund der schönen Liisianerin, der nun zu ihren Brüsten wanderte. Sie stöhnte auf, als Alenna eine Brustwarze in den Mund nahm und mit der Zunge über die angeschwollene Spitze strich. Der Raum drehte sich.

Dann schickten ihr Alennas Fingernägel Schauer über den Rücken, als sie zart über ihre Haut fuhren und sie sanft rückwärtsdirigierten. Schließlich spürte sie das Bettgestell an den Kniekehlen, und wie ein Setzling, der sich im Sturm biegt, ließ sie sich mit einem wonnigen Laut auf die Pelze fallen.

Alenna seufzte, als Aurelius ihren Nacken küsste und die Schnürung ihres Korsetts löste. Der junge Don schob ihr das Kleid von den Schultern und ließ den goldenen Chiffon in einer schimmernden Welle zu Boden fallen. Dann folgte ihre Unterwäsche, Stück für Stück, bis sie ganz nackt war.

Mias Augen glitten über den Körper der jungen Frau, die jetzt auf allen vieren wie eine Katze über das Bett kroch. Alenna seufzte, als der junge Don hinter ihr auf die Knie ging und ihren Rücken und ihren Hintern küsste. Mia spürte, wie Alenna über die Innenseiten ihrer zitternden Schenkel strich, und sie atmete heftig, als diese Finger ihre Spalte fanden. Auch Alennas Atem ging schneller, und sie stöhnte, als Aurelius seinen Mund zwischen ihre Beine schob und sich mit seiner Zunge ans Werk machte. Ihre Augen waren hell vor Lust, als sie sich vorbeugte und wieder Mias Mund suchte.

Mia wandte sich ab und schob der jungen Frau die Hand über die Lippen.

»Nein.«

Sie tastete sich über Alennas Haut bis zu Aurelius’ Fingern, die auf der Hüfte der Liisianerin ruhten. Verschränkte sie mit ihren und zog ihn von seiner Beute weg, die protestierend seufzte. Sah ihm in die Augen. Atemlos.

»Küss mich«, flehte sie.

Aurelius lächelte, als Alenna weiter nach unten glitt. Ihre Küsse waren wie Feuer und Eis auf Mias Kehle, Brüsten, Bauch. Der junge Don rutschte gleichzeitig weiter nach oben, während Alenna nun Mias Bauchnabel und die Grübchen an ihren Hüften liebkoste. Mia spürte zarte Zähne an der Innenseite ihrer Schenkel, sanfte Hände auf ihrer Haut, und sie wimmerte leise, als Alenna ganz leise über ihre Spalte blies und nur noch ein Flüstern von ihr entfernt war. Mit einer Hand tastete Mia nach oben, mit der anderen nach unten, vergrub ihre Finger in den Haaren ihrer Bettgenossen. Sie zog Aurelius zu sich und holte auch Alenna näher. Und dann schloss sich der Mund des Dons über ihrem und erstickte ihr atemloses Stöhnen, während sie die erste Berührung von Alennas Zunge fühlte.

Beide gingen ans Werk, zur gleichen Zeit, und Mia wand sich auf den Pelzen unter so viel Aufmerksamkeit. Eine Hitze, wie sie sie nie gekannt hatte, brannte zwischen ihren Beinen, als Alenna sie leckte, wie es noch kein Mann je getan hatte, und sie bäumte sich auf und krallte sich ins Haar der Liisianerin. Sie konnte Alenna auf Aurelius’ Zunge schmecken, salzig und süß zugleich. Nun endlich küsste sie ihn leidenschaftlich, biss ihm so fest auf die Lippe, dass Blut hervortrat, das sich mit der dunkelroten Farbe auf ihren Lippen mischte. Ihr Kuss erstickte seinen Schmerzensschrei, ihre Zunge fand ihn, neckte und schmeckte und leckte ihn in blasser Nachahmung dessen, was die schöne Liisianerin zwischen ihren Beinen anstellte.

Die Zeit stand still, die Welt hörte auf, sich zu drehen. Jetzt löste sich der Don von ihr und hinterließ eine Spur blutiger Küsse auf ihrer Wange. Mia keuchte, als er tiefer ging, leckte, saugte, biss, und ihre Augen schlossen sich zitternd, während Alenna, die jetzt erst richtig in Fahrt kam, an ihrer geschwollenen Knospe saugte.

Aurelius hob den Kopf.

Ein kurzer Schauer durchfuhr ihn.

Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen.

Dann holte er erschauernd Luft und hustete einen Schwall roten Blutes über Mias Brüste.

»B-bei den Töchtern …«

Voller Entsetzen starrte er auf das grelle Rot auf Mias Haut und seinen Händen. Mia stützte sich auf die Ellenbogen, als er mit einem neuerlichen Hustenanfall zurücksank, die Hände an der Kehle. Jetzt begriff auch Alenna, was vor sich ging. Ihr Gesicht war voller roter Spritzer. Sie fuhr zurück und holte Luft, um zu schreien, doch Mia hatte sie schon an der Kehle gepackt und nahm sie in den Schwitzkasten.

»Schhhh, keinen Laut«, flüsterte sie, die Lippen ganz nahe an Alennas Ohr.

Alenna wand sich unter Mias Griff, aber die Assassine war stärker und härter. Schließlich rutschten die beiden Frauen zu Boden, auf ihre wild verstreute Kleidung, während Aurelius auf dem Bett um sich schlug und sich die Fingernägel in den Hals bohrte, bevor er wieder Blut hervorhustete.

»Ich weiß, es ist kein schöner Anblick«, flüsterte Mia. »Aber es dauert nicht lange.«

»D-der Wein …?«

Mia schüttelte den Kopf. »Nicht auf den Mund, weißt du noch?«

Alenna starrte die kleine Wunde an, die Mias Biss in Aurelius’ Lippe hinterlassen hatte, und auf die rote Farbe, die sich mit dem Blut dort vermischte. Der junge Don zuckte auf dem Bett hin und her wie ein Fisch auf dem Trockenen. Jeder Muskel hatte sich verkrampft, sein Gesicht war verzerrt. Alennas Lippen teilten sich zu einem Schrei, als ein Schatten über das Kopfteil des Bettes glitt und ein zweiter sich am Fußende zeigte – zwei Umrisse, als seien sie aus der Dunkelheit selbst geschnitten. Mias Hand schloss sich wieder über ihrem Mund, als Herr Freundlich und Eclipse sich vereinigten und fasziniert zusahen, wie der junge Don vor Pein stöhnte und das Blut zwischen seinen Zähnen hervorquoll. Und mit weit aufgerissenen Augen, die Lippen zu einem stummen Schrei geöffnet, hauchte der erstgeborene und einzige Sohn des Senators Alexus Aurelius sein Leben aus.

»Höre mich, Niah«, flüsterte Mia. »Höre mich, Mutter. Dieses Fleisch dir zum Fest. Dieses Blut dir zum Wein. Dieses Leben, dieses Ende, mein Geschenk an dich. Halte ihn fest bei dir.«

Herr Freundlich neigte den Kopf und sah zu, wie der junge Don starb.

Sein Schnurren klang beinahe wie ein Seufzer.

 

Mia hatte Durst.

Der Durst war das Schlimmste. Mit dem Käfig, der Hitze, dem Gestank kam sie zurecht. Aber egal, wie viel ihre Wächter ihr zu trinken gaben, in dieser Scheißwüste war es nie genug. Wenn Dogger oder Graccus die Kelle durch das Käfiggitter schoben, kam ihr das lauwarme Wasser vor wie ein Geschenk der Mutter höchstselbst. Aber sie schwitzte in dem Gedränge des Wagens so sehr, dass ihre Lippen dennoch schon bald aufgesprungen waren und ihre Zunge geschwollen und trocken ihren ganzen Mund auszufüllen schien.

Die Gefangenen waren zusammengequetscht wie Dörrfleischstreifen in einem Fass, und der Geruch ließ ihr die Galle in die Kehle steigen. Während der ersten Wende in diesem backofenheißen Käfig hatte Mia sich schon gefragt, ob sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte.

Lass den Gedanken zu. Aber ohne Angst.

Weiche nie zurück.

Fürchte dich nie.

Mia versuchte, möglichst wenig zu reden. Sie suchte keine Nähe zu den anderen Gefangenen, denn schließlich wusste sie, was ihnen in den Hängenden Gärten bevorstand. Aber sie bekam mit, wie sich diese Menschen umeinander kümmerten, wie eine ältere Frau ein junges Ding tröstete, das weinend nach seiner Mutter rief, oder wie ein Mädchen ihre eigene magere Ration einem Jungen gab, der sein Essen gerade auf sein Hemd gekotzt hatte. Kleine Gesten, große Herzen.

Mia fragte sich, wo ihr eigenes sein mochte.

Dafür ist hier kein Platz, Mädchen.

Ihre Bewacher waren eine wild zusammengewürfelte Truppe. So wie es aussah, schlief Tränentrinkerin, die Kapitänin, mit ihrem Unterführer Cesare, wobei Mia sich ziemlich sicher war, wer bei diesem Ritt die Zügel in der Hand hatte. Eine Frau, die ein Rudel Sklavenjäger in der ysiirischen Wüste anführte, musste scharfe Zähne haben.

Die beiden Itreyaner, Dogger und Graccus, waren typische Drecksäcke, wie man sie in jeder der hundert Frischfleisch-Karawanen finden konnte, die in Ysiir unterwegs waren. Sie hielten sich an die Order der Kapitänin und legten keinen Finger an die Frauen. Aber den gierigen Blicken nach zu urteilen, die sie ihr zuwarfen, ging Mia davon aus, dass sie mit dieser Anweisung ausgesprochen unzufrieden waren. Ihre freie Zeit verbrachten Dogger und Graccus damit, mit einem eselsohrigen Kartenspiel um den Einsatz einiger schartiger Bettler »Kloppe« zu spielen.[4]

Der große Dweymeri, Staubgänger, schien von vorsichtigerer Natur zu sein. Er spielte Flöte, und manchmal, wenn er nichts anderes zu tun hatte, unterhielt er die Gefangenen mit einer Melodie. Und dann war da noch Luka, der junge Liisianer, den Mia bei ihrer ersten Begegnung mit einem Tritt in den Staub geschickt hatte. Kurze Locken und ein Lächeln mit Grübchen. Der Fraß, den er kochte, schmeckte zwar schlimmer als ein Schweinearschloch, aber Mia hatte mitbekommen, dass er den Kindern beim Abendessen manchmal heimlich etwas mehr Brot zusteckte.

Und das war’s. Sechs ledergewandete Sklavenjäger und eine Reihe Eisenstäbe trennten sie von der Freiheit. Ihre Mitgefangenen hätten dafür getötet, an den Männern und den Gittern vorbeizukommen. Hier gab es nichts außer Schweiß und Kotze. Scheiße und Blut. Mindestens die Hälfte der Frauen in ihrem Wagen weinte sich in das bisschen Schlaf, das es für sie gab. Mia Corvere nicht.