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Eine der wichtigsten Stimmen der türkischen Opposition – Aslı Erdoğans politische Essays erstmals auf Deutsch
"Wir müssen den Mördern die Stirn bieten und die Opfer zu Wort kommen lassen." Aslı Erdoğan, die große türkische Romanautorin und Oppositionelle, ist zur Symbolfigur für die Meinungsfreiheit und das Ausmaß der türkischen Willkürherrschaft geworden. Für ihre Publikationen wurde sie viereinhalb Monate inhaftiert und ist momentan unter Auflagen für die Dauer des Gerichtsprozesses frei. Erstmals liegt nun eine Auswahl ihrer politischen Essays auf Deutsch vor. „Ihr Buch macht deutlich, wie unverzichtbar die Stimme und das Engagement einer Frau in jedwedem Freiheitskampf ist […] Seite für Seite wird man aufgerüttelt und Zeuge ihres unermüdlichen Widerstands.“ Libération
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Seitenzahl: 179
Das Buch
»Wir müssen den Mördern die Stirn bieten und die Opfer zu Wort kommen lassen.« Aslı Erdoğan, die große türkische Romanautorin und Oppositionelle, ist zur Symbolfigur für die Meinungsfreiheit und das Ausmaß der türkischen Willkürherrschaft geworden. Für ihre politischen Essays wurde sie viereinhalb Monate inhaftiert, erstmals liegt nun eine Auswahl ihrer Texte, die derzeit so nicht in der Türkei erscheinen können, auf Deutsch vor.
Die Autorin
Aslı Erdoğan, geboren 1967 in Istanbul, studierte Informatik und Physik und arbeitete einige Jahre als Physikerin am CERN bei Genf, ehe sie sich auf das Schreiben konzentrierte. 2010 wurde sie mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Türkei ausgezeichnet. Als Kolumnistin schrieb sie zunächst für die Zeitung Radikal, ab 2011 für die kurdisch-türkische Zeitung Özgür Gündem. Im August 2016 wurde Aslı Erdoğan nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei zusammen mit 22 anderen Journalisten der Zeitung verhaftet und Ende Dezember 2016 für die Dauer des laufenden Prozesses unter Auflagen entlassen.
Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de
Aslı Erdoğan
Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch
Essays
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe, Şebnem Bahadır, Angelika Gillitz-Acar, Angelika Hoch-Hettmann, Oliver Kontny, Gerhard Meier
Mit einer Einführung von Cem Özdemir
Knaus
Inhalt
Freiheit für den »kleinen Kanarienvogel« – Aslı Erdoğan und die Türkei
Eine Einführung von Cem Özdemir
Am Fuß einer Mauer
Unsere Zeitung
Das riesige Trümmerfeld unseres Gedächtnisses
Opfer werden
Faschismustagebuch: Heute
Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch
Ein Wort, das niemals schweigt
Nächtlicher Wald
In einem brennenden Gebäude
Krieg und Krieg
Gewöhnlich, furchtbar gewöhnlich
Winterreise
Gleichheit, Ungleichheiten
Das Land, das sie das Leben nennen
Worte, Masken
Damalige Nacht
Die verkrüppelte Frau und das Meer
Mein Artikel vom 9. März 2015
Wir sind schuldig
Ohne Anfang und ohne Ende
Die Karawane der Krüppel
Phantasie an die Macht
Phantasie an die Macht
Über die Nacht
Wenn doch
Verschwundene, Verlorene
Parenthese
Erster Text, erstes Schweigen
So haben wir denn Abschied genommen
Zur Autorin
Zu den Übersetzern
Freiheit für den »kleinen Kanarienvogel« – Aslı Erdoğan und die Türkei
Eine Einführung
Beginnen wir mit ihrer Selbsteinschätzung. »Ich bin Schriftstellerin und kein Mensch in der Türkei nimmt mich politisch ernst«, sagte Aslı Erdoğan nach ihrer Freilassung der FAZ-Journalistin Karen Krüger. Vielleicht habe man mit ihrer Verhaftung die Nachricht senden wollen: »Es kann jeden Intellektuellen treffen.« Oder: »Es war nur ein blöder Zufall.« Aslı Erdoğan geht sogar so weit zu sagen, sie sei »politisch nicht aktiv«. Gewiss, ihre Mitarbeit bei der inzwischen verbotenen Tageszeitung Özgür Gündem könne als »politisch« klassifiziert werden – aber ihre Kolumnen seien »unpolitisch« gewesen. Kein Wunder also, dass sie überrascht war, als schwer bewaffnete Polizisten an ihrer Tür standen. Ein Missverständnis, ein Witz, dachte sie.
Blickt man Anfang 2017 von außen auf die Türkei, dann erscheint jede Zeile Aslı Erdoğans und jede Seite ihrer Literatur höchst politisch, und deshalb ist ihre Verhaftung alles andere als ein tragischer Zufall. Schmerz, Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt, Unterdrückung, Völkermord, Erinnerung, Trauma, Erniedrigung, Folter, Mord, Verzweiflung, Armut: Alles wird literarisch eindrucksvoll thematisiert, ohne dass sich die Autorin politisch vereinnahmen ließe. Ihre Texte über die Gräueltaten der türkischen Sicherheitskräfte in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten im letzten Frühjahr sind deshalb bleibende Zeugnisse, weil Aslı Erdoğan es versteht, beispielsweise den Schmerz einer Mutter bei der Suche nach der Leiche ihres Sohnes unmittelbar spürbar zu machen. Die verkohlten Körperteile und andere Bilder aus dem Jahr 2016 lassen sich nicht einfach vergessen, so nachdrücklich wie Aslı Erdoğan sie beschreibt. Gefühle sagen hier mehr als jede offene politische Kritik. Aslı Erdoğan schafft Literatur im Rauch, im Feuer der politischen Realität in der heutigen Türkei.
Genau das machte Aslı Erdoğans Wirken als Schriftstellerin bereits in den Neunzigerjahren spannend und politisch. Schon in ihren frühen Texten war eine Mission erkennbar, sie sind Ausdruck, Kampf, Widerstand, ja ein Aufschrei gegen Diskriminierung. Damals thematisierte sie das Leben von Schwarzen und den Rassismus, der Teile der türkischen Gesellschaft prägte. Für Aslı Erdoğan ist das Leugnen des Genozids an den Armeniern – sie verwendet den armenischen Begriff »Große Katastrophe« – ein Verbrechen. Den Schmerz der Opfer zu leugnen ist für sie der Versuch, die Opfer ihres Traumas und damit ihrer Stimme zu berauben, statt sich der Geschichte offen zu stellen und den Weg für eine Versöhnung zu bereiten.
Natürlich stehen die Frauen – ihre Diskriminierung, ihre Kraft, ihr Mut und ihre Solidarität – im Mittelpunkt von Aslı Erdoğans Schreiben. In einem Interview mit der türkischen Journalistin Ayşe Arman (Hürriyet) sagte sie: »Ich habe im Gefängnis noch etwas gelernt. In diesem Leben sollte man die wahre Freundschaft von Frauen erwarten. Männer, sie mögen mich entschuldigen, reden immer großspurig, bleiben jedoch an solchen Tagen auf der Strecke. Nicht als Liebhaber meine ich. Viele männliche Kollegen haben nichts von sich hören lassen, aus Angst, als PKK-Anhänger verhaftet zu werden. Es gab auch bei den Frauen einige Enttäuschungen, aber sie waren selten.«
Erdoğans Zeilen über Yaşar Kemal sollte ich gleich anfügen. Nicht um die vorstehenden Zeilen zu relativieren, doch um zu zeigen, was ihr die Freundschaft dieses legendären Schriftstellerkollegen bedeutet hat. Sie erhielt den Sait Faik, einen der bedeutendsten Literaturpreise der Türkei, aus der Hand Yaşar Kemals und schrieb in ihrem Nachruf über ihn: »Ich habe von ihm keine Zeile gelesen, aus der nicht tiefe Weisheit gesprochen hätte. Ich schätzte ihn dafür, dass er mich jede Woche besuchte, meist am Freitag, als ich für den Adam Verlag arbeitete, und er immer mit einem Päckchen Zigaretten kam. Mit einem Blick erkannte er meinen Geldmangel. Er erzählte aus seiner Jugend und versöhnte mich mit meinem Schicksal. Wenn meine Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der Niederlage unerträglich werden, geht meine Hand immer zu diesem Päckchen Zigaretten, das nie aufgebraucht ist.«
Zurück zu Aslı Erdoğans Literatur. Lassen Sie mich als Politiker auf die türkische Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte eingehen, die der Rahmen für das Schaffen von Aslı Erdoğan waren. Auch auf die Frage, warum trotz allem, was wir über die schlimmen Zustände in der Türkei lesen, Präsident Erdoğan noch immer über breiten Rückhalt im Land verfügt. Sie werden, so hoffe ich, damit auch einige Essays der Autorin politisch besser einordnen können.
Der Aufstand der »Schwarzen Türken« – »Siyah Türkler«
»Beyaz Türkler« – der Begriff »weiße Türken« wurde zwar nicht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in die politische Debatte eingeführt, erst mit ihm jedoch bekam der Begriff seine heutige politische Bedeutung. Ursprünglich die Bezeichnung für europäisch-orientierte, gut ausgebildete, säkulare Türken, die für die moderne Türkei und die Republik von Atatürk standen, allerdings mit der liberalen Demokratie des Westens nicht immer etwas anfangen konnten, entwickelte er sich zum Kampfbegriff. Präsident Erdoğan hat mit seinem Bekenntnis, ein »schwarzer Türke« zu sein, den Finger in zwei politische Wunden der modernen türkischen Elite gelegt: die Ausgrenzung der Muslime und die der Kurden. Die säkulare Türkei hat jahrzehntelang nicht nur die Existenz der Kurden geleugnet, sondern auch konservative Muslime weitenteils vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Die auf das Dreieck Istanbul – Izmir – Ankara gestützte Ökonomie, aber auch die Politik waren fest in der Hand der »weißen Türken«. Das unterentwickelte anatolische Hochland war nicht nur von der türkischen Politik und dem Bildungssystem vergessen worden, ihm fehlte auch der Zugang zum Weltmarkt und es wurde zum Globalisierungsverlierer.
Dies begann sich in den Achtzigerjahren mit Turgut Özal zu ändern, der das Land zunächst als Ministerpräsident, dann als Staatspräsident führte. Özal hatte sich gegen den Willen der Generäle des Putsches von 1980 durchgesetzt und 1983 die Wahlen gewonnen. Als Ministerpräsident öffnete er die Türkei in Richtung Weltmarkt und liberalisierte die Wirtschaft. In wenigen Jahren wuchsen die Städte Anatoliens wie Konya, Kayseri, Gaziantep zu Millionenstädten mit einer neuen ökonomischen Elite. Die Töchter dieses selbstbewussten neuen Bürgertums drängten in Kopftüchern an die Hochschulen und wurden zurückgewiesen, sie waren gezwungen, Perücken zu tragen oder gar zum Studium ins westliche Ausland zu gehen. Ihre Ausgrenzung war die Botschaft des säkularen Staates an die neue aufsteigende konservative Schicht. Die Kopftuchdebatte war in der Türkei nie nur eine Debatte über die Religionsfreiheit. Sie war immer auch eine Debatte über das politische System und darüber, wer den öffentlichen Raum besetzte, wer sichtbar sein durfte und wer nicht. Die jungen Frauen mit Kopftuch stellten die säkulare Ordnung der »weißen Türken« mit einem halben Quadratmeter Tuch in Frage. Und zumindest anfangs bedienten sie sich recht erfolgreich pluralistischer Ideale, um für ihr Anliegen liberale Unterstützer außerhalb ihres Milieus zu gewinnen.
Der Aufstieg Präsident Erdoğans und seiner Partei AKP ist eine Folge dieses politischen Wandels in der Türkei.
Recep Tayyip Erdoğan hatte erkannt, dass er mit den beiden Tabuthemen – Kurdenkonflikt und Freiheit bei der Ausübung des Islams – selbst in den Reihen der »weißen« Elite punkten konnte und diese zum Programm erklärt. Es ist kein Zufall, dass die effektivsten Proteste gegen das Kopftuchverbot an der Bosporus-Universität, einem Hort der »weißen« Eliten und übrigens Universität Aslı Erdoğans, stattfanden. Die AKP bot zwar keine klaren Konzepte zur Lösung dieser Probleme an, thematisierte sie jedoch und wurde somit zum Sprachrohr der ausgeschlossenen und unterdrückten »schwarzen Türken« mitsamt ihrern liberalen Bündnispartnern, die mit der AKP die Hoffnung auf eine demokratische Modernisierung innerhalb einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft verbanden.
Es wäre zu kurz gegriffen, den politischen Erfolg und die noch immer stabile Wählerbasis der AKP erklären zu wollen, ohne auf die soziale Frage einzugehen. Präsident Özal hatte zwar grundlegende ökonomische Reformen eingeleitet. Die soziale Frage war für ihn jedoch kein wichtiges Anliegen gewesen. Sein Erfolg hatte auf dem Mittelstand (»orta direk«) aufgebaut. Nicht so die AKP, die auf den massiven sozialen Wandel im Land politisch reagierte. Lebten 1970 noch fast siebzig Prozent der Bevölkerung auf dem Land, leben heute fast achtzig Prozent in den Städten. Dabei blieben viele in den Dörfern ökonomisch auf der Strecke, aber auch in den Slums der Städte. Ihnen reichte die AKP die Hand, schickte nach ersten Wahlerfolgen in den Kommunen CARE-Pakete und Kohle zum Heizen an die Armen. In der Regierung öffnete und reformierte die AKP die Gesundheits- und Bildungspolitik und legte ein beeindruckendes Wohnungsbauprogramm vor, das fast ausschließlich auf die schwächeren Schichten zielte. Die türkischen Massen trafen zum ersten Mal auf so etwas wie einen Sozialstaat. Sogar eine bescheidene Sozialhilfe für Bedürftige wurde eingeführt. Gewiss darf man dabei nicht an den deutschen Sozialstaat denken, aber für die Armen des Hochlandes und der Slums der Städte war es eine helfende Hand, die die Menschen von den traditionellen Parteien nicht gewohnt waren. Die AKP, oder was von ihr als Partei im Schatten von Präsident Erdoğan heute übrig ist, stützt sich immer noch auf diese beiden Bevölkerungsschichten.
Weite Teile der kurdischen Massen, sozial wie politisch ausgegrenzt, folgten Erdoğan und der AKP zunächst voller Hoffnung. Die Oppositionsparteien CHP und die nationalistische MHP spielten bei den Urnengängen in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten kaum noch eine Rolle. Selbst als die pro-kurdische Partei HDP auf den Wahlzetteln auftauchte, schaffte die AKP im »Wilden Kurdistan«, etwa in Bitlis, noch vor fünf Jahren Wahlergebnisse von bis zu siebzig Prozent der Stimmen. Nicht nur die Sozialpolitik beflügelte die AKP, sondern auch die Hoffnung auf Frieden. Die Hoffnung darauf, dass mit Erdoğan der blutige Bürgerkrieg enden würde, in dem über 30 000 junge kurdische Frauen und Männer ihr Leben gelassen hatten. Diese Hoffnungen schienen sich zunächst zu erfüllen. Es gab einen Waffenstillstand, die türkische Regierung saß 2011 in Oslo mit der bis dahin als terroristisch hart bekämpften PKK am Verhandlungstisch. Was noch wenige Jahre zuvor unvorstellbar gewesen war, wurde plötzlich Realität. Dass von diesem Friedensprozess heute nur noch ein Scherbenhaufen übrig ist, steht auf einem anderen Blatt.
Die AKP widmete sich in ihrer Anfangsphase nicht nur den sozialen Problemen in der Türkei, sondern bewegte sich auch erstaunlich auf Europa zu: Wie keine andere Partei forcierte die AKP die Annäherung an die EU. 2005 nahmen die EU und die Türkei Beitrittsverhandlungen auf. Das Land erlebte nicht nur eine nie dagewesene ökonomische Entwicklung, auch die politischen Reformen konnten sich in diesen Jahren sehen lassen. Das erzeugte auch international Aufmerksamkeit. Europa und die USA diskutierten über die Frage, ob die Türkei für die Region und islamische Welt ein »Modell« sein könne, arabische Intellektuelle sahen die Türkei als eine »Quelle der Inspiration«.
Geburt eines Diktators – oder die Tragödie Recep Tayyip Erdoğan
Diese Stimmung dauerte bis zum Verfassungsreferendum der Türkei 2010 an. Die auch mit Brüssel abgestimmten Änderungen fanden eine Mehrheit von 57 Prozent der Stimmen. Das lag auch daran, dass das linke und liberale Spektrum in der Türkei die Kampagne mit dem Slogan »Nicht genug, aber Ja!« mittrugen. Diese Stimmung, die sich im Nachhinein angesichts der dramatischen Veränderungen zum Negativen für viele liberale Unterstützer als klare Fehleinschätzung erwiesen haben dürfte, führte 2011 zum dritten Wahlerfolg der AKP mit fast fünfzig Prozent der Stimmen. Die Wende, und quasi Geburt eines Diktators, begann nach den Wahlen 2011.
Heute, sechs Jahre später, ist von all den politischen, ökonomischen und kulturellen Errungenschaften der AKP-Regierung wenig übrig. Das Land steckt in der Rezession. Das Pro-Kopf-Einkommen ist auf den Stand von 2007 gesunken, der Friedensprozess längst Geschichte. Stattdessen herrscht Krieg. Die kurdischen Provinzen haben niemals in der türkischen Geschichte ein solches Ausmaß der Zerstörung erlebt wie im letzten Jahr. Die Repressionen gegen die Opposition nehmen Dimensionen an, bei denen man nicht mehr umhinkommt, von einer Diktatur zu sprechen. Die Presse ist entweder gleich- oder ausgeschaltet. Hunderte Journalisten sitzen in den Gefängnissen oder mussten das Land verlassen, um einer Verhaftung zu entgehen. Regierungskrisen, ein gescheiterter Militärputsch, die Verhaftung von Parteivorsitzenden und Schlägereien in der Nationalversammlung sind Normalität. Damit nicht genug, strebt Recep Tayyip Erdoğan nun eine Verfassungsänderung an, die ihm die Macht osmanischer Sultane geben würde. Der Ausnahmezustand ist inzwischen Regelfall, was der Regierung ermöglicht, Tausende Richter, Staatsanwälte, Beamte, Polizisten, Lehrer, aber auch Ärzte und Ingenieure zu entlassen. Mehr als hunderttausend staatliche Angestellte und Beamte sind inzwischen betroffen.
Was als Entlassung sogenannter Gülenisten, die man für den Putschversuch verantwortlich machte, aus dem Staatsapparat begann, weitete sich in kürzester Zeit auf alle kritischen Stimmen aus. Besonders grotesk wird es, wenn offensichtliche Gülen-Kritiker von Erdoğan und seinen Anhängern, die ihrerseits mit der Gülen-Bewegung über viele Jahre hinweg gemeinsame Sache machten, als »Gülen-Terroristen« verhaftet und verfolgt werden.
Es ist kaum nachvollziehbar, was in der Türkei in den letzten Jahren politisch passiert ist. Warum in aller Welt kommt eine Regierung nach zehn Jahren erfolgreicher Regierungsarbeit vom Weg ab und ruiniert alle Erfolge, für die sie einst stand? Es mangelt nicht an Erklärungsversuchen, eine wirklich überzeugende Erklärung fehlt jedoch. Viele sagen, Recep Tayyip Erdoğan sei immer schon ein Islamist gewesen. Die ersten zehn Jahre seiner Regierung seien nur der Kampf um die Macht, seien nur taktisch liberal – »takkiye« – gewesen. Ein Jahrzehnt der Täuschung? Welche politische Leistung. Dagegen spricht, dass sein Bündnis mit der unumstritten islamisch ausgerichteten Gülen-Bewegung genau dann zerbricht, als Recep Tayyip Erdoğan seinen Politikwandel einläutet. Sein aktuelles Bündnis mit Ultra-Nationalisten und einigen alten kemalistischen Eliten widerspricht dieser These noch mehr. Plausibler erscheint hingegen, dass Erdoğan den Arabischen Frühling als eine Art islamische Renaissance deutet, statt darin demokratische Revolutionen gegen die Diktaturen zu sehen. Eine islamische Renaissance, in der er eine besondere Rolle zu spielen hat.
Wir wissen es nicht. Sicher ist nur, dass Erdoğan nach seinem Wahlerfolg 2011 mit Gesetzesinitiativen vorpreschte, die er bis dato vermieden hatte. Es begann mit einem Gesetz zur »Bildungsreform«. Eine Gruppe von zwanzig Abgeordneten, darunter kein einziger Bildungsexperte, brachte einen Gesetzentwurf ins Parlament ein, welchen die AKP dann innerhalb einer Woche durchs Parlament peitschte. Vorgesehen war, dass sich die Sekundarstufe ab der fünften Klasse für die Religionsschulen (»Imam Hatip«) öffnete. Kritik konterte der damalige Bildungsminister damit, dass sein Haus über die Initiative nicht unterrichtet gewesen sei. Darauf folgte ein neuer Gesetzentwurf, der das Zusammenleben und -wohnen von unverheirateten Frauen und Männern verbieten sollte. Zielscheibe waren studentische Wohngemeinschaften. Erdoğan unterstellte, dass »die türkischen Eltern nicht wünschten, dass ihre Töchter unverheiratet mit Männern unter einem Dach leben.« Der Aufschrei der Eltern und der Studierenden war groß – es gehe den Staat nichts an, was sie wünschten oder nicht. Daraufhin zog Erdoğan den Entwurf zurück, ließ aber Stipendien nur noch an verheiratete Studierende vergeben. Mit einem weiteren Gesetz entzog Erdoğan den Kommunen die Genehmigung zum Alkoholausschank in Gaststätten und übertrug sie an die Gouverneure, die direkt dem Innenminister unterstellt sind. Ziel war es, den Alkoholkonsum in den Städten zu unterbinden, mit dem Argument, dass dieser unislamisch sei.
Erdoğans harsche und willkürliche Art zu regieren, ohne Rücksicht auf Verluste, polarisierte das Land zunehmend. Die säkularen »weißen Türken« hatten mehr und mehr das Gefühl, dass ihre Lebensweise reglementiert und eingeschränkt werde. Die Stimmung war explosiv.
Die Gezi-Proteste und der Bruch
Im Sommer 2013 begannen die Proteste dann vergleichsweise harmlos. Im Gezi-Park im Herzen Istanbuls fingen Straßenbauarbeiter an, über hundert Jahre alte Bäume zu fällen. Die vorbeiziehenden Jugendlichen, die sich erkundigten, ob dafür eine Genehmigung vorliege, wurden zunächst verjagt. Als ihre Zahl jedoch größer wurde, schaltete sich die Polizei ein. Es stellte sich heraus, dass es keine Genehmigung gab, die Regierung jedoch mit dem Bau eines Einkaufszentrums am Taksim-Platz beginnen wollte. Das Shoppingcenter im Stil einer Osmanischen Kaserne aus dem achtzehnten Jahrhundert galt als Lieblingsprojekt Recep Tayyip Erdoğans. Die Jugendlichen besetzten daraufhin das Parkgelände und verließen es auch über Nacht nicht.
Statt dieses lokale Ereignis den kommunalen Politikern oder zuständigen Gouverneuren oder zumindest dem Innenminister zu überlassen, nahm der damalige Ministerpräsident Erdoğan die Sache selbst in die Hand. Der Gezi-Park wurde so zum Kristallisationspunkt eines nationalen Aufstandes. Tagelang lieferten sich Jugendliche, viele von ihren Eltern unterstützt, Schlachten mit den Sicherheitskräften. Die Proteste weiteten sich auch auf andere Städte aus, darunter Ankara, Izmir, Bursa. Es gab sieben Tote und Hunderte von Verletzten. Als Erdoğan begriff, dass das Festhalten am Shoppingcenter noch mehr Schaden anrichten würde, suchte er schließlich den Dialog und sagte zu, die Gerichtsverfahren abzuwarten und eine Volksabstimmung über das Projekt abzuhalten. Die Proteste kamen daraufhin zum Stillstand.
Zunächst schien es sogar, als wäre eine gesichtswahrende Lösung gefunden worden. Die Anführer der Proteste sprachen mit Regierungsvertretern in Ankara und diese wiederum übten Selbstkritik am Vorgehen der Polizei und zeigten Bereitschaft zum Dialog. Erst als Erdoğan von einer Auslandsreise zurückkehrte, wurde klar, dass er keinerlei Anstalten machte, auch nur einen Millimeter nachzugeben. Im Gegenteil: Er sah die Gezi-Bewegung als Gefahr für seine Macht und reagierte entsprechend.
Die Scherben, die tiefen Verletzungen sowie der Schmerz blieben. Recep Tayyip Erdoğan hatte Hass gesät und Sturm geerntet. Er hatte die Brücken zu einem großen Teil der Bevölkerung zerstört. Für viele Menschen in der Türkei ist er heute ein verhasster Politiker. Die Antwort eines siebzehn Jahre alten Mädchens auf die Frage, warum sie an diesen Protesten teilnehme, beleuchtet die Stimmung sehr eindrucksvoll. Sie sagte: »Ich bin siebzehn, ich bin bis heute von meinem Vater nie so zurechtgewiesen worden, wie in den letzten Monaten von Erdoğan.«
Die Türkei ist seit »Gezi« ein tief gespaltenes Land. Die Wege der beiden Erdoğans – Aslı und Recep Tayyip – haben sich seit Gezi für immer getrennt. Der Graben ist zu tief. Es ist deshalb kein Zufall, dass sie eine verfolgte Journalistin ist, und er nicht mehr ihr Präsident. Es könnte die Absicht Erdoğans gewesen sein, das Land zu spalten, um seiner politischen Macht Dauerhaftigkeit zu verschaffen. Soziologisch gesehen kann Präsident Erdoğan auf bis zu siebzig Prozent Unterstützung der türkischen Wählerschaft hoffen. Das ist der Anteil des sunnitisch-konservativen türkischen Spektrums. Die Säkularen, einschließlich der Minderheiten wie den Alewiten, bilden ein Wählerpotential von etwa dreißig Prozent. Je größer die Spaltung und je härter die Fronten sind, desto solider ist Erdoğans Wählerbasis. Erdoğan betreibt eine kalkulierte Spaltung des Landes mit allen damit verbundenen Risiken.
Diese Rechnung geht jedoch nicht auf. Die Spaltung – muslimisch versus laizistisch – die sich Erdoğan wünscht, wurde bereits während der Proteste um den Gezi-Park durchkreuzt. Die Jugendlichen, die sich als »antikapitalistische Muslime« bezeichneten, bildeten von säkularen Jugendlichen gegen die Polizei geschützt Gebetsreihen. Dabei blieb es nicht.
Den tiefsten und vielleicht gefährlichsten Riss im islamisch-konservativen Lager erlebte das Land im Dezember 2013. Die Polizei nahm die Familienangehörigen mehrerer Minister unter Korruptionsverdacht fest. Sie hatten Millionen Türkische Lira und US-Dollar in ihren Wohnungen gehortet. Vier Minister mussten zurücktreten. Zur Verhaftung von Familienangehörigen Erdoğans kam es nicht mehr, genauso wenig zu einem Prozess. Der bestellte Staatsanwalt sah keinen Grund für eine Strafverfolgung, die Immunität der entlassenen Minister wurde nicht aufgehoben. Es habe keine Korruption gegeben.
Sollte sich jemand über die unglaublichen Summen wundern, mit denen die AKP-Spitzen sich offensichtlich bereichern, braucht er sich nur in Erinnerung zu rufen, wie die Informationen darüber wohl zustande gekommen sind – über Dossiers der Gülen-Bewegung, die jene über viele Verantwortliche im Land anlegen ließ, um sie im richtigen Augenblick zum Einsatz zu bringen.