Nie stimmt immer alles - Gerhardt Engbarth - E-Book

Nie stimmt immer alles E-Book

Gerhardt Engbarth

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Beschreibung

Gerhard Engbarth erzählt Geschichten von Phantasien und Peinlichkeit und einem Roboter, der beten kann. Von Rückblicken aus der Zukunft und dem Hunger nach Blues. Von der Erwartung des Glücks und Menschen, die uns Heimat geben. Mit wachem Blick für das Besondere im Alltäglichen zeigt der Autor die einfachen und schönen Dinge im Leben und formt daraus Geschichten voller Menschenfreundlichkeit und Humor.

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»Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist eine Geschichte«.

Anthony de Mello

»Humor ist nicht erlernbar. Neben Geist und Witz setzt er vor allem ein großes Maß an Herzensgüte voraus, an Geduld, Nachsicht und Menschenliebe. Deshalb ist er so selten.«

Curt Goetz

Inhalt

Prolog

Der Herr der Züge

Kartoffelkopp

Eine kleine Person, ein großer Mensch

Der Hunger nach Blues

Kleines Instrument, großer Klang

Tom Sawyer und Ralph Dickopf

Die Erwartung des Glücks

Das Ventilchen

Ein Sobernheimer in Paris

Menschen, die uns Heimat geben

Sommerregen

Zum Nachtisch eine Gitarre

Das Orgelnachspiel

Die Markierung

Siebzehn Päckchen Salbeibonbons

Meine härteste Fahrt als Roadie

Rückblick aus der Zukunft

Gespräche übers Wetter

Der Geist aus der Ballonflasche

Wie die Zigaretten mit mir Schluss gemacht haben

Der Diener

Phantasien

Die betriebliche Weihnachtsfeier

Das Portemonnaie und der Zusammenhalt

Die Peinlichkeit

Mundartlicher Bilderreichtum

Catsitter

Schlagfertigkeit

Der Samariter

Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf

Das Leben ist ein Schweizer Käse

Der Gürteltest nach Engbarth

Das Tandem

Das Aschekreuz

Die Konfusion

Die Berauer Bernadette

Angsthasen und Mutmacher

Wart’ nur, wenn ich dich erwische

Gänse-Blues

Die Frau, die Bäume pflanzt

Der Roboter, der beten kann

Das Löwenzähnchen und die Gladiolen

Leseprobe aus dem ersten Geschichten-Band »Das Leben ist ein Blaues Buch mit Eselsohren«

Leseprobe aus dem zweiten Geschichten-Band »Der Frosch und die Blumen der Hoffnung«

Prolog

Alles hat damit angefangen, dass ich am zweiten Weihnachtstag 1965 in die Fernsehsendung des American Folk Blues Festivals stolperte, meine Nackenhärchen sich stellten und Gänsehaut mir über Rücken und Arme lief. Ich ahnte nicht, dass dies ein Wendepunkt in meinem Leben war, während gleichzeitig etwas in mir wusste: DAS IST ES!

Ein dreiviertel Jahr musste ich warten, bis ich im Oktober mein erstes Live-Konzert besuchen konnte, das American Folk Blues Festival 1966, in dem ich Menschen erlebte, die in der Kunstform Blues das Leben auf den Punkt brachten, Freude und Schmerz, Liebe und Angst. Nie zuvor hatte mich etwas so angesprochen. Ich spürte: Das hat mit mir zu tun. Hier gehöre ich hin. So will ich sein.

In der Pause zog es mich in die Künstler-Garderobe. Weil die anderen Musiker sich mit Konzertbesuchern unterhielten, ging ich zu Sleepy John Estes, der, allein auf einem Stuhl sitzend, einen Anzug trug, der ihm in den 30er Jahren einmal gut gepasst haben mochte, ihm aber nun um den Leib schlackerte wie ein Segel bei einem lauen Lüftchen. Ich sagte: »Hello, Mr. Estes, it is not easy for Europeans to understand the Blues.«

Keinesfalls hatte ich laut und durchdringend gesprochen, doch plötzlich war es mucksmäuschenstill im Raum. John Estes’ blinde Augen glitten über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg in meine Richtung, und er antwortete: »One day, you will understand.« Und wieder stellten sich meine Nackenhaare, und Gänsehaut lief mir über Arme und Rücken. Das Orakel des blinden Sehers sollte mich durch mein Leben begleiten und mich leiten.

»Eines Tages wirst du verstehen« – das meinte den Blues, das meinte das Leben. In der Schule des Blues lernte ich Mundharmonika und Gitarre spielen und trat ab 1972 öffentlich auf. Was die Schule des Lebens mich lehrte und lehrt, gab und gebe ich in Blues und Geschichten weiter, deren Quintessenz in einem Satz komprimiert, lautet: »Nie stimmt immer alles«, was für mich bedeutet: Wenn wir unsere Unvollkommenheit als das eigentlich Menschliche erkennen, können wir das Leben nehmen wie es ist, auch wenn es nicht so läuft wie wir es uns vorgestellt haben – und uns von den Wendungen zum Guten überraschen lassen, die sich einstellen.

Drei Beispiele: Da berichtet der Erzähler von seiner Einsamkeit als Außendienstler ohne Verkaufserfolge und findet bei einem Kunden Heimat, der seine Verbundenheit mit einem fünffach belegten Wasserweck ausdrückt.

Oder der Erzähler lädt bei strömendem Regen einen vermeintlich guten Nachbarn zur Mitfahrt nach Hause ein, um festzustellen, dass er ihn von hinten mit einem anderen Nachbarn verwechselt hat, mit dem er schon seit Jahren kein Wort mehr spricht, was sich durch die Verwechslung jedoch schlagartig ändern soll.

Und schließlich sind der Erzähler und seine Frau bei Ihrer Gänsezucht von den charakterlichen Schwächen der Gänse so enttäuscht, dass sie sich von den Tieren trennen, um im Herbst eine Überraschung zu erleben.

So bleibt unterm Strich die Erkenntnis: Wenn wir den Satz »Nie stimmt immer alles« annehmen, wird immer alles für uns stimmen, auch wenn sich das Leben als »vollkommen unvollkommen« erweist.

Eine jüdische Legende erzählt: »Ein Rabbiner durchquerte ein Dorf, ging in den Wald, und dort, am Fuß eines Baumes, betete er. Und Gott hörte ihn. Auch sein Sohn durchquerte dieses Dorf. Er wusste nicht mehr, wo der Baum war. So betete er am Fuß irgendeines Baumes. Und Gott hörte ihn. Der Enkel des Rabbiners wusste weder, wo der Baum, noch wo der Wald, noch wo das Dorf war. Aber er kannte noch das Gebet. Und Gott hörte ihn. Der Urenkel kannte weder den Baum, noch den Wald, noch das Dorf, noch Gebet. Aber er kannte noch die Geschichte und erzählte sie seinen Kindern. Und Gott hörte ihn.«

Ich mag diese Parabel, weil Gott in ihr als großer Zuhörer offenbar wird und nicht als kleinkarierter Korinthenkacker, der den Menschen Rituale und Gesetze aufzwingt, die sie zu erfüllen hätten, damit er sie hört. Er hört alle, auch den Urenkel, der nicht betet, sondern »nur« die Geschichte erzählt. Das zeigt, welch hoher Wert im Judentum Geschichten zugemessen wird.

Die Erzählungen in diesem Buch stammen aus zwei Quellen: Die kürzeren sind im Rahmen meiner wöchentlichen Mundart-Kolumne »Alla dann« ab 2011 im »Oeffentlichen Anzeiger« erschienen, der Lokalausgabe der Koblenzer Rhein-Zeitung im Kreis Bad Kreuznach. Die längeren Texte stammen aus meinem Programm »Heilender Humor«, mit dem ich viele Jahre lang in Rehakliniken aufgetreten bin. Allen Erzählungen gemeinsam sind Humor und Hintersinn – und es sind Geschichten, die Mut machen.

Die Patientin einer onkologischen Rehaklinik schrieb mir: »In einer Lebenssituation des Trauerns und Grübelns, der Unruhe und Angst, erlebte ich Ihre Geschichten als Medizin. Ich war mittendrin und konnte meine eigenen Marotten wiedererkennen und darüber schmunzeln. Sie nehmen Vorurteile spielerisch auf die Schippe, ohne zu verurteilen! Ihre Geschichten sind ein wunderbares Geschenk«.

Für mich waren die Auftritte in den Kliniken ebenso kostbar, weil die Begegnungen zwischen Publikum und mir einmalig waren. Was ich in dieser einen Stunde an Geschichten erzählte, an Musik spielte, das allein zählte. Es gab kein Vorher, und es würde kein Nachher geben.

Als ein Patient nach meinem Auftritt zu mir sagte: »Für eine Stunde habe ich alle Sorgen vergessen«, fiel mir ein Satz aus dem Talmud ein: »Wer eine Seele rettet, rettet die Welt«. Ist das zu hoch gegriffen? Können Geschichten einen Menschen und damit die Welt retten? Auf jeden Fall können Geschichten Menschen anrühren und sie froh machen, können zur Medizin für sie werden. Solange die Hoffnung mich trägt, dass das mit den Texten in diesem Buch der Fall ist, werde ich weiter Geschichten erzählen.

Der Herr der Züge

Mit acht Jahren war ich der Herr der Züge, im selben Laden, in dem ich heute meinen Lahmacun esse, in der Döneria »Bella Türkiye« von Nurettin Durmus. Damals gehörte der Laden zum Geschäft meiner drei Tanten Rosa, Maria und Anna, von meiner Cousine, meiner Schwester und mir »Tante Röschen«, »Tante Mariechen« und »Tante Änni« gerufen. Die Sobernheimer hatten ihnen den Sammelnamen »die Engbarths Mäd« verpasst. So hießen sie von Jugend an, und so nannte man sie auch noch, als sie schon um die sechzig waren, in der Zeit, in der diese Geschichte spielt, in den späten fünfziger Jahren.

Außer den Engbarths-Mäd war da noch Tante Annchen, keine leibliche Tante, sondern eine Art Hilfs-Sheriff von Tante Röschen, die der Boss von allen war. Tante Annchen ging durch die Räume und zischte uns Kinder an: »Pscht, nix anfasse!« Sie konnte noch meterweit entfernt sein, schon traf uns ihr scharfes »Pscht« wie ein Peitschenhieb.

Meine Tanten hatten das Geschäft ihres Vaters Julius übernommen, das »Kaufhaus zu den tausend Dingen«. Dort gab es Bücher und Zeitschriften, Schreibwaren, Lederwaren und ... Spielzeug. Die Spielsachen waren gelagert in dem Raum, in dem sich heute das Dönerfleisch am Spieß dreht.

Damals bedeckten Regale drei der vier Wände, Regale, die bis hoch unter die Stuckdecke des Raumes reichten, Regale, mit nichts anderem als Spielsachen – für Kinder das pure Paradies. Das Schaufenster nahm die vierte Raumseite ein. Normalerweise ging eine der Tanten in diesen Raum, wenn Kunden Spielzeug kaufen wollten.

Dann war da noch das Kontor, von dem mir zweierlei in Erinnerung geblieben ist: Zum einen: Herr Knur, der Steuerberater: steinalt und ewig Zigarren qualmend, ein alter Fuchs, früherer Finanzbeamter. Ich sehe den Arbeitstisch mit der grünen Linoleumplatte noch vor mir, auf dem in einem großen Porzellanaschenbecher Herrn Knurs Zigarre lag und sich selbst rauchte, während Herr Knur an einer Thales Handkurbel-Rechenmaschine die kompliziertesten Berechnungen ausführte. Vorwärts und rückwärts ratterte die Kurbel; der Wagen flog schnarrend nach links und nach rechts, und ab und zu ertönte ein Glöckchen. Ich fand das ebenso spannend wie die Rituale eines indianischen Medizinmannes, der um das Lagerfeuer tanzt, geheimnisvolle Kräuter hineinwirft, deren Wirkung nur er kennt, um die Götter der Jagd zu beschwören. In meiner Vorstellung ist Herr Knur in diesem Kontor mit einer Zigarre im Mund geboren worden, und vermutlich hat man ihn auch so beerdigt: mit Zigarre und grüner Thales-Handkurbel-Rechenmaschine als Grabbeigaben.

Etwas zweites im Kontor hat mich sehr beschäftigt: Über der Tür hing ein großer Porzellanteller, auf dem stand: »Mitglied im Deutschen Bösen-Verein«. – Meine Tanten! Meine frommen, katholischen Tanten! Jeden Sonntag in die Messe und zur Kommunion gehen und beichten wie die Weltmeister, aber Mitglied im Bösen-Verein! Ich konnte mir das genau vorstellen: Von meinen Micky-Maus-Heften her kannte ich Ede Wolf, den Großen Bösen Wolf. War doch klar, dass der hier mitmischte, vermutlich war er der Chef. Und meine Tanten, die tagsüber so fromm taten, jagten nachts heimlich die drei kleinen Schweinchen. Bei Tante Mariechen konnte ich mir das zwar nicht vorstellen – sie war einfach zu gutmütig und zu dick – und ebenso wenig bei Tante Änni. Die verließ ihre Küche ja nie – außer zum Schlafen, wenn sie aufs Klo musste und wenn sie in die Kirche ging. Aber bei Tante Röschen und Tante Annchen ...

Später, viele Jahre später, habe ich herausgefunden, dass die Inschrift auf dem Wandteller richtig hieß: »Mitglied im Deutschen Börsen-Verein«. Das habe ich mir mit den vielen Geldbörsen erklärt, die auf grünem Filztuch in der wuchtigen Glastheke zum Verkauf auslagen: Offenbacher Lederwaren, von Goldpfeil. Doch hundertprozentig überzeugt hat mich diese Erklärung nie. Sie wissen ja: Wenn man einmal jemanden im Verdacht hat ... irgendwas ist immer dran, irgendwas bleibt immer hängen.

Doch meine Tanten hatten durchaus auch ihre guten Seiten!

Am besten gefiel mir, dass sie jedes Jahr im Advent im Schaufenster des Spielzeugladens die Anlage mit der Märklin-Modelleisenbahn aufstellten, damals die Sensation, einzig in Sobernheim und für alle Jungen ein Magnet. Oft drängten sich Scharen von Kindern vor dem Schaufenster auf dem Bürgersteig und manchmal auch auf der Straße. Wie oft habe ich mir gewünscht, die Züge dieser Anlage einmal selbst steuern zu dürfen, doch ich durfte nie, und Tante Annchen passte auf wie ein Luchs, dass niemand jemals allein ins Spielzeuglager gelangte.

Einmal jedoch ist es mir gelungen, sie abzuhängen. In einem Moment, als genügend Kundschaft im Hauptladen war, um alle zu beschäftigen, sagte ich, ich ginge hoch, Tante Änni besuchen. Ich ging aber gar nicht hoch, Tante Änni besuchen, sondern schlich mich durch den Flur in den dunklen Spielzeugladen, in dem der Zug gemächlich vor sich hinzockelte, so wie immer.

Vorm Schaufenster standen vielleicht zehn oder zwölf Kinder. Wie magisch wurde ich von dem rote Drehknopf des blauen Märklin-Trafos angezogen. Seine Spitze stand weit links, knapp ein paar Striche nur über der Null-Markierung, gerade so, dass der Zug eben fuhr – Tanten-Power eben. Das habe ich als erstes geändert: Hui, ist die Lok da losgeheizt! Draußen herrschte allgemeine Verblüffung und Begeisterung. Was war da los? Wieso kam der Zug so auf Touren?

Ich beschloss, dass es an der Zeit sei, mich zu zeigen. Ich ging aus der Hocke hoch und beugte mich leicht vor, sodass Licht aus dem Schaufenster auf mich fiel und alle mich sehen konnten, mich, den Herrn der Züge. So ähnlich müssen Politiker das Bad in der Menge genießen. Dann ging ich wieder in die Hocke, verlangsamte den Zug, bis er stand und ließ ihn rückwärts fahren. Von draußen tönte es »Ahh!«

Die Menge mochte auf zwanzig Gesichter angewachsen sein. Immer schneller ließ ich die Lok rückwärts fahren. Nun schob sie die grünen Personenwaggons in rasendem Tempo vor sich her. Der rote Zeiger stand stramm rechts. Weiter ging es nicht. Als der Zug über die Kreuzweiche donnerte, geschah es: Das Fahrgestell des ersten Waggons sprang aus den Schienen, und Funken flogen umher. Draußen tönte es »Ooohhh!« Das vollständige Entgleisen des ganzen Waggons konnte ich gerade noch verhindern, indem ich den Trafo auf Null zurückstellte. Nur stand der Zug jetzt ganz vorne im Schaufenster, für kurze, dicke Bubenarme unerreichbar.

Ich drückte auf den Regler, um die Richtung zu ändern, dann wollte ich den Zug im Schritttempo vorwärts fahren lassen, bis er wieder bei mir angelangt wäre. Die Menge vorm Fenster mochte auf dreißig Kinder angewachsen sein – und jedes einzelne beobachtete mit Argusaugen meine Manöver.

Alles klappte soweit ganz gut, der Zug setzte sich in Bewegung, das Fahrgestell des halb entgleisten letzten Waggons ratterte über die Schwellen, aber es ratterte – bis zum Tunnel! Dort stieß es auf die linke Mauer – der Zug hing. Da war kein Vorwärtskommen mehr. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn – was tun? Auch draußen war man gespannt. Ich erinnere mich, dass ein paar Kerle richtig schadenfroh zu mir hereinfeixten. Denen würde ich es zeigen!

Ich setzte den Zug wieder in Bewegung. Funkensprühend fuhr er zurück. Nachdem er komplett die Kreuzweiche passiert hatte, drückte ich alle Knöpfe am Weichenstellpult, bis das Signal über der Kreuzweiche herumsprang und diese sich auf Abzweig legte. Nun ging die Fahrt wieder vorwärts: Der Zug näherte sich dem Doppeltunnel auf der rechten Fahrspur – und so blieb links genügend freier Raum für das entgleiste Fahrgestell. Problemlos durchquerte der Zug den Tunnel, und als er bei mir angelangt war, stoppte ich ihn und setzte den Wagen zurück in die Spur. Als ich den Zug dann wieder vorwärts anfahren ließ, war er zum Triumph-Zug geworden. Die Jungen vorm Schaufenster applaudierten und johlten. Ich erhob mich und zeigte mich der jubelnden Menge zum zweiten Mal und genoss das Rampenlicht.

Doch Beifall und Rampenlicht machen die Menschen unvorsichtig. Irgendwie hatte ich Tante Annchen überhört, die sich wie ein Tiger angeschlichen haben musste.

Wahrscheinlich hatte die Jungenschar vorm Fenster ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie stürzte sich auf mich mit den Worten: »Wat is dat dann?« (Tante Annchen stammte aus dem Trierer Raum). Sie schnappte mich beim Ärmel und umklammerte mit eisenharten Armen meinen Brustkorb. Dann stellte sie den Trafo zurück auf Zuckel-Power.

Die Menge draußen hatte mitbekommen, dass dunkle Mächte den Herrn der Züge attackierten und wartete gespannt, was weiter geschehen würde. Einer rief »Gerhard!«

Tante Annchen schien das als einseitige Parteinahme zu meinen Gunsten zu empfinden. Ich empfand es ebenso und freute mich, aber Tante Annchen war beleidigt, war doch das Publikum aus ihrer Sicht zu strikter Neutralität verpflichtet, wo es schon umsonst zuschauen durfte. Zur Strafe stellte sie alles ab: den Zug, die Beleuchtung sämtlicher Häuser des ganzen Ortes, einfach alles.

»So!« ein kurzes trockenes »So«, dahingebellt und dann: »Da gibt et nix ze gucke! Macht, dat en heimkommt!«

Dann führte sie mich ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich der rohen physischen Gewalt zu beugen: geschlagen zwar, doch nicht besiegt.

Sie führte mich vor Tante Röschens Thron. Die fragte: »Hat er was kaputt gemacht?«

Tante Annchen schüttelte den Kopf: »Aber trotzdem!«

Tante Röschen bestand darauf, dass ich ihr versprechen solle, das nie wieder zu tu, und ich hab’s ihr auch versprochen, aber ich habe die Finger hinterm Rücken gekreuzt und innerlich das Versprechen so umgemünzt, dass ich nie wieder so leichtsinnig sein würde, mich erwischen zu lassen.

Das hat weitgehend auch geklappt. Was das Rampenlicht und den Beifall angeht, auch da bin ich vorsichtiger geworden. Nicht dass ich beides nicht mehr genösse, im Gegenteil. Ich passe halt nur höllisch auf, ob nicht Tante Annchen hinter einer Ecke lauert!

Kartoffelkopp

1959 besuchte mein Freund Roland die dritte Klasse der evangelischen Volksschule und ich die dritte Klasse der katholischen Volksschule. Zwischen den katholischen »Kreuzköpp« und den evangelischen »Blauköpp« gab es zu der Zeit keine freundschaftlichen Kontakte, im Gegenteil, die Schlagfertigen aus beiden Gruppen lieferten sich Raufereien, wann immer sich ein Anlass bot, oft aber auch ohne jeden Anlass. Doch weil Roland und ich nur ein paar Häuser voneinander entfernt wuchsen, hatten wir uns angefreundet, und irgendwann hat Roland mir die Geschichte vom Kartoffelkopp erzählt.

»In unsrer Clique gab es einen Außenseiter mit Namen ,Günter‘. Er war einen Kopf größer als wir alle und ein bisschen langsamer im Bewegen, im Sprechen und im Denken, dafür hatte er Kraft wie ein Stier. Und weil er einen dicken Kopf und eine Knollennase hatte, nannten ihn alle hinter vorgehaltener Hand nur »Kartoffelkopp«. In seiner Gegenwart hätte keiner sich je getraut, ihn so zu rufen, denn alle hatten einen Heidenrespekt vor seiner Kraft, doch er kannte unseren Spitznamen für ihn und ärgerte sich darüber.

Eines Tags platzte ihm der Kragen, und er schnappte sich einen von uns, Edmund, legte seine Arme um ihn und hielt ihn fest wie in einem Schraubstock. Edmund hatte nicht die Spur einer Chance, sich zu befreien und schlotterte vor Angst, als Günter ihm befahl: ,Sag Kartoffelkopp zu mir!‘

,Nein, ich sag’ nicht Kartoffelkopp‘, antwortete Edmund.

,Du sollst Kartoffelkopp zu mir sagen!‘, knurrte Günter und umschloss Edmunds Brustkorb fester.

,Nein, ich sag’s nicht‘, wiederholte Edmund mit zittriger Stimme. Günter presste seine Arme so fest zusammen, dass Edmund die Luft wegblieb.

,Sag sofort Kartoffelkopp zu mir, sonst ...‘

So kläglich wie ein Kätzchen in Not sagte Edmund schließlich ganz leise, fast flüsterte er es: ,Kartoffelkopp‘.

Günter lief knallrot an und schrie: ,Was, du sagst Kartoffelkopp zu mir. Dir geb’ ich’s.‘ Er ließ Edmund los, drehte ihn um die eigene Achse und knallte ihm links und rechts eine Ohrfeige ins Gesicht, bei der wir alle zusammenzuckten.«

Rolands Geschichte habe ich nie vergessen und sie manches Mal erzählt – als Zeitdokument einer Jugend in den Fünfzigerjahren.

Im Lauf der Jahrzehnte, die seither vergangen sind, ist mir die Geschichte nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich wiederbegegnet, sondern auch in der Politik: Wenn ein Staat einen Vorwand sucht, einen Krieg mit einem anderen Staat vom Zaun zu brechen, hören sich die politischen Äußerungen im Vorfeld an, als riefe er dem anderen zu: »Sag Kartoffelkopp zu mir! Du sollst Kartoffelkopp zu mir sagen! Sag’ sofort Kartoffelkopp zu mir ... sonst.«

Eine kleine Person, ein großer Mensch

Als ich, ich weiß gar nicht mehr wann und wo, den Spruch las »Singen kann viel Leid bezwingen«, musste ich herzhaft lachen, denn bei mir war es umgekehrt. Als ich 1960 auf das Gymnasium kam, lernten wir bei unserem Musiklehrer Nägele als erstes, Notenschlüssel zu zeichnen, und weil ich den schönsten Violinschlüssel gezeichnet hatte, stand in meinem Zeugnis eine Eins in Musik, worauf ich mächtig stolz war.

Nun hatte Nägele einen Sprachfehler: Er lispelte. Wenn Schüler lachten, bezog er das auf sich und argwöhnte, man lache über ihn, was manchmal stimmte, manchmal aber auch nicht. Als mir mein Sitznachbar flüsternd einen Witz erzählte und ich darüber lachte, hat Nägele mich grausam bestraft: Ich musste aufstehen und vorsingen. Allein. Vor der ganzen Klasse. Und das, obwohl Nägele genau wusste, dass ich im Stimmbruch war. Meine Stimme kiekste beim Singen so, dass sie sich anhörte wie das I-A eines Esels. Meine Mitschüler hielten sich vor Lachen den Bauch und wälzten sich schier auf dem Boden. Von der Stunde an habe ich keinen Ton mehr gesungen, sondern beim Singen nur noch stumm die Lippen bewegt. Jahrelang.

Im Folgejahr wurde Eva Tietz unsere Musiklehrerin, die einen richtig guten Unterricht machte: interessant und spannend. Sie ging ganz anders mit uns um: fair und auf Augenhöhe. Leider wussten wir das erst nicht zu würdigen, die wir gemeinsam mit unserer Parallelklasse Musikunterricht hatten, gut 70 pubertierende Jugendliche auf einem Haufen. Nachdem der Zuchtmeister weg war, machten wir, was wir wollten, doch mit der Zeit schaffte es Eva Tietz, sich durchzusetzen und sich Respekt zu verschaffen. Als unsere beiden Klassen wieder getrennt in Musik unterrichtet wurden, machte sie mir so viel Mut, dass ich mich mit der Zeit wieder zu singen traute. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar.