New York und andere Orte - Sibylle Kaldewey - E-Book

New York und andere Orte E-Book

Sibylle Kaldewey

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Beschreibung

Das Buch besteht aus drei Teilen und umspannt die Jahre 1982-1990. Die Autorin ist verführt von New York, der Magie Manhattans, das in den 80er Jahren zu ihrem Lebensmittelpunkt wird. Die Aufzeichnungen schildern das atemlose wie aufregende Dasein in einer Weltmetropole, dort zu arbeiten und die Schwierigkeiten in einem fremden Land, in einer anderen Sprache, Wurzeln zu fassen. Sie zeigen die Vielfalt der international geprägten Kulturszene. Die Architektur der Stadt beflügelt und überrascht täglich. New York - ein Fest fürs Leben. Durch ihre Tätigkeit begegnet sie in Amerika der letzten Generation jüdisch-deutscher Emigranten, Vertriebene aus Europa, Wien, Berlin, Karlsruhe. Deren Lebensgeschichten, Wohnungen, gerettete Sammlungen versetzen in eine Zeit, erinnern an eine Kultur, die es in Deutschland seit 1933 nicht mehr gibt. Bleibende Freundschaften entstehen, wie mit der Fotografin Ellen Auerbach. Europa, - aus Fernweh verlassen, - bleibt unentbehrlich. Es lockt die Schönheit der Toskana, ein dramatisches Rom, das Geheimnis von Olivenhainen und Gärten, der Sehnsuchtsort Venedig. Das Haus der New Yorker Künstlerin Elaine Lustig Cohen, in den Bergen Mallorcas, wird zum Schreibort für dieses Buch. Ägypten dagegen entführt in eine chiffrierte Welt.

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Erinnerung an die Freundinnen Elaine, Ellen, Olga-Lore und Toni

Empire State Building Blick vom Arbeitsplatz auf Midtown

Foto Sibylle Kaldewey

Inhaltsverzeichnis

1 New York City

2 Amerika

3 Europa

Berlin 2023

New York, New York, it’s a Love Affaire

Am 3. November 1975 landet die Maschine der Icelandic Airlines auf dem Flughafen John F. Kennedy.

Die Boing 707 ist überschaubar, eine Art Wohnzimmer in der Luft. Ein schmaler Mittelgang zwischen den zwei Sitzreihen lässt eine familiäre Situation entstehen. Sie reist mit Ernst Hauswedell, der sie zu dieser Reise in die Neue Welt eingeladen hat. Sie kennen sich durch ihre Berufe, er versteigert in seinem Auktionshaus in Hamburg Bücher und Kunst und sie verkauft aus sorgfältigen Katalogen Literatur in Erstausgaben, schön gedruckte Bücher.

Sie sieht die Erde zum ersten Mal von oben, die Sicht ist gut auf Deutschland im Herbst, braun und rostfarben, angerändert von dunklen Tannenwäldern. Später England, Cornwell, Land’s End, dann viele Stunden blaues Wasser mit den Wellen des Atlantik.

Da zeichnet sich schmal ein Küstenstreifen ab, der andere Kontinent, sie spürt eine Unruhe, vielleicht auch Ungeduld auf das Neue. Sie ist gerne auf Reisen, Nizza, Cannes, Menton, Florenz, Paris, London, diese Erinnerungen hat sie im Gepäck. Doch jetzt hat sie Europa erstmals verlassen, als das Flugzeug landet, ist sie tief berührt.

Die Immigration geht zügig. Sie steigen in ein Yello-Cab. Die Fahrt auf einem mehrspurigen Highway, Schilder für Süd, Nord, West und Ost, kleinstädtische Kulisse rechts und links, bescheidene Holzhäuser. Sie erreichen die Tollstation Triborough Bridge, überqueren den East River.

Plötzlich, wie aus einem Film, einer Fotografie, taucht die Skyline von Manhattan auf, eine dicht gedrängte Kulisse, die steil in den blauen Himmel ragt. Es ist dieses erste Bild, ihre Ergriffenheit über die Wirklichkeit dieser Stadt, die sie immer erinnern wird.

Rasante Fahrt parallel zum Fluss, dann biegt das Taxi in eine hohe Straßenschlucht, sie werden hineingesogen, das Bild verdichtet sich. Längst ist sie verführt, überwältigt von der Kraft dieser anderen Welt. Es ist Liebe auf den ersten Blick, es ist Verheißung und Magie.

Sie wohnen im WESTBURY Hotel auf Madison Avenue, zwei Zimmer mit Verbindungstür. Überraschend der amerikanische Komfort und und die höfliche Freundlichkeit, ein Entgegenkommen.

Als sie aus dem Fenster die Straße entlang sieht, reihen sich Läden, Coffee-Shops und vor allem Galerien. In Manhattan haben sich viele jüdische Emigranten, Galeristen, Kunsthändler, Antiquare, aus Europa Vertriebene, niedergelassen.

Sie heißen Dorothy Carus, Serge Sabarsky, Helen Serger, Klaus Perls, um nur einige zu nennen. Ernst kennt sie alle und besucht sie, natürlich auch um seine Kontakte zu pflegen, das kann er hervorragend, und er wird als Geschäftspartner geschätzt. Walter Schatzki, Spezialist, Sammler für alte Kinderbücher aus Frankfurt, wird in Brooklyn aufgesucht.

Am ersten Abend führt Ernst sie in den Rainbow Room im Rockefeller Center. Kleine Tische umrunden die Tanzfläche, eine Liveband spielt die amerikanischen Klassiker. Nach dem Diner tanzen sie zusammen, schwebend wie in einem Film, echtes Hollywood.

Sie kennt einen Menschen in dieser fremden Stadt, Joachim Sartorius, Freund aus Münchner Zeiten, inzwischen Diplomat und Kulturattaché am Deutschen Konsulat. Er ist Dichter, Herausgeber, Übersetzer und damit bester Vermittler.

Er lädt zum Tee ein, die Wohnung liegt im 28. Stockwerk eines modernen Hochhauses, Kreuzung 56th Street und 1st Avenue. Vom Balkon ein grandioser Blick auf Midtown, das Chrysler-Building, links zieht langsam der East River vorbei, darüber eine große Coca-Cola-Reklame.

Drei Jahre später fliegt sie ohne Begleitung nach New York, als Gast bei Joachim, durch ihn lernt sie die Stadt und Reinhard Paul Becker kennen.

Dichter, Übersetzer, fabelhafter Koch und Erzähler, auch von seinem Weg nach Amerika.

<Drei Studenten aus Heidelberg reisten nach dem Krieg als erste Austauschstudenten nach Amerika, nach Yale.> Sie bleiben. Becker wird Professor an der NYU, Reinhard Lettau Professor in San Diego und der dritte wird durch Finanzgeschick zum Millionär.

Becker wohnt im Greenwich Village, 100 Bleecker Street, in einem der Hochhäuser der NYU im 20. Stock. Er hat eine umfangreiche Bibliothek mit deutscher und englischer Literatur und ein kleines Gästezimmer, wo sie mehrfach wohnen kann.

Bei ihm begegnet sie Reinhard Lettau, der aus Kalifornien zu einer Lesung in das Deutsche Haus kommt. Bei dem dritten im Bunde sind sie am nächsten Tag zusammen eingeladen. Er wohnt an bester Adresse in einem gläsernen Schaukasten mit der Skyline von Midtown rundum. Es gibt Drinks, später zeigt er ihnen das Gerät neben seinem Bett, ein Liveticker, der in der Nacht die Börsenkurse aus Frankfurt sendet.

Die Professoren führen da im Vergleich ein unaufgeregtes Leben, doch sie bleiben die alte Boy‘s Group. Beide Schriftsteller werden sie in München besuchen.

Paul und Joachim, nehmen sie oft zu erstaunlichen Orten mit. Unvergessen bleibt ein Abend bei dem exzentrischen Gelehrten Gerd Schiff, der nach umfassender Forschung zu Johann Heinrich Füssli in der Schweiz nach New York geht, ein Nachkriegs-Exilant. Er wohnt im chaotischen Chelsea Hotel, in dem es auch feste Mieter gibt. Nach dem langen, dunklen Flur, den verschlissenen Läufern, den abbröckelnden Wänden öffnet sich die Tür zum PARADIES.

Das Apartment ist elegant mit erlesenen Biedermeier-Möbeln und Objekten des Klassizismus ausgestattetet, an den Wänden Zeichnungen, Graphiken, Fotografien, Weggefährten.

Hier werden weiße Linien gezogen und später landen sie, begierig nach anderer Substanz, im spanischen, rot-samtigen Restaurant El Quijote, das zum Hotel gehört.

Eine Nachtpartie führt in The GILDED GRAPE. An einem endlos langen Tresen sitzen die schönsten Transvestiten von New York. Stark geschminkte Drag Queens mit toupierten Frisuren, in gewagten Kleidern und der passenden Handtasche. Im Ausschnitt reichlich Schmuck, natürlich alles Talmi. So etwas hatte sie noch nicht gesehen. Der Barmann mixt elegant die bestellten Cocktails.

Sie ist berauscht von New York, der Architektur, diesem leichteren Lebensgefühl, von der Schnelligkeit neue Kontakte zu schließen. Es gab nur noch dieses eine Reiseziel, 1981 überquert sie vier Mal den Ozean.

Geburtstag, Sommerferien, Weihnachten, wo konnte es schöner sein? Nur Joachim ist nicht mehr da, er und Christa Cooper hatten in einem New Yorker Loft geheiratet, der neue Posten war in Ankara.

Inzwischen waren Bernd Breslauer und Hardy Grieb mit dem Antiquariat von London nach New York gezogen. Sie kennen sich von Auktionen, Messen und haben schon viele vergnügliche Stunden zusammen verbracht. Jetzt ist sie gern gesehener Gast auf Fifth Avenue.

Breslauers Wohnung mit Blick auf das Metropolitan Museum ist selbst ein Museum. Geboren 1913 in Berlin, Sohn des erfolgreichen Antiquars Martin B. Breslauer, der Deutschland 1937 zwangsweise verlassen musste, wurde BB aus dem Londoner Exil zu dem weltweit bedeutendsten Vermittler des alten Buches und seines Einbandes.

Die weitläufigen Räume sind ein Zentrum der europäischen Kultur.

Umgeben von den subtilen Überresten der elterlichen Vergangenheit, Mobiliar, Bilder, Bücher, feilt er nächtelang an den Texten seiner Kataloge. Er ist ein humorvoller, aufmerksamer Freund, der gerne teilt, den Hummer genauso wie den Champagner. Dazu rezitiert er auswendig Goethe, Schiller, lange Gedichte, die er während seiner Schulzeit in Berlin gelernt hat.

Anschluss findet sie auch bei den Cohens, Amerikaner in 2. Generation jüdischer Auswanderer, Elaine Lustig Cohen mit polnischem und Arthur Cohen mit österreichischem Ursprung. Sie besitzen ein Townhouse zwischen Lexington und Third Avenue, im Souterrain das Antiquariat EX LIBRIS.

Anders als bei Breslauer ist hier Europa mit der MODERNE, dem Bauhaus, vertreten, Freischwinger von Mies van der Rohe, die Liege von Le Corbusier, Mondrians bunter Holzstuhl und an den Wänden große Leinwände von Sonia Delaunay, mit der sie in Paris befreundet sind.

Hier wird sie eingeladen, auch zu jüdischen Feiertagen, die Arthur mit Ritualen und Lesungen zelebriert und Elaine mit der koscheren Küche begleitet. Das gibt es bei Breslauer nicht, bei ihm wird Weihnachten und Silvester gefeiert.

Die Cohens lieben Europa und besitzen ein Haus auf Mallorca, in Galilea, wo sie die Sommer verbringen. Arthur schätzt Weine aus Frankreich, -Bordeaux, -Burgund, gelagert im Hauskeller. Beide sind Künstler, Elaine als Graphik-Designerin und Malerin, Arthur als Schriftsteller mit dem Schwerpunkt Judaismus, Herausgeber und Verleger. Multi-Talente.

Sie hat sich über sieben Jahre der Stadt New York angenähert und es sind dort inzwischen auch Freundschaften entstanden, vielfältig und nicht so konform. Es ermutigt sie, den Schritt zu wagen, die eigene Firma aufzulösen, Teile davon zu verkaufen und für Hauswedell & Nolte, für Ernst Nolte, Hauswedell war längst ausgeschieden, das Amerikabüro aufzubauen, zu leiten.

Die nachfolgenden Texte sind in dieser intensiv gelebten Zeit entstanden.

Sie schildern die Faszination New Yorks, das Rauschen einer Welt-Metropole, die Vielfalt der amerikanischen Städte und das komplizierte Wechselspiel zwischen zwei Kontinenten.

THE HOTEL CHELSEA

CHELSEA HOTEL: Sie wohnt zur Probe in der legendären Herberge, 222 West 23th Street. Ein Marmortreppenhaus mit zerbrochenem Starlight, mit einem Geländer, das keinen mehr hält. Der Portier, der heute durch die große Glasscheibe am Empfang fiel, die Glassplitter liegen auf allen Zimmerschlüsseln. Kunstwerke, einst Zahlungsmittel für die offene Hotelrechnung, hängen über den mit Leder gepolsterten Marmorbänken, sie warten auf Müde und Gestrandete.

Im Aufzug fährt sie mit drei Punks, sie fühlt sich ihnen seltsam ausgeliefert, im 5. Stock steigen sie aus. Ihr Zimmer ist im 12., dem obersten Stockwerk, von dort geht eine Wendeltreppe zur Wohnung des Komponisten, den sie manchmal singen hört. Die Kakerlaken, die auf das Öffnen der Tür warten, um sich in den Lichtkegel zu stürzen. Der Geruch nach Staub und abgestandener Luft, die aus dem Schacht neben dem Badezimmer kommt. Die vor Schmutz starren Lampenschirme auf schrägen Tischflächen. Ein kleiner Spitz aus Plastik wurde vergessen und lehnt am Lampenfuß. Viele geschriebene, gesprochene Worte, Sätze kleben an den Wänden, Vorhängen, aus Liebesnächten, Verzweiflungsschreie schweben über dem verkrusteten Teppichboden. Sie hält inne zwischen den Erinnerungen, die nicht für sie sind, die sich trotzdem auf ihre Schultern setzen und später in ihre Träume springen. Beim Hochschieben des Fensters atmet sie tief ein: da ist die Luft vom Meer, ein Geruch von Freiheit, spürbar im Gesicht. Sie starrt auf die Wasserbehälter, die in den wolkenlosen Himmel ragen und vertieft sich in das Rauschen der Stadt. Das helle Grün der Bäume, eine brennende Sonne auf den geteerten Dächern, die aufheulende Polizeisirene, deren blaues, sich drehendes Licht sie über mehrere Blöcke verfolgen kann wie auf einem Brettspiel. Am Ende des Bildes fließt ein schmaler, blauer Streifen, der Hudson River.

Sie beschließt in einem Jahr nach New York, nach Manhattan, zu übersiedeln, es soll die Westside bleiben.

Gläsernes Blau Frühjahr( 1981)

Central Park West The Alden 82nd Street. Erbaut 1925 von Emery Roth.

Foto Sibylle Kaldewey

New York City

2 Central

2 Park

5 West

Chronologisch nach Jahreszeiten Farbklang bei Zeitenwechsel

Home of the BraveLaurie Anderson

New York City

Sie trifft am 27. Oktober, ein Mittwoch, in New York ein. Die Adresse des neuen Zuhauses ist 225 Central Park West, Apartment 1517, 15. Stockwerk. Der Aufzug fährt noch eine Etage höher zu dem gemeinsamen Dachgarten. THE ALDEN ist ein ehemaliges Hotel, gebaut in den zwanziger Jahren. Manche jüdischen Emigranten aus Deutschland fanden hier ein erstes Quartier nach ihrer Ankunft in Amerika. Die Hotelhalle ist unverändert, man betritt sie durch eine Drehtür, die von dem livrierten Doorman in Schwung gehalten wird. Besucher werden vom Concierge telefonisch angemeldet.

Rubinrot Herbst( 1982)

Ankunft: Die strengen Bezüge, ihr mühsames Einfinden in die Stadt. Tag für Tag das Ablaufen der Häuserblöcke, die Augen weit geöffnet, um aufzunehmen, einzuordnen. Die Widerspenstigkeit der eigenen Mentalität, das Deutsche, das gerne Deutsch bleiben will und die Sehnsucht nach dem Anderen, dem Fremden. Ihr Staunen über die Großzügigkeit der Gesten, die Leichtigkeit des Austausches von Höflichkeiten. So wie der Doorman begrüßt, so möchte sie sein und doch nicht. Sie hält fest an der Tiefe, aber wo ist sie?

Aus der Ferne erkennt sie die große Verbundenheit und Einheit Europas. Eine museale Kulturstätte, jede Nation verschieden und doch seit Jahrtausenden miteinander verwoben in einem gemeinsamen Ursprung. Deutschland zeigt sich übersichtlich, geordnet in dörfliche Städte und Dörfern mit Gesang– und Trachtenvereinen. Auf diese Bewohner ist Verlass, wie auf deren Pünktlichkeit, Schnelligkeit und Genauigkeit. Die Kräftigen sind Manager, die Schwachen dienen, Ältere gehen in ein Seniorenheim, Kranke ins Spital und Verwirrte kommen in eine geschlossene Anstalt. Hier laufen alle frei herum, kunterbunt, Tag und Nacht treten sie auf, ein wildes Theaterstück. Die Verrückten streifen verwirrt durch die Häuserschluchten, die Alten gehen spazieren, sie werden von schwarzen Nannis gestützt, geführt, die Schwachen haben eine Biografie und sind oft Künstler. Was für ein Land, wie trügerisch. Die Betrunkenen taumeln vor den Bars, Bettler ohne Schuhe suchen in Papierkörben nach Resten, sie trinken aus den Bier- und Coca Cola Dosen. Ihre Wohnungen sind Parkbänke, Hauseingänge, die Lüftungsgitter der Subway. Ihr Bett ist aus Zeitungen gelegt, ein Karton wird zum Zimmer und eine alte Matratze wird zur Komfortzone. Sie hat immer Münzen in der Tasche, jeder Bettler bekommt 25 Cent, manchmal auch mehr. Zuhause liest sie Henry Miller The Air-Conditioned Nightmare.

Das EXCELSIOR HOTEL liegt nur einen Block zurück, in der 81. Strasse, es hat einen beliebten Coffee Shop. Hier frühstückt sie täglich bis zum Eintreffen der Schiffsfracht. Das Café betritt man durch die Hotelhalle, gegenüber der Rezeption zeigen große Wanduhren die Weltzeit an: London, Tokyo, Moskau, Berlin. Das Ambiente ist authentisch, die Einrichtung ist aus den 50er Jahren. Es begegnet ihr eine Ästhetik, die sie aus Filmen kennt. Eine schöne Fremdheit überfällt sie, hier wird sie schreiben.

Auf der langen Chromtheke stehen große Schalen, gefüllt mit roter Geleespeise, Fruchtsalat und auf einem Hügel aus Eiswürfeln liegen orangefarbene Melonenscheiben. Vor dem Tresen aufgereiht chromblitzende Barhocker, rundum drehbar, mit rosa farbiger, rissiger Plastikpolsterung. Die Wände sind in einem hellen Rosa lackiert. Der Raum spiegelt sich in der Rückwand der Bar: Enjoy your live, have a Coke. Der Air-Conditioner surrt, obwohl der Sommer längst vorüber ist.

In einer Nebenstraße sitzt ein überaus dicker Italiener auf der Treppe zu einem Townhouse, vor ihm ein Buch. Er fragt jeden der vorbeigeht, jetzt auch sie, nach ein paar Cents. Wenn er keinen Erfolg hat, liest er sofort weiter, er hat keine Zeit zu verlieren, auch als Bettler nicht. Time is Money, auch für ihn.

Die ersten zwei Wochen sind eine rasende Höllenfahrt in Linienbussen. Sie will die Stadt erkunden, das exakte Fahrgeld hat sie parat. Sie ist über das Tempo, die Unerbittlichkeit des Schleuderns, das Abstürzen in Schlaglöcher, nicht erschrocken. Aber heute, an einem leisen Sonnabend, als der erste Schnee fällt, wacht sie auf und betrachtet die blauen Flecken an Armen und Beinen: diese erste Prüfung hat sie bestanden.

Das mit der neuen Sprache ist so als wenn sie noch einmal zur Welt kommt.

Anfangs versteht sie nichts, sie ahnt nur die Inhalte des Gesprochenen. Ihre Antwort ist ein mühsames Stammeln in der fremden Sprache. Es folgt das Üben, das Erlernte anwenden, später die Verfeinerung: eine Wiedergeburt.

Heimisch wird sie bei ZINGONE BROTHERS, der kleine Gemischtwarenladen zweier italienischer Brüder auf Columbus Avenue. Frisches Obst, Gemüse, Pasta und alle notwendigen Produkte zum Kochen. Hier kauft sie ein, wird sie freundlich begrüßt, das Geschäft hat bis 24 Uhr geöffnet, sie liefern auch.

Bei Bernd Breslauer ist sie oft zu Gast, meist nach spontanen Abendanrufen.

Zum Lunch die Treffen zusammen mit Hardy. Eine starke Verbundenheit.

160 East 70th Street: Eine erfolgreiche Party bei Elaine und Arthur Cohen, alle Bücherfreunde waren gekommen. Die Rückfahrt im Taxi zur Westside. Zwischen Park Avenue und Madison Avenue blockieren zwei identische, blaue Kombiwagen die Straße. Ein Mann signalisiert, dass das Taxi warten muss. Zwei Männer öffnen die Tür des einen Wagens und von einer Bahre wird ein länglicher, blauer Plastiksack herausgezogen. Die Last ist schwer, die Träger mühen sich ab, der Sack wird in den zweiten Wagen gehoben, dieser fährt vor den ersten und man lässt das Taxi passieren. Sie gruselt sich, war es eine Leiche, ein Mord oder nur der Dreh für einen Kriminalfilm? Der Taxi-Fahrer scheint ungerührt.

Bauhaus Blau Winter( 1982)

Die Wassertürme ragen dunkel aus dem hellen Schnee, hölzern und rund erinnern sie an Neujahrsraketen, die versehentlich nicht abgeschossen wurden. Morgens ein Anruf von Arthur Cohen: Es wurde Kafkas Bibliothek gefunden.

Flug New York-Montreal: Tagesausflug zur Ausstellung des James Bay Projects: A River Drowned by Water im Museum of Fine Arts, eine gemeinsame Arbeit von Rainer Wittenborn und Claus Biegert. Der erstere Maler und Zeichner konserviert das Sichtbare, Biegert interviewt, konserviert die Sprache, Dokumentation über die Cree, Ureinwohner von Kanada. Die Stadt ist vereist, sie schlittert den Weg zum Museum entlang hoher Schneeberge, prächtige Gebäude ergänzen das weiße Bild. Sie verbringt den restlichen Tag im Museum zwischen Kunst und Speise. Rückflug mit Verspätung, das Flugzeug muß enteist werden.

Ivan Nagel und Bernd Breslauer zu Gast. Sie sollten sich kennenlernen, doch BB ist zu konventionell für den Theatermann, der bescheiden sein Wissen teilt. Leider fließen die intellektuellen Ströme nicht zueinander.

Dunkelviolett Winter( 1983)

Abendessen mit Paul Becker in Little Italy, in einem der verrufenen Mafia-Lokale.

Auf dem Fußboden Sägespäne und in Reichweite wartet ein Münztelefon für das letzte Gespräch. Die Szene kennt sie aus Filmen, doch PB kann dazu eine wahre Geschichte erzählen. Paul berichtet auch, dass Joachim Sartorius in Kürze nach New York kommen wird, er hat eine neue Freundin, eine Gräfin.

Christa Wolfs Kassandra, wie stark und gleichzeitig töricht Frauen sein können.

Treue, das überflüssige Warten, ein Hoffen ohne Aussicht. Frauenschicksale in allen Jahrhunderten und in allen Literaturen, allen Sprachen und noch immer kommen neue Figuren dazu. Erdulden bedeutet Verlieren.

Laubgrün Frühling( 1983)

Die Frühlingsmonate verbringt sie in Hamburg, dort wird sie für den neuen Beruf, das Auktionswesen geschult, in praktischer Anwendung.

Die überfüllten Straßen, Menschenströme ziehen zur Penn Station, nur die Bewegung zählt, vorbei an verkommenen Häusern, an leer stehenden Fabriketagen, Obdachlose ohne Schuhe liegen in den Hauseingängen. Die Blicke abgetastet: Everybody is looking for something. Das Dröhnen der Trucks, die Vibration der Subway, das Heulen der Polizeisirenen: Das alles ist New York. Die Stadt, die Bewunderung, Liebe und Hass aus seinen Bewohnern saugt.

Neonfarben Sommer( 1983)

Fraglich ist, ob vor ihr schon jemand Adalbert Stifter in der Subway gelesen hat?

In dieser Umgebung wirkt die behutsam gewählte Form sehr künstlich, eine verlorene Zeit, übertönt vom Rattern des Zuges.

St. MARKS PLACE: In einer der abgewendeten Gegenden, verklebte Wände, ausgebrannte Zimmer, Fenster zugemauert, beschriebene Türen. Was wäre einfacher, als von diesem Café aus, an diesem Marmortisch sitzend, die Hügel von Florenz zu sehen?

Das Sehnen nach den Freunden, die fern von hier, in Europa sind.

Abends mit Bernd Breslauer zur Lower East Side. In seiner Begleitung erscheint ihr die Gegend gefährlicher als sonst oder es liegt an seiner eleganten Kleidung, wie immer mit schwarzem Borsalino? Sie speisen im Café Orlin, ein kleines Bistro, sie haben Logenplätze am St. Marks Place. Ein dunkelhäutiger Mann spielt direkt vor ihnen Straßentheater, Pantomime: Flöhe mit verschiedenen Nationalitäten springen durch die Luft. Sie amüsieren sich und Breslauer zückt einen Zehn-Dollarschein. Als Kontrast besuchen sie anschließend die BAR 1/5 AVENUE am Washington Place. Überraschend ist die Pianistin, eine Blondine mit wirrem, hoch gestecktem Haar, in einem Kleid mit rosa Punkten und auf High Heels. Sie spielt die übliche Barmusik. Am Nebentisch sitzt Timothy Baum, Welt-Spezialist für Surrealismus, die Antiquare grüßen sich.

Bei der Einreise wird sie nach ihrem Namen gefragt, während sie buchstabiert verwurzelt sie sich im fremden Land. Die neuen Koffer rollen in der Halle auf dem Band an. Sie sind schwer, doch ein junger Mann hebt sie auf den Rollwagen: Welcome to America. Schnell wird ihr ein Taxi zugewiesen, der Mann fährt los.

<Where we are going? > fragt sie ihn. <Wohin Sie möchten>, antwortet der schwarze Chauffeur, er erinnert auch Fräulein, Liebe und Heidelberg.

Grelles Gelb Herbst( 1983)

Zurück aus Deutschland. Die Bilder sind schnell abgestreift. Die ersten Schritte führen in den Central Park zu den glänzenden Granitblöcken. Fortsetzung ihres Spazierganges auf dem Schwebebalken, es weht ein kalter Wind.

Angekommen: Die Luft, der Himmel, das Licht wie erinnert, sie ist verwundert, wie selbstverständlich alles vorhanden ist, doch noch traumhaft. Sie ist überglücklich sich hier vorzufinden, sie ist da, wo sie ist, hier, im Rauschhaften des Schreibens.

Die Einsamkeit verteilt sich in den Zimmern. Durch das offene Fenster strömt der Herbst herein, nachts schwarz und am Tage golden. Die sich wiederholenden Liebeslieder im Radio: It’s my heart, it’s breaking. Später Schumann, seine Sehnsucht, sie rührt sie nur an den Rändern, schöner sind die Tage.

Die Flügel der Flugzeuge: metallische Wünsche. Dorthin getragen zu werden, wo sie sein möchte, jetzt. Aber ohne Eile, da die Richtungen vertauscht sind: Er ist hier und sie ist dort. Sehr nah ist seine Entfernung, ausgebreitet, fürsorglich.

Sie beschreiben sich im Sinne der Sprache. Jeder malt dabei ein Bild von sich in lichtechten Farben.

Das Warten auf die Farben, die wirbelnden Blätter. Die Drachen liegen bereit.

Luftzeichen. Es wird kühl: Sie gehen ins Haus.

Treue: Sie liebt ihn, wie immer, gleichzeitig vier andere Männer. In ihrem Kopf sind die Namen gemischt und sie verteilt sie zärtlich. Während sie sich wünscht, dass einer den Tee kocht, liegt sie längst in den Armen eines anderen. Nachdem sie dessen Stirn berührt hat, küsst sie ein anderer auf den Mund. Together.

Nicht heilbar: <Wer wurde denn wann zerschnitten?> fragt ein Mann während er an ihren Narben entlang streift.

Wie oft haben sich ihre Gedanken gekreuzt, über dem Atlantik, oder in den Gegenden, wo sie sich jeweils befanden? Wohin gerät die Sehnsucht, wenn sie auf dem Weg ist und doch nicht ankommt?

Transatlantisch: Wenn sie müde sind, schlafen sie ein, verloren in den immer verschobenen Zeitzonen

14. November: Ernst Nolte, gibt zur Bekanntmachung der neuen amerikanischen Niederlassung und Vorstellung ihrer Leiterin, einen Empfang im HOTEL CARLYLE.

Exklusives Ambiente, alle wichtigen Sammler, Kunsthändler, Galeristen und Antiquare sind anwesend. Heinz Berggruen schaut kurz vorbei, trägt sich in das Gästebuch ein. Er wohnt im privaten Teil des Hotels, einige Etagen höher. Ein Fotograf dokumentiert das gesamte Ereignis.

Kadmiumrot Winter( 1983)

Das Büro ist im Apartement 225 CPW, ein Arbeitszimmer mit IBM Kugelkopf und Blick zum Hudson. Die Klienten werden vor Ort besucht. Als der erste Schneesturm tobt, trifft sie zur verabredeten Zeit in den Galerien ein. Dort ist man erstaunt und meint das wäre eine deutsche Tugend, bei dieser Wetterlage zu erscheinen.

Die Berichte sind spärlich. Wie eine Weltraumfahrerin sieht sie hin und wieder in den Rückspiegel und ruft: <Oh, da ist die Erde.> Die ablaufende Zeit, die nicht beweisbar ist. Die Mühe, einen Schritt zu machen, den sie rückwärtsblickend noch sehen kann.

Post von Rainer Wittenborn mit der Publikation Der große Fluß ertrinkt im Wasser, das Projekt mit Claus Biegert. Es ist eine Dokumentation über die Ureinwohner Kanadas, die durch den Bau eines Kraftwerkes ihre Jagdgebiete verlieren werden. Sie sichteten Materialien und bewahren so, was in Kürze verloren sein wird.

Eine lebendige Lektüre, sensible Beobachtungen, die Sprache poetisch bis weitschweifend. Die Original-Arbeiten hat sie in Montreal gesehen.

GUGGENHEIM MUSEUM: Rekonstruktion des Triadischen Balletts von Oskar Schlemmer durch Debra McCall. Sie inszeniert das Stück nach den Original-Aufzeichnungen, die sie in Deutschland entdeckt hat. Einer der letzten lebenden Bauhausschüler, Andres Weininger, hilft ihr bei der Umsetzung. Der Begeisterung für die fantastischen Kostüme, das Ballett, folgt eine private Party am CPW für die Choreografin. Das Bauhaus hat New York nochmals erobert. Am Morgen Schnee-Spaziergang im Park.

Leuchtendes Blau Winter( 1984)

LOWER EASTSIDE: Eröffnung bei Hal Brome mit der New Yorker Kunstszene.