Nibelungen Ltd. - Steffen Schulze - E-Book

Nibelungen Ltd. E-Book

Steffen Schulze

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Beschreibung

Es ist die Chance seines Lebens. Der Schatz der Nibelungen. Mehr als drei Tonnen pures Gold. Die Nibelungen Ltd. steht kurz vor der Bergung des Hortes und verspricht unfassbare Gewinne. Aber sie sind nicht allein auf Schatzsuche. Ein gefährlicher Wettlauf beginnt.

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Seitenzahl: 274

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Inhaltsverzeichnis

Motto

21. 02.2009, Vorwort

28. 06.0438, später Nachmittag, von dichtem Laubwald umschlossenes Hochplateau

30. 05.2009, früher Vormittag, Worms

31. 05.2009, mitten in der Nacht, Worms

31. 05.2009, Mittag, Worms

31. 05.2009, später Abend, Worms

31. 05.2009, nachts, Worms

31. 05.2009, nachts, Worms

31. 05.2009, nachts, Eisenach

01. 06.2009, früher Vormittag, Worms

25. 07.2009, mittags, 100 km vor Worms

25. 07.2009, abends, Worms

25. 07.2009, nachts, Worms

27. 07.2009, früher Vormittag, Eisenach

24. 08.2009, früher Vormittag, Hamburg

24. 08.2009, morgens, A1 Richtung Norden

24. 08.2009, Mittag, Hamburg

24. 08.2009, früher Abend, Bad Salzuflen

24. 08.2009, später Abend, Bad Salzuflen

25. 08.2009, mittags, Berlin

28. 08.2009, Nachmittag, Eisenach

28. 08.2009, Nachmittag, Parc Naturel Regional des Vosges du Nord

28. 08.2009, später Nachmittag, A33 Richtung Süden

28. 08.2009, später Nachmittag, Parc Naturel Regional des Vosges du Nord

28. 08.2009, früher Abend, Eisenach

29. 08.2009, später Nachmittag, potenzielle Fundstelle des Schatzes

29. 08.2009, morgens, Parc Naturel Regional des Vosges du Nord

29. 08.2009, Mittag, Eisenach

29. 08.2009, später Abend, potenzielle Fundstelle des Schatzes

29. 08.2009, später Nachmittag, Eisenach

29. 08.2009, abends, Eisenach

30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach

30. 08.2009, vor dem Morgengrauen, Eisenach

30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach

30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach

30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach

30. 08.2009, Nachmittag, Eisenach

30. 08.2009, später Abend, Eisenach

30. 06.0438, Vormittag, Verteidigungslager

30. 09.2009, später Abend, Berlin

Jackpot

Im Bann des Jonastal

Die Millionen-Beichte

Impressum

Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig.

21.02.2009, Vorwort

Die Finanz- und Wirtschaftskrise wütete wie die Pest im späten Mittelalter durch Europa. Unzählige Arbeitsplätze, Klein- und Großbetriebe, Konzerne, Bankhäuser, beinahe ganze Regierungen und noch mehr private Geldanlagen fielen ihr zum Opfer. Wer Zertifikate der Lehman Brothers zum Kauf anbot, konnte ebenso seine Pestbeulen offen zur Schau tragen. Er wurde gemieden wie die sprichwörtliche Krankheit.

Natürlich wurden die vermeintlich Schuldigen unverzüglich öffentlich an den medialen Pranger gestellt. An Banken und Investmentgesellschaften, die Hedge-Fonds mit Beteiligungen an US-amerikanischen Hypothekenkrediten aufgelegt hatten, wurde kein gutes Haar gelassen. Als der überseeische Immobilienmarkt ins Straucheln geriet, brachte er den weltweiten Finanzsektor gleich mit zu Fall. Das der Börsenboom der letzten Jahre, so stieg der DAX seit 2003 um 350 Prozent, ebenfalls nicht ganz unschuldig gewesen sein könnte, wurde nur nebenbei und nicht von den großen Tageszeitungen und Wirtschaftsblättern erwähnt.

Aber was tun? Natürlich muss in Zukunft stärker reguliert und kontrolliert werden. Von staatlicher Seite selbstverständlich. Gleichzeitig sollten mehrere der angeschlagenen Finanzriesen in Regierungskontrolle übergehen, nicht ohne vorher Unterstützungsgelder in Höhe mehrerer Milliarden Euro in den Rachen geworfen zu bekommen. Keine Chance mehr für innovative, von Laien und den meisten Bankberatern undurchschaubare Finanzprodukte mit hohen Renditen, bei mindestens ebenso hohen Risiken.

13.03.2009, Wormser Zeitung:

Wie erst heute bekannt wurde, überbrachte ein Mitarbeiter der Klosterbibliothek Waldsassen dem Nibelungen Museum in Worms eine wertvolle Handschrift als Leihgabe für die noch bis September andauernde Sonderausstellung zum Thema „Schatz der Nibelungen“. Hier werden seltene Münzen und Schmuckstücke ausgestellt, die zeitlich in die Ära der Nibelungensage passen.

Bei den Dokumenten handelt es sich laut Museumsangaben um eine mittelalterliche Handschrift, die einige Experten als Fortsetzung des Nibelungenliedes ansehen. Die etwa dreißig losen Blätter wurden bei Umräumarbeiten im Zuge einer Teilsanierung des berühmten Klosters Waldsassen entdeckt und sind in einem erstaunlich guten Zustand. Schon nach dem Studium der ersten Strophen entschied sich die Bibliotheksleitung, das Material dem Nibelungenmuseum für die Sonderausstellung zur Verfügung zu stellen.

In den besuchsfreien Zeiten werden die Dokumente von einer Expertin der Uni Hamburg untersucht. Nach einer ersten Analyse durch Frau Dr. Sabine Waltharius bestätigten sich die Vermutungen der Klosterbibliothekare, dass es sich um eine Fortsetzung der Heldensaga um Siegfried handeln könnte. Die sangbaren, vierzeiligen Strophen, die heute auch als Nibelungenstrophe bezeichnet werden, stimmen mit der dem ursprünglichen Original sehr nahe stehenden Fassung „B“ des Heldenepos verblüffend überein.

Über den Inhalt der Handschrift hüllen sich alle Beteiligten bisher in Schweigen. Auch auf die gezielte Nachfrage unseres Reporters, ob der Text Hinweise über den Verbleib des Nibelungenschatzes enthalte, wurde von Frau Doktor Waltharius nur mit einem charmanten Lächeln reagiert.

Die Museumsleitung gibt weiterhin bekannt, dass aufgrund des großen Ansturms auf den alten Text, die Besichtigungszeit des wertvollen Dokumentes eingeschränkt werden musste. Besucher werden angehalten, langsam an der Ausstellungsvitrine vorbei zu schreiten. Außerdem herrscht striktes Fotografier- und Filmverbot. Sobald die Übersetzung und wissenschaftliche Auswertung der Schriften abgeschlossen ist, wird deren Inhalt vollständig veröffentlicht werden, versicherte uns Frau Dr. Waltharius.

28.06.0438, später Nachmittag, von dichtem Laubwald umschlossenes Hochplateau

Gerhagen drückte sich ganz tief an den aufgedunsenen Bauch des toten Ochsen. Die dumpfen und schmatzenden Einschläge der Pfeile und Schleudergeschosse kamen in immer kürzeren Abständen. Unter jedem Aufprall zitterte das tote Tier, als würden ihm die Stahlspitzen und Bleikugeln immer noch Schmerzen zufügen.

Der Regen hatte das Lager in einen einzigen Morast verwandelt und nahm den letzten Überlebenden die Sicht auf ihre unerbittlichen Angreifer. Sturm erschütterte die mächtigen Eichen, welche die kleine Lichtung wie eine natürliche Palisadenwand umschlossen und schienen sich ebenso unter dem Schmerz des Kampfes zu beugen. Blut sammelte sich in Pfützen. Die Luft war angefüllt mit dem Gestank nach Verwesung und Tod. Und den markerschütternden Schreien von Verwundeten. Gerhagen schaute sich verzweifelt nach seinen Kameraden um. Sie sollten einen gezielten Ausbruch organisieren, eine heftige Gegenattacke, die ihre Angreifer verunsicherte und eine Bresche schlug. Aber daran war im Moment nicht zu denken. Bogodan lag schon seit einer halben Stunde mitten in ihrem provisorisch befestigten Lager am Boden, mit einem schlanken, zitternden Speer in seiner Brust. Und ringsum sah es nicht besser aus. Die Männer suchten Schutz hinter den zur Verteidigung umgestürzten Ochsenkarren, hintertoten Zugtieren, teilweise sogar hinter ihren Kameraden. Panik und Angst machten sich breit.

Sie hätten es nicht nehmen dürfen. Gerhagen hatte es von Anfang an gewusst. Aber er musste gehorchen. So war es seit jeher fest geschrieben. Und auch war die Verlockung groß gewesen. Als das Wasser des Rheins endlich lautlos zurückwich und Stück für Stück die zwei großen Lastkähne am Grunde des ausgemauerten Beckens aus der Erde zu wachsen schienen, da war die glorreiche Vergangenheit zur Gegenwart geworden. In diesem Moment war Gerhagen vor Ehrfurcht auf die Knie gefallen und seine Kameraden hatten es ihm gleich getan. Aber Claudius, der Centurio, hatte kein Mitgefühl und keinen Respekt gekannt. Erbarmungslos hatte er die Mannschaften angetrieben. Sie hatten Planken aus uralten Bäumen gehauen und den schweren Inhalt der Kähne auf fünfzehn Ochsenkarren verladen. Als es dem Centurio, der die Arbeiten stolz in seinem glitzernden Brustharnisch in der untergehenden Sonne funkelnd, überwachte, zu langsam voran ging, hatten die Hunnen und sogar einige römische Soldaten mit anfassen müssen. Eine Schande. Der Schatz gehörte den Burgundern. Von Anbeginn an. Er war Fafnir abgetrotzt worden. Und jetzt verluden sie ihn auf Karren, um ihn in die neue Heimat zu bringen. Als Tribut.

Die neue Heimat. Für Gerhagen gab es die nicht. Aber er musste gehorchen. Und so zogen sie los. Ein mächtiger Trupp. Römer, natürlich, Hunnen und Burgunder für die niederen Arbeiten. Sie waren gut voran gekommen. Die Wege waren passier- und die Furten gangbar. Die Flüsse waren nach einem trockenen Sommer seicht und erwarteten sehnsüchtig die Unwetter des Herbstes und die Schneeschmelzen des Frühjahrs. Und die Ochsen waren ausgeruht und standen gut im Futter.

Schon am zweiten Abend, sie waren bis zur Dämmerung gezogen, kam Unruhe auf. Gerhagen kannte die Nervosität, die plötzlich aus dem Nichts entstehen konnte, meist Vorbote schlimmen Unheils. Er hatte schon viele Schlachten erlebt und gute Männer im Kampf sterben sehen. Und jedes mal hatte sich diese Unruhe über die Verdammten gelegt.

Obwohl Wein und Met für die Dauer der Reise verboten waren, hatte sich ein streitlustige Gruppe um den Hunnen Bogodan daran ergötzt und fing an, gegen die etwas abseits, absichtlich in einiger Entfernung zu den von den Römern bewachten Wagen postierten Burgundern, zu pöbeln. `Sie würden sich niemals zu Untertanen Cäsars beugen lassen.`, hatte Bogodan gebrüllt und Gerhagens tapfere Gefährten verhöhnt und beleidigt. Schon griffen einige zu ihren Speeren und vereinzelt war das unheilvolle Surren der Bleischleudern zu hören, die erwartungsvoll durch die Luft gedreht wurden. Auch Gerhagen hatte sein Kurzschwert gefasst. Genau wie sein Helm, den er allerdings mit Runen und einem Wildkatzenfell versehen hatte, war es ein ehemaliges römisches Beutestück.

Und dann war alles so schnell gegangen, das Gerhagen sich an den genauen Ablauf der Geschehnisse nicht erinnern konnte. Plötzlich, wie aus dem nichts, metzelten Bogodans Männer die Römer nieder, schlugen Legionäre auf Hunnen ein und schlachteten Burgunder jeden ab, der sich ihnen näherte. Eine Blutorgie ohne erkennbares Ziel. Kampferprobte Soldaten hieben auf schlaftrunkene und unvorbereitete Kameraden ein. Das Blut spritzte aus Armstümpfen, aufgeschlitzten Kehlen und Bäuchen. Es gab weder Freund noch Feind, nur Raserei und fiebrige Wut. Die Männer schrieen und röchelten, zuckten im Todeskampf mit weit aufgerissenen Augen und Mündern. Ein schreckliches Bild.

Dann war plötzlich alles vorbei gewesen, genau so schnell und unerwartet, wie es begonnen hatte. Gerhagens Schwert hatte vom Blut getöteter Gegner getropft, ohne dass er ihnen ein Gesicht oder eine Zugehörigkeit geben konnte. Und auch er war verletzt worden. Nur ein Kratzer an der Schulter.

Eine unheimliche Stille hatte sich im Lager ausgebreitet und der Geruch nach Tod. Und aus der Totenstille war Bogodan zwischen die überlebenden und schwer atmenden Männer getreten, die sich respektvoll vor ihm geteilt hatten, in der einen Hand den Kopf des Centurios Claudius haltend und hatte gerufen: `Römer, Burgunder, Hunnen, zieht gemeinsam mit mir in die Heimat oder sterbt.`

Und wie vom Wahn befallen hatten ihm die Überlebenden zugejubelt und ihn hoch leben lassen. Seit dem waren sie vorsichtiger marschiert, hatten Nachhuten und Voraustrupps gebildet. Aber sie waren verfolgt worden. Das Gemetzel konnte nicht ungesühnt bleiben. Ebenso wenig der Raub des Schatzes. Immer wieder stießen sie auf Späher ihrer Verfolger, die vor allem von den überlebenden Hunnen mit unaussprechlicher Grausamkeit getötet und verstümmelt und hinter ihnen als Warnung an Bäumen aufgehängt zurück gelassen wurden.

Das Wetter hatte sich verschlechtert. Es hatte zu regnen begonnen. Kein heftiger, aber kurzer Sommerschauer, sondern dicke Wasserfäden, die unaufhörlich aus einem grauen Himmel fielen. Wege wurden zu schlammigen Bächen, Furten zu unkalkulierbaren Risiken. Doch sie hatten die müder werdenden Ochsen immer weiter angetrieben, ihnen keine Pause gegönnt. Denn die Tiere verlangsamten ihr Tempo. Machten es den Verfolgern leicht, Schritt zu halten, sie eventuell auch zu umgehen, um sie in einen Hinterhalt zu locken.

Gerhagen hatte sich nah an die Karren gehalten. Das war jetzt nicht mehr untersagt. Sie waren nun eine Horde. Ein Trupp Verstoßener, Verdammter. Die Last seiner Waffen und Taten drückte schwer auf seine Schultern. Er hatte unruhig und aufmerksam das dichte, undurchdringliche Unterholz an den Wegrändern beobachtet. Dort drinnen konnten sich hunderte von Kriegern verbergen, nur wenige Meter entfernt, ohne dass sie bemerkt worden wären. Der Schamane hielt sich immer in seiner Nähe, gierte mit brennenden Augen die Kisten und Säcke auf den Wagen an. Gerhagen mochte ihn nicht. Er redete jedem nach dem Mund, immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Als die Römer in Burgund einfielen, hatte er die burgundischen Anführer angestachelt, Widerstand zu leisten, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Er hatte gewettert und die alten Götter beschworen, sogar ein Blutopfer gefordert. Nach der unvermeidlichen Niederlage war er jedoch der erste, der dem römischen Feldherrn Aetius ewige Treue schwor.

Zehn Tage und zehn Nächte waren sie unterwegs gewesen, bis sie an dieses Hochplateau gelangt waren. Ein schmaler Weg führte hinunter ins Tal. Eine lang gezogene Schlucht. Gewunden und von steilen Felswänden, die auch mittags fast jedes Sonnenlicht vom feuchten und von Moosen bewachsenen Boden fern hielten, bedrohlich überragt. Zu schmal für die Karren und außerdem beschützt vom Geiste Fafnirs.

Die Nachhut war nicht zurückgekehrt. Es hatte schlimmer als je zuvor geregnet. Die Ochsenkarren waren tief im Morast versunken. Eine Falle. Blitz und Donner. Bäume waren vom Sturm gepeitscht zerbrochen, hatten mehr als einmal den Weg versperrt. Und die Verfolger kamen näher. Gerhagen konnte sie nicht sehen, spürte aber deren Anwesenheit. Angst sprach aus vielen Gesichtern. Aber Bogodan blieb stark. Sie hatten den Schatz wieder dem Wasser übergeben. Ein kleiner Weiher, nicht sehr tief und nicht weit vom Plateau entfernt. Auf ihrem weiteren Weg hätten sie die Kisten und Säcke einzeln durch die schmale Schlucht tragen müssen, völlig etwaigen Verfolgern ausgeliefert, unfähig gleichzeitig ihre Waffen zu führen. So hatten die überlebenden römische Pioniere eine Grube auf dem Grund des Tümpels in der Nähe der Schlucht ausgehoben und sie hatten ihre Beute darin versenkt und sich dann auf Kampf eingestellt. Viele Ochsen waren bereits vor Erschöpfung verendet. Den übrigen wurde die Kehle durchgeschnitten und aus den Karren und Tierleibern bauten sie einen Schutzwall, eine Befestigungsanlage gegen die anrückenden Verfolger.

Plonk. Wieder wurde der tote Ochse, hinter dem Gerhagen Schutz suchte, von einem mächtigen Speer getroffen. Der Bauch des toten Tieres wurde aufgerissen und eine Wolke fauler, stinkender Gase hüllte ihn ein. Der Boden bebte. Erneut schrieen Männer im Todeskampf. Ein weiterer Hagel von Pfeilen und Bleigeschossen regnete auf die Stellung herab. Gerhagens Nachbar spähte über einen umgestürzten Karren, einen Speer wurfbereit in der Hand. Ein Bolzen aus einer Torsionsarmbrust riss ihm den halben Kopf weg. Er verharrte einen Moment in der Luft, bevor er in sich zusammen sackte.

Die Erde erzitterte. Hufgetrappel. Mächtige Pferde, mit ihren Keulen schwingenden Reitern brachen durch den Wald. Sie drückten Zweige und junge Bäume wie Grashalme auseinander, unaufhaltbar in ihrer gerechten Wut stürmten sie durch die grauen Regenschleier. Rachegeister. Gerhagen umklammerte sein Kurzschwert. Wie viele Gegner hatte er damit schon zur Strecke gebracht? Er spürte, dass es nun ein Ende finden würde. Heute verteidigte er nicht seine Heimat oder kämpfte zum Ruhme seines Herren. Nein, heute war er ein gewöhnlicher Dieb. Lohnte es sich, dafür zu sterben? Gerhagen hatte den Schwertgriff fest gepackt. Er stand auf und mit einem mächtigen Streich spaltete er den nächstliegenden Brustkorb. Nein, dafür lohnte es nicht, zu sterben.

30.05.2009, früher Vormittag, Worms

„Kackfresse!“

Paul stockte kurz, ohne jedoch stehen zu bleiben und ging dann weiter die Wormser Fußgängerzone entlang in Richtung Ludwigsplatz.

„Fickfrosch!“

Nein, das konnte nicht sein. Der Rufer kam näher. Jetzt Paul blieb stehen, drehte sich um. Die Geschäfte hatten gerade erst geöffnet, trotzdem waren schon viele potenzielle Konsumenten unterwegs. Eine Woge von vermummten, türkischen Hausfrauen mit einer unübersichtlichen Anzahl von um sie herum wuselnden Kindern brandete auf Paul zu und nahm ihm die Übersicht. Bevor er in die Gruppe aufgesaugt wurde, setzte er sich mit schnellen Schritten wieder in Bewegung.

„Muschilecker!“

Wie in der Schrittfolge plötzlich versteinert blieb Paul erneut stehen, spürte einen heftigen Aufprall auf seinen Rücken und konnte sich gerade noch so auf den Beinen halten.

„Hunni, Mann, das hätte ins Auge gehen können!“

Paul fuhr herum und blickte ungläubig auf den kleinen Kerl herunter, der ihn beinahe zu Fall gebracht hätte.

„Da guckste, wa? Hab ich mir gleich gedacht, dass Du das bist.“

Ein nicht enden wollender Wortschwall in starkem Berliner Dialekt stürzte über Paul herein. Hauptmerkmal war dabei, dass „Gs“ durch „Js“ ersetzt wurden und das eine oder andere „T“ schon mal unter den Tisch fiel.

„Schaust ja wie ein Leuchtturm aus den Menschenmassen heraus. Von weitem hast Du Dich auch kaum verändert. Na gut, bei näherer Betrachtung... Das ist ja eine mächtige Stirnglatze, die Du mit Dir herum trägst. Soll ja in Mode kommen. Wenigsten versuchst Du nicht, die letzten drei goldenen Haare lässig über die Fehlstellen zu kämmen. Das sieht nämlich ganz schön blöde aus.“

Anscheinend konnte der Kerl reden, ohne Luft holen zu müssen. Typisch.

„Ansonsten hast Du Dich aber gut gehalten. Nur auf den Bauch musst Du aufpassen, sonst hast Du ratzi fatzi eine richtige Trommel an Dir haften und die wirst Du so schnell nicht wieder los. Aber Schlips und Kragen tarnen den Wohlstandsspeck ja ganz gut. Bist Du unter die Banker gegangen, oder was? Sag doch was, Mensch!“

Endlich unterbrach der kleine Dicke, der eigentlich nicht dick, sondern nur gedrungen gebaut und mit kurzen aber kräftigen Armen ausgestattet war, seinen Redefluss und Paul konnte langsam seine Gedanken ordnen und auf die Aufforderung reagieren: „Hallo Penne!“

„Genau! Hast mich ja doch nicht vergessen. Und so schlimm habe ich mich ja auch nicht verändert, wa...“

Der Wasserfall begann von Neuem. Diesmal hörte Paul nicht konzentriert zu, sondern musterte seinen ehemals besten Freund von oben bis unten, als wäre er ihm erst in dieser Sekunde unter die Augen gekommen.

Er hatte sich praktisch überhaupt nicht verändert. Peter Pfennig, Spitzname Penne. In der Schule waren sie die „Geldsäcke“ gewesen, allerdings nur ihrer Nachnamen wegen: Hundertmark und Pfennig. Und sie waren unzertrennlich aufgetreten, als siamesische Zwillinge gewissermaßen. Hatten auch eine Menge Mist gebaut, natürlich. Sie hatten regelmäßig Tourette-Wochen zelebriert. Jeweils abwechselnd hatte einer der beiden mit Schimpfwörtern nur so um sich geworfen und dabei erstens Wiederholungen zu vermeiden und sich zweitens in möglichst kreativen Neuschöpfungen versucht. Das war natürlich nicht überall auf Begeisterung gestoßen. Am wenigsten bei den Lehrern. Ihre Klassenkameraden dagegen fanden es super. Sie waren an sich schon ein komisches Pärchen: der lange Dünne plus der kleine Dicke gleich die „Geldsäcke“.

Penne hob sich äußerlich kaum von Pauls damaligem Busenfreund ab. Die Frisur ähnelte bis auf die dunkelbraune Farbe immer noch einem frischen Brokkoli. Dabei hatte sie neidisch machender Weise nichts von ihrer alten Fülle verloren. Paul dagegen hatte in der Anfangsphase des Haarrückgangs schon versucht, ein paar Strähnen über die Geheimratsecken zu drapieren. Nach einem dezenten Hinweis einer guten Freundin entschied er sich dann aber doch für einen Neun-Millimeter-Haarschnitt.

Pennes Gesicht war glatt und faltenfrei wie immer, Paul vermutete sogar, dass ihm immer noch kein richtiger Bart wuchs. Das hatte Penne damals richtig belastet. Auch die blassblauen Augen blickten wie nach einem ihrer erfolgreich geglückten Streiche verschmitzt und immer lächelnd in die Runde und bildeten mit dem einen, angedeuteten Grübchen eine Miene, der man nicht böse sein konnte.

Nicht nur seine körperlichen Merkmale schienen unverändert, auch Pennes Faible für besondere T-Shirts hatte er sich anscheinend erhalten. Heute prangte schwarz auf weiß die sinnige Aufschrift: „Ich hasse T-Shirt-Sprüche!“ auf seiner Brust.

„Paul, Paul, hörst Du mir überhaupt zu?“

Penne stemmte seine fleischigen Fäuste in seine Hüften und setzte sein gespieltes Ernstgesicht auf.

„Oh, entschuldige. Natürlich.“, antwortete Paul und schüttelte kurz seinen Kopf, wie um alte Erinnerungen zu verscheuchen.

„Und was habe ich gefragt?“

„Was ich hier mache.“

Penne stutzte für ihn ungewöhnlich lange, bestimmt eine volle Sekunde, bevor er reagierte.

„Genau. Und?“

„Und was?“

„Was machst Du hier?“

„Ich laufe durch die Fußgängerzone.“

„Ach komm her! Wie wäre es mit Frühstück?“

Penne konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit essen und noch dazu Unmengen.

„Nee lass mal, ich muss mich ein wenig sputen.“

„Wo willst Du denn hin?“

„Pfingstmarkt.“

„Aha. Und heute Abend?“

„Heute Abend ist okay.“

„20.00 Uhr, ‘Times-Café’.“

„Einverstanden.“

„Bis dann, Fickfrosch.“

Und schon war er wieder im Gewusel der Fußgängerzone untergetaucht und Paul blickte seinem ehemals besten Freund verwirrt hinterher. Wie lange hatten sie sich jetzt nicht gesehen? Gut und gerne zehn Jahre. Und trotzdem hatte Paul plötzlich das Gefühl, als sei die Bundeswehrabschiedsparty, bei der sich ihre Abi-Klasse nach dem mehr oder minder erfolgreichen Abschluss aller Prüfungen in den Grundwehrdienst verabschiedet hatte, erst gestern gewesen. Oh Mann, da war es ganz schön zur Sache gegangen. Bis auf den Nicole-Vorfall war es ein sehr schöner Abend gewesen. Trotzdem war es eigentlich blöd, dass sie sich danach aus den Augen verloren hatten. Und das bei den diversen Kommunikationsmöglichkeiten. Aber Paul war noch nie ein großer Telefonierer gewesen. Privat jedenfalls. Er hatte bis vor zwei Jahren noch nicht mal ein Handy besessen. Dienstlich ließ sich leider weder das eine, noch das andere vermeiden. Und das war das Stichwort. Paul musste auf seinen Posten. Hoffentlich lief ihm Penne nicht über den Weg, wenn er mit seinem Versicherungsvertreterbauchladen auf dem Messegelände des Wormser Pfingstmarktes auf Kundenfang ging. Wieso hatte er sich nur dazu breit schlagen lassen? Weil er der einzige ungebundene Single des Versicherungsbüros war. Und der Chef hatte wortwörtlich behauptet: „Sie haben doch am Wochenende eh nichts besseres vor.“ Der Boss des kleinen Ablegers eines riesigen Versicherungskonzerns hatte regionale Messen als die Geheimwaffe bei der Akquirierung von Neukunden ausgemacht. Und der Erfolg gab ihm in keinster Weise recht.

So auch heute. Nach sechs Stunden in der prallen Maisonne und unzähligen Kilometern in den Beinen und noch mehr Fusseln im Mund machte sich Paul müde und mürrisch auf den Heimweg in sein Hotel. Nicht ein Abschluss. Gut, er war fast alle Prospekte und Visitenkarten los geworden. Aber er war auch Realist genug, um zu wissen, dass ein Großteil davon im nächsten Mülleimer gelandet war.

Paul freute sich auf eine heiße Dusche und jetzt auch auf das Wiedersehen mit Penne. Mit jeder vergangenen Stunde auf dem staubigen Messeplatz war die innere Abwehrmauer, die er unterbewusst und höchstwahrscheinlich immer noch wegen des Nicole-Vorfalls gegen seinen alten Schulfreund aufgebaut hatte, gebröckelt und schließlich ganz in sich zusammen gefallen. Mann, sie hatten sich viel zu erzählen. Was Penne, der alte Sack, wohl in der Zwischenzeit getrieben hatte?

In diese Gedanken versunken steuerte Paul den auf dem Hinterhof versteckten Eingang des „Hotel Fater“ an. Der Zugang war zugleich auch der Zufahrtsweg auf den hauseigenen Parkplatz. Paul bemerkte den aus dem Hof preschenden, wild hupenden, babyblauen, offenen Sportwagen erst in letzter Sekunde. Hastig zwang er seine langen Knochen zu einem ungelenken Ausfallschritt. War das der Außenspiegel, der ihn da sanft an der Hüfte touchierte? Eine Frau am Steuer. Natürlich.

„Dusslige Kuh!“, brüllte Paul dem Wagen hinterher, nachdem der schon längst mit quietschenden Reifen um die nächste Ecke gebogen und aus dem Sichtfeld verschwunden war.

Als Paul immer noch fluchend das dunkle, schmale, in einem blassen Gelb gestrichene Treppenhaus des Hotels betrat, schlug ihm zuerst der ihm schon unangenehm bekannte, abgestandene Geruch nach kaltem Zigarettenrauch entgegen und dann einer der garstigen Pinscher des Hotelbesitzers. Der Köter umklammerte Pauls rechtes Bein und stieß einige, nicht zu identifizierende Laute aus. Vielleicht rief er damit seinen Zwillingsbruder. Fehlte nur noch, dass er anfing zu rammeln. Paul versuchte das lästige Tier wie Wasser von seinem Hosenbein zu schütteln, was ihm nicht wirklich gelang. Also stapfte er samt Hund die schmale Stiege hinauf. Auf Höhe des Gastraumes der angeschlossenen Kneipe hatte der Flohzirkus dann wohl genug von der Schaukelei und trollte sich.

Mit verdammt schweren Knochen schleppte sich Paul in sein Zimmer, feuerte seine ausgedünnte Aktentasche samt dem mittlerweile ausgeschalteten Geschäftshandy in die dunkelste Zimmerecke und trat seine verschwitzten Klamotten hinterher. Dann schlich er in das kleine Badezimmer und belebte seine Lebensgeister unter einer eiskalten Dusche neu. Das tat gut.

Paul war pünktlich auf die Sekunde, trotzdem wartete Penne schon auf ihn, schob einen leeren Teller von sich und sah demonstrativ auf eine gigantische Armbanduhr. Auf seiner Brust war zu lesen: „Wenn die Klügeren nachgeben, haben die Dummen das Sagen.“

„Hast Dir ja wieder Zeit gelassen, was? Na wenigstens hast Du die Uniform ausgezogen.“

„Schön Dich zu sehen Penne.“, ignorierte Paul die Provokation und war froh, dass er neben dem Anzug auch Jeans und T-Shirt für die Reise nach Worms eingepackt hatte.

„Ich habe schon mal zwei große Pils bestellt.“

Wie auf Stichwort erschien eine groß gewachsene, in ein glitzerndes Oberteil gehüllte Blondine neben dem Fenstertisch und stellte die Bier gekonnt ab.

„Danke Dir Kleine und lauf nicht so weit weg.“

Paul hatte sich in der Zwischenzeit seinem Schulfreund gegenüber gesetzt und synchron griffen sie nach ihren Gläsern, stießen klirrend an und leerten sie bis auf einen identischen Pegelstand.

Paul machte eben den Mund auf, als Penne ihm mit einem gebieterischen Handzeichen Einhalt gebot.

„Hunni, eins vorneweg: Wir sprechen nicht über den Nicole-Vorfall, okay? Das ist Schnee von gestern.“

Paul stutzte und schaute zu, wie Pennes mächtiger Bizeps arbeitete und kurz davor stand, seinen T-Shirt-Ärmel zu sprengen. Er hätte nicht gedacht, dass Peter Pfennig augenscheinlich ebenfalls noch nicht über die Sache hinweg war.

Von wegen „Schnee von gestern“.

„Einverstanden.“, antwortete er trotzdem erleichtert.

„Lass uns darauf anstoßen.“ Die Oberarme entspannten sich.

Und wieder klirrten die Gläser und beide setzten die leeren Becher zeitgleich vor sich ab. Die blonde Kellnerin brachte schon die nächsten zwei. Wahrscheinlich hatte sie Penne vorher instruiert.

Und dann redeten und redeten sie. Sprachen über ihre Bundeswehrzeit, Penne war bei den Feldjägern gewesen, das Studium, Peter Pfennig hatte sich tatsächlich für BWL eingeschrieben und die vier Jahre sogar durchgezogen, unglaublich. Natürlich brachte Pauls Versicherungstätigkeit ihm mehr als eine spitze Bemerkung und noch mehr Lacher ein.

Sie bewegten sich durch alle Lebensbereiche, nur bei dem Thema Zweisamkeit wurden sie vorsichtig. Das brachte sie zu nah an den Nicole-Vorfall. Beide waren aktuell zu haben, das reichte als Information aus diesem Ressort.

Zu vorgerückter Stunde ließ sie das Geldthema nicht mehr los.

„Ich habe da eine ganz heiße Sache am Laufen.“, prahlte Penne nach dem achten Bier mit schwerer Zunge und glasigem Blick.

„Ach was, erzähl!“, forderte ihn Paul in ähnlichem Zustand und ohne wirkliches Interesse auf. Erstens hatte er kein Geld, das er in irgendeiner Weis anlegen konnte und zweitens würde er sich morgen wahrscheinlich eh nicht mehr detailliert an den heutigen Abend erinnern können.

„Nee, das ist geheim.“

„Und was fängst Du denn davon an?“

Penne wand sich auf seinem Stuhl, anscheinend hin und her gerissen, ob er das Geheimnis seinem ehemals besten Freund ausplaudern sollte.

„Pass auf, ich geh pinkeln und Du überlegst Dir in der Zwischenzeit, ob Du mich für würdig hältst.“

Schwungvoll stand Paul auf und warf dabei seinen Stuhl nach hinten um. Er stutzte, bückte sich bis er mit den Fingerspitzen fast die aufragende Sitzfläche berühren konnte, richtete sich dann aber plötzlich unverrichteter Dinge ruckartig auf und steuerte wie eine Flipperkugel die Toilettentür an.

Der Abstieg in den kalten Keller vertrieb einige der Wolken, die seinen Geist umnebelt hatten. Obwohl sich Paul dessen nicht so sicher war, als er einen wahrhaftigen Tresor, mit Zahlenkombinationsschloss und großem Handrad im Sanitärbereich erblickte. Genau so einen hatten sie damals im Lehrerzimmer zu knacken versucht, um an die Prüfungsfragen Klasse zehn zu kommen. Natürlich war das gründlich schief gegangen. Auweia.

Sicherheitshalber ging Paul noch mal einen Schritt zurück und vergewisserte sich an dem Türschild, dass er auch richtig war.

Ein pinkelndes Männchen. Herrentoilette. Alles in Ordnung.

Erleichtert kehrte er schließlich an den Tisch zurück, stellte den Stuhl wieder auf und Penne sprudelte sofort los. Das war eigentlich klar. Er konnte noch nie eine Neuigkeit für sich behalten, am allerwenigsten, wenn er alkoholisiert war.

„Es geht um Geld, Hunni. Um sehr viel Geld. Und ich weiß, wie daraus mehr wird, viel mehr.“

„Aha.“

„Glaub mir, Hunni. Ohne Scheiß. Das ist eine riesen Sache.

Wahnsinnsrendite, Mann. Da ist richtig was zu holen. Vergiss die Krise.“

„Wenn Du es sagst.“

„Ich meins ernst. Und ich bring Dich da rein, wenn Du willst.“

„Na ja und was muss ich machen?“

Paul war nicht überzeugt und von der Euphorie seines Freundes nicht im geringsten angesteckt.

„Komm morgen Abend hierher.“

Penne kritzelte irgendwas auf seinen Bierdeckel und schob ihn zu Paul hinüber.

„Aber Du darfst es nicht weiter erzählen, versprochen?“

Plötzlich wurde Pennes Blick glasklar. Er griff blitzschnell über den Tisch nach Pauls Hand und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

„Versprochen.“, antwortete der schließlich langsam und entwand seine Hand Pennes stahlhartem Griff.

31.05.2009, mitten in der Nacht, Worms

Sabine wälzte sich unruhig auf die andere Seite. Hatte sie schlecht geträumt? Irgendetwas störte ihren Schlaf. Sie blinzelte, versuchte, die Uhrzeit auf ihrem altmodischen Wecker zu erkennen, gab es schließlich auf und stand kurz davor, wieder in eine erholsame Tiefschlafphase abzugleiten. Dann hörte sie plötzlich eindeutig laute, allerdings undefinierbare Geräusche an ihrer Hotelzimmertür. Jemand machte sich am Schloss zu schaffen. Mit einem Schlag war Sabine hellwach und ihr Herz schlug wild und sie bekam Angst. Was tun?

In ihrem Zimmer war es nicht komplett dunkel. Umrisse und Schemen schwammen im Raum und ein einsamer Lichtstrahl, der durch einen Gardinenspalt in das Hotelzimmer schnitt, leuchtete direkt auf die Türklinke. Sie bewegte sich. Ganz langsam glitt der Hebel nach unten, verharrte dort, um kurz darauf in ein heftiges Auf und Ab zu verfallen.

Sabine saß wie versteinert in ihrem Bett und starrte auf die selbsttätig agierende Türklinke. Plötzlich gab der Knauf Ruhe und das Geräusch kehrte zurück. Metall kratzte auf Metall.

Die Laute holten Sabine aus ihrer Starre und sie begann analytisch ihre Möglichkeiten durch zu gehen. Direkt neben ihr auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Die Rezeption, das bedeutete den bärtigen Hotelbesitzer, würde sie um diese Uhrzeit wohl nicht erreichen. Wie spät war es eigentlich? Sie schaltete de Nachttischlampe. Kurz vor drei. Also gleich die Polizei anrufen? Und was sollte sie den Beamten erzählen? Dass jemand in ihr Zimmer einzubrechen versuchte? Ein professioneller Dieb schien das allerdings nicht zu sein. Der Kerl fuhrwerkte jetzt schon geschlagene zehn Minuten an ihrem Türschloss herum. Was wollte der von ihr? Hier gab es nichts zu holen. Ob es mit ihrer Arbeit in Verbindung stand? Sie hatte einige Briefe und Faxe ins Museum bekommen, in denen ihr astronomische Summen geboten wurden, wenn sie Einzelheiten über die angebliche Fortsetzung des Nibelungenliedes verlauten ließ. Auch Drohungen waren darunter und einige anzügliche Angebote. Nur wusste kaum jemand, wo sie hier in Worms wohnte. Sie hatte ihre Hoteladresse nur dem Dekan des geschichtlichen Fachbereiches der Hamburger Universität gegeben, da er sie großzügig zur Erforschung des in Worms ausgestellten Dokumente frei gestellt hatte. Ein Glücksfall, den Sabine noch immer nicht richtig fassen konnte. Das erneute Auf und Ab der Türklinke holte Sie aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. Also was jetzt? Anrufen oder nicht? Vielleicht besser im Badezimmer verbarrikadieren. Sie schwang sich aus dem Bett und wickelte das große Badehandtuch, das noch vom Duschen am Abend vorher über einer Stuhllehne hing, um ihren nackten Körper. Die Türklinke verharrte jetzt in der „ich will öffnen“-Stellung. Langsam durchquerte Sabine das kleine Zimmer und hielt vor dem Bad inne, wobei sie ihre Zimmertür nicht aus den Augen ließ.

Jetzt schnappte die Klinke wieder nach oben und in ihren Zimmerschlüssel, der von innen im Schloss steckte, kam Bewegung. In kleinen Sprüngen hüpfte er Stück für Stück auf Sabine zu, wobei der klobige Anhänger wild hin und her schaukelte. Das war zuviel. In einem plötzlichen Anfall von Courage oder auch Leichtsinn griff sich Sabine ihren Reisefön. Ehe sie ihre Handlungen auch nur ansatzweise logisch durchdacht hatte, entriegelte sie die Tür und riss sie auf. Den Haartrockner zog sie wie einen Revolver in einem Westernduell aus der Hüfte und zielt auf die nun frei gegebene Türöffnung. Dabei verabschiedete sich ihr Handtuch in Richtung Fußboden.

Den Anblick hatte sie allerdings nicht erwartet. Der Kerl auf der anderen Seite der Tür aber auch nicht. Der Anzugträger aus dem Nebenzimmer, den sie gestern beinahe über den Haufen gefahren hatte, kniete aufrecht im notbeleuchteten Hotelflur, hatte seinen Schlüssel in der Hand und starrte Sabine mit offenem Mund an.

„Wenigstens schaut er mir ins Gesicht.“, dachte sie, während sie erleichtert ihre Heißluftwaffe fallen ließ und das Handtuch wieder über ihrem Körper befestigte. Merkwürdigerweise war ihr ihre Nacktheit gegenüber dem völlig Fremden nicht mal peinlich.

„Ist wohl das falsche Zimmer, Freundchen?“, sagte sie laut.

Anzugmann war total fertig und grunzte eine unverständliche Antwort, während er nach hinten auf seine Fersen plumpste. Sabine nahm ihm den Schlüssel aus der Hand und schloss das Nachbarzimmer auf. Dann kam sie in den Flur zurück und zerrte Anzugmann auf seine Füße.

„Komm schon Kleiner, Zeit fürs Bett.“

Wieder nur Grunzen. Aber er bewegte sich. Sabine bugsierte ihren volltrunkenen Einbrecher, der auf seinen Füßen stehend gar nicht so klein war, sondern sie um einen halben Kopf überragte, zu seinem Bett und ließ ihn darauf fallen. Zuerst überlegte sie, Anzugmann von seinen Klamotten zu befreien, beließ es dann aber bei den Schuhen. Seinen Zimmerschlüssel steckte sie von innen ins Schloss und kehrte schließlich in ihr Zimmer zurück. Mann, was für eine Nacht.

Trotz der nächtlichen Aufregung wachte Sabine nur wenige Stunden nach dem Einbruchsversuch erholt auf und ging beschwingt ins Bad. Beinahe hätte sie ein Liedchen geträllert. Und dabei wusste sie nicht mal, woher ihre gute Laune kam. Am Wetter konnte es nicht liegen. Als sie die schweren Fenstervorhänge zurückgezogen hatte, erblickte sie einen grauen Wolkenhimmel. Aber egal, die Arbeit rief.

Auf dem Weg zum Frühstückraum blieb Sabine einige Sekunden vor der Tür zum Zimmer von Anzugmann stehen und lauschte. Nichts. Der schlief bestimmt immer noch wie ein Stein.