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Wenn das Leben nach dem Tod Realität wird, verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit ... Gibt es ein Leben nach dem Tod? Diese Frage lässt Micha auch drei Jahre nach dem Tod seiner geliebten Ehefrau Carola nicht los. Er selbst glaubt nicht daran, doch Carolas letzte Worte, "Nicht traurig sein, wir sehen uns irgendwann wieder", lassen ihn entgegen seiner Überzeugung hoffen. Dennoch kann weder seine Familie noch die Kirche die Frage mit Gewissheit beantworten. Michas Töchter ermutigen ihn, sich zurück ins Leben zu stürzen und andere Frauen kennenzulernen, doch für Micha wäre das ein Verrat an seiner Ehefrau. Also zieht er sich immer weiter zurück - bis eines Nachts das Unfassbare geschieht: Carola steht plötzlich vor seinem Bett. War die Begegnung wirklich real oder doch nur ein Traum? Hatte Carola recht und gibt es tatsächlich mehr zwischen Himmel und Erde, als Micha sich vorstellen kann? Ein mystisches Abenteuer beginnt.
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Seitenzahl: 426
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Einleitung
Trauer
Nächtlicher Besuch
Konkurrenz
Ein halbes Jahrhundert
Ich bin doch nicht verliebt!
Gestatten, Micha – bekloppt
Pension Lahme
Liebe auf Probe
Und es hört nicht auf
Wo ist Alex?
Ein neues Leben?
Ein realer Traum
Stille Nacht, seltsame Nacht
Das Leben nach dem Tod
Wenn ich an die Zeit damals zurückdenke, dann kann ich es noch immer nicht glauben. Es war Ende der 1970er. Gerade mal 14 Jahre alt war ich, als ich mich in ein Mädchen aus meiner Klasse verliebte. Carola war sogar erst 13 und wir kamen tatsächlich zusammen. Bis dahin hatten wir noch kein Wort miteinander gesprochen, denn es war schwierig für mich, mit Mädchen zu reden. Meine Mutter erklärte mir bereits in frühester Kindheit, dass sie außerirdische Wesen wären, die uns mit einer Krankheit anstecken wollten. Dabei versuchte sie nur zu verhindern, dass ich später mal eine Freundin habe. »Michael, halte dich von diesen Wesen fern«, sagte sie immer.
Michael – das bin ich. Mit vollem Namen heiße ich Michael Lahme, werde aber von allen, außer meiner Mutter, nur Micha genannt.
Carola und ich waren uns bereits bei der ersten Annäherung sympathisch und wir waren erst ein paar Tage ein Paar, als sie in der Wanderwoche ins Eis einbrach. Ich holte sie aus dem eiskalten Wasser und trug sie zur Jugendherberge zurück. Zusammen mit einer anderen Klassenkameradin zog ich ihr alle Kleidungsstücke aus und legte sie unter die warme Dusche. Da wir alle nass waren und uns kalt wurde, entledigten auch wir uns unserer Klamotten und hielten uns gegenseitig den warmen Wasserstrahl auf unsere Körper.
Nach einer langen Zeit öffnete sich die Tür des Waschraums und unsere Lehrerin stand vor uns. Um von ihrem Versagen abzulenken, beschuldigte sie mich der Vergewaltigung und ich musste mit zur Polizeiwache. Der Irrtum klärte sich zwar schnell auf und ich durfte wieder gehen, doch meine Mutter glaubte mir nicht. »Ich habe einen Vergewaltiger großgezogen«, brüllte sie und schlug so lange mit einem Stock auf mich ein, bis ich die Marmortreppe hinunterstürzte. Als ich mich in mein Zimmer gequält hatte, folgte sie mir und drosch weiter auf mich ein.
In der Nacht schleppte ich mich mit letzter Kraft zu meiner Freundin und brach vor ihrer Tür zusammen. Erst im Krankenhaus kam ich wieder zu mir.
Dieses Erlebnis schweißte uns zusammen. Da ich nicht wieder zu meiner Mama zurückwollte und auch das Jugendamt etwas dagegen hatte, nahmen mich Carolas Eltern bei sich auf und adoptierten mich später sogar. Fortan wohnte ich ebenfalls im Zimmer meiner Freundin.
Drei Jahre lebten wir so, da wurde sie schwanger. Da sie Zwillinge bekam, standen wir vor einer großen Herausforderung. Wir heirateten und kümmerten uns um zwei Kinder, obwohl wir selbst noch welche waren. Zudem machten wir gerade das Abitur und mussten natürlich auch viel lernen. Dass dies alles überhaupt möglich war, verdankten wir ihren Eltern. Ihr Vater Manfred baute auf dem riesigen Gelände für uns noch ein Haus und ihre Mutter Elfriede kümmerte sich sehr viel um die Mädchen.
Abends, wenn die Kinder schliefen und wir etwas Zeit für uns hatten, sprachen wir gelegentlich über die Geschichte, wie wir uns kennenlernten, und eines Tages beschlossen wir, diese aufzuschreiben. Immer wieder machten wir uns Notizen und schrittweise kam eine fast unglaubliche Story heraus. Doch fertig wurden wir damit nie.
Unsere Töchter wuchsen auf und hatten selbst schon Familien, als meine Frau mit nur 46 Jahren starb. Es war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich stürzte in ein tiefes Loch, kam nicht mehr richtig auf die Beine, baute immer weiter ab und lachte auch nur noch sehr wenig. Aus dem fröhlichen Menschen, den Carola aus mir machte, wurde eine sehr ernste Person. Ich versuchte, mir den Kummer von der Seele zu schreiben, und mithilfe unserer Aufzeichnungen und ihren Tagebüchern vollendete ich schließlich unser Buch. Der Roman »Geimpfte Mädchen stinken nicht« entstand.
Trotzdem konnte ich meine Frau niemals loslassen und trauerte loch lange. Mein Leben schien vollkommen sinnlos zu sein, bis eines Tages etwas geschah, mit dem ich nicht im Entferntesten gerechnet hätte.
Mit einem Blumenstrauß in der Hand stand ich vor dem Grab meiner Frau Carola. Der Krebs hatte damals gesiegt. Keine Liebe und keine Ärzte konnten dieser Krankheit auch nur das Geringste entgegensetzen. Doch das Leben ging weiter – ohne sie. »Nicht traurig sein, wir sehen uns irgendwann wieder«, war einer ihrer letzten Sätze.
Drei Jahre war es her, dass ich mich von ihr verabschieden musste und das Einzige, was mir blieb, waren ein Grabstein, ein paar Bilder und natürlich schöne Erinnerungen. Diese erleichterten zwar zum einen die Qual etwas, doch gleichzeitig verstärkten sie diese auch. Ja, wir hatten eine wunderbare Zeit und natürlich dachte ich immer mit Freuden daran zurück, aber es gab mir auch jedes Mal einen Stich ins Herz. Ständig sah ich sie vor mir stehen. Ich erfreute mich an ihrem Lachen, spürte ihre zarte Haut und ihre weichen Lippen. In diesen Momenten wünschte ich sie immer zurück. Im selben Augenblick wurde mir aber auch bewusst, dass dies nicht möglich ist und hatte dann das Gefühl, als würde mir jemand mit einem glühenden Haken das Herz herausreißen.
Trauern ist nicht einfach, aber war es das denn überhaupt? Ein Psychologe sagte mir mal, dass dies frühestens nach drei Jahren einsetzen würde. Aber was war dann das, was ich die ganze Zeit über gespürt hatte? Konnte ich glauben, was er sagte?
Ich stellte die Blumen in die Vase und schüttete mit der Gießkanne etwas Wasser dazu. »Das ist das Letzte, was ich für dich tun kann, Schatz«, sagte ich leise vor mich hin. Ein Satz, den ich jede Woche äußerte. Seit sie dort lag, brachte ich jeden Samstag einen Blumenstrauß hin. Eigentlich vollkommen sinnlos und doch hatte ich das Gefühl, etwas tun zu müssen.
Anschließend folgten die immer wiederkehrenden Rituale: Alle Blumen auf dem Grab ansehen, nachschauen, ob sich noch genügend Erde auf der Ruhestätte befindet und zum wahrscheinlich tausendsten Male fassungslos und mit Tränen in den Augen die Inschrift auf dem Stein lesen. Dann folgte der Weg nach Hause, wobei ich sie immer wieder vor mir sah und sogar ihre Hand in meiner fühlte. Manchmal dachte ich, sie würde neben mir laufen. Oft drehte ich den Kopf und bildete mir ein, sie würde mich anlächeln.
Unsere Töchter hatten längst schon eigene Familien und so kam ich vom Friedhof immer wieder in ein leeres Gebäude. Manchmal fragte ich mich, was ich dort überhaupt machte. Carola und ich kamen früher meist gemeinsam von der Arbeit und unternahmen zusammen etwas. Kinder rannten durch die Wohnung, unser Bungalow lebte. Und heute? Den ganzen Tag arbeiten gehen und abends allein daheim herumsitzen, kann doch nicht das Lebensziel eines Menschen sein.
Ich setzte mich auf das Sofa und schaltete den Fernseher ein und auch das war immer das Gleiche: Einschalten, mich ärgern, dass trotz immenser Rundfunkgebühren nur Müll lief und wieder ausschalten. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es, so wohl auch beim Fernsehprogramm.
Meist ging ich dann hinaus auf die Terrasse und machte es mir auf der Bank bequem. Hier saßen wir früher immer gemeinsam. Ja, Carola war überall und doch fehlte sie an jeder Stelle. Wo ich auch hinging, konnte ich sie sehen und zu jedem Bild in meinem Kopf gab es eine kleine Geschichte. Ich hoffte immerzu, dass sich dies eines Tages bessern würde, doch auch nach all den Jahren wurde es nicht anders. Ich überlegte sogar schon, ob ich nicht ausziehen sollte. Weg von Zuhause, an einen anderen Ort, der mich nicht ständig an sie erinnern würde; an einen Platz, an dem wir keine gemeinsame Geschichte hatten. Nach langer Überlegung kam ich allerdings zu dem Schluss, dass ich mir wie ein Verräter vorkommen müsste. Als würde ich sie allein zurücklassen, denn Carola war für mich immer noch hier. Also blieb ich in unserem Haus wohnen, welches auf dem Grundstück meiner Schwiegereltern stand und leitete auch die Firma weiter, die uns mein Schwiegervater damals überließ. Spaß am Leben hatte ich jedoch nicht mehr. »Wo ist Carola jetzt? Hoffentlich geht es ihr dort gut.« Das waren Gedanken, die mir immer wieder durch den Kopf schwirrten. Kein Tag verging, an dem ich nicht mehrfach an sie dachte.
Als ich wieder einmal am Simulieren war, hörte ich plötzlich Schritte auf mich zukommen. Ich schaute nach vorn und erkannte Corinna, eine meiner Töchter. Schon früh bekamen wir damals unsere Zwillinge. Gerade mal 16 Jahre alt waren wir. Kurz nachdem Carola und ich uns den Namen Corinna für unsere Tochter ausgedacht hatten, bekamen wir vom Gynäkologen mitgeteilt, dass es Zwillinge werden würden. Ein zweiter Name musste also her. Nach einiger Zeit der Überlegung einigten wir uns auf Cornelia. Erst kurz darauf bemerkten wir, dass beide die gleichen Anfangsbuchstaben hatten. Doch uns gefielen diese Namen und wir wollten sie auch nicht mehr ändern. Zum Spaß bezeichnete ich Corinna und Cornelia, die wir nur Conny nannten, deshalb immer als die Co-Cos.
»Hallo, Papa!«, rief sie schon von weitem, kam zu mir auf die Terrasse und setzte sich neben mich. »Du sitzt schon wieder traurig da und denkst an Mama«, stellte sie fest. Ja, das tat ich und ich wusste auch, dass meine Töchter das nicht mehr sehen wollten. »Papa, du musst nach vorn schauen. Mama kommt nicht mehr zurück.« Ich sah sie an und lächelte. »Wenn das so einfach wäre«, sagte ich nur, während sie mir einen Begrüßungskuss auf die Wange gab. »Mama hätte doch auch nicht gewollt, dass du nur noch teilnahmslos in der Ecke hängst«, ließ sie mich wissen, »Geh doch mal aus und triff dich mit anderen Frauen. Dein Leben geht doch weiter.« Ja, leider war das so. Ich hätte aber auch auf weitere Jahre verzichten können, die bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt keinen Sinn mehr zu machen schienen. Dies sagte ich meiner Tochter natürlich nicht und mich mit einer anderen Frau treffen war völlig ausgeschlossen.
Ich blickte an Corinna vorbei und sah auf der Terrasse des anderen Hauses Elfriede, meine Schwiegermutter. Ich fuchtelte mit der Hand in der Luft herum, um sie zu grüßen und sie winkte zurück. Ja, wir alle trauerten um Carola und trotzdem war es nicht das Gleiche. Es ist von der Natur vorgesehen, dass erst Opa und Oma uns verlassen und später dann die Eltern, bevor wir selbst eines Tages an der Reihe sind. Für meine Töchter wurde diese Reihenfolge schon nicht eingehalten. Natürlich sollten Mama und Papa vor einem sterben, doch die Großeltern waren noch da – das passte nicht. Ich hatte meine Partnerin verloren. Es ist zwar klar, dass im Normalfall einer vor dem anderen geht, aber natürlich nicht so früh, wie es bei uns der Fall war. Außerdem war es auch hier so, dass ihre Eltern noch lebten. Bei diesen war es allerdings etwas völlig Unnormales – ihr Kind starb vor ihnen; so etwas wünscht sich niemand.
Auch nach dem Tod meiner Frau ließen sie mich dort wohnen, was nicht selbstverständlich war. »Du bist doch unser Sohn«, sagten sie immer. Ja, aber nicht der leibliche. Ich war der Adoptivsohn und gleichzeitig auch der Schwiegersohn.
Carola und ich waren damals schon zusammen, als mich meine Mutter misshandelte und das Jugendamt mich ihr wegnahm. Bei Familie Klein fand ich ein neues Zuhause. Viele Stunden unterhielten wir uns darüber, ob ich bleiben oder wegziehen sollte, doch sie bestanden darauf, dass ich weiterhin dort wohne. Obwohl ich Carola überall in dem Haus sah, befolgte ich ihren Willen. Aber was wäre, wenn ich wirklich einmal eine andere Frau kennenlernen würde. Wie wären ihre Reaktionen, wenn eine Fremde mit mir dort lebt, statt ihrer Tochter.
»Papa?« Ich schreckte aus meinen Gedanken. Corinna schaute mich grinsend an. »Du warst geistig schon wieder weit weg«, erklärte sie mir. Ich sah sie an und lächelte zurück. Sie und ihre Schwester waren Carola so ähnlich. Nicht nur vom Äußeren, sie hatten auch charakterlich viel gemeinsam. »Corinna, es wird wohl noch einige Zeit vergehen, bis ich wieder einigermaßen normal bin«, erklärte ich ihr, »Tut mir bitte den Gefallen und drängt mich nicht.« Sie schaute mich eine ganze Weile an, drückte mir einen Kuss auf die Wange und meinte: »Ich gehe Oma begrüßen. Nachher komme ich noch mal zu dir.« Dann stand sie auf und ging zum anderen Gebäude. Ich schaute ihr nach. Sogar den Gang hatte sie von ihrer Mutter.
Immer wieder versuchten mich meine Töchter zu einem normalen Leben zu drängen, doch wäre das sinnvoll? Sollte ich jemand sein, der ich nicht bin? Schon bei den Familienfeiern oder auch bei Festen meiner Freunde tat ich immer so, als würde es mir gut gehen; so, als hätte ich Freude an allem. Ich wurde zum Schauspieler – lachte und feierte mit, obwohl mir innerlich zum Heulen zumute war. Zu Hause aber wollte ich das nicht. Jeder, der mich besuchte und dem das nicht passte, wusste, wo die Tür war.
Es dauerte eine Weile, dann sah ich erneut eine hübsche Frau auf mich zukommen. Es war Conny. Viele Leute sagen, dass man eineiige Zwillinge nicht auseinanderhalten könne. Ich konnte darüber nur lachen. Ich wusste genau, wer Corinna und wer Conny war. Auch Zwillinge hatten kleine Unterscheidungsmerkmale, die ich als Vater natürlich kannte.
Sie setzte sich zu mir und nahm mich in den Arm. Sie war etwas sensibler und einfühlsamer als ihre Schwester. Während Corinna mich immer aufbauen wollte, war Conny eher der Typ, der mich zu trösten versuchte. »Papa, du tust mir so leid«, meinte sie und drückte mir ebenfalls einen Kuss auf die Wange, »wenn ich dir doch irgendwie helfen könnte.« Ich drehte den Kopf und grinste sie an. »Mir ist nicht mehr zu helfen, Conny.« Auch meine Tochter lachte nun: »Langsam scheint dein Humor zurückzukommen.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile, bevor sie verkündete: »Papa, der eigentliche Grund für meinen Besuch, ist dein Geburtstag. Du wirst bald 50 und wir möchten gern mit dir feiern. Es wäre doch schön, wenn alle deine Freunde und auch die ganze Verwandtschaft kommen würden.« Ich hatte es befürchtet, die Co-Cos wollten eine große Party machen. Doch danach war mir nicht zumute. Seit Carola damals erkrankte, hatten wir so etwas nicht mehr gemacht. Nur ihren letzten Geburtstag hatten wir noch mit den engsten Freunden gefeiert, wenn man das überhaupt so nennen kann. Jetzt wieder damit anzufangen wäre, als ob ich sie vergessen hätte. Auch hierbei würde ich mir eher wie ein Verräter vorkommen. Ich wollte es meiner Tochter erklären: »Conny, du weißt doch …« Weiter kam ich jedoch nicht, da ich von der anderen Seite jäh unterbrochen wurde. »Keine Widerrede, du musst nach vorn sehen und wir werden deinen Geburtstag feiern, ob du willst oder nicht.« Corinna war zurückgekommen und forderte nun energisch, dass ich zur Normalität zurückkehren sollte. Welches Argument hätte ich hier vorbringen können, welches ich nicht schon einmal versucht hätte. Meine Töchter kannten mittlerweile alle meine Ausreden und so musste ich schließlich klein beigeben. »Wir werden dir eine schöne Party bereiten«, rief Corinna voller Freude, »aber du musst deine Freunde selbst einladen.« »Okay«, stimmte ich schließlich zu, »aber dafür ist das Wohnzimmer vielleicht etwas zu klein.« Conny lachte laut: »Wir feiern doch solch einen großen Tag nicht im Wohnzimmer.« »Aha, und wo sonst?« »Na, in einer Location, die sich dafür eignet«, rief Corinna. Abwechselnd sah ich meine Töchter an. Ich wusste genau, dass es kein Entkommen gab, wenn sich die Co-Cos etwas in den Kopf gesetzt hatten. Wenn sie etwas gemeinsam ausheckten, dann akzeptierten sie keine Widerrede. »Und wo wäre das?«, wollte ich wissen. Beide grinsten und Conny meinte: »Das wird nicht verraten.« Ich überlegte, denn einen kleinen Haken hatte ihr Plan. »Wohin soll ich meine Freunde denn einladen, wenn ich den Ort nicht weiß?«, fragte ich nach. 1:0 für mich, die Co-Cos wurden ruhig und fingen an nachzudenken.
Wenn sie zusammen Pläne machten, waren sie normalerweise unübertrefflich, doch ihre Vorhaben scheiterten gelegentlich an irgendwelchen Kleinigkeiten. Sogar Carola hatte oft Angst vor ihren Überlegungen, weil es meist an uns hängen blieb, wenn sie wieder einmal etwas vergaßen. »Wie wäre es, wenn ich euch die Adressen und die Telefonnummern von ihnen geben würde und ihr ladet sie selbst ein?«, machte ich den Vorschlag. Damit waren sie einverstanden. Auch mein schauspielerisches Talent stellte ich an diesem Mittag wieder einmal unter Beweis. Es war furchtbar, wenn sie im Doppelpack zu mir kamen und verlangten, ich solle doch wieder »normal« werden. Mit einer von ihnen konnte ich noch vernünftig reden, aber nicht mit beiden gleichzeitig. Überwiegend machte ich dann gute Miene zum bösen Spiel.
Einen Augenblick unterhielten wir uns noch. Ich wollte wissen, was es zu essen geben würde, worauf ich nur gesagt bekam, ich solle mich überraschen lassen. Natürlich fragte ich auch, wie viele Leute kommen würden, denn vielleicht müsste ich eine Prioritätsliste anfertigen. Den meisten meiner Fragen wichen sie jedoch geschickt aus.
Nach einiger Zeit sprang Corinna mit den Worten: »Bin bei Oma und Opa« auf und rannte zum anderen Haus hinüber. Conny blieb jedoch sitzen und ich wusste genau, dass sie noch etwas von mir wollte. Ich sagte kein einziges Wort, sah sie nur an. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis sie endlich anfing zu erzählen: »Papa, ich habe ein Problem. Kann ich dich etwas fragen?« Nun ging es andersherum und ich nahm sie in den Arm. »Schatz, du weißt genau, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du etwas auf dem Herzen hast.« Es wurde still. Sie schien nicht so recht zu wissen, wie sie mit der Sprache herausrücken soll. »Papa, es ist so, dass …« Erneut folgte eine Pause. Noch einen Augenblick druckste sie herum, bevor sie endlich zu erzählen begann: »Zwischen Florian und mir läuft es nicht mehr. Er hat schon eine andere und wir werden uns scheiden lassen.« Das war eine Nachricht, die ich gar nicht hören wollte, obwohl es sich schon seit längerer Zeit angekündigt hatte. Florian war ihr Mann, und wenn die beiden mit ihrer Tochter Jennifer bei uns zu Besuch waren, gab es zwischen Conny und ihm keinerlei netten Worte und ebenso wenige Zärtlichkeiten wie Händchenhalten oder mal einen Kuss. »Das tut mir leid zu hören«, teilte ich ihr mit und das stimmte wirklich. Die beiden passten gut zusammen und es freute mich damals, als sie ihn uns vorstellte. Von Anfang an kam ich mit ihm gut aus und auch Carola mochte ihn. Er war immer da, wenn ich Hilfe brauchte, und er war auch nicht solch ein Macho wie der Mann von Corinna. Diesen Spinner konnte ich gar nicht leiden, ließ es mir aber nicht anmerken. »Könnte ich mit Jennifer ein paar Tage bei dir wohnen? Es wäre nur so lange, bis ich wieder eine Wohnung gefunden habe.« Natürlich konnten sie das, was ich ihr auch mitteilte. »Ihr beide seid jederzeit willkommen, Conny«, sagte ich und freute mich darauf, dass es dann endlich nicht mehr so ruhig im Haus sein würde. Vielleicht würden mich die zwei auf andere Gedanken bringen.
Jennifer war sechs Jahre alt, gut erzogen, aber auch ziemlich wild, wenn sie am Spielen war. Es waren gerade Ferien und mein Urlaub begann an diesem Wochenende. Ich hatte mir mal eine vierwöchige Auszeit von der Firma gegönnt, denn ich wusste, dass ich mich auf meine Mitarbeiter verlassen konnte und war für Notfälle immer auf dem Handy erreichbar. So konnte ich mich uneingeschränkt auf meine Enkelin konzentrieren, die nach den Ferien in die Schule kommen würde, während meine Tochter zur Arbeit musste. Es würde gewiss etwas stressig werden, mich aber andererseits etwas von meiner Trauer ablenken.
Als Conny gegangen war, lief ich nach innen, um die Betten zu beziehen und etwas zu putzen. Die beiden ehemaligen Kinderzimmer der Mädchen waren seit ihrem Auszug ungenutzt und so konnte sie dort wieder einziehen. Für Jennifer hatte ich Corinnas alten Raum vorgesehen.
Als ich fertig war, ging ich ins Büro, nahm einen Zettel und schrieb Namen, Adressen und Telefonnummern meiner Freunde auf. Ich wusste natürlich nicht, auf welchem Weg sie die Leute einladen wollten. Ich hatte auch keine Ahnung, wo diese Geburtstagsfeier stattfinden sollte, aber über eines war ich mir im Klaren – ich hatte keine Lust darauf. Warum konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Nach einiger Zeit lief ich zum anderen Haus hinüber und besuchte meine Schwiegereltern, oder anders gesagt, meine Adoptiveltern. Je nachdem, wie man es ausdrücken möchte. »Habt ihr schon die Hiobsbotschaft gehört?«, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus, »Ich muss tatsächlich meinen Geburtstag feiern.« »Ja, und es wird Zeit, dass du mal auf andere Gedanken kommst«, meinte Manfred, der schon mit einem Bier für mich auf der Terrasse wartete. »Ihr findet das toll?«, fragte ich. »Ja, natürlich«, antwortete Elfriede, die gerade zur Tür herauskam, »dann kommst du endlich mal wieder unter Leute. Du igelst dich viel zu sehr ein.« Doch ich verstand die beiden nicht. Wie konnte man so schnell zur Normalität übergehen, nachdem die Tochter verstorben war?
Ich setzte mich zu Manfred an den Tisch, der gerade die Flasche öffnete und sie mir reichte. »Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin«, ließ ich die beiden wissen, »was ist, wenn ich das nicht durchhalte?« »Du wirst es schaffen«, erklärte mir meine Schwiegermutter, »Überlege mal, was du als Jugendlicher durchgemacht hast. Da war Aufgeben keine Option für dich.« »Ja, da war ich auch noch jung, jetzt bin ich alt«, gab ich zu bedenken. »Alt?« Manfred runzelte die Stirn. Die zwei waren 26 Jahre älter als ich und ich erzählte ihnen, dass ich alt wäre. Und trotzdem. »Ja, alt«, bestätigte ich meine Aussage, »meine Enkel nennen mich Opa Micha und dich Opa Manfred. Damit stellen sie uns vom Alter her auf eine Stufe.« Elfriede grinste und Opa Manfred prostete mir zufrieden zu. Auch ich nahm nun endlich einen kräftigen Schluck.
»Micha, jeder trauert anders«, klärte mich Elfriede anschließend auf, »aber auch für dich wird es jetzt Zeit, endlich wieder nach vorn zu schauen. Was deine Töchter vorhaben, ist vollkommen richtig.« War es das wirklich? Ich sprach das an, was mir schon lange auf der Seele brannte: »Warum habt ihr den Tod von Carola so schnell abgehakt? Ich verstehe das nicht.« »Abgehakt?«, Manfred fiel fast die Flasche aus der Hand, »Wir haben gar nichts abgehakt, wir gehen damit nur anders um als du.« Elfriede erklärte weiter: »Wir haben uns, Micha. Wir haben das Gleiche erlebt und können darüber reden. Das befreit etwas.« Manfred sprach es deutlicher aus: »Was Elfriede damit sagen will, ist, dass du den Menschen verloren hast, dem du dich anvertrauen konntest, wenn du dich mal schlecht gefühlt hast. Vielleicht wäre es gut, wenn du einen Psychiater oder einen Psychotherapeuten fragen würdest. Mit uns redest du ja nicht darüber.« »Ich soll zu einem Seelenklempner gehen?«, rief ich, »Haltet ihr mich für bekloppt?« Meine Schwiegermutter schüttelte den Kopf: »Das hat nichts mit bekloppt zu tun, aber manchmal ist es besser, mit einem Unbeteiligten über seine Probleme zu reden.« Erneut setzte ich die Flasche an. Hätte es einen Sinn, etwas dagegen zu sagen? Ich dachte mir meinen Teil und blieb ruhig.
Gegen Abend lief ich nach Hause. Wieder mal in ein leeres Gebäude. Ich holte noch ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich an den Küchentisch. Noch einmal ging ich das Gespräch mit Carolas Eltern durch. Wenn meine Frau und ich vor Problemen standen, dann redeten wir auch immer darüber. Hatten sie vielleicht recht und ich sollte mir wirklich von einem Fachmann helfen lassen? Ich überlegte noch eine Zeit lang und kam dann zu dem Entschluss, diese Entscheidung auf den nächsten Tag zu verschieben oder auf den übernächsten. Auch die kommende Woche oder der anschließende Monat schien mir dafür geeigneter zu sein als der augenblickliche Moment.
Am nächsten Nachmittag ging ich erneut zu meinen Schwiegereltern. Sie hatten uns alle zum Kaffee eingeladen. Corinna kam mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen, Conny brachte hingegen nur ihre Tochter mit. Die Neuigkeit aus ihrer Ehe hatte sie ihren Großeltern bereits erzählt. Natürlich waren sie alles andere als begeistert. Genau wie ich, der auf seinen Lieblingsschwiegersohn verzichten musste und dafür das dumme Geschwätz dieses Blödmanns zu ertragen hatte. Bereits wie die letzten Jahre ließ ich mir aber auch an diesem Mittag nichts anmerken. Er wusste natürlich auch bei diesem Treffen alles besser und stellte sich selbst als großer Meister in allen Belangen hin. Mich regte dieser Mensch schon auf, wenn ich ihn nur sah, Corinna hingegen schien diese Art der Überheblichkeit zu gefallen.
Die Kinder der beiden waren sieben und neun Jahre, also etwas älter als Jennifer und sogar damit gab er an. Er prahlte, dass er es eher als Connys Mann geschafft hatte, für Nachwuchs zu sorgen. »Wollen wir ihm gleich eine reinhauen oder später?«, fragte ich Conny leise ins Ohr, die neben mir saß und herzhaft zu lachen begann. »Du von links und ich von rechts«, flüsterte sie zurück, doch Manuel, wie dieser schreckliche Typ hieß, machte weiter. »Es ist doch klar, dass Corinna vor ihrer Schwester Mutter wurde«, erklärte er mir, »sie kam nämlich auch früher auf die Welt.« Er starrte mich an und wartete auf eine Reaktion, doch ich blieb ganz ruhig. »Ich weiß, ich war dabei«, erklärte ich nur kurz.
Nach dem Kaffee wandte ich mich an Conny: »Wollen wir zwei etwas spazieren gehen? Ich glaube, wir haben viel zu besprechen.« Conny war einverstanden und so liefen wir etwas später in den angrenzenden Wald. Wir ließen uns über Corinnas Ehemann aus und machten unsere Späße über ihn. Conny hatte ihre Schwester sehr gern, aber ihren Mann mochte sie so wenig wie ich auch.
Nachdem wir wieder einmal richtig gelacht hatten, erzählte sie mir von ihrer Ehe und warum es ihrer Meinung nach nicht funktioniert hat. Natürlich gab sie sich selbst die Schuld. So war Conny, sie sah sich immer als Sündenbock. Darin unterschied sie sich stark von ihrer Schwester.
»Schatz, du hast nichts falsch gemacht. Du hast doch daran keine Schuld, dass dein Mann eine andere hat«, versuchte ich sie zu beruhigen, doch Conny sah das anders: »Wenn ich so wäre, wie er mich gern hätte, dann bräuchte er keine andere Frau.« Ich blieb stehen. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein, was sie gerade von sich gegeben hatte. Ich stellte mich vor sie und schaute ihr in die Augen: »Du bist aber nun mal so, wie du bist und das hat Florian vorher gewusst. Ihr wart einige Jahre zusammen, bevor ihr geheiratet habt.« Conny senkte den Kopf. »Habe ich mich so verändert, Papa?« Ich lächelte und nahm sie in den Arm. »Nein, das hast du nicht. Du bist immer noch dasselbe liebenswerte Mädchen, aber ich glaube, Florian ist nicht mehr der Gleiche.« Sie schaute mich fragend an, doch auch ich konnte nicht genau sagen, warum ich diese Meinung vertrat.
Es dauerte lange an diesem Nachmittag, bis ich sie davon überzeugen konnte, dass für eine Scheidung meistens beide verantwortlich sind. Obwohl wir bereits auf dem Heimweg waren, sprachen wir noch immer über dieses Thema.
Zu Hause angekommen, holten wir Jennifer von Uroma und Uropa ab und stellten erfreut fest, dass Manuel bereits gegangen war, Corinna aber leider auch. Um meine Tochter tat es mir schon leid. Nur wenn sie mal allein kam, konnten wir uns auch vernünftig unterhalten.
Wir verabschiedeten uns von Elfriede und Manfred und gingen in mein Haus. »Dein Kinderzimmer brauche ich dir wohl nicht zu zeigen«, stellte ich grinsend fest, als wir vor der Tür standen. Conny öffnete und staunte. Alles war noch so wie damals, als sie auszog. Wir hatten nichts verändert und die Co-Cos waren seit dieser Zeit nicht mehr dort.
Dann zeigten wir Jennifer ihr vorübergehendes Reich. »Morgen hole ich unsere Sachen«, erklärte meine Tochter, »das meiste ist schon gepackt.« Sie drehte sich zu mir um und umarmte mich. »Danke, dass du uns aufnimmst«, säuselte sie mir ins Ohr und es schien, als wäre sie den Tränen nahe.
Nachdem wir Jennifer ins Bett gebracht hatten, setzten wir uns auf die Terrasse und unterhielten uns. Sie erzählte mir, dass sie und Florian am Vorabend noch lange miteinander sprachen. Die Angst vor der Trennung war enorm. Erst nachdem sie es endlich geschafft hatten, einen sauberen Schlussstrich unter ihre Beziehung zu setzen, wurde sie ruhiger. Das fiel mir schon den ganzen Tag auf und an diesem Abend war es, als würde der ganze Druck von ihr weichen. Unsere Unterhaltung veränderte auch mich, denn ich merkte, dass ich wirklich jemanden zum Reden benötigte und auch bei meiner Tochter war es so. Wir machten plötzlich Späße und lachten viel. Alles wirkte auf einmal so befreiend und so gingen wir auch erst spät in unsere Betten.
Am Morgen stand ich früh auf, denn ich hatte für die nächsten vier Wochen eine Enkelin zu Besuch, um die ich mich kümmern musste. Doch sie schlief noch und Conny war schon weg. Ich schlenderte in die Küche und deckte den Frühstückstisch. Dabei dachte ich über den letzten Abend nach. Ich unterhielt mich mit meiner Tochter wie damals mit meiner Frau. Nebenan schlief ein Kind und es kam mir vor wie früher, als die Welt noch in Ordnung war. Vielleicht hatten meine Schwiegereltern recht und ich brauchte wirklich wieder jemanden an meiner Seite. Viel lieber wäre mir aber gewesen, wenn Carola zurückgekommen wäre.
Meine Gedanken wurden von einem lauten »Guten Morgen, Opa« jäh unterbrochen. Ich erschrak; jedoch nicht, weil Jennifer plötzlich hinter mir stand, sondern weil ich mich absolut nicht mit dem Wort »Opa« anfreunden konnte. Auch nach solch einer langen Zeit hatte ich damit noch Probleme.
»Komm her, Jennifer!«, rief ich, »Das Frühstück ist gleich fertig.« Lieber hätte ich sie ja einfach nur Jenny genannt, doch das wollten ihre Eltern auf keinen Fall. »Wir suchen uns doch nicht einen schönen Namen heraus, damit anschließend nur die Hälfte davon ausgesprochen wird«, sagten sie. So redete damals auch meine Mutter. Na ja, das konnte man wohl sehen, wie man wollte, aber im Kindergarten und später in der Schule würden sich die Kinder garantiert nicht daran halten. Auch aus mir wurde irgendwann ein Micha. Mir war es im Prinzip egal und so respektierte ich die Bitte meiner Tochter. Auch Corinna und meine Schwiegereltern nannten sie so, wie es ihre Mutter wollte. Lediglich Manuel ließ sich nichts sagen und rief sie in der Kurzform oder betitelte sie sogar abwertend als »das Küken«.
»Ist Mama schon zur Arbeit?«, erkundigte sie sich. Ich nickte zustimmend und erklärte ihr, dass sie sich an diesem Tag mit ihrem alten Opa zufriedengeben müsse. Doch ich vernahm eine Antwort, mit der ich nicht gerechnet hätte: »Du bist nicht der alte Opa, du bist der junge Opa. Der alte Opa wohnt drüben in dem anderen Haus.« Nun musste ich mir doch ein Lachen verkneifen; wenn Manfred das gehört hätte.
Als ich mich wieder gefangen hatte, fragte ich, ob sie denn gut geschlafen hatte. »Ja, das habe ich«, rief sie und wollte wissen, ob es stimmen würde, dass dies das Zimmer von Tante Corinna war? Ich musste schmunzeln. Tante Corinna und Tante Conny waren auch so Wörter, die ein Vater nur langsam begreift. »Ja, das stimmt. Mama schläft in ihrem früheren Kinderzimmer und du im ehemaligen Zimmer von Tante Corinna.«
Jennifer nahm endlich Platz und ich schenkte ihr ein Glas Milch ein. »Willst du ein Brötchen?«, fragte ich sie und ihre Augen fingen an zu leuchten. »Hast du welche? Bei uns zu Hause gibt es immer nur Toastbrot. Mama sagt, Brötchen sind ungesund.« Oh natürlich, das hatte ich ja absolut vergessen – Toastbrot war mit dem vielen Zucker darin ja wesentlich nährstoffreicher. Welchen Mist hatte sie dem Kind da erzählt?
Ich schnitt eine Semmel auf und legte die beiden Hälften auf ihren Teller. Carola und ich orderten früher sämtliche Teigwaren immer direkt beim Bäcker, sodass ich sie morgens am Hoftor zusammen mit der Zeitung reinholen konnte. Auch nach ihrem Tod hielt ich an diesem Brauch fest, änderte nur die Menge. »Mama und Papa trennen sich, haben sie gesagt«, bekam ich plötzlich erklärt, während sie verzweifelt versuchte, die Butter zu verteilen. »Opa, warum trennen sich meine Eltern? Müssen die nicht für immer zusammenbleiben?« Kindliche Logik, aber ich glaube, damit hatte sie gar nicht mal so unrecht. Natürlich, eigentlich ist es unverantwortlich, ein Kind in die Welt zu setzen und sich später einen anderen Partner zu suchen, aber ich wusste doch nicht, was bei den beiden der wahre Grund für die Trennung war. Ich versuchte, der Kleinen so gut ich es konnte zu vermitteln, dass es halt manchmal nicht anders geht. Normalerweise wäre das auch die Aufgabe der Eltern gewesen, die sich davor aber scheinbar gekonnt gedrückt hatten. Um den vielen weiteren Fragen, die mich auch gar nichts angingen, zu entgehen, schlug ich vor, nach dem Frühstück in den Zoo zu fahren und Jennifer war begeistert.
Natürlich fuhren wir mit der Bahn, denn bereits da beginnt für Kinder, die nur das Auto gewohnt sind, das Abenteuer.
Kreuz und quer schlenderten wir durch den Tierpark und Jennifer bekam große Augen. Sie war zwar mit ihren Eltern früher schon dort, aber da war sie noch jünger. Nun sah es aus, als würde sie alles noch einmal mit anderen Augen beobachten. Sie strahlte und ich hatte schon die Befürchtung, dass sie nicht mehr nach Hause wollte.
Im Zoo aßen wir auch zu Mittag und anschließend kaufte ich für uns noch ein Eis. Danach spielte sie zuerst auf dem großen Spielplatz und fand auch sofort Anschluss. Jennifer hatte keine Probleme, auf andere zuzugehen und so hatte sie sich schnell mit einem anderen Mädchen angefreundet.
Ich setzte mich derweil auf eine der vielen Bänke, die dort standen und schaute zu. Die Kinder rutschten viele Male von der Riesenrutsche und ich konnte endlich durchatmen.
Plötzlich kam sie zu mir gerannt. »Hast du etwas zu trinken dabei?«, fragte sie mich. Ich hatte zwei kleine Wasserflaschen mitgenommen, von denen ich ihr eine gab. Zwar konnte man dort an verschiedenen Kiosken etwas kaufen, doch diese lagen weit auseinander und wenn Kinder Durst haben, dann sofort. Sie pumpte die Hälfte des Inhalts in sich hinein und rannte wieder weg. Schon von Anfang an gaben wir den Zwillingen nur Wasser zu trinken und sie gewöhnten sich daran. Ich war froh, dass Conny und Florian dabei geblieben sind im Gegensatz zu Manuel. Dieser gab Jonas und Elias nur Limonade mit der Begründung, dass diese wegen des Saftanteils viel gesünder wäre als Wasser. Ich sagte dazu nichts; er wusste ohnehin immer alles besser.
»Reizend, ihre Tochter«, hörte ich auf einmal eine Stimme von der Seite. Ich drehte den Kopf. Neben mir saß eine junge Frau und lächelte mich an. »Das ist nicht meine Tochter«, erklärte ich ihr, »das ist meine Enkelin.« Die Frau zog die Mundwinkel wieder herunter und musterte mich von oben bis unten. »Sie sind der Opa?“, fragte sie erstaunt und ließ ihren Blick nochmals an mir heruntergleiten. »Gut gehalten«, sagte ich nur kurz und packte die Flasche zurück in meinen Rucksack. Ich hatte mich wirklich recht gut gehalten. Weiße Haare sah man nur vereinzelt, kahle Stellen am Kopf waren bisher nicht vorhanden und die dicke Männerwampe konnte ich auch noch verhindern. Ich weiß nicht genau, warum ich das tat, aber ich erzählte ihr, dass meine Frau verstarb, Jennifers Mutter arbeiten müsste und ich gerade Urlaub hätte. So kamen wir ins Gespräch. Wir unterhielten uns eine lange Zeit und zwischendurch kamen immer wieder die Kinder zu uns. Während Jennifer den Rest der Flasche die Kehle hinunterlaufen ließ, schaute ich immer wieder mal zur Seite. Ich sah, wie die Frau sich um ihre Tochter kümmerte und da war sie wieder – Carola. So saßen auch wir früher auf dem Spielplatz. Eine unserer Töchter ging zu ihr, die andere kam zu mir. »Carola, wo bist du bloß«, ging es mir durch den Kopf und plötzlich fühlte ich mich nicht mehr wohl. Alles war auf einmal so seltsam und ich musste aufpassen, dass ich die Mutter der Kleinen nicht mit dem Namen meiner Frau anredete.
Meine Enkelin bekam von alldem nichts mit. Sie hatte einen Riesenspaß und lenkte mich ab. Der Einzige, der aber scheinbar müde wurde, war ich. Mir war nicht mehr bewusst, dass Kinder auch anstrengend sein können.
Als wir später am Nachmittag wieder zurückkamen, spielten wir noch etwas. Kinderspiele hatte ich noch genügend von meinen Töchtern zu Hause. Weder Carola noch ich konnten sie wegwerfen und deponierten sie deshalb im Keller. Wir würfelten bis zu Connys Rückkehr und dann musste sie sogar noch mitmachen.
Schließlich schafften wir es doch, Jennifer müde zu bekommen. Wir aßen zu Abend und bereits da fielen ihr die Augen zu. Als sie endlich im Bett lag, schlief sie auch sofort ein.
Danach gingen meine Tochter und ich wieder auf die Terrasse und unterhielten uns über den Tag. »Papa, du hast heute so gestrahlt, als ich hierherkam.« Ich grinste sie an. »Der Tag hat mich an früher erinnert«, erklärte ich ihr, »es war fast genauso wie damals, als ihr noch so klein wart. Nur Mama hat gefehlt.« Conny nahm meine Hand und lächelte, als sie sagte: »Nimm bitte unseren Rat an und triff dich auch mal wieder mit anderen Frauen. Du musst wieder …« Ich unterbrach sie: »Ich weiß, Conny. Irgendwann muss ich die Vergangenheit hinter mir lassen, aber für diesen Schritt muss man bereit sein und das bin ich bislang nicht.« Sie schien dies auch zu akzeptieren, vielleicht tat sie auch nur so. Auf jeden Fall bohrte sie nicht mehr weiter, doch eines musste ich noch loswerden: »Deine Tochter hat mich heute gefragt, warum die Tiere im Zoo zusammenbleiben, während Mama und Papa auseinandergehen. Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Ich denke, es ist besser, wenn ihr das übernehmt.«
Ich unterhielt mich noch den ganzen Abend mit Conny, bis wir uns endlich dazu entschlossen, in unsere Betten zu gehen. Ich lief ins Schlafzimmer und dort in das angrenzende Bad. Nachdem ich mich gewaschen und die Zähne geputzt hatte, legte ich mich hin und schaltete das Licht aus. Eigentlich wollte ich schlafen, doch der ganze Tag lief noch einmal wie ein Film vor mir ab. Ich hatte abermals das glückliche Gesicht von meiner Enkelin vor Augen, als sie die ganzen Tiere sah und erinnerte mich wieder an unsere Töchter. Auch mit ihnen waren wir manchmal dort und sie schauten genauso, wie Jennifer das heute getan hatte. Während dieser ganzen Erinnerungen bin ich dann doch irgendwann eingeschlafen.
Geweckt wurde ich von einer Stimme. »Lass mich los!«, hörte ich plötzlich. Ich öffnete die Augen und richtete meinen Oberkörper auf. Das Licht brauchte ich nicht einzuschalten, denn das, was ich zu sehen bekam, leuchtete aus dem Dunkeln heraus – Carola. Sie stand in einer hellen Wolke vor meinem Bett und starrte mich an. »Du musst mich loslassen!«, sagte sie, »Lass mich los und lebe dein Leben!« Schlagartig war ich hellwach. »Schatz, du bist hier?«, rief ich ihr zu, doch sie schien mich nicht zu verstehen. »Lass mich los und lebe dein Leben!«, wiederholte sie sich, bevor die Wolke sich langsam auflöste und meine Frau mit sich nahm.
Sofort drehte ich mich um und schaltete das Licht ein. Ich zitterte am ganzen Körper. Was war geschehen? Meine verstorbene Frau war tatsächlich bei mir. Ja, ich war froh darüber, sie noch einmal bei mir zu haben, hatte aber auch gleichzeitig Angst. Konnten Verstorbene wirklich zu uns kommen?
Noch eine Weile starrte ich auf die Stelle, an der bis vor ein paar Sekunden Carola zu sehen war. Gedanken rasten durch meinen Kopf. War sie es wirklich? Ist so etwas möglich? Was sollte ich jetzt tun? Immer wieder sah ich das Bild von meiner verstorbenen Frau vor mir und merkte auf einmal, dass ich vollkommen nass geschwitzt war.
Nachdem ich mich von diesem Schrecken etwas erholt hatte, ging ich zur Toilette. Während ich dem Drang meiner Blase nachgab, sah ich immer wieder dieses Bild vor mir, wie sie in dieser Wolke stand und mit mir redete. »War sie es wirklich?«, fragte ich mich erneut. Wie in Trance drückte ich die Spülung und lief ins Schlafzimmer zurück. Zur Sicherheit schaute ich in jede Ecke, doch ich konnte weder etwas hören noch sehen.
Gerade wollte ich mich wieder ins Bett legen, als mir etwas einfiel. »Du kannst doch jetzt nicht schlafen gehen«, sagte eine Stimme in mir und das stimmte. Ich war viel zu aufgedreht und mein Herz raste noch immer. Nervös lief ich in die Küche und setzte mich auf einen Stuhl an den Tisch. Ich schaute auf meine Hände – sie zitterten. Genauer gesagt war mein ganzer Körper in Aufruhr. War das wirklich geschehen? Immer wieder stellte ich mir diese Frage und genauso oft starrte ich zur Tür. Würde sie auch an diesen Ort kommen?
Ein Tropfen fiel auf den Tisch. Woher kam der? Ich wischte mit der Hand über die Stirn und schaute darauf – sie war völlig nass. Zunächst hatte ich nicht bemerkt, dass mir immer noch der Schweiß herunterrann. Ich wollte aufstehen und von der Küchenrolle ein Tuch abreisen, doch ich war wie gelähmt. Erneut ging mein Blick zur Tür. Statt allmählich ruhiger zu werden, wurde meine Angst immer größer. Sollte ich Conny wecken? Aber was sollte ich ihr sagen? Dass ihre Mutter gerade durch mein Schlafzimmer wandelte? Sie würde mich für verrückt halten und wer weiß, vielleicht war ich das sogar.
Noch eine Weile saß ich da und wusste nicht, was ich machen sollte. Schließlich riss ich mich zusammen, stand auf und ging zum Schrank. Auf dem Weg dorthin behielt ich die Tür im Auge. Beim Vorbeigehen blickte ich in den Flur. Es war dunkel dort. Ich hatte das Licht nicht eingeschaltet und in meiner Fantasie kam plötzlich meine Frau hereingeschwebt. Es schien, als würde ich darauf warten. Alle Haare meines Körpers richteten sich auf.
Schnell rannte ich in die Ecke und drehte mich herum; doch da war nichts »Wenn mich jetzt Jennifer sehen könnte«, ging es mir durch den Kopf. Wenn sie sich so benehmen würde, was wäre dann? »Stell dich nicht so an«, würden wir ihr wahrscheinlich zurufen, »Gespenster gibt es nicht.« Wurde ich gerade eines Besseren belehrt?
Endlich konnte ich ein Tuch abreisen und mir damit über die Stirn reiben. Es war wirklich vollkommen nass. Zur Sicherheit nahm ich noch ein paar mit, wollte sie gerade in die Hosentasche stecken und … Erst jetzt merkte ich, dass ich überhaupt nichts anhatte. Wie Gott mich erschaffen hatte, stand ich in der Küche. Und nun? Ich konnte nicht ins Schlafzimmer gehen, irgendetwas in mir weigerte sich. Ich beschloss, mich nackt an den Tisch zu setzen. Wir sind auch früher schon ohne Kleidung vor den Mädchen herumgelaufen. Carola meinte, dass dieses »Niemand darf mich nackt sehen« absolut kindisch war. »Wir erziehen unsere Kinder natürlich«, sagte sie immer.
Ich ging zum Tisch zurück und blieb auf halbem Weg stehen. Der Kühlschrank lachte mich an. Ich öffnete ihn und holte mir eine Flasche Bier heraus. Vielleicht würde es mich müde machen oder wenigstens etwas beruhigen. Ich setzte mich und trank einen Schluck und schon wieder war dieses Bild vor meinen Augen. Carola stand in einer hell erleuchteten Wolke. War sie es wirklich? Sie war nicht sehr scharf. Es war alles etwas verschwommen und auch ihre Stimme hörte sich an wie ein Echo. Doch es gab keinen Zweifel – sie war es wirklich. Einen Traum schloss ich mittlerweile aus; viel zu real war das alles. Doch genau diese Erkenntnis brachte mich zu der Frage: Was wollte sie von mir? »Lass mich los und lebe dein Leben«, sagte sie. Auch wenn ich wie gelähmt war, als sie vor mir stand, diesen Satz hatte ich mir eingeprägt, aber was meinte sie damit. Sie war doch tot; ich konnte sie gar nicht halten. Ich verstand das nicht.
Noch eine ganze Weile saß ich dort und leerte meine Flasche. Hatte ich mich beruhigt oder zeigte das Bier seine Wirkung? Ich wurde müde und war lange nicht mehr so aufgeregt.
Schließlich stand ich auf und ging zurück ins Schlafzimmer. Noch einmal nahm ich den Weg zur Toilette, klatschte mir aus dem Hahn am Waschbecken einen Schwall Wasser ins Gesicht und stellte mich vor das Bett. Der Blick ging erneut dorthin, wo vor Kurzem noch meine Frau zu sehen war. Würde sie heute Nacht noch einmal kommen?
Schließlich legte ich mich wieder hin und sah mich um. Alles war friedlich. Ich löschte das Licht. Vielleicht könnte ich sie nur im Dunkeln erkennen. Erneut erhob ich meinen Oberkörper und schaute noch einmal umher. Doch auch dieses Mal war nichts zu sehen und so schloss ich die Augen. Es dauerte lange, bis ich einschlief.
Am Morgen wurde ich durch Stimmen geweckt. »Carola?«, rief ich und schreckte hoch, musste jedoch feststellen, dass es nur der Radiowecker war. Ich ließ mich auf das Kissen zurückfallen und dachte über das Erlebte der Nacht nach. Stand wirklich meine Frau vor dem Bett? Zuerst war ich mir sicher, dass es real war, doch je mehr ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, dass alles nur ein Traum gewesen sein muss. Es kann doch nicht sein, dass Tote uns besuchen, oder doch?
Die Frage, wo Carola nun ist, stellte ich mir schon öfter, jedoch ohne wirklich ernsthaft darüber nachzudenken. Doch an diesem Morgen wollte ich wissen, was nach dem Tod mit uns geschieht, und begann zu grübeln. Kein Mensch konnte dies beantworten und schon gar nicht der Fragensteller selbst, trotzdem machte ich mir Gedanken darüber. Ich glaubte nicht, dass es nach dem Tod weitergehen würde. Aber sollten wir wirklich einfach die Augen schließen und alles wäre dunkel? Ähnlich wie in einer Nacht, in der man nichts träumt, nur dass man am anderen Tag nicht mehr aufwacht? Aber was wäre dann mit unserem Glauben? Die Pfarrer sagen immer, dass man nach dem Leben bei Gott ist, doch wenn dem gar nicht so ist, dann wäre alles, was die Kirche verkündet, gelogen. Es war aber auch schwer vorstellbar, dass man ohne Körper irgendwo im Nirgendwo herumgeistert. Ich hatte meine Frau in der Nacht gesehen und sie hatte ihren Körper noch. Dieser lag aber in der Erde in einem Sarg, was also sollte das? Dann konnte es auch nur ein Traum gewesen sein, der allerdings sehr echt wirkte.
Alles Nachdenken brachte nichts. Völlig erschöpft ging ich in die Küche, um den Tisch zu decken. Ich erschrak, denn da stand meine Flasche von letzter Nacht. Als ich sie leer trank, war ich der festen Überzeugung, dass das Erlebte wirklich stattgefunden hatte. Erneut kam ich ins Grübeln und merkte, dass ich dabei wieder anfing zu zittern.
Ich deckte den Tisch und schaute mich dabei immer wieder nach allen Seiten um. Als ich fertig war, kam auch schon Jennifer aus ihrem Zimmer. Wir frühstückten und beschäftigten uns anschließend mit Brettspielen. Man konnte mit meiner Enkelin gut spielen. Sie war keines dieser Mädchen, die immer gewinnen mussten, sondern kam auch mal mit einer Niederlage klar und trotzdem hatte ich an diesem Morgen keinen Spaß. Ständig musste ich an letzte Nacht denken. War diese Begegnung nun real oder nicht? Andauernd sah ich Carola vor mir. Sogar Jennifer merkte, dass etwas nicht stimmte. »Opa, was ist denn heute los mit dir?«, fragte sie. Ich lächelte sie an, aber was sollte ich sagen? »Hattest du schon mal einen komischen Traum?«, stellte ich eine Gegenfrage. »Natürlich«, kam es sofort zurück, »und du hattest heute Nacht so einen komischen Traum?« Ich nickte bloß, doch sie wollte mehr wissen. »Was hast du denn geträumt?« »Von deiner Oma«, erklärte ich kurz und hoffte, dass sie sich damit zufriedengab, doch weit gefehlt. »Du vermisst sie, oder?«, fragte sie weiter. Ja, natürlich tat ich das und nickte deshalb bestätigend. Sie kam daraufhin zu mir, legte ihre kleinen Arme um mich und meinte: »Nicht traurig sein, du hast doch noch mich.« Obwohl ich den Tränen nahe war, musste ich schmunzeln. Dass Kinder sehr fürsorglich sind, ist allgemein bekannt, auch wenn sie dafür ihre eigene Art und Weise haben. Eigentlich dachte ich, dass sich dieses Thema damit erledigt hätte, aber Jennifer bohrte weiter: »Was hat Oma denn gesagt?« Bevor ich antworten konnte, musste ich erst einmal schlucken.
Die ganzen Gefühle kamen wieder hoch, die ich letzte Nacht erlebte. »Oma sagte, dass ich nicht traurig sein soll«, klärte ich meine Enkelin auf. Sie setzte sich wieder auf ihren Platz und man konnte sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. »Du bist also traurig, weil Oma gesagt hat, du sollst nicht traurig sein? Das verstehe ich nicht«, meinte sie. Damit hatte sie auch recht, denn das verstand ich selbst nicht. »Lebe dein Leben«, sagte Carola, und das bedeutete, ich sollte in die Zukunft sehen und nicht zurück. So konnte man es auslegen und trotzdem saß ich hier und … und schon wieder tat ich so, als wäre das Erlebte echt gewesen. Aber es war doch nur ein Traum. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich diesen überwunden hätte?
Zum Mittagessen gingen wir wieder ins andere Haus hinüber. Noch bevor ich Elfriede und Manfred begrüßen konnte, plapperte Jennifer schon los. »Opa hat heute Nacht von Oma geträumt«, rief sie ihnen entgegen. Die beiden sahen mich fragend an. Scheinbar wollten sie Einzelheiten hören, aber ich sagte nichts. Mein Traum ging keinen etwas an und außerdem wäre es auch für meine Schwiegereltern bestimmt nicht einfach gewesen, wenn ich ihnen davon erzählt hätte.
Erst am Abend, nachdem Jennifer schon im Bett gelegen hatte und ich mit ihrer Mutter allein war, fing ich an, in allen Einzelheiten davon zu berichten. Conny hörte genau zu. »Und du glaubst nicht, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als wir verstehen?«, fragte sie mich anschließend. Meinte sie das ernst? Ich sah sie lange an, bevor sie weiterredete: »Vielleicht war es gar kein Traum und Mama war wirklich bei dir.« Erneut schaute ich ihr eine längere Zeit in die Augen. »Papa, wir Menschen glauben immer alles zu wissen, aber was ist, wenn sie dir wirklich etwas mitteilen wollte?« »Und was?«, wollte ich von ihr wissen, »Dass ich mir eine andere Frau suchen soll?« »Ja, unter anderem auch das. Wenn sie dir wirklich erschienen ist und dir gesagt hat, dass du dein Leben leben sollst, dann meinte sie das Gleiche wie Corinna und ich.« Sie ergriff meine Hand. »Papa, schau in die Zukunft und bleibe nicht in der Vergangenheit hängen. Du kannst ohnehin nichts mehr ändern.« Natürlich hatte sie damit recht. Ich konnte ihren Tod nicht verhindern und ihn auch nicht ungeschehen machen, aber normal weiterleben, als wäre nichts passiert, wollte ich auch nicht. Und außerdem … »Conny, es war wirklich nur ein Traum, sonst nichts«, erklärte ich meiner Tochter noch einmal, »Mama ist nicht zu mir gekommen und wird es auch nicht.« Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich nur an das, was du siehst?« Das war einmal. Seit dem Tod meiner Frau hoffte ich schon, dass es nach dem Leben an einem anderen Ort weitergeht. Was sollte ich auch sonst tun? Dass die Körper in der Erde vergammeln, ist erwiesen, aber was ist mit der Seele? Gibt es so etwas überhaupt? Seit meinen Überlegungen am Morgen, weigerte ich mich auch zu akzeptieren, dass es nach dem Leben einfach dunkel ist und nichts mehr kommt, denn ich redete mir ein, dass Carola jetzt an einem Platz ist, an dem sie Freude hat. Dass sie allerdings aus dem Totenreich erschien, hielt ich für sehr unwahrscheinlich, denn ich war schon Realist. Für mich stellte sich nicht die Frage, ob ein Glas schon halb leer oder erst halb voll ist; bei mir war es einfach zur Hälfte gefüllt.