Nichts ruht für immer - Harlan Coben - E-Book

Nichts ruht für immer E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Wenn die Vergangenheit nicht nur ein Schatten ist, sondern zu einer realen Bedrohung wird …

Ein grausamer Doppelmord erschüttert New York. Schnell präsentiert das FBI einen Verdächtigen: den berühmten Ex-Basketball-Profi Greg Downing. Als der Privatermittler Myron Bolitar davon erfährt, ist er vollkommen fassungslos. Denn Greg – sein ehemaliger Klient und ein guter Freund – ist seit drei Jahren tot. Von Gregs Unschuld überzeugt, steht für Myron fest: Er wird nicht eher ruhen, bis er die Wahrheit herausgefunden und den Namen seines Freundes reingewaschen hat. Doch als er beginnt, in der Vergangenheit zu graben, stößt er auf ein undurchdringliches Netz aus Rache und Intrigen und gerät selbst in größte Gefahr …

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Seitenzahl: 454

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Buch

Ein grausamer Doppelmord erschüttert New York. Schnell präsentiert das FBI einen Verdächtigen: den berühmten Ex-Basketball-Profi Greg Downing. Als der Privatermittler Myron Bolitar davon erfährt, ist er vollkommen fassungslos. Denn Greg – sein ehemaliger Klient und ein guter Freund – ist seit drei Jahren tot. Von Gregs Unschuld überzeugt, steht für Myron fest: Er wird nicht eher ruhen, bis er die Wahrheit herausgefunden und den Namen seines Freundes reingewaschen hat. Doch als er beginnt, in der Vergangenheit zu graben, stößt er auf ein undurchdringliches Netz aus Rache und Intrigen und gerät selbst in größte Gefahr …

Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Seine Thriller wurden bisher in 45 Sprachen übersetzt und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde – dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award –, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Familie in New Jersey. Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.harlancoben.com.

Harlan Coben im Goldmann Verlag:

Honeymoon. Thriller · Totgesagt. Thriller · Kein Sterbenswort. Thriller · Kein Lebenszeichen. Thriller · Keine zweite Chance. Thriller · Kein böser Traum. Thriller · Kein Friede den Toten. Thriller · Das Grab im Wald. Thriller · Sie sehen dich. Thriller · In seinen Händen. Thriller · Wer einmal lügt. Thriller · Ich vermisse dich. Thriller · Ich finde dich. Thriller · Ich schweige für dich. Thriller · In ewiger Schuld. Thriller · In deinem Namen. Thriller · Suche mich nicht. Thriller · Der Junge aus dem Wald. Thriller · Nichts bleibt begraben. Thriller · Was im Dunkeln liegt. Thriller · Nur für dein Leben. Thriller

Die Thriller mit Myron Bolitar:

Das Spiel seines Lebens · Schlag auf Schlag · Der Insider · Preisgeld · Abgeblockt · Böses Spiel · Seine dunkelste Stunde · Ein verhängnisvolles Versprechen · Von meinem Blut · Sein letzter Wille · Der Preis der Lüge · Nichts ruht für immer

Harlan Coben

Nichts ruht für immer

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Gunnar Kwisinski

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Think Twice« bei Grand Central Publishing, New York/Boston.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlichgeschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2024

Copyright © 2024 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: © Miguel Sobreira/Trevillion Images

Redaktion: Waltraud Horbas

ES · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32215-1V001

www.goldmann-verlag.de

In Gedenken an Juan »Johnny« Irizarry –

ich vermisse das Lächeln und die Fistbumps

Prolog

So zerstörst du ein Leben.

Du stellst dich neben sein Bett und siehst ihm beim Schlafen zu. Er schläft sehr tief. Das weißt du, denn du beobachtest ihn schon seit sechs Wochen. Du gehst kein Risiko ein. Du bist gut vorbereitet. Das ist die geheime Zutat. Es besteht kein Grund zur Eile. Vorfreude ist wichtig im Leben. »Der Weg ist das Ziel«, hat der Festredner bei deiner Uni-Abschlussfeier gesagt. Es ist ein alter und abgedroschener Spruch, ein Klischee, aber du hast ihn dir gemerkt. Er entspricht nicht ganz der Wahrheit, eigentlich absolut nicht, aber in diesen langen, einsamen Nächten erinnert es dich daran, dass man sein Glück sowohl im Warten als auch in der Langeweile suchen kann und muss.

Weil du gut vorbereitet bist, weißt du, dass er vor dem Zubettgehen gern einen Cognac trinkt. Nicht jeden Abend, aber fast jeden. Wenn er heute keinen getrunken hätte, hättest du es verschoben. Lass dich nicht hetzen. Geh kein Risiko ein. Wenn du Geduld hast, wirst du dein Ziel mit geringem oder ganz ohne Risiko erreichen.

Vorbereitung und Geduld sind hier entscheidend.

Weil du ihn beobachtet hast, weißt du, dass er einen Ersatzschlüssel in einer dieser schrecklichen, grauen Steinattrappen versteckt hat. Mit diesem Schlüssel hast du dir heute Morgen Zugang zum Haus verschafft und ein Betäubungsmittel in seinen Cognac getan. Und auch heute Nacht bist du damit hereingekommen.

Er wird noch eine ganze Weile nicht aufwachen.

In einem Waffenkoffer in der obersten Nachttischschublade hat er eine Pistole, eine Glock 19, deponiert. Der Koffer hat kein Zahlenschloss. Er lässt sich mit einem biometrischen Fingerabdrucksensor öffnen. Der Mann, der vor dir im Bett liegt, ist völlig weggetreten, also ergreifst du seine Hand und drückst den Daumen auf den Sensor. Das Schloss surrt, und der Koffer springt auf.

Du nimmst die Pistole heraus.

Du trägst Handschuhe. Er natürlich nicht. Behutsam legst du seine Hand um den Pistolengriff, sodass er an den richtigen Stellen seine Fingerabdrücke hinterlässt. Dann steckst du die Waffe vorsichtig in deinen Rucksack. Du hast Papiertaschentücher und Plastiktüten dabei. Die trägst du immer bei dir, für alle Fälle. Du tupfst ihm mit einem Taschentuch den Mund ab und achtest darauf, dass etwas von seinem Speichel darauf hängen bleibt. Dann steckst du es in eine Plastiktüte und legst die Tüte in den Rucksack zur Pistole. Vielleicht brauchst du es gar nicht. Vielleicht ist es ein Overkill. Aber Overkill scheint prima zu funktionieren.

Er bleibt weiter schnarchend auf dem Rücken liegen.

Du kannst dir ein Lächeln nicht verkneifen.

Du genießt das. Dieser Teil berauscht dich viel mehr als der eigentliche Mord. Ein Mord kann ziemlich banal sein und ist normalerweise schnell erledigt.

Aber dies, dieses Setup, ist ein wahres Kunstwerk.

Sein Handy liegt auf dem Nachttisch. Du stellst es auf Lautlos und steckst es zu den anderen Dingen in deinen Rucksack. Dann verlässt du sein Schlafzimmer. Der Schlüssel für seinen Audi hängt an einem Haken neben der Hintertür. Er ist da sehr gewissenhaft. Wenn er nach Hause kommt, hängt er den Autoschlüssel an den Haken. Immer. Du schnappst ihn dir. Als Zugabe nimmst du eine seiner Baseballkappen von der Garderobe und setzt sie auf. Sie passt einigermaßen. Dann setzt du noch eine Sonnenbrille auf. Dir ist bewusst, dass du den Kopf gesenkt halten musst.

Du setzt dich in den Audi und machst dich auf den Weg zu ihr.

Sie wohnt in einem Airbnb-Haus an einem ruhigen See in Marshfield. Er weiß nicht, dass sie da ist. Du weißt es, weil du dich vorbereitet hast. Als du gesehen hast, dass sie dorthin gefahren ist – dass sie sich vor ihm verstecken und es niemandem erzählen wollte –, wusstest du, dass es an der Zeit war. Du ziehst sein Handy aus dem Rucksack und tippst die Adresse des Airbnb-Hauses ein, damit man es in seinem Routenplaner findet.

Sie ist schon seit einer Woche in diesem kleinen Häuschen im Cape-Cod-Stil. Du begreifst, warum sie sich zu diesem Schritt entschlossen hat, es konnte für sie aber sowieso nur eine vorübergehende Lösung sein. Du parkst am Straßenrand. Es ist spät, zwei Uhr nachts. Aber du weißt, dass sie noch wach ist. Also parkst du vor einem leeren Ferienhaus ein Stück die Straße hinunter.

Du ziehst die Waffe aus dem Rucksack.

In der Küche des Airbnb-Hauses brennt Licht. Da wird sie sein.

Du gehst seitlich am Haus entlang auf das Licht zu und blickst durch die Glasscheibe der Küchentür.

Da ist sie.

Sie sitzt mit einer Tasse Tee am Tisch und liest konzentriert in einem Buch. Sie ist hübsch. Die dunkelblonden Haare hat sie offenbar hastig zurückgebunden. Sie hat die Beine hochgezogen und sitzt auf ihren Füßen. Dünn wirkt sie, was aber wahrscheinlich am Stress liegt. Sie trägt ein übergroßes Herrenhemd. Du fragst dich, ob es seins ist. Das wäre grotesk und unheimlich, aber das gilt für viele Aspekte des Lebens.

Während du sie weiter durchs Fenster beobachtest, versuchst du, langsam und vorsichtig den Türknauf zu drehen.

Du willst kein Geräusch machen. Du willst sie nicht erschrecken.

Die Tür ist verschlossen.

Du blickst auf den Knauf hinab. Er ist alt. Das Schloss wirkt zerbrechlich. Wenn du Werkzeug hättest, könntest du es schnell öffnen. Aber wahrscheinlich ist es so besser. Wieder siehst du sie durchs Fenster an. Und als du das tust, hebt sie den Blick und entdeckt dich.

Ihre Augen weiten sich überrascht.

Gleich wird sie schreien, und das willst du nicht.

Du warst leichtsinnig. Schon wieder. Trotz all deiner Planung hast du beim letzten Mal einen Fehler gemacht. Einen weiteren kannst du dir nicht erlauben.

Also zögerst du nicht.

Du hebst das Bein und trittst direkt unter den Türknauf. Die alte Tür springt sofort auf. Du gehst in die Küche.

»Bitte.« Sie steht auf und streckt dir die Hände entgegen, in einer hält sie noch das Buch. »Bitte tun Sie mir nichts.«

Du schießt ihr zweimal in die Brust.

Sie fällt zu Boden. Du eilst hinüber und siehst nach.

Sie ist tot.

Du nimmst das Taschentuch aus der Plastiktüte in deinem Rucksack und lässt es auf den Boden fallen. Jurys lieben DNA. Alle Geschworenen sind mit Fernsehsendungen aufgewachsen, die den Nutzen dieser Technologie vollkommen übertrieben darstellen. Sie erwarten das in einem Mordprozess. Wenn es keine DNA-Spuren gibt, zweifeln die Geschworenen an der Schuld.

Keine fünfzehn Sekunden später hast du das Haus wieder verlassen.

Die Schüsse waren natürlich laut, keine Frage. Aber die meisten Menschen nehmen einfach an, dass irgendwo ein Feuerwerk ist, ein Motor eine Fehlzündung hatte oder etwas ähnlich Unschuldiges passiert ist. Trotzdem solltest du nicht unnötig lange hierbleiben. Du eilst zurück zum Auto, ohne dir Sorgen zu machen, dass dich jemand rennen sieht. Und falls doch, sehen sie nur einen Mann mit Baseballkappe, der zu einem Audi zurückläuft, der auf ihn zugelassen ist, nicht auf dich.

Im Zweifel wäre das eher hilfreich.

Du fährst los. Was den Mord betrifft, hast du ein seltsames Gefühl. Das Morden berauscht einen, deinen Schatz mehr als dich, du fühlst dich direkt danach aber oft eigenartig leer. Ein bisschen wie beim Sex, oder? Es klingt vielleicht etwas emotionslos, aber der Stimmungsabfall ist ähnlich wie der nach einem Orgasmus, der Moment, den die Franzosen la petite mort – den kleinen Tod – nennen. So fühlst du dich in diesem Moment. So fühlst du dich auf den ersten Kilometern der Rückfahrt, während du die Schießerei im Kopf noch einmal durchgehst, dir vorstellst, wie ihr Körper zu Boden fällt. Es ist aufregend und doch ein wenig …

Leer?

Ein Blick auf die Uhr: Er müsste noch drei Stunden schlafen. Das ist viel Zeit. Du fährst zu seinem Haus zurück und parkst den Audi dort, wo er stand.

Du lächelst. Das, dieser Teil, versetzt dich in einen Rausch.

Der Audi hat eine Art Ortungssystem, sodass die Polizei sehen kann, welche Strecke er heute gefahren ist. Du trittst in sein Haus, hängst die Schlüssel auf. Die Baseballkappe nimmst du mit – es könnten ein paar Haare von dir daran hängen geblieben sein. Dieses Risiko kannst du vermeiden. Falls die Polizei merkt, dass sie fehlt, wird sie annehmen, dass er sie nach der Schießerei weggeworfen hat.

Du gehst die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer und legst sein Handy auf den Nachttisch. Sogar das Kabel des Ladegeräts steckst du wieder hinein. Wie beim Audi wird die Polizei sich auch beim Handy einen Gerichtsbeschluss zur Ortung besorgen, der »beweisen« wird, dass er zur Mordzeit zu diesem Airbnb-Haus gefahren ist.

Mit seinem Daumen öffnest du den Waffenkoffer. Du legst die Waffe zurück. Du erwägst, den Koffer einfach neben seinem Bett zu lassen, das erscheint dir dann aber doch etwas zu plump. Im Garten hinter dem Haus steht ein Schuppen. Du nimmst den Waffenkoffer mit der Pistole und versteckst ihn unter den Torfsäcken. Die Polizei wird wissen, dass eine Glock 19 auf seinen Namen registriert ist. Sie werden das gesamte Grundstück absuchen und die Waffe im Schuppen finden.

Die ballistische Untersuchung wird bestätigen, dass seine Glock 19 die Mordwaffe war.

Der Audi. Das Handy. Die DNA. Die Waffe.

Zwei der vier Punkte würden reichen, um ihn zu überführen.

Für sie ist der Horror vorbei.

Für ihn hat er gerade erst begonnen.

eins

Myron Bolitar telefonierte gerade mit seinem achtzigjährigen Vater, als die beiden FBI-Agenten kamen, um ihn wegen des Mordes zu vernehmen.

»Deine Mutter und ich …«, sagte sein Vater gerade in seinem Alterswohnsitz in Boca Raton, »… haben Edibles für uns entdeckt.«

Myron blinzelte. »Halt, was?«

Er saß in seinem neuen Penthouse-Büro ganz oben in Wins Wolkenkratzer an der Ecke 47th Street und Park Avenue. Jetzt drehte er seinen Stuhl, um aus den raumhohen Fenstern zu sehen. Es war eine ziemlich fantastische Aussicht auf den Big Apple.

»Cannabis-Fruchtgummis, Myron. Deine Tante Miriam und Onkel Irv haben sie uns empfohlen – Irv meinte, sie hätten bei seiner Gicht geholfen –, also haben deine Mutter und ich uns gedacht, wieso nicht, probieren wir sie mal aus. Kann doch nicht schaden, oder? Hast du schon mal Edibles probiert?«

»Nein.«

»Das ist sein Problem.« Das war Myrons Mutter, die im Hintergrund halb krächzte, halb schrie. So machten sie das immer – ein Elternteil am Telefon, das andere als Co-Kommentator. »Gib mir das Telefon, Al.« Und dann: »Myron?«

»Hi, Mom.«

»Du solltest high werden.«

»Wenn du das sagst.«

»Probier es mit der Stevia-Variante.«

Dad: »Sativa.«

»Was?«

»Sie heißt Sativa. Stevia ist ein Süßstoff.«

»Oho, sieh nur, wie dein Vater auf einmal mit seinem Haschischwissen rumprahlt. Mr Hippie persönlich!« Dann wieder zu Myron: »Ich meinte Sativa. Probier das mal.«

»Okay«, sagte Myron.

»Die Indica-Variante macht einen müde.«

»Ich werd’s im Hinterkopf behalten.«

»Weißt du, wie ich mir merke, was was ist?«, fragte Mom.

»Ich wette, du wirst es mir gleich erzählen.«

»Indica wirft dich In-die-Couch. Das ist die einschläfernde Sorte. Klar?«

»Klar.«

»Sei nicht so spießig. Dein Vater und ich mögen sie. Sie machen uns … ich weiß nicht … fröhlicher. Aufmerksamer. Vielleicht auch Zen-artiger und gelassener. Und, Myron?«

»Ja, Mom?«

»Frag nicht, was sie für unser Sexualleben getan haben.«

»Werd ich nicht«, sagte Myron. »Keine Sorge.«

»Mich machen sie ganz aufgedreht. Aber dein Vater erst, der wird zu einem wilden Tier.«

»Ich hab nicht gefragt, schon vergessen?« Myron sah zu dem FBI-Agenten und der Agentin, die ihn durch die Glaswand finster musterten. »Ich muss auflegen, Mom.«

»Ganz ehrlich, der Mann kann seine Finger nicht von mir lassen.«

»Ich hab immer noch nicht gefragt. Macht’s gut.«

Myron legte auf, als Big Cyndi, seine langjährige Rezeptionistin, die Bundesbeamten schweigend in den Konferenzraum geleitete. Die beiden starrten zu Big Cyndi hinauf, weit hinauf. Sie war das gewohnt. Myron ebenfalls. Big Cyndi zog leicht die Aufmerksamkeit auf sich. Die FBI-Agenten ließen ihre Dienstmarken aufblitzen. Special Agent Monica Hawes, die Höherrangige, war eine schwarze Mittfünfzigerin. Sie stellte sich und ihren Kollegen kurz vor. Ihr mürrischer Juniorpartner war ein bleichgesichtiger Jüngling mit einer so markanten Stirn, dass er einem Belugawal ähnelte. Vielleicht hatte Hawes auch seinen Namen genannt, die Stirn hatte Myron allerdings zu sehr abgelenkt, sodass er ihn nicht behielt.

»Bitte«, sagte Myron und deutete auf die Stühle, von denen aus man auf die raumhohen Fenster mit der fantastischen Aussicht blickte.

Die Agenten setzten sich, wirkten aber alles andere als entspannt.

Big Cyndi fragte in einem aufgesetzten, falschen britischen Akzent: »Wäre das alles, Mr Bolitar? Vielleicht noch ein Tässchen Tee?«

Myron widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. »Nein, ich denke, wir haben alles. Danke.«

Big Cyndi verneigte sich und ging.

Myron setzte sich auch wieder und wartete, dass die beiden etwas sagten. Bisher wusste er nur, dass das FBI sowohl mit ihm als auch mit Win über die aufsehenerregenden Callister-Morde sprechen wollte. Er hatte keine Ahnung warum – abgesehen von dem, was sie den Nachrichten entnommen hatten, wussten weder er noch Win etwas über die Callisters oder die Morde – man hatte ihnen jedoch versichert, dass sie weder verdächtigt wurden noch von polizeilichem Interesse in Verbindung mit dem Fall waren.

»Wo ist Mr Lockwood?«, fragte Agentin Hawes.

»Anwesend«, sagte Win in diesem hochmütigen Privatschulen-Tonfall, als er – um den Anfang des Carly-Simon-Songs »You’re So Vain« zu zitieren, der Wins allgemeine Ausstrahlung perfekt skizzierte – »walked into the party like he was walking onto a yacht«. Win alias Mr Lockwood schlenderte um Myrons neuen Konferenztisch und setzte sich neben ihn. Ein wahres Muster an Eleganz.

Myron breitete die Hände aus und schenkte den FBI-Agenten sein freundlichstes Lächeln. »Wie ich hörte, haben Sie ein paar Fragen an uns?«

»Das ist richtig«, sagte Hawes. Dann ließ sie ohne Vorrede die Bombe platzen: »Wo ist Greg Downing?«

Die Frage war ein Kracher. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Ein Kracher. Myron fiel die Kinnlade herunter. Er sah Win an. Wins Miene verriet – wie immer – nichts. Win war gut darin, sich nichts anmerken zu lassen.

Myrons Überraschung war leicht erklärt: Greg Downing war seit drei Jahren tot.

»Ich dachte, Sie wären wegen der Callister-Morde hier«, sagte Myron.

»Das sind wir auch«, erwiderte Special Agent Hawes. Dann wiederholte sie die Frage: »Wo ist Greg Downing?«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Myron.

»Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«

Das tat sie nicht. Sie sah eher aus, als würde sie nie Witze machen.

Wieder sah Myron zu Win hinüber, um seine Reaktion abzuschätzen. Der wirkte etwas gelangweilt.

»Greg Downing«, sagte Myron, »ist tot.«

»Ist das Ihre Version der Geschichte?«

Myron runzelte die Stirn. »Meine Version?«

Der junge Agent, der wie ein Belugawal aussah, beugte sich ein wenig vor und sah Win an. Er sagte zum ersten Mal etwas, und zwar mit tieferer Stimme, als Myron erwartet hatte – aber vielleicht hatte Myron einen hohen, quiekenden Wal-Schrei erwartet: »Ist das auch Ihre Version der Geschichte?«

Win hätte fast gegähnt. »Kein Kommentar.«

»Sie sind Greg Downings Finanzberater«, fuhr der junge Beluga fort und versuchte immer noch erfolglos, Win niederzustarren. »Ist das richtig?«

»Kein Kommentar.«

»Wir können Ihre Unterlagen beschlagnahmen.«

»Himmel, jetzt krieg ich’s aber mit der Angst. Lassen Sie mich kurz überlegen.« Win legte die Fingerspitzen aneinander, senkte den Kopf und sinnierte einen Moment lang. Dann: »Wollen wir es zusammen sagen? Kein Kommentar.«

Die Blicke von Hawes und dem jungen Beluga verfinsterten sich noch etwas weiter. »Und Sie?«, knurrte Hawes Myron an. Myron nahm an, dass Hawes für ihn und der junge Beluga für Win zuständig war. »Sie sind Downings … was? Agent? Manager?«

»Ich korrigiere«, sagte Myron. »Ich war sein Agent und Manager.«

»Wann haben Sie aufgehört?«

»Vor drei Jahren. Als Greg – Sie wissen schon – gestorben ist.«

»Sie waren beide auf seiner Beerdigung.«

Win schwieg, also sagte Myron: »Ja, waren wir.«

»Sie haben sogar eine Rede gehalten, Mr Bolitar. Nach all dem bösen Blut, das es zwischen Ihnen beiden gab, haben Sie, wie ich hörte, eine wunderbare Trauerrede gehalten.«

Wieder sah Myron Win an. »Äh, danke.«

»Und Sie bleiben bei Ihrer Version?«

Schon wieder. Myron hob die Hände. »Was meinen Sie mit Version?«

Der junge Beluga schüttelte seinen massigen, weißen Kopf, als würde ihn Myrons Antwort schwer enttäuschen, was sie wohl auch tat.

»Was denken Sie, wo er jetzt ist?«, fragte Hawes.

»Greg?«

»Hören Sie auf, uns zu verarschen, Sie Wichser«, schnauzte der junge Beluga. »Wo ist er?«

Langsam, aber sicher hatte Myron die Nase voll. »In einem Mausoleum auf dem Cedar Lawn Friedhof in Paterson.«

»Das ist gelogen«, entgegnete Hawes. »Haben Sie ihm geholfen?«

Myron lehnte sich zurück. Der Ton der FBI-Agentin wurde immer feindseliger, aber es lag auch unverkennbar ein Hauch von Verzweiflung – und damit Wahrheit – in der Luft. Myron hatte keine Ahnung, was eigentlich los war. Er neigte dazu, in solchen Situationen zu viel zu reden. Daher beschloss er, erst einmal tief durchzuatmen, bevor er weitersprach.

»Ich versteh das nicht«, fuhr Myron dann fort. »Was hat Greg Downing mit den Callister-Morden zu tun? Hat die Polizei nicht schon den Ehemann festgenommen?«

Jetzt sahen sich die beiden Special Agents an. »Mr Himble wurde heute Morgen aus der Untersuchungshaft entlassen.«

»Warum?«

Keine Antwort.

Myron wusste Folgendes über die Morde: Cecelia Callister, zweiundfünfzig Jahre alt, Beinah-Supermodel der Neunziger, und ihr dreißigjähriger Sohn Clay waren in der Villa, in der Cecelia mit ihrem vierten Ehemann Lou Himble lebte, ermordet aufgefunden worden. Gegen Himble war kürzlich im Zusammenhang mit seinem Kryptowährungs-Start-up wegen Betrugs Anklage erhoben worden.

»Ich dachte, die Beweislage wäre eindeutig«, fuhr Myron fort. »Der Ehemann hatte eine Affäre, sie hat es herausbekommen, wollte ihm die Staatsanwaltschaft auf den Hals hetzen, daher musste er sie zum Schweigen bringen. Der Sohn ist dann zufällig hereingeplatzt. Oder so ähnlich.«

FBI-Agentin Monica Hawes und Agent Junger-Belugawal sahen sich wieder an. Dann wiederholte Hawes betont langsam: »So ähnlich.«

»Also?«

Myron wartete. Win wartete.

»Wir haben Grund zu der Annahme«, sagte Hawes, immer noch langsam, »dass Greg Downing noch am Leben ist. Des Weiteren haben wir Grund zu der Annahme, dass Ihr ehemaliger Klient in die Morde verwickelt ist.«

Die beiden beugten sich vor, um Myrons und Wins Reaktionen zu beobachten. Myron enttäuschte sie nicht. Obwohl diese Anschuldigung nach dem bisherigen Gesprächsverlauf eigentlich zu erwarten gewesen war, blieb Myron die Luft weg, als Hawes sie aussprach.

Greg. Am Leben.

Wie sollte er damit umgehen? Nach all den Jahren – ihrer Rivalität auf den Highschool- und Uni-Basketballplätzen, nachdem Greg Myron seine erste Liebe ausgespannt hatte, nach Myrons schrecklicher Rache dafür, für die Greg daraufhin noch übler Rache genommen hatte, nach der folgenden, jahrelangen Versöhnung – und nach Jeremy, dem süßen, wunderbaren Jeremy …

Es ergab keinen Sinn. Myrons Miene zeigte seine absolute Verblüffung.

Und Wins Reaktion? Er sah auf seiner Vintage-Blancpain-Armbanduhr nach, wie spät es war.

»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Win. »Ich habe einen dringenden Termin. War mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«

Win stand auf.

»Sie setzen sich wieder«, forderte Hawes ihn auf.

»Das glaube ich nicht.«

»Wir sind noch nicht fertig.«

»Ach nein?« Win bedachte beide mit seinem gewinnendsten Lächeln. Es war ein schönes Lächeln, sogar schöner als Myrons kooperatives. »Ich hingegen schon. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Nachmittag.«

Ohne sich noch einmal umzudrehen, schlenderte Win aus dem Büro. Alle, auch Myron, starrten auf die Tür, als Win aus dem Blickfeld verschwand.

Wins vollständiger Name ist Windsor Horne Lockwood III. Der Wolkenkratzer, in dem sie sich gerade befanden, hieß Lock-Horne Building. Die Kursivschrift sollte deutlich machen, dass das Gebäude nach Wins Familie benannt, also viel Geld im Spiel war. Viele Jahre lang war Myrons Sportagentur MB Reps (M für Myron, B für Bolitar, Reps, weil sie Personen des öffentlichen Lebens repräsentierten – Myron hatte sich den Namen selbst ausgedacht, blieb aber bescheiden) im vierten Stock des Gebäudes untergebracht. Vor ein paar Jahren hatte Myron seine Agentur idiotischerweise verkauft und war ausgezogen. Inzwischen befand sich eine Anwaltskanzlei in diesen Räumen. Als Myron vor zwei Monaten beschloss, wieder aktiv zu werden, war nur in der obersten Etage Platz.

Nicht, dass Myron sich beschweren würde. Im Gegensatz zu FBI-Agenten zeigten sich die meisten Klienten von der fantastischen Aussicht beeindruckt.

In den letzten zwei Monaten hatte Myron intensiv daran gearbeitet, einige seiner alten Klienten zurückzugewinnen. Greg Downing hatte er dabei vernachlässigt, weil, na ja, da war diese Sache mit dem Tod. Tote Klienten verdienen schlecht. Also bringen sie nicht viel ein.

Die beiden FBI-Agenten starrten immer noch zur Tür. Als sie schließlich akzeptierten, dass Win nicht zurückkehren würde, richtete Hawes ihren Blick wieder auf Myron. »Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Mr Bolitar?«

Myron nickte und sammelte sich. »Sie behaupten, dass ein Mann, der an einem Herzinfarkt gestorben ist – ein Mann, dessen Tod mit einer Anzeige und einer Beerdigung öffentlich gemacht wurde und für den ich, wie Sie richtig feststellten, eine Trauerrede gehalten habe –, in Wahrheit noch am Leben ist.«

»Richtig.«

Myron sah wieder zur Tür, durch die Win gerade verschwunden war. Ja, Win liebte es, den unnahbaren, elitären, über alles erhabenen Snob zu geben – vor allem auch, weil er genau das war –, trotzdem fand Myron es immer noch schwer vorstellbar, dass Win einfach so ohne Grund ging. Diese Reaktion veranlasste Myron dazu, sich zusammenzureißen und Vorsicht walten zu lassen.

»Wollen Sie mir davon erzählen?«, fragte Myron.

Das gefiel dem jungen Beluga gar nicht. »Was sind Sie, ein Seelenklempner?«

»Der war gut.«

»Wer?«

»Der Seelenklempner-Spruch«, sagte Myron. »Sehr witzig.«

Die schmalen Augenschlitze des jungen Beluga zogen sich noch weiter zusammen. »Wollen Sie mich verscheißern?«

Myron antwortete nicht sofort. Gedanken über Gregs Familie schossen ihm durch den Kopf. Es fiel ihm schwer, sie im Zaum zu halten. Gregs Frau Emily. Gregs … verdammt, es war schwer, das auch nur zu denken … sein Sohn Jeremy. Da steckte so viel Vergangenheit drin. So viel Geschichte. So viel Freud und Leid. Wir treffen Menschen, die den Lauf der Dinge für immer verändern. Bei einigen ist das offensichtlich – Verwandte und Partner –, aber wenn Myron seinen Lebensweg betrachtete, hatte ihn niemand stärker verändert als Greg Downing.

Zum Guten oder zum Schlechten?

»Hören Sie mich, Sie Klugscheißer?«

»Laut und deutlich«, erwiderte Myron und versuchte, sich zu konzentrieren. »Können Sie beweisen, dass Ihre Behauptung wahr ist?«

»Welche Behauptung?«

»Dass Greg lebt. Können Sie das beweisen?«

Die beiden Special Agents zögerten, tauschten einen weiteren Blick aus. Dann sagte Hawes: »Greg Downings DNA wurde am Callister-Tatort gefunden.«

»Was für DNA?«

Der junge Beluga sagte genüsslich: »Hautzellen. Die DNA Ihres, äh, ›toten‹ Klienten wurde unter den Fingernägeln des Opfers gefunden.« Er setzte sich ein wenig aufrechter und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Kennen Sie das, wenn ein hilfloses Opfer verzweifelt um sich schlägt und kratzt, um sein Leben zu retten? Genau so.«

In Myrons Kopf drehte sich alles. Das ergab keinen Sinn. Der junge Beluga entblößte beim Lächeln seine Zähne, die zu klein für seinen Mund waren, was sein gesamtes Erscheinungsbild als Beluga noch verstärkte.

»Unter den Fingernägeln welchen Opfers?«, fragte Myron.

»Das geht Sie nichts an«, schaltete sich Hawes wieder ein. »Sie kennen Greg Downing schon lange, stimmt’s? Sie beide sind seit Ewigkeiten Basketball-Rivalen. In der Highschool. Auf der Uni. Sie wurden beide in der ersten Runde von der NBA gedraftet. Downing hat dann eine großartige Profikarriere hingelegt. Danach wurde er ein beliebter und erfolgreicher Trainer.« Hawes setzte einen sarkastischen, mitleidigen Gesichtsausdruck auf. »Sie hingegen …«

»… haben ein verdammt cooles Büro mit einer fantastischen Aussicht?«

Kurze Vorgeschichte: Nicht lange nach dem Draft, in Myrons erstem Saisonvorbereitungsspiel als einundzwanzigjähriger Neuling bei den Boston Celtics, war ein gegnerischer Spieler namens Big Burt Wesson so heftig mit Myron zusammengeprallt, dass Myrons Knie auf eine Art verdreht wurde, auf die kein Gelenk je verdreht werden durfte.

Bye, bye, Basketball.

Hawes und Beluga glaubten, dass diese Geschichte Myron immer noch zu schaffen machte und sie ihn mit der Erwähnung auf die Palme bringen könnten.

Doch da kamen sie zwanzig Jahre zu spät.

Hawes’ Blick traf Myrons. »Hören wir auf mit den Spielchen, Mr Bolitar. Wo ist Greg Downing?«

»Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.«

»Sie wollen nicht kooperieren?«

»Wenn das, was Sie erzählen, die Wahrheit ist …«

»Das ist es.«

»Wenn es die Wahrheit ist …«, setzte Myron noch einmal an, »… wenn Greg noch lebt – darf ich nichts sagen.«

»Warum nicht?«

»Anwaltsgeheimnis.«

»Ich dachte, Sie waren sein Agent.«

»Das auch.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

Als der junge Myron erkannt hatte, dass sein Knie nie wieder richtig heilen würde, als ihm klar geworden war, dass seine Zeit als Sportler vorbei war, hatte er sich ganz darauf konzentriert, sein Leben in eine neue Richtung zu lenken. Auf der Duke University war er ein guter Student gewesen. Er hatte die Energie, die er vorher fürs Basketballspiel aufgebracht hatte, in die Vorbereitung auf den LSAT-Test für das Jurastudium gesteckt, diesen mit Höchstpunktezahl bestanden, war an der Harvard Law School angenommen worden und hatte dort seinen Abschluss mit Auszeichnung gemacht. Nachdem er die Anwaltsprüfung bestanden hatte, hatte er MB Reps gegründet (damals noch MBSportsReps genannt, weil er – wie die kursive Schrift zeigt – anfangs nur Sportler oder Menschen aus dem Sportbereich repräsentiert hatte). Als zugelassener Anwalt hatte Myron seinen Klienten auch in juristischen Belangen bestmöglichen Schutz und Beratung bieten können.

Was besonders dann hilfreich war, wenn ein Klient juristische Probleme hatte.

Wie wohl auch jetzt.

»Uns wurde gesagt, Sie würden kooperieren, Mr Bolitar.«

»Das war, bevor ich wusste, worum es geht«, sagte Myron. »Ich muss Sie bitten zu gehen. Sofort.«

Sie nahmen ihre Akten vom Tisch und standen auf.

»Eins noch«, sagte Myron. »Wenn Sie Mr Downing finden, möchte ich, dass er ausschließlich in meiner Anwesenheit verhört wird.«

Der junge Beluga schnalzte spöttisch. Hawes schwieg.

Myron blieb sitzen, während sie um den Tisch zur Tür gingen. Greg. Am Leben. Vergiss die Morde erst einmal. Wie zum Teufel konnte Greg noch am Leben sein?

Der junge Beluga blieb stehen und beugte sich zu Myron herunter. »Die Sache ist noch nicht ausgestanden, Arschloch.«

Er konnte nicht ahnen, wie recht er damit hatte.

zwei

Wins Büro war im Stockwerk unter Myrons.

Als Myron aus dem Fahrstuhl stieg, erwartete er immer noch den Trubel und die Lautstärke der Händler, die Kauf- und Verkaufsaufträge für Aktien und Anleihen und Investitionen und … äh … lauter solchen Finanzkram, durch den Raum schrien. Myron kannte sich mit Geldinstrumenten und dergleichen nicht aus, und das störte ihn auch nicht. Win kümmerte sich um sämtliche Geldangelegenheiten seiner Klienten. Myron übernahm die eigentlichen Aufgaben des Sportagenten – Jobvermittlung, Verhandlungen mit Team-Eignern und Managern, Abschluss von Werbeverträgen, die Social-Media-Arbeit seiner Klienten, Aufbau ihrer Markenidentität, öffentliche Auftritte und die dafür anfallenden Honorare, die Erledigung von Alltagsaufgaben für die Klienten und so weiter.

Kurz gesagt: die Maximierung des Verdienstpotenzials.

Myrons Aufgabe bestand darin, das Geld heranzuholen, Win war dafür zuständig, es fruchtbar anzulegen und zu mehren.

Die frühere Kakophonie in diesem Großraumbüro war verschwunden, weil die Geschäfte heutzutage online oder per Computer abgewickelt wurden. Gelegentlich stieß noch jemand einen Schrei aus, aber die meisten Händler hatten die Köpfe gesenkt und blickten auf einen oder mehrere Bildschirme. Es war unheimlich.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte Win das größte Büro in der Ecke Richtung Park Avenue und Uptown. Sein Büro hatte aber nicht nur eine fantastische Aussicht, sondern außerdem eine dunkle Holzvertäfelung, Original-Kunstwerke an den Wänden und die Ausstrahlung eines düsteren Herren-Clubs aus dem neunzehnten Jahrhundert im Zentrum Londons.

»Du weißt irgendetwas«, sagte Myron.

»Ich weiß vieles.«

»Du gibst dich kokett. Das tust du sonst nie.«

»Manchmal verhalte ich mich den Ladys gegenüber kokett«, sagte Win. Und dann: »Nein, warte, ich meine keck, also ich kokettiere mit ihnen.«

»Wusstest du, dass Greg noch lebt?«

Win überlegte. Er drehte sich zum Fenster und betrachtete die Aussicht. Auch das tat er fast nie. Dann sagte Win: »Ein Kolumbarium.«

»Was?«

»Du hast zu den FBI-Agenten gesagt, dass Greg Downing in einem Mausoleum liegt.«

»Richtig.«

»Ein Mausoleum ist ein Gebäude für einen Leichnam«, sagte Win. »Ein Kolumbarium beherbergt kremierte Überreste von Menschen.«

»Da lag ich wohl falsch. Danke für das Vokabelseminar.«

Win breitete die Hände aus. »Ich helfe, wo ich kann.«

»Das stimmt. Willst du also darauf hinaus, dass Greg eingeäschert wurde?«

»Korrekt.«

»Was es einfacher macht, einen Tod vorzutäuschen?«

»Gehen wir doch kurz die Zeitachse durch, okay?«

Myron nickte, damit Win fortfuhr.

»Vor fünf Jahren wurde Greg Downing als Cheftrainer der Milwaukee Bucks entlassen. Zu diesem Zeitpunkt war er sehr beliebt und hatte mit drei verschiedenen NBA-Clubs Erfolge gefeiert. Man kann sagen, dass er damals noch immer ein sehr gefragter Mann war, richtig?«

Myron nickte. »Die New York Knicks und die Miami Heat hatten ihn zu Vorstellungsgesprächen eingeladen.«

»Statt auf diese Angebote einzugehen, hat Greg, der damals noch ein junger Mann war …«

»So alt wie wir«, warf Myron ein.

»Also ein sehr junger Mann.« Win lächelte knapp. »Stattdessen hat er angegeben, an einem Burn-out zu leiden, und behauptet, er wolle raus aus der Tretmühle. Hast du ihm das abgekauft?«

Myron zuckte die Achseln. »Er wäre nicht der Erste, der das tut.«

»Wer kokettiert denn jetzt herum?«

»Das passte nicht zu ihm«, räumte Myron ein. »Greg war immer sehr ehrgeizig.«

»Man kennt sich«, sagte Win.

»Soll heißen?«

»Ihr wart so lange Rivalen, weil ihr beide extrem ehrgeizig seid. Daraus resultierten große Kämpfe auf dem Spielfeld. Und große Katastrophen abseits des Platzes.«

Darauf fiel Myron keine Antwort ein.

»Hast du damals mit Greg über seine Entscheidung gesprochen?«, fragte Win.

»Nein. Das weißt du doch.«

»Ich rekapituliere nur die Fakten. Greg ist einfach abgehauen. Verschwunden. Untergetaucht. Er hat dir gerade einmal eine E-Mail geschickt.«

»Richtig.«

»Weißt du noch, was in der E-Mail stand?«

»Wenn du willst, kann ich sie heraussuchen, aber da stand nur so was wie, dass er eine Veränderung in seinem Leben bräuchte und ein neues Kapitel beginnen will. Er sagte, er wolle allein reisen und zu sich selbst finden.«

»›Zu sich selbst finden‹«, wiederholte Win mit einem angewiderten Kopfschütteln. »Herrje, ich hoffe, das hat er nicht so ausgedrückt.«

»Doch, hat er«, sagte Myron. »Angefangen hat er jedenfalls in einem Kloster in Laos.«

»Und woher wissen wir das?«

»Er hat es mir erzählt.« Myron überlegte. »Warum hätte er lügen sollen?«

Win antwortete nicht. »Wann hast du dann das nächste Mal von Greg gehört?«

»Das weiß ich nicht mehr genau. Ich dachte, er müsse seinen Akku aufladen und wäre bald wieder zurück. Aber aus einer Woche wurden erst ein, dann zwei Monate. Ab und zu hat er eine Nachricht geschickt. Erst aus Laos, dann aus Thailand oder Nepal, das weiß ich nicht mehr genau. Dann …«

»So vergehen zwei Jahre, bis wir erfahren, dass er tot ist.«

»Genau«, sagte Myron. Dann: »Was verschweigst du mir, Win?«

Wieder ignorierte Win die Frage. »Wie schwer wäre es da gewesen, seinen eigenen Tod vorzutäuschen? Sagen wir, du bist Greg. Du schreibst deinen eigenen Nachruf und setzt ihn in eine Zeitung. Du schreibst, du wärst an einem Herzinfarkt gestorben. Du verschickst Asche in einer Urne – da könnte alles Mögliche verbrannt worden sein. Es gibt eine Trauerfeier. Wir gehen hin.« Win drehte seine Handflächen nach oben und hob die Arme leicht. »Voilà, du bist tot.«

Myron runzelte die Stirn. »Und wie geht’s weiter? Du kommst heimlich wieder zurück ins Land und ermordest Cecelia Callister und ihren Sohn?«

Win starrte weiterhin aus dem Fenster. Einen Moment später verstand Myron, was los war.

»Greg hätte Geld gebraucht«, sagte Myron.

Win regte sich nicht.

»All die Jahre, die er weg war. Ganz egal, wie sparsam er war. Irgendwann hätte er Zugriff auf eins seiner Bankkonten haben müssen. Hast du dich mit ihm getroffen?«

Win starrte weiter.

»Win?«

»Wir haben hier ein Dilemma.«

»Und das wäre?«

»Die Schweigepflicht.«

»Du bist kein Anwalt.«

»Mein Wort soll also keine Bedeutung haben?« Win wandte sich vom Fenster ab. »Wenn ein Klient um Vertraulichkeit gebeten hat, kann ich dann trotzdem frei sprechen?«

»Nein«, sagte Myron und suchte nach einem Ausweg aus der Sackgasse, »aber im besonderen Fall von Greg Downing bin ich sein Agent, sein Manager und sein Anwalt. Was auch immer er dir erzählt hat, darf ich auch erfahren.«

»Es sei denn«, sagte Win und hob einen Finger, »der Klient hätte mich angewiesen, es niemandem zu sagen, auch und besonders dir nicht.«

Myron trat einen Schritt zurück. »Wow.«

»Eben.«

»Willst du damit sagen, du hättest gewusst, dass Greg am Leben ist?«

»Nein, ich will nichts dergleichen sagen.«

»Ich spüre ein Aber kommen.«

»Aber wenn ich die finanziellen Regelungen, die er getroffen hat, aus dieser neuen Perspektive betrachte, könnte ich womöglich zu dem Schluss kommen, dass dies für mich kein solcher Schock ist wie für dich.«

Win brauchte es nicht weiter auszuführen – Myron hatte das Wesentliche verstanden.

»Also, mal rein hypothetisch«, sagte Myron, »hat Greg, bevor er ins Ausland abgehauen ist, um, äh, zu sich selbst zu finden, eventuell ein paar finanzielle Transaktionen in Auftrag gegeben, Konten im Ausland eröffnet oder Vermögen in schwer rückverfolgbare Anlagen übertragen, oder etwas in der Art.«

»Wenn er das getan hätte«, sagte Win, »würde das zu den Dingen gehören, die vertraulich bleiben.«

»Also hat Greg das geplant.«

»Möglich.«

Stille.

Dann sagte Myron: »Greg hat uns nicht gefeuert.«

Win schloss die Augen.

»Wenn er noch lebt, ist er weiterhin unser Klient.«

Win rieb sich die geschlossenen Augen.

»Du verstehst, worauf ich hinaus will?«, fragte Myron.

»Es wäre schwer, das nicht zu verstehen, sofern man nicht kurz zuvor ein Hirntrauma erlitten hat«, sagte Win. »Du willst ihm helfen.«

»Um Wollen geht es hier nicht«, sagte Myron. »Wenn Greg noch lebt, sind wir verpflichtet, ihm zu helfen.«

»Ist das die Stelle, an der ich sage: ›Selbst wenn er ein Mörder ist?‹«

»Worauf ich weise nicke und erwidere: ›Selbst dann.‹ Oder vielleicht: ›Kommt Zeit, kommt Rat.‹«

»›Selbst dann‹ ist nicht ganz so abgedroschen«, sagte Win mit einem Seufzer. »Muss ich dich darauf hinweisen, dass das viele alte, emotionale Wunden bei dir aufreißen wird?«

»Eigentlich nicht.«

»Oder dass du nicht gut mit alten, emotionalen Wunden umgehen kannst.«

»Dessen bin ich mir bewusst.«

»Deine destruktive Ex. Die Verletzung, die deine Karriere beendet hat. Dein leiblicher Sohn.«

»Ich hab’s verstanden, Win.«

»Nein, mein lieber Freund, das hast du nicht. Das tust du nie.« Win seufzte erneut, zuckte die Achseln und schlug die Hände auf den Tisch. »Okay, gut, dann machen wir es so. Der Lone Ranger und Tonto reiten wieder.«

»Eher Batman und Robin.«

»Sherlock und Watson.«

»Green Hornet und Kato.«

»Starsky und Hutch.«

»Cagney und Lacy.«

»McMillan & Wife.«

»The Scarecrow and Mrs King.«

»Simon und Simon.«

»Scott und Huutsch.«

Win schnappte nach Luft. »Das hättest du wohl gern?« Dann schnippte er mit den Fingern. »Tango und Cash.«

»Hey, der war gut.« Und dann: »Michael Knight und K.I.T.T.«

»K.I.T.T., das sprechende Auto?«

»Ja«, sagte Myron. »Und Michael muss von The Hoff gespielt werden. Keins dieser beschissenen Reboots.«

»Michael und K.I.T.T.«, wiederholte Win. »Und wer von uns ist wer?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Nein, tut es nicht«, sagte Win. »Also, wie fangen wir an?«

»Folge der Spur des Geldes von den Auslandskonten.«

»Negativ«, sagte Win.

»Warum nicht?«

»Wir werden es nicht schaffen, die Spur des Geldes zu verfolgen«, sagte Win. »Dafür bin ich zu gut.«

»Dann sollten wir uns vielleicht die Callister-Morde ansehen.«

»Ich bin schon dran. Und du? Was hast du vor?«

Myron überlegte. »Ich geh meine destruktive Ex besuchen.«

drei

Emily Downing, die destruktive Ex, öffnete die Tür ihrer Wohnung in der 5th Avenue mit einem breiten Lächeln. »Sieh an, sieh an. Wenn das mal nicht der Gute ist, den ich mir habe entgehen lassen.«

»Den Spruch bringst du immer, wenn du mich siehst.«

»Es ist eben das, was mir in solchen Momenten durch den Kopf geht. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen, Myron?«

»Vor drei Jahren. Bei Gregs Trauerfeier.«

Natürlich wusste Emily das. Einen Moment lang standen sie sich einfach gegenüber und ließen sich von ihren Erinnerungen davontragen. Sie versuchten nicht, die Gedanken zu unterdrücken oder sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatten sich gleich im ersten Monat ihres ersten Studienjahres in der Perkins Library der Duke University kennengelernt. Emily hatte mitgekriegt, dass Myron sie ansah, und ihm über den Bibliothekstisch hinweg ein schräges Lächeln geschenkt, durch das die Altersfreigabe eines Spielfilms eine Stufe hochgesetzt worden wäre. Peng, Myron war hin und weg. Sie waren beide achtzehn, beide zum ersten Mal von zu Hause weg, beide unerfahren in den Dingen, in denen Teenager vorgeben, es nicht zu sein.

Sie verliebten sich ineinander.

Zumindest hatte er sich in sie verliebt.

Jetzt, nach all diesen Jahren, stand Emily vor ihm und fragte: »Du glaubst doch nicht, dass Greg noch lebt, oder?«

»Glaubst du es?«

Sie nagte an ihrer Unterlippe, und wieder traf es Myron wie ein Schlag, als er an die kühlen Herbstnächte in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim dachte, an das gedämpfte Licht und den Mond im Fenster auf der anderen Seite des Universitäts-Squares. Nachdem sie auf der Uni fast vier Jahre zusammen gewesen waren, hatte Myron gegen Ende ihres letzten Studienjahrs das Thema Hochzeit angesprochen.

Emilys Antwort?

Sie hatte Myrons Hände ergriffen, ihm direkt in die Augen gesehen und gesagt: »Ich bin nicht sicher, ob ich dich liebe.«

Noch mal Peng. Wenn auch ganz anders geartet.

»Greg soll am Leben sein«, sagte Emily verwundert. Eine Haarsträhne fiel über ihr Auge. Fast hätte Myron die Hand ausgestreckt und sie zur Seite geschoben. »Das ist doch völlig absurd.«

»Findest du?«

Wieder schenkte sie ihm dieses schräge Lächeln. Diesmal traf es ihn nicht wie ein Schlag. Es versetzte ihm kaum einen nostalgischen Stich. »Immer noch der sarkastische Klugscheißer.«

»Ich muss mir doch treu bleiben.«

»Schon klar. Aber das Ganze war wirklich bizarr. Es fing schon damit an, dass du Greg als Klienten angenommen hast.«

»Greg war eine solide Einnahmequelle.«

»Wieder Sarkasmus?«

»Nein.«

»Ich hab’s nicht verstanden«, sagte Emily. »Warum hast du für ihn gearbeitet? Und erzähl mir nicht, dass es nur ums Geld ging.«

Myron beschloss, die Wahrheit zu sagen. »Greg hatte mir wehgetan. Ich hatte ihm wehgetan.«

»Also wart ihr quitt?«

»Lass uns einfach sagen, wir wollten das Ganze hinter uns lassen.«

»Greg mochte dich, Myron.«

Er schwieg.

»Deshalb habe ich dich gebeten, die Trauerrede zu halten. Ich glaube, Greg hätte es so gewollt.«

Die Basketball-Rivalität zwischen Myron und Greg hatte in der sechsten Klasse begonnen, sich, als sie dreizehn wurden, über die Amateur Athletic Union, den Highschool-Sport und die American Coast Conference im Unisport entwickelt, in der Myrons Duke University gegen Gregs University of North Carolina antrat. Es hatte Gerüchte gegeben, dass zwischen den beiden Superstars böses Blut herrschte, aber das war übertrieben. Auf dem Platz bekämpften sich beide mit einem Eifer, den nur extrem motivierte Wettkämpfer nachvollziehen konnten. Abseits des Platzes kannten sie sich kaum.

Bis Emily kam.

»Hast du es …«, Myron atmete tief durch, »… Jeremy erzählt?«

Es wurde still im Raum, als er den Namen aussprach.

»Ich meine, dass Greg noch lebt …«

»Tu das nicht«, sagte sie.

»Was soll ich nicht tun?«

»Jeremy ist immer noch in Übersee stationiert.«

»Ich weiß.«

»Es gibt keinen Grund, ihm das zu erzählen.«

»Du findest nicht, dass er ein Recht darauf hat zu erfahren, dass …«, Myron wusste nicht, welche Bezeichnung er verwenden sollte, also entschied er sich für die, die Jeremy benutzt hätte, »… dass sein Vater noch am Leben sein könnte?«

»Jeremys Arbeit ist gefährlich. Er muss voll bei der Sache sein. Das hat Zeit, bis wir Gewissheit haben.«

Guter Einwand. Und es war wirklich nicht Myrons Angelegenheit, das hatte Jeremy ganz deutlich gemacht. Diese Sache wäre eine Ablenkung – und keine angenehme. Myron neigte dazu abzuschweifen. Win hatte ihn gewarnt. Seine Vergangenheit grätschte immer wieder dazwischen.

»Übrigens«, fuhr Emily fort und holte ihn zurück in die Gegenwart, »hat Greg Cecelia Callister gekannt. Der Polizei hab ich das aber nicht gesagt.«

Myron horchte auf. »Moment mal. Was?«

»Nicht besonders gut. Er ist Cecelia wahrscheinlich zwei- oder dreimal begegnet. Wir haben früher viel zusammen gemacht. Cecelia und ich, meine ich. Wir waren Freundinnen und haben ein paar Sommer zusammen in den Hamptons verbracht, direkt nachdem wir beide geheiratet hatten. Ich weiß noch, dass wir einmal zu viert ausgegangen sind – Greg und ich und Cecelia und ihr erster Mann, ein netter Kerl namens Ben Staples. Oder war Ben schon ihr zweiter Mann? Ich erinnere mich nicht mehr. Ist ja auch tausend Jahre her.«

Myron überlegte, was das bedeutete. »Könnte da mehr passiert sein?«

»Du meinst, ob sie eine Affäre hatten?«

»Ich meine einfach irgendwas.«

»Greg und Cecelia«, sinnierte Emily. »Wer weiß?«

Myron versuchte es anders. »Wann hast du das letzte Mal etwas von Greg gehört?«

»Als er nach Kambodscha oder so abgehauen ist.«

»Nach Laos. Das war vor fünf Jahren.«

»So in etwa.«

»Danach nichts mehr?«

»Nein«, sagte sie leise. »Kein Wort.«

Es war nicht erkennbar, ob sie das störte oder nicht.

»Hör zu, Myron, Greg und ich … das war eine seltsame Beziehung. Wir haben uns vor Jahren scheiden lassen, nachdem, na ja …«, sie gestikulierte mit ihrer Hand in Myrons Richtung, »… du weißt schon.«

Das tat er.

»Aber Jeremy war immer noch ein krankes Kind, auch nach der Transplantation, und was auch immer Greg für Probleme hatte … hat … verdammt, ist ja auch egal! Jedenfalls hat er den Jungen geliebt, auch nachdem …«

Und da war es.

Nach Myrons tollpatschigem Heiratsantrag im letzten Unijahr hatte Emily Myron für, Sie haben es erraten, Greg Downing verlassen. Myrons Liebesqual steigerte sich ins Unermessliche, als sie und Greg so verliebt waren, dass sie sich vier Monate später verlobten.

Ab da wurde es dann unschön.

Um es kurz zu machen, Emily hatte Myron am Abend vor der Hochzeit gebeten, zu ihr zu kommen. Er ging hin. Sie hatten Sex. Das Ergebnis – auch wenn Myron das erst vierzehn Jahre später erfahren sollte – war sein Sohn Jeremy, den Greg unwissentlich als seinen Sohn aufzog.

Ja, unschön.

Myron hatte immer Emily die Schuld gegeben. Er war gerade dabei, den Schmerz über ihren Verlust zu überwinden, als sie ihn an jenem Abend angerufen hatte. Sie hatte Alkohol besorgt, ihn erst zum Trinken und dann auch anderweitig verführt. Sie hatte eine Art Plan geschmiedet, destruktiv bis zum Gehtnichtmehr, in dem er nur ein Spielball war. Jedenfalls hatte er sich das jahrelang eingeredet. Aber jetzt, in der Rückschau – mit mehr Abstand und klarerem Blick – erkannte Myron, dass das eine sehr altmodische Sichtweise war. Er wollte sich selbst als den Guten und letztlich als das Opfer hinstellen. Eine klassische Rechtfertigungsstrategie.

Wenn man es drauf anlegte, konnte man alles rechtfertigen.

»Myron?«

Es war Emily. Die Emily der Gegenwart. Herrje, Win hatte ihn doch davor gewarnt, dass die alten Wunden wieder aufreißen könnten.

»Ihr habt euch also scheiden lassen«, sagte Myron und schob die Vergangenheit beiseite. »Aber dann seid ihr Jahre später wieder zusammengekommen, stimmt’s? Ihr habt sogar noch mal geheiratet.«

Emily antwortete nicht.

»Und was dann? Dann ist Greg einfach ohne jede Erklärung ins Ausland verschwunden?«

»Es steckt mehr dahinter.«

»Ich bin ganz Ohr, Emily.«

Sie nagte wieder an ihrer Unterlippe. »Der Polizei habe ich das nicht erzählt. Nur damit du Bescheid weißt. Ich wollte nichts verbergen. Es geht sie einfach nichts an. Nichts von alledem.«

»Okay.«

»Dich geht es auch nichts an.«

»Okay.«

»Greg und ich hatten eine Abmachung.«

Myron wartete darauf, dass sie weitersprach. Als sie das nicht tat, fragte er: »Was für eine Abmachung?«

»Eine geschäftliche.«

Myron wusste, dass das für die meisten Abmachungen galt, statt das aber auszusprechen, sagte er wieder: »Okay.«

»Greg war reich.«

»Stimmt.«

»Du weißt das besser als jeder andere.«

»Okay.«

»Hör auf, dauernd okay zu sagen«, blaffte sie. »Jedenfalls hat er versprochen, sich um mich zu kümmern.«

»Finanziell?«, fragte Myron.

»Ja. Nur deshalb kann ich es mir leisten, hier zu wohnen. Greg hat ein großzügiges Treuhandkonto für mich eingerichtet. Für Jeremy natürlich auch. Win hat ihm dabei geholfen.«

»Klingt wie ein normaler Vorgang«, sagte Myron.

»Das war es aber nicht. Ich meine, unsere Beziehung …«

Emily brach ab.

»Willst du damit sagen, dass das keine echte Ehe war?«

»Ja. Na ja, nein. Wir waren offiziell verheiratet. Aber, na ja, was ist überhaupt eine Ehe? Greg war sein Leben lang in Sachen Basketball unterwegs. Schon immer. In der spielfreien Zeit hing er meistens in South Beach herum. Er wohnte nur bei mir, wenn er in New York war, also, was weiß ich, vielleicht einen Monat oder sechs Wochen im Jahr.«

»Und wenn er da war, habt ihr beiden …«

Myron führte seine Hände wie bei einem Akkordeon zusammen und auseinander, wusste aber gar nicht genau, warum er eine solche Frage überhaupt stellte. Spielte das eine Rolle?

»Wir hatten getrennte Schlafzimmer«, sagte Emily, »aber manchmal hatten wir auch Sex. Du weißt ja, wie das ist. Wir sind auf eine Dinnerparty oder einen Wohltätigkeitsball gegangen. Wir hatten uns schick gemacht, ein bisschen was getrunken, sind nach Hause gekommen, haben uns daran erinnert, wie es früher war, es war schon spät und schwer, jemand anders zu suchen …«

Sie sah Myron in die Augen. Myron sagte: »Schon verstanden. Erzähl weiter.«

»Was soll ich denn noch erzählen?«

»Zum einen, warum wolltest du diese Abmachung?«

»Wegen der finanziellen Sicherheit.«

»Und was wollte Greg?«

Emily wandte sich ab und ging zu einem gläsernen Barwagen. »Einen Drink?«

»Nein, danke.« Sie näherten sich dem Kern der ganzen Sache. »Wessen Idee war dieses Arrangement?«

»Gregs«, sagte sie und griff nach einem Glas und einer Flasche Asbury Park Gin. »Das ist jetzt etwas schwieriger zu erklären.«

»Lass dir Zeit.«

»Ich weiß auch nicht, ob es überhaupt relevant ist.«

»Dein ›toter‹ Ehemann wird eines Doppelmordes bezichtigt«, sagte Myron. »Also ist es relevant. Wozu diente diese Vereinbarung, Emily?«

Sie starrte die Flasche an, schenkte sich aber nichts ein. »Anfangs wusste ich es selbst nicht genau. Natürlich hatten Greg und ich noch Jeremy zusammen. Selbst als er erwachsen war und zum Militär ging. Jeremy ist stark, mutig, heldenhaft und so weiter, aber er ist auch … unser Sohn hat etwas Zerbrechliches an sich.« Sie drehte sich um und sah zu Myron hinauf. Unser Sohn. Das hatte sie gesagt. Unser Sohn. Und das konnte man auf zwei verschiedene Arten verstehen. Emily schenkte sich den Gin ein. »Eigentlich interessierten Greg und ich uns nicht mehr füreinander. Das war alles lange vorbei. Aber nachdem sich sein Zorn verflüchtigt hatte, du weißt schon, wegen dem, was wir ihm angetan hatten …«

Myron spürte, wie sich seine Brust zusammenzog.

»… da war noch etwas anderes. Ich weiß nicht, wie man es bezeichnen soll. Freundschaft trifft es nicht richtig. Wir haben kaum miteinander gesprochen und hatten auch sonst wenig gemeinsam. Aber wir haben uns gegenseitig vertraut. Und wir hatten etwas, das uns verband.«

Sie trank einen Schluck. Myron beendete ihren Gedankengang. »Jeremy.«

»Ja, ich denke schon. Irgendwie erzähl ich das auch nicht richtig. Jedenfalls, eines Tages ist Greg zu mir gekommen und hat vorgeschlagen, dass wir noch mal heiraten. Dazu hat er mir ein großzügiges Finanzpaket angeboten. Ich habe es angenommen.«

»Hat er dir nie erzählt, warum er das getan hat?«

»Er sagte, es ginge um den äußeren Anschein. Es sollte so aussehen, als wäre er mit einer Frau zusammen, außerdem wäre es gut für Jeremy.«

Myron überlegte. »Fandest du das plausibel?«

»Nein. Ich dachte, Greg wäre irgendwie in Schwierigkeiten geraten.«

»Was für Schwierigkeiten?«

»Die Art Schwierigkeiten, bei denen es besser aussieht, wenn man verheiratet ist und Familie hat. Was genau, wusste ich nicht, aber Gregs Impulskontrolle war nie besonders gut. Ich hab gedacht, dass er vielleicht eine Minderjährige in einem Club kennengelernt hat. Oder er hat womöglich wieder einmal die Ehefrau von irgendjemandem gevögelt. Ja, eine Ironie der Geschichte, oder? Greg stand darauf. Er schlief gern mit verheirateten Frauen. Und häufig. Ich hab das meinem Psychiater erzählt. Er war davon überzeugt, dass Gregs Trauma ein Nebenprodukt dessen war, was wir ihm angetan haben.«

Myron schwieg.

»Keine Antwort?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Myron. »Keine Antwort.«

»Jedenfalls hat Greg nur gesagt, dass er verheiratet sein müsse. Wir würden zusammen zu Veranstaltungen gehen und für die Medien die Rolle des glücklichen Paars spielen. Die große Versöhnungsgeschichte eben. Im Gegenzug würde er die Treuhandkonten einrichten. Mir gefiel das in vielerlei Hinsicht. Natürlich wegen des Geldes, aber auch gesellschaftlich. Wenn du Single bist, laden Freunde dich oft nicht ein. Und mich schon gar nicht. Du hast mal gesagt, dass ich eine sexuelle Ausstrahlung hätte.«

»Emily, ich war jung und …«

»Oh, ich fühl mich nicht angegriffen. Meine Güte. Die Leute reagieren heutzutage immer gleich so empfindlich. Ich weiß, dass ich diese Ausstrahlung habe. Hatte ich schon immer, das ist mir klar. Und Verheiratete – zumindest die Ehefrauen – wollen niemanden mit dieser Ausstrahlung in der Nähe ihrer Ehemänner haben. Jedenfalls keine alleinstehende Frau, selbst wenn, äh, von meiner Seite aus absolut kein Interesse besteht. Es hat dann auch funktioniert. Greg und ich, zweiter Teil. Er hat sein Ding gemacht, ich meins.«

Emilys Blick wanderte im Raum umher, nur ihn sah sie nicht an. Das war nicht ihre Art. Myron sagte: »Du verheimlichst mir irgendetwas.«

»Ich nähere mich langsam an. Eigentlich war es Gregs Privatsache. Mir ist nicht danach, es an die große Glocke zu hängen.«

»Du hängst es nicht ›an die große Glocke‹. Du sagst es nur mir.«

»Das macht’s nicht besser. Was dir doch hoffentlich bewusst ist, oder? Aber wenn Greg tot ist, was macht das jetzt noch aus? Und wenn er nicht tot ist, wenn er tatsächlich noch lebt …« Emily überlegte eine Weile. Myron ließ ihr Zeit. »Ich zeig dir was.«

Emily zog ihr Handy heraus. Ihre Finger tanzten über den Bildschirm.

»Je älter Greg wurde, desto seltsamer wurde er. Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll. Er zog sich immer mehr zurück. War mehr online.«

»Greg?«

»Ja, schon klar. Sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich. Jedenfalls hat er mal sein Handy auf dem Küchentisch liegen lassen. Er war den ganzen Vormittag nonstop damit zugange gewesen, und ich kannte sein Password – er hat immer für alles das gleiche benutzt. Du kannst dir also denken, was ich getan habe.«

»Du bist in seine Privatsphäre eingedrungen.«

»Ganz genau. Jedenfalls hab ich so festgestellt, dass er auf Instagram ist. Das fand ich sehr seltsam. Greg! Kannst du dir das vorstellen? Dass Greg einen Instagram-Account hat?«

»Den haben wir für ihn eingerichtet«, sagte Myron. »Hilft bei der Werbung und der Pflege des Markenkerns.«

»Nein, den offiziellen Account meine ich nicht. Den kenn ich. Da ist er nie draufgegangen. Den betreut Esperanza für dich, oder?«

Myron antwortete nicht.

»Das ist ein anderer Account. Greg hatte ihn unter einem Pseudonym angemeldet. Hier. Sieh ihn dir an.«

Da Emily ihm das Handy nicht reichte, trat Myron hinter sie und sah ihr über die Schulter. Eigenartig, dass sich die Sinne oft besser erinnern als wir, besonders der Geruchssinn. Er fragte sich, ob sie immer noch das gleiche Shampoo benutzte, denn für einen Moment hatte er wieder das Gefühl, in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim zu sein, wo sie sich nach dem Duschen abtrocknete und den alten Bademantel anzog, den er von zu Hause mitgebracht hatte. Es hatte nichts zu bedeuten. Er wollte nichts von ihr. Aber der Flashback war nicht zu leugnen.

Das Instagram-Profilbild zeigte das Logo der University of North Carolina. Gregs alte Uni. Der Name des Accounts lautete: UNCHoopsterFan7. UNCHoopsterFan7 folgte dreihundertneunzig Personen – und zwölf Personen folgten ihm.

»Wahrscheinlich ist das ein Sockenpuppen-Account«, sagte Myron.

»Was heißt das?«

»Ein Fake-Account. Leute geben vor, jemand anderes zu sein. Manchmal machen sie es aus Marketinggründen. Restaurantbesitzer könnten zum Beispiel so tun, als wären sie Kunden, und von der Küche ihres Lokals schwärmen. Oder politische Knallchargen, die behaupten, wer weiß wie ›unabhängig‹ zu sein, und dann sämtliche Fehltritte ihres jeweiligen Kandidaten verteidigen.«

»Darum geht’s bei diesem Account nicht. Greg hat nichts gepostet oder kommentiert.«

»Okay. Vielleicht brauchte er nur eine Möglichkeit, sich andere Accounts anzusehen, ohne dass jemand merkt, wer er ist.«

»Er hat mit jemandem per Direct Message kommuniziert, Myron.«

Emily tippte mit dem Daumen auf den Account einer sehr durchtrainierten, sehr muskulösen, sehr eingeölten männlichen »Person des öffentlichen Lebens« und »Fitness-Models« namens Bo Storm.

Myrons Augen verengten sich.