Nicht ohne uns - Julia Schönbeck - E-Book

Nicht ohne uns E-Book

Julia Schönbeck

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Beschreibung

Obwohl das Thema Diversität und Vielfaltssensibilität in Kirchen und Gemeinden immer mehr an Aufmerksamkeit gewinnt: Die Inklusion von Menschen mit Behinderung spielt oft nur eine untergeordnete Rolle. Oder wurde längst mit der weihevollen Anschaffung einer Rollstuhlrampe ad acta gelegt. Warum inklusive Kirche mehr braucht, darauf weist Julia Schönbeck in diesem Buch unverblümt hin. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen als behinderte Christin und Theologiestudentin schreibt sie über den Umgang der deutschen Kirchen mit dem Thema. Niederschwellig und trotzdem tiefgehende Aspekte beleuchtend, gibt sie allen, die sich in Kirche und Gemeinde engagieren, hilfreiche Gedankenanstöße, Hintergrundwissen zu Inklusion sowie Einblicke, welchen Vorurteilen und Ausgrenzungen Menschen mit Behinderung im christlichen Bereich begegnen. Neben dieser Auseinandersetzung mit Christlichem Ableismus zeigt sie Handlungsbedarf und Potenziale auf und stellt Ansätze einer inklusiven Theologie vor. Das Buch folgt dem intersektionalen Ansatz, gibt also auch Anknüpfungspunkte für Menschen, die sich mit anderen Formen von Diversität und Diskriminierung beschäftigen, und hinterfragt generelle Strukturen. Wo gibt es strukturelle Barrieren und Ausgrenzung? Wie kann Mitsprache auf allen Ebenen erreicht werden? Und warum verpassen wir es immer noch, von vielfältigen Erfahrungen und Fähigkeiten zu profitieren? Ein Buch für alle, die an der Zukunft von Kirche arbeiten.

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Seitenzahl: 156

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Bibelzitate sind entnommen aus: Dr. Ulrike Bail / Frank Crüsemann / Marlene Crüsemann (Hrsg.), Bibel in gerechter Sprache © 2006 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen, insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG zu gewinnen, ist untersagt.

 

© 2025 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Andreas-Bräm-Straße 18/20, 47506 Neukirchen-Vluyn, [email protected] Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de, unter Verwendung von Bildern von Max Engine, Skylines (shutterstock)

Lektorat: Anna Böck

Satz: publish4you, Roßleben-Wiehe

Verwendete Schrift: Acumin Pro Condensed, Scala Pro, Scala Sans Pro

eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln, www.ppp.eu

ISBN 978-3-7615-7030-2 Print

ISBN 978-3-7615-7031-9 E-Book

 

www.neukirchener-verlage.de

Für Maria und Sandra, die mich ermutigt haben, meine Texte mit anderen zu teilen.

Vorwort

In einer Welt, die von Vielfalt geprägt ist, neigen wir oft dazu, die Unterschiede zwischen den Menschen stärker zu sehen als das, was uns verbindet. Doch gerade in diesen Gemeinsamkeiten liegt unsere größte Stärke. Diese Erkenntnis ruft uns dazu auf, einander mit Respekt, Offenheit und Wertschätzung zu begegnen – unabhängig von Unterschieden oder vermeintlichen Normen. Unsere Gesellschaft hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt, doch die Frage bleibt: Wie gut gelingt es uns, wirklich alle Menschen einzubeziehen, die oft am Rand stehen? Menschen mit Behinderung sind Teil unserer Gesellschaft, doch sie erleben noch immer viele Barrieren – seien es physische, soziale oder emotionale.

Inklusion – dieses Wort ist in aller Munde. Doch was bedeutet es wirklich, Inklusion zu leben? Es bedeutet mehr als Menschen mit Behinderung in bestehende Strukturen zu inklusiveren. Es bedeutet, den Blick auf den Wert jedes Einzelnen zu richten und zu erkennen, dass alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Einschränkungen, einen wichtigen und einzigartigen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Inklusion schafft Räume, in denen sich Menschen entfalten können – im Alltag, in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit.

Die Grundlage für ein inklusives Handeln liegt in der Überzeugung, dass alle Menschen gleich wertvoll sind. Dies sollten unsere Entscheidungen und unser Handeln leiten – sei es in Begegnungen mit anderen oder in der gesellschaftlichen Verantwortung, die wir tragen.

Doch wie schaffen wir es, Inklusion konkret zu fördern? Der Weg dorthin erfordert Offenheit, Geduld und die Bereitschaft, alte Denkweisen zu hinterfragen. Es geht darum, bestehende Barrieren zu erkennen und abzubauen – sowohl bauliche Hindernisse als auch Vorurteile und Unwissenheit. Oft sind es genau diese Unsicherheiten, die Menschen davon abhalten, ein inklusives Miteinander zu schaffen.

Inklusion beginnt im Kleinen – bei der Begegnung von Mensch zu Mensch. Der erste Schritt besteht darin, aufzuhören, Menschen mit Behinderung als „anders“ wahrzunehmen. Stattdessen sollten wir uns fragen, wie wir Räume gestalten können, die allen Menschen offenstehen. Barrieren abzubauen, bedeutet nicht nur, physische Zugänge zu schaffen, sondern auch soziale Netzwerke, Bildung und Arbeitsmöglichkeiten für alle zugänglich zu machen. Hier sind Kreativität und Mut gefragt, um vielfältige Lösungen zu entwickeln, die allen Menschen gerecht werden.

Es gibt viele Möglichkeiten, Inklusion aktiv zu gestalten. Mit Offenheit und Interesse auf andere zuzugehen, ermöglicht es uns, Vielfalt zu schätzen und Verbindungen zu stärken. Indem wir Menschen mit Behinderung in Gespräche einbinden, ihre Meinungen hören und ihre Perspektiven verstehen, schaffen wir ein Umfeld der Teilhabe. Gleichzeitig sind es Institutionen wie Schulen, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, die ihre Angebote so gestalten müssen, dass niemand ausgeschlossen wird.

Unsere Gesellschaft gewinnt an Stärke und Vielfalt, wenn wir den Wert jede*r Einzelnen anerkennen und Teilhabe ermöglichen. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, eine Kultur der Akzeptanz und des Respekts zu schaffen. Menschen mit Behinderung sind nicht die Ausnahme, sondern ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens.

Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft erfordert neben persönlichem Engagement auch strukturelle Veränderungen. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die die Rechte und Teilhabe von Menschen mit Behinderung weltweit schützt, ist ein entscheidender Schritt. Eine konsequente Anpassung von Gesetzen und Maßnahmen hilft, Barrieren abzubauen – seien sie baulich, technisch, sozial oder kulturell.

Inklusion ist ein gemeinsamer Auftrag, der uns alle betrifft. Jede*r kann und sollte seinen Beitrag dazu leisten, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich alle Menschen wohl und willkommen fühlen. Jeder Mensch ist einzigartig und wertvoll. Wenn wir diese Wahrheit in unserem Handeln sichtbar machen, schaffen wir eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Chancen haben, sich zu entfalten und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.

Dieses Buch soll Inspiration und Anstoß sein, diesen Weg weiterzugehen – hin zu einer offenen, vielfältigen und inklusiven Gesellschaft, in der jeder Mensch seinen Platz findet und geschätzt wird.

Ihre und Eure

Heike Heubach

MdB, erste Rednerin in deutscher Gebärdensprache im Bundestag

Der Finger in der Wunde:Die Geschichte des ungläubigen Thomas

Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.(Johannes 20,24–29)

Er hatte es verpasst. Alle sprachen davon und er hatte es verpasst, hatte das Gefühl, nicht mitreden zu können. Mal ehrlich: So ganz glauben konnte er es nicht. Aus seiner Sicht klang das doch alles eher unglaubwürdig und fern von allem, was er jemals erlebt hatte. Er musste es mit eigenen Augen sehen, er wollte es sehen und fühlen und seinen Finger selbst in die Wunde legen, um das Ausmaß zu begreifen. Für ihn hatte das nichts mit fehlendem Vertrauen zu tun, er hielt sich für objektiv. Sein Blick von außen war doch sachlich und ­neutral.

Die Geschichte des ungläubigen Thomas hatte ich schon oft gehört und entdeckte plötzlich eine neue Perspektive da­rin. Ich las sie im Kontext von Diskriminierungserfahrungen und aus Jesu Perspektive. Jesus begegnet Freund*innen aus seiner Vergangenheit. Sie erkennen ihn zunächst nicht, er hat sich verändert durch das, was geschah. Er offenbart sich als der Auferstandene, indem er ihnen die Wunden, die Narben an seinem Körper zeigt. Sie bezeugen, was geschehen ist. Sie sind sicht- und greifbare Beweise. Er ist verwundet auferstanden. Thomas kann es nicht glauben. Er braucht den Beweis, er muss die Wunden sehen, berühren, um Jesus zu glauben. Sein Bericht reicht ihm nicht: Heute würden wir das wohl übergriffig nennen.

Wenn wir über Verletzungen, über Diskriminierung sprechen wollen, ist es wichtig und notwendig, Betroffenen zuzuhören und ihnen zu glauben. Wir brauchen ihre Erfahrung, ihre Expertise und ihre Geschichten, um gemeinsam zu lernen und nachhaltige Veränderungen zu bewirken.

Von der lateinischen Bedeutung her geht es um die Unterscheidung aufgrund meist äußerlicher Merkmale. Wer diskriminiert, betont eine Andersartigkeit, um das Gegenüber herabzusetzen und sich selbst abzugrenzen. Dabei hat Diskriminierung immer auch eine systematische, strukturelle Ebene. Verschiedene Formen der Diskriminierung können sich überschneiden.

Meine Entscheidung, von alltäglicher Diskriminierung zu berichten, war und ist keine leichte. Davon zu erzählen, meine persönlichen Verletzungen sichtbar zu machen, das macht mich verletzlich. Ich überlege sehr genau, ob ich für die Reaktionen, die mögliche Abwehr und erneute Diskriminierung Energie habe. Ich entscheide sehr bewusst, in welchem Kontext ich persönlich erzähle und wann nicht. Ich musste erst lernen „Nein“ zu sagen, lernen, dass ich niemandem Rechenschaft und Auskunft schuldig bin, weder über Diskriminierungserfahrungen noch über Diagnosen. Als behinderte Frau ist dies jedoch eine alltägliche Erfahrung: Immer wieder verlangen Menschen Erklärungen und fragen nach medizinischen Details, manchmal im Sinne einer Rechtfertigung, wenn ich Barrierefreiheit einfordere, manchmal wohl schlicht aus Neugierde. Es klingt für Außenstehende schwer vorstellbar, doch es ist mit sichtbarer Behinderung Alltag, sowohl an der Baumarktkasse nach Diagnosen gefragt zu werden als auch öffentlich vor dem Hörsaal in der Universität. Übergriffige Fragen und Rechtfertigungsgrund: Jesus, I feel you. Jesus entscheidet sich, die Situation zwar anzusprechen (V. 29), lässt Thomas aber gewähren. Hier unterscheidet sich meine Erfahrung dann doch: Ich kenne die Fragen, das Anzweifeln, doch ich habe mir auch mühsam erarbeitet, nicht alle Fragen beantworten zu müssen. Wichtig ist mir: Ich entscheide, wann ich die Narben in meinen Händen zeige, wann ich selbst den Finger in die Wunde lege und wann nicht. Und ich wünsche mir, ich wünsche mir so sehr, dass wir anfangen, Menschen ihre Erfahrungen zu glauben. Betroffene Personen entscheiden, wann etwas diskriminierend ist, egal wie es gemeint war. Wir müssen Rassismus und Sexismus, Klassismus, Queer-Feindlichkeit und Ableismus benennen können, ohne uns dafür rechtfertigen zu müssen und plötzlich selbst auf der Anklagebank zu sitzen.

Rassismus ist die Diskriminierung aufgrund einer erfundenen Rassentheorie, die Menschen in Gruppen mit unterschiedlichem Wert einteilt. In der Geschichte stützte er u. a. Kolonialismus und Versklavung Schwarzer Menschen und BIPoC und hat bis heute Einfluss auf die Gesellschaft in Deutschland und auf der ganzen Welt.

Sexismus ist die Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes.

Klassismus ist die Diskriminierung aufgrund der Einkommensstufe, des Wohlstands, der sozialen Herkunft und des Bildungsgrades.

Queer-Feindlichkeit ist die Diskriminierung aufgrund geschlechtlicher Identität oder sexueller Orientierung. Menschen, die sich nicht nach einer gesellschaftlichen Norm von Mann und Frau einteilen lassen, werden ausgeschlossen und angefeindet.

Ableismus ist Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Krankheit. Er knüpft den Wert eines Menschen an eine körperliche Norm und dessen Leistungsfähigkeit.

Ich kann Menschen akzeptieren und ihre Erfahrungen ernst nehmen, ohne sie nachfühlen zu können. Ich werde nie wissen, wie es sich anfühlt, negativ von Rassismus betroffen zu sein. Ich werde nie wissen, wie es sich anfühlt, wenn dir die Gesellschaft das falsche Geschlecht zuweist. Ich muss es nicht wissen. Ich kann denen glauben, die es erleben, und mich dafür einsetzen, dass die Diskriminierung abgebaut wird – in der Gesellschaft und in meinem eigenen Denken und Handeln. Empathie funktioniert nur, wenn wir verstehen, dass Erfahrungen individuell sind, wenn wir unsere Privilegien reflektieren, statt vorschnell davon zu sprechen, wir seien alle gleich. Wir sind nicht gleich, aber gleich wertvoll.

Menschen, die von solchen Erfahrungen berichten und Kirche und kirchliche Machtstrukturen kritisieren, die tun dies nicht, um der Kirche zu schaden oder weil sie ihnen egal ist. Sie tun es aus tiefer Loyalität, weil ihr Herz an dieser Kirche hängt. Sie bleiben, lassen nicht locker, weil sie Hoffnung haben und an eine bessere Zukunft glauben.

Thomas, das kannst du mir glauben.

Einleitung

In den Vorständen der größten deutschen Unternehmen ist Thomas der häufigste Vorname. In Deutschland gibt es außerdem mehr Oberbürgermeister mit dem Vornamen Thomas als Bürgermeisterinnen insgesamt.1 Als Thomas-Kreislauf bezeichnet man das statistisch messbare Phänomen, dass Menschen häufig diejenigen befördern und einstellen, die ihnen ähnlich sind. Dabei geht es in den meisten Fällen nicht um bewusstes, absichtliches Handeln. Umso wichtiger ist es deshalb, sich mit den unbewussten Vorurteilen und Verhaltensmustern auseinanderzusetzen, nach denen wir alle handeln. Nur so können wir diskriminierende Strukturen erkennen und durchbrechen. Studien zeigen, dass divers aufgestellte Unternehmen innovativer und krisenfester sind. Sie können besser auf Zielgruppen eingehen und mit Veränderungen umgehen. Klingt wie etwas, das unsere Kirchen gut gebrauchen könnten.

Diversität rückt (zum Glück) immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit. So wurden für die Gleichstellung von Frauen beispielsweise schon große Fortschritte erreicht, auch wenn wir noch nicht am Ziel sind. Auch das Thema Rassismus ist (besonders seit dem Mord an George Floyd 2020) stärker in den Fokus gerückt. Diversität ist in sich vielfältig so wie die Faktoren, durch die Menschen diskriminiert werden. Es braucht einen intersektionalen Blick, der die Vielzahl dieser Faktoren und ihre Überschneidungen und Zusammenhänge kennt, um an einer im weiten Sinne inklusiven Gesellschaft zu arbeiten, in der Menschen gleichberechtigt teilhaben können. Auch in unseren Kirchen sind wir dazu bereits wichtige Schritte gegangen und es bleibt gleichzeitig noch viel zu tun.

Verschiedene Diskriminierungsformen können sich überschneiden, denn Menschen sind mehr als ein einzelnes Merkmal. Diese Beobachtung machten erstmals Schwarze Frauen in den USA stark, die sich durch den weißen Feminismus nicht repräsentiert sahen. Sie waren sowohl von Sexismus als auch Rassismus betroffen.

In den innerkirchlichen Debatten um Diversität spielt der Faktor Behinderung bisher eine sehr untergeordnete Rolle. Inklusion liegt in der Wahrnehmung häufig irgendwo zwischen Herausforderung und Utopie. Barrierefreiheit ist zu teuer, nur für eine Randgruppe notwendig und fangen wir gar nicht erst vom Denkmalschutz unserer heiligen Gebäude an. Gleichzeitig sind wir ganz groß in Fürsorge und Pflege und darauf auch mächtig stolz. Mit Diakonie und Caritas gehören die Kirchen nicht nur zu den größten Arbeitgeberinnen Deutschlands, sondern betreiben auch viele Pflegedienste, Wohneinrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Inklusion ist also längst unser Kerngeschäft. Oder?

Am 28.04.2021 hat sich etwas geändert. An diesem Tag im April tötete eine kirchliche Mitarbeiterin vier Menschen mit Behinderung in einer diakonischen Wohneinrichtung in Potsdam und verletzte eine weitere Bewohnerin schwer. Vier Menschen wurden in ihrem Zuhause getötet, in einer evangelischen Einrichtung. Dieser Tag und die darauffolgende Stille in den Medien und in der Kirche haben etwas in mir verändert. Das mag dramatisch klingen, immerhin habe ich weder eine der Personen gekannt noch habe ich eine Verbindung zu der Einrichtung oder Potsdam. Und doch waren meine Gedanken wochenlang bei diesen Menschen und dem Wissen, dass dies wieder mal einer dieser „Einzelfälle“ war. Unter dem Hashtag #AbleismusTötet waren es erneut behinderte Aktivist*innen, die um Aufmerksamkeit für den Vorfall kämpfen mussten. In mir wuchs von Tag zu Tag die Frage, wann sich Kirche endlich dazu positioniert, wenn hier im Kontext ableistischer Morde das Wort „Erlösung“ fällt. Ich frage mich bis heute, was wohl geschehen wäre, hätte eine kirchliche Mitarbeiterin vier Menschen in einer Kirchengemeinde getötet. Vermutlich wäre die Tat in jedem Sonntagsgottesdienst in ganz Deutschland Teil der Fürbitten gewesen. Aber so? Stille. Diese unerträgliche Stille. Und so schrieb ich. Ich schrieb den Text, den ich mir selbst von meiner Kirche wünschte. Ich schrieb ihn nicht in offizieller Funktion, ohne Beauftragung und nicht repräsentativ. Ich schrieb ihn als behinderte Christin und als Ehrenamtliche. Ich bin ein Teil dieser Kirche. Ich übernehme Verantwortung und ich fordere sie ein.2

„Nicht über uns – ohne uns!“ ist ein Grundsatz der Behindertenrechtsbewegung. Egal ob Wissenschaft oder Politik: Es geht darum, nicht Diskurse über behinderte Menschen zu führen, ohne dass diese daran beteiligt sind. Auch hier geht es um Macht und Deutungshoheit. Wer bestimmt z. B., wann etwas diskriminierend ist? Wer entscheidet über Zugänge und definiert, was barrierefrei ist? Selbstbestimmung, Teilhabe und Mitsprache sollten nicht nur Thema inklusiver Debatten sein, sondern diese auch von vornherein prägen. Es reicht nicht aus, im dritten Schritt einen Betroffenenbeirat zu Rate zu ziehen. Behinderte Expert*innen existieren.

Menschen bekommen die Möglichkeit, in der Gesellschaft zu leben und die Gesellschaft aktiv zu gestalten, ohne aufgrund ihrer Identität eingeschränkt zu werden.

Meine Perspektive bleibt begrenzt. Ich teile persönliche Erfahrungen und Reflexionen. Die Erfahrung von Behinderung und die Erfahrung von Ableismus ist divers und so wird es Aspekte geben, die in diesem Buch nicht vorkommen und die trotzdem wichtig sind. So erlebt eine Person mit Lernschwierig­keiten andere Barrieren als eine körperlich behinderte Person. Es macht einen Unterschied, in welchem Alter eine Behinderung auftritt, welche Unterstützung Menschen in ihrem Umfeld haben, wo sie aufwachsen, welche Bildungszugänge sie haben. Ich schreibe aus der Perspektive einer jungen Frau mit körperlicher Behinderung. Sie ist sichtbar durch Hilfsmittel, die ich nutze wie etwa einen Gehstock. Ich habe meine Behinderung als Erwachsene erworben. Eine Diagnose wird es in diesem Buch nicht geben, denn sie ist schlicht nicht relevant. Es gibt nicht die eine Perspektive der Community behinderter Menschen in Deutschland oder in der Kirche, die eine Stimme, es gibt vielleicht nicht einmal die eine Community. Gehörlose Personen, Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen, die in Wohneinrichtungen leben beispielsweise, erhalten häufig noch weniger Aufmerksamkeit. Und auch psychische Erkrankungen sind weiterhin in vielen Kontexten ein Tabu. So spreche ich zwar über eigene Erfahrungen von Diskriminierung, bringe aber in anderen Bereichen auch Privilegien mit. Es braucht mehr Menschen, denen wir unser Gehör schenken, mehr Perspektiven. Ich freue mich, dass die Berliner Pfarrerin Lena Müller meine Gedanken durch ein Gastkapitel ergänzt und dieses Buch damit so sehr bereichert. Das Buch ist also ein Anfang. Ich wünsche mir, dass sich der Diskurs über Ableismus verstärkt. Dass wir voneinander lernen, intersektional verbunden nach Neuem suchen und dem ganz Alten, dem Kern.

Während früher von sogenannten „geistigen Behinderungen“ gesprochen wurde, bevorzugen viele Betroffene die Formulierung Menschen mit Lernschwierigkeiten.

In den letzten Jahren habe ich viel gelesen und von anderen gelernt, dass ich mit meinen Erfahrungen und Fragen nicht allein bin. Ich lernte, die Erfahrungen einzuordnen und zu benennen. Sprachfähig zu werden über Behinderung war und ist eine Herausforderung, persönlich und gesellschaftlich. Dieses Buch soll einen Anstoß dazu geben, sich auf verschiedenen Ebenen mit inklusiver Kirche zu beschäftigen. Dabei werden sowohl historische und theologische Grundlagen betrachtet als auch aktuelle Herausforderungen angegangen. Klar ist: Ein universales Konzept für umfassende Inklusion kann es nicht geben. Inklusion ist das große Ziel, dem wir uns Schritt für Schritt annähern, denn:

Wie kann ich Kirche anders denken als inklusiv?

1 Vgl. https://www.allbright-stiftung.de/fakten sowie https://katapult-magazin.de/­de/artikel/mehr-thomasse-als-buergermeisterinnen (zuletzt aufgerufen am 08.10.2024).

2 https://www.lauterleise.de/2021/05/03/eine-theologische-herausforderung/ (zuletzt aufgerufen am 8.10.2024).

1. TeilGrundlagen und Geschichte

Inklusion, Behinderung und Barrierefreiheit:Begriffsklärung und die Bedeutung von Sprache

Die britische Schauspielerin Ruth Madeley spielt in der BBC-Kultserie Dr. Who eine wissenschaftliche Expertin und Agentin. Sie selbst nutzt – wie auch die Rolle, die sie verkörpert – einen Rollstuhl, auch wenn ich vermute, dass ihr privates Exemplar im Gegensatz zu jenem aus der Serie keine Raketen abschießen kann. Im Dezember 2023 taucht ihre Rolle erstmals in der Serie auf. Und: Die Tardis – das Zeitreiseraumschiff des Doktors in Form einer blauen, britischen Notruftelefonzelle – erhält eine Rampe. In einem Post auf Instagram (@ruthmadeley) posiert Madeley mit ihrem Schauspielerkollegen David Tennant vor der Tardis und schreibt: „For every disabled kid who couldn’t get into the Tardis, this ramp is forever yours.“ Ob mir die Rampe eines fiktiven Raumschiffs im Alltag nutzt, mag fraglich sein. Vor allem aber bedeutet sie und die Rolle der Agentin im Rollstuhl Repräsentation für viele behinderte Kinder und Erwachsene. Die Bedeutung von Repräsentation – insbesondere für Kinder – ist nicht zu unterschätzen. Manchmal braucht es Vorbilder zum Träumen.

Es geht um die Frage, wie sehr marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft und ihrer Darstellung in Kunst und Medien vertreten sind. Repräsentation kann viele Bereiche umfassen: behinderte Charaktere in Filmen und Büchern, Vorbilder mit Behinderung für Kinder mit und ohne Behinderung oder etwa Repräsentation von behinderten Menschen in Führungspositionen, Leitungsgremien und Synoden.