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Sie muss ihn bezwingen – doch die Leidenschaft zwischen ihnen ist stärker als ihr Wille ... Der aufregende zweite Teil der neuen Reihe von »New York Times«-Bestsellerautorin Jeaniene Frost!
Lange war Veritas eine Gesetzeshüterin und damit auf der Seite von Recht und Ordnung. Nun aber muss sie sich gegen ihre Ideale stellen und im Geheimen dunkle Seelen jagen, um den Meistervampir Ian zu retten. Der Preis dafür ist hoch, denn die Jagd kann sie ihren Job kosten – und ihr Leben. Ian selbst weiß nichts von den Risiken, die Veritas für ihn eingeht. Er weiß nur, wie heiß die Leidenschaft zwischen ihnen loderte und er wird alles tun, um sie wieder aufleben zu lassen. Aber nicht nur die Gesetzeshüter sind hinter ihm her, auch die Mächte der Unterwelt haben sich gegen Ian verschworen. Er muss flüchten – doch dann könnte er Veritas für immer verlieren …
Die Trilogie um Ian & Veritas bei Blanvalet:
Night Rebel. Kuss der Dunkelheit
Night Rebel. Biss der Leidenschaft
Night Rebel. Gelübde der Finsternis
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Seitenzahl: 426
Buch
Lange war Veritas eine Gesetzeshüterin und damit auf der Seite von Recht und Ordnung. Nun aber muss sie sich gegen ihre Ideale stellen und im Geheimen dunkle Seelen jagen, um den Meistervampir Ian zu retten. Der Preis dafür ist hoch, denn die Jagd kann sie ihren Job kosten – und ihr Leben. Ian selbst weiß nichts von den Risiken, die Veritas für ihn eingeht. Er weiß nur, wie heiß die Leidenschaft zwischen ihnen loderte, und er wird alles tun, um sie wieder aufleben zu lassen. Aber nicht nur die Gesetzeshüter sind hinter ihm her, auch die Mächte der Unterwelt haben sich gegen Ian verschworen. Er muss flüchten – doch dann könnte er Veritas für immer verlieren …
Die Autorin
Jeaniene Frost ist eine »New York Times«- und SPIEGEL-Bestsellerautorin, ihre Romane erscheinen in 20 Sprachen. Neben dem Schreiben liest Jeaniene gerne, schaut sich Filme an, erkundet alte Friedhöfe und macht Roadtrips. Sie lebt mit ihrem Mann in Florida.
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JEANIENE FROST
BISS DER LEIDENSCHAFT
ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Night Rebel 2. Wicked Bite« bei Avon, an imprint of HarperCollins, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © der Originalausgabe 2020 by Jeaniene Frost
Published by arrangement with Avon, an imprint of HarperCollins Publishers LLC
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München
Umschlagmotive: Shutterstock.com (Ernstafan; Comaniciu Dan); iStock.com/Instants
JB · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-25987-7V002www.blanvalet.de
Für Gypsy und Loki, und für jedes andere Haustier, das seinem Besitzer unendlich viel Freude bereitet.Durch euch ist die Welt so viel besser.
»Warum warte ich eigentlich darauf, dass mich Draculas Braut mit ihrer Anwesenheit beehrt, wenn ich eigentlich nach meiner davongelaufenen Frau suchen sollte?«
Ian beobachtete, wie sich sein bester Kumpel Crispin umsah und sich davon überzeugte, dass Vlad nicht in der Nähe war und sie belauschte. Ian war das egal. Vlad schuldete ihm … etwas. Ian wusste zwar nicht mehr, was, weil die Erinnerung irgendwie mit dem vorigen Monat zusammenhing, der beinahe komplett aus seinem Gedächtnis verschwunden war, aber es war wichtig. Das wusste er. Sollte sein Gastgeber doch ruhig einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er hörte, dass Ian ihn bei seinem verhassten Spitznamen Dracula genannt hatte.
»Genau deshalb sind wir hier. Weil du dich nicht daran erinnern kannst, warum du neuerdings … gebunden bist«, sagte Crispin. »Vlads Frau weiß etwas, was du vor uns anderen verborgen hast. Wenn das der Grund ist, warum du unter Erinnerungslücken leidest, müssen wir das zuallererst herausfinden.«
Gebunden. Ian schürzte die Lippen. Crispin konnte sich immer noch nicht dazu überwinden »verheiratet« zu sagen. Ian würde sich auch mit jeder Faser gegen dieses Wort sträuben. Stattdessen wurde er von dem verrückten Verlangen getrieben, Veritas zu finden, auch bekannt als die kleine scharfe Braut, die er geheiratet hatte.
Zugegeben, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum er Veritas geheiratet hatte. Welcher Vorgang auch immer dazu geführt hatte, dass ein Großteil seiner Erinnerungen an die letzten Wochen gelöscht worden war, dieser Teil gehörte dazu. Doch die Erinnerung an ihre Bindungszeremonie war äußerst lebendig, auch wenn der Gedanke, dass er überhaupt geheiratet hatte, noch dazu eine Gesetzeshüterin, lachhaft war. Crispin hatte Veritas sicher geglaubt, als sie die Ehe vor ein paar Tagen geleugnet hatte, Ian mit Crispin sitzenließ und mit einer recht vagen Warnung vor einem wütenden Dämon verschwunden war.
An diesen Teil konnte Ian sich auch nicht mehr erinnern. Er war bewusstlos gewesen, was bei der Fähigkeit eines Vampirs zur Sofortheilung eigentlich unmöglich war. Was immer ihn seiner Erinnerungen beraubt hatte, hatte ihn – zumindest kurz – so verletzlich wie einen Menschen gemacht, und die einzige Person, die beides erklären konnte, war zufällig geflohen.
Manchmal war Ian so wütend darüber, dass er sich kaum auf etwas anderes konzentrieren konnte. Aber den Rest der Zeit hatte sein Bedürfnis, Veritas zu finden, nichts mit Wut, sondern ausschließlich mit einem deutlich stärkeren brennenden Verlangen zu tun.
»Ian.« Er sah auf; im Eingang stand eine Frau mit rabenschwarzem Haar, direkt dahinter mit finsterer Miene ihr Ehemann. »Sorry, dass wir euch haben warten lassen«, fuhr Leila fort und drehte sich zu Vlad um. »Wir haben uns verspätet, weil wir uns gestritten haben.«
»Meinetwegen?« Ian setzte ein durchtriebenes Grinsen auf. Er hätte sich sowieso über Vlad lustig gemacht – er konnte nicht anders –, aber aus irgendeinem Grund verspürte er ein noch stärkeres Bedürfnis als sonst, seinen Gastgeber zu ärgern. »Habe ich etwa noch etwas Wichtiges vergessen, was in den letzten Wochen passiert ist?«
Als Vlad bei seiner Anspielung gereizt knurrte, warf Leila ihrem Mann einen strengen Blick zu. »Wegen deines berüchtigten Temperaments wartest du besser draußen, solange wir uns unterhalten«, erklärte sie Vlad. »Ich traue dir nicht zu, dass du dein Feuer zügeln kannst, wenn Ian sich mal wieder wie Ian verhält. Und du …« Jetzt wandte sich Leila wieder an ihn. »Kannst du nicht mal fünfMinuten auf eine anzügliche Bemerkung verzichten?«
Ian schenkte ihr sein harmlosestes Lächeln. »Ich? Bin unschuldig wie ein Lamm.«
»Ja, wenn dieses Lamm mit einem Werwolffluch belegt wurde«, murmelte Leila. Dann trat ein mitfühlender Ausdruck in ihre Augen.
Ian verspannte sich, lächelte jedoch unvermindert weiter. Was für ein Geheimnis über ihn Leila auch immer hütete, es war nichts Gutes.
»Du gehst ebenfalls, Bones«, sagte Leila und nannte Crispin bei seinem Vampir- statt bei seinem Geburtsnamen. »Was ich zu sagen habe, geht nur Ian etwas an.«
Crispin verzog das Gesicht, bis er genauso mürrisch aussah wie Vlad. »Ich verstehe nicht, was das soll.«
Vlad lachte scharf und durchdringend. »Denkst du etwa, wenn ich sie nicht umstimmen konnte, hättest du eine Chance?«
Crispin erweckte den Eindruck, als habe er genau das gedacht. Doch ehe er den Mund aufmachen konnte, schob Ian ihn in Richtung Tür. »Mach jetzt keinen Aufstand, Mann. Ich erzähle dir hinterher, was sie gesagt hat.«
»Das hast du bislang auch nie getan.« Crispin klang angespannt. »Du hast dich strikt geweigert, obwohl du dadurch dein Leben in Gefahr gebracht hast.«
Phantomschmerzen schossen wie Pfeile durch Ians Hinterkopf, doch er schaffte es, nicht zusammenzuzucken. Er hatte Crispin fast alles erzählt, was er aus den letzten Wochen noch wusste, das jedoch nicht.
»Die Lage hat sich verändert«, erwiderte Ian. Was Crispin nicht wusste, konnte ihn auch nicht beunruhigen. »Los. Je eher du gehst, desto schneller bekommen wir Antworten.«
Crispin sah zu Leila. Sie setzte eine harte Miene auf, die sagte: »Du hast keine Chance.« Er seufzte resigniert, dann folgte er Vlad, als der Pfähler nach einem letzten Blick auf seine Frau ebenfalls den Raum verließ.
»Machen wir einen Abstecher in die Kerker«, hörte Ian Vlad sagen. »Ich habe das Bedürfnis, etwas mit einem heißen Schürhaken zu durchbohren.«
Leila schloss die Türen, sodass er nicht mehr hörte, was Crispin antwortete. Ian wartete, bis er sicher war, dass Crispin und Vlad weit genug entfernt waren, dann wandte er sich an die hinreißende Brünette. »Schieß los.«
»Was ist das Letzte, woran du dich aus der Zeit erinnerst, in der du Vlad und mir geholfen hast?«, fragte Leila.
»Dass ich weggefahren bin, obwohl ich deinen Mann eigentlich umbringen wollte«, erwiderte Ian schulterzuckend. »Keine Ahnung, warum. An den Monat danach kann ich mich kaum erinnern, nur noch an ein paar Fetzen. Die hat mir vor ein paar Tagen irgendein Wesen ins Hirn gepflanzt; ziemlich sicher war es der Sensenmann. Es sind allerdings überwiegend Erinnerungen an die Frau, die mich geheiratet hat und dann geflohen ist.«
Und die in den drei Nächten und vier Tagen, die seither vergangen waren, weder auf seine wiederholten Anrufe noch auf seine Textnachrichten reagiert hatte. Warum? Er konnte sich noch sehr deutlich daran erinnern, wie Veritas ihm »Warte, geh nicht!« zugeschrien hatte, und zwar mit derselben Leidenschaft, die er für sie empfand. Dennoch hatte sie ihn verlassen, als er am schwächsten gewesen war, und er hatte keine Ahnung, warum.
»Wenn du noch etwas zu sagen hast, mach schnell«, fuhr Ian fort. »Weil du auf einem persönlichen Treffen bestanden hast, habe ich bei der Suche nach ihr schon zwei Tage verloren.«
»Diese Art von Nachrichten überbringt man nicht per Textnachricht oder Telefon«, sagte Leila sanft.
»Hat es mit Dagon zu tun?« Als Leila große Augen bekam, knurrte Ian. »Crispin hat mir erzählt, Veritas habe ihn gewarnt, dass ein Dämon namens Dagon hinter mir her sei. Weißt du zufällig, warum er sauer auf mich ist?«
Leila wandte den Blick ab. »Nein. Aber Dagon hat dich wirklich gehasst, und du bist ihm mithilfe eines Schutzzaubers aus dem Weg gegangen, bis du gedacht hast, Mencheres sei umgebracht worden …«
»Umgebracht? Von wem?«
Die Härte in seinem Ton ließ Leila zurückschrecken. Dann schoss eine weiße Funkenspur aus ihrer rechten Hand – eine Erinnerung an den Strom, der durch ihren Körper floss. Die Lampen im Raum verdunkelten sich kurz, als sie sich Energie von ihnen lieh. Sie bereitete sich auf einen möglichen Angriff von ihm vor.
Es mussten wirklich ziemlich schlechte Nachrichten sein.
»Eine Gruppe von Nekromanten hatte die Macht, mich zu töten«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Sie haben Vlad gedroht, mich umzubringen, wenn er nicht Mencheres für sie umbringen würde. Daraufhin hat Vlad Mencheres’ Tod vorgetäuscht, um Zeit zu schinden und sie zu suchen. Du warst dabei, als Vlad das gefälschte Tötungsvideo gemacht hat, und wusstest nicht, dass die Person, die Vlad hingerichtet hat, aufgrund eines Glamourzaubers nur wie Mencheres aussah. Als du dann das gesehen hast, was du für Mencheres’ Leiche hieltest, hast du … deinen Schutzzauber aufgehoben, um Dagon anzulocken. Er kam, und du hast ihm deine Seele verkauft, um Mencheres zurückzubekommen.« Bei diesen Worten brach ihre Stimme. »Ich habe es gesehen, konnte dich aber nicht aufhalten. Es tut mir so leid, Ian. So unendlich leid.«
Sie sprach weiter, entschuldigte sich immer wieder aufs Neue, drückte ihr Bedauern aus und äußerte andere Plattitüden, die er nicht weiter beachtete. Er war zu fassungslos über die Worte deine Seele verkauft. Er hätte schwören können, dass sie log, nur gehörte sein Sire Mencheres zu den wenigen Personen auf der Welt, für die er tatsächlich seine Seele verkauft hätte. Und wenn er Leila glauben sollte, hatte er offenbar genau das getan.
Darum schmeckte sein Blut vermutlich so komisch. Davon hatte er Crispin auch nichts erzählt, aber seit er vor vier Tagen in diesem Bordell aufgewacht war, war sein Blut irgendwie anders. Er hatte gehofft, dass es dafür eine andere Erklärung gab außer der, dass er von einem Dämonen gezeichnet worden war, dem jetzt seine Seele gehörte. Offenbar nicht.
Nach allem, was er in seinem Leben überstanden hatte, hatte man ihn mit einem einfachen Glamourzauber geschlagen? Er wurde von heftigem Lachen geschüttelt. Leila wich zurück, und ihre elektrische Peitsche wuchs, bis sie sich zu ihren Füßen zusammenrollte.
»Nicht nötig«, stieß er schließlich hervor. »Ich habe noch niemandem etwas angetan, nur weil er mir schlechte Nachrichten überbracht hat.«
»Und Vlad?«, fragte sie vorsichtig.
Erneut brach bitteres Lachen aus ihm hervor, dann fasste er sich. Oh, er würde Vlad gern töten, aber er konnte es nicht. Seine eigene Schuld in dieser Angelegenheit war viel zu klar. »Ich hätte den Glamourzauber spüren müssen, mit dem Vlad den armen Kerl, den er umgebracht hat, belegt hatte. Ich hätte auch erst überprüfen müssen, ob Mencheres wirklich tot ist, ehe ich meine Seele verschachert habe. Das habe ich nicht getan, das ist meine Schuld, nicht Vlads.«
Leilas Peitsche verschwand in ihrer Hand. Dann trat sie vor und nahm seine Hände. »Ich sage es noch einmal: Es tut mir ehrlich leid.«
Ihr Mitleid ließ Ian zurückschrecken. Leila keuchte verblüfft, kniff dann die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte, mit der rechten Hand über jeden Zentimeter seiner Haut zu streichen, die nicht von Kleidung bedeckt war.
»Lass das.« Was sollte dieses mitleidige Betatschen?
»Es ist weg«, sagte Leila erschrocken. Sie wischte noch ein paarmal, dann hielt er sie an den Handgelenken fest. Sie rieb mit den Fingern über seine Hände und wiederholte: »Es ist weg.«
»Was ist weg?« Ganz eindeutig ihr Verstand.
»Alles! Zieh deine Hose aus. Ich muss sehen, ob es noch irgendwo ist.«
Ian verdrehte die Augen. »Das ist es, und obwohl ich es noch vor Kurzem äußerst amüsant gefunden hätte, Dracula unter seinem eigenen Dach mit seiner Frau zu betrügen, habe ich jetzt kein Interesse …«
»Ich auch nicht«, unterbrach ihn Leila. »Aber ich habe ein Interesse zu sehen, ob du noch Dagons dämonisches Brandzeichen auf deinem Gemächt hast, denn deine Haut ist völlig verändert.«
Ian ließ ihre Handgelenke los. »Erklär mir das.«
»Erinnerst du dich, dass ich mir einen Eindruck von der Seele eines Menschen mache, indem ich ihn mit der rechten Hand berühre?« Als er ungeduldig nickte, fuhr sie fort. »Als ich dich vor Monaten berührt habe, habe ich deine schlimmste Sünde gesehen, genau wie bei allen anderen, die ich zum ersten Mal berühre. Deine Haut war außerdem voll von emotionalen Abdrücken anderer, und jetzt sind sie alle weg.« Um ihre Worte zu unterstreichen, tippte sie ihn mit der rechten Hand an. »Jetzt fragst du dich, was sonst noch weg sein könnte, stimmt’s?«
War er irgendwie dem Seelenhandel entronnen? Ian ließ sie los und öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Leila ging auf die Knie und schob seinen Hemdsaum zur Seite. Im selben Moment gingen die Wohnzimmertüren auf, und Vlad und Crispin kamen herein.
Ian begann zu lachen. »Ausnahmsweise kann ich ehrlich sagen, dass das nicht ist, wonach es aussieht.«
»Davon gehe ich aus«, entgegnete Vlad kühl. »Willst du auf einmal ins Geschäft für erotische Piercings einsteigen, Liebling? Wenn, würde ich mich als Modell zur Verfügung stellen, ich eigne mich wesentlich besser dazu.«
Ian schnaubte verächtlich, während Leila losplapperte: »Ich habe nach dem Dämonenzeichen gesucht, nicht danach!«
»Also bitte, könnte jemand anders unter meinem Schwanz nachsehen oder mir einen Spiegel reichen?«, schaltete sich Ian ein. »Ich bin zwar gelenkig, aber so weit komme auch ich nicht runter.«
Leila wich verlegen zurück. Crispin schritt zu ihm und beugte sich mit gerunzelter Stirn hinunter. »Kein Zeichen irgendeiner Art«, erklärte er nach einem Moment.
»Ich sage euch, es war da«, beharrte Leila. »Ich habe gesehen, wie Dagon es dort hinterlassen hat, als sie ihren Seelenhandel besiegelt haben!«
Crispin richtete sich auf und warf Ian einen schockierten Blick zu. »Du hast deine Seele an einen Dämon verschachert? Warum?«
»Was denkst du wohl – für mehr Macht«, antwortete Ian und warf Leila einen warnenden Blick zu. Er durfte nicht riskieren, dass Mencheres den wahren Grund erfuhr. Einen solchen Schmerz hatte sein Sire nicht verdient.
»Und jetzt ist das Brandzeichen weg«, sagte Leila. »Ebenso wie die ursprüngliche Erinnerung an Ians schlimmste Sünde und ein Haufen anderer Kram. Ich muss den Rest seines Körpers überprüfen, um festzustellen, was sonst noch fehlt. Zieh deine Klamotten aus, Ian.«
Ian zog das Hemd aus und stieg aus seiner zerknitterten Hose. Dann konnte er nicht anders – er zwinkerte Vlad über Leilas Schulter hinweg zu, als sie die rechte Hand über seinen nackten Körper gleiten ließ. Vlad starrte ihn wütend an, doch es war kein Hinweis auf Rauch oder Feuer zu sehen. Offenbar war ihre Beziehung gefestigt.
Leila arbeitete zügig, aber sorgfältig. Schließlich war sie fertig. »Das Dämonenzeichen ist nicht nur verschwunden, es gibt auch keinen körperlichen Beweis, dass es jemals da war. Vielmehr liest sich dein ganzer Körper wie neu«, stellte sie fest.
»Ich bin über zweihundertfünfzig Jahre alt«, erinnerte Ian sie.
»Deine Haut nicht«, erklärte Leila geradeheraus. »Die ist so neu, dass nur vier Wesen Spuren von ihrer Essenz auf dir hinterlassen haben. Eine ist von dir, Bones, als du dir Sorgen um ihn gemacht hast. Cat ist ebenfalls voll Sorge, und Veritas’ Essenz schreit praktisch vor Sorge und Trauer. Als Letztes hat ein furchteinflößendes Wesen Spuren auf deinem Kopf hinterlassen, aber abgesehen davon, bist du ein unbeschriebenes Blatt. Wenn du nicht kürzlich gehäutet worden bist oder dir irgendwie ein ganz neuer Körper gewachsen ist, habe ich keine Ahnung, warum.«
Wieder trieben diese Phantomschmerzen Pfeile durch seinen Kopf. Einen schrecklichen Moment lang hatte er das Gefühl, in der Dunkelheit zu ertrinken. Dann kehrte seine Sicht zurück, und er bemerkte, dass Crispin wegsah, als wüsste er etwas, das er nicht zugeben wollte.
»Mein Freund«, sagte Ian gedehnt. »Willst du der Geschichte, die du mir über meinen letzten Monat erzählt hast, noch etwas hinzufügen?«
»Vielleicht habe ich ein paar Details ausgelassen«, hob Crispin an.
Ian hatte Crispin schon am Kragen gepackt, ehe Leila wieder Luft holen konnte: »Heilige Scheiße, du kannst dich ja teleportieren!«
»Was?«, stieß Ian hervor.
»Sie sagte, es wäre sicherer, wenn du es nicht wüsstest«, antwortete Crispin ausweichend.
Hatte Crispin ihm verschwiegen, warum Veritas ihn verlassen hatte? »Wenn ich was nicht weiß?«
Jetzt war Crispins Blick ganz fest. »Vor vier Tagen hat Veritas Cat und mich angerufen, damit wir deinen fast ganz verdörrten Leichnam aus einem verlassenen Vergnügungspark holen. Du warst von einem Dutzend Dämonenleichen umgeben. Keine Ahnung, wie ihr so einen Angriff überlebt habt, aber Veritas sagte, ihr hättet nur zum Schein geheiratet, du hättest das Gedächtnis verloren, und mächtige Dämonen seien hinter dir her. Wir mussten ihr versprechen, dir Lügen darüber zu erzählen, wo du dich im letzten Monat aufgehalten hast. Sie sagte, du wärst nur sicher, wenn du dich von ihr fernhieltest.«
Sie war gegangen, um ihn zu schützen? Und Crispin, der es eindeutig besser wissen müsste, hatte zugelassen, dass sich Veritas dieser Gefahr allein stellte und Ians Versuche, sie zu finden, torpediert? Er würde Crispins Hintern grillen und ihm die verbrannten Teile in den Rachen stopfen! Aber zuerst würde er …
Ian schob Crispin beiseite und wandte sich an Leila. »Du kannst doch Personen mithilfe der Spuren finden, die ihre Essenz hinterlässt, oder?«
Sie seufzte. »Ja. Komm her.«
Leila legte ihre rechte Hand auf Ians Wange. Die Voltzahl, die von ihr ausging, bereitete ihm Kieferschmerzen, aber er zuckte nicht. Nach einigen Minuten ließ Leila die Hand sinken. »Ich kann Veritas spüren, aber ich kann sie nicht sehen.«
Natürlich nicht. Nachdem Dämonen hinter ihr her waren, hatte sich Veritas gegen jeden möglichen Findezauber geschützt. Er hatte doch keine Idiotin geheiratet.
Wortlos teleportierte er sich hinaus und ließ Crispin und die beiden anderen zurück. Scheiß auf die Versuche seines Freundes, ihn zu schützen. Scheiß auf Veritas’ Angst um seine Sicherheit. Er würde sie nicht verlieren, nur um sich selbst in Sicherheit zu wiegen.
Warte, geh nicht! Wieder hörte er im Geiste ihren gequälten Schrei.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Ian. »Ich komme.«
Ich fiel aus dem dunklen ägyptischen Himmel und landete neben einem Jeep, der wie eine Neonreklame aus der Sandwüste herausstach. Anders als das berühmte Tal der Könige war dieser Abschnitt am westlichen Rand weniger bei Architekten oder Touristen beliebt, sondern eher bei Verbrechern.
Gut für mich, denn mein Job war es, Verbrecher zu jagen.
In dem Jeep war niemand, doch er war vollgepackt mit Gegenständen, die nach antiker ägyptischer Grabkunst aussahen. Ich ging um den Wagen herum nach hinten und sah eine kleine Steinplatte, die halb von einem Loch im Boden gezogen war. Ah, ein verstecktes Grab. Von unten ertönten zwei Stimmen sowie ziemlich merkwürdige Zischlaute.
Grabräuber. Ich hasste Grabräuber.
Ich zog ein scharfes Silbermesser und einen Zweizack aus Dämonenknochen hervor. Jetzt war ich gerüstet, um zwei der drei übernatürlichen Arten zu bekämpfen, die es gab. Kurz bevor ich in das Loch sprang, hellte sich mein Sichtfeld mit Vampirgrün auf.
Zwei Männer blickten überrascht zu mir hoch. Auf den ersten Blick sahen sie wie normale Männer aus dem mittleren Osten aus, doch dann begannen ihre Augen rot zu leuchten. Dämonen. Und der Boden unter ihnen bewegte sich in alle möglichen Richtungen.
Schlangen. Die verabscheute ich sogar noch mehr als Grabräuber.
Ich stürzte mich auf den ersten Dämon und schlug ihn nieder, indem ich ihm die beiden Enden meiner Knochenwaffe in die Augen rammte. Seine Augen gingen in Flammen auf, und er schrie kurz auf, bevor ihn der Tod verstummen ließ. Ich riss den Zweizack wieder heraus und flog blitzschnell nach oben, sodass der andere Dämon gegen die Wand krachte statt gegen mich. Bevor ich ihm ebenfalls die Augen ausstechen konnte, teleportierte er sich.
Mit erhobener Faust erschien er zu meiner Rechten. Ich duckte mich und wich dem Schlag aus, erhielt jedoch einen Haken von links, woraufhin mein Schädel vor Schmerz explodierte. Diese verfluchten Dämonen mit ihrem Teleportieren.
»Du wirst dafür bezahlen, dass du Malfeous ermordet hast«, zischte er, dann schleuderte er diverse Kobras auf mich.
Mistkerl!
Ich unterdrückte den Drang, die Schlangen abzuschütteln. Ihre Bisse konnten mich nicht umbringen, er allerdings schon. Ich hielt beide Waffen bereit und wirbelte im Kreis, sodass er sich nicht noch einmal an mich heranschleichen konnte. Wieder erschien er vor mir und schwang eine der antiken Äxte aus dem Grab. Ich warf mich zurück, allerdings zu spät. Mein Hals brannte, und aus einem tiefen Schnitt, den die Axt hinterlassen hatte, spritzte Blut in sein Gesicht. Als ich auf dem Boden aufschlug, ließ der Aufprall neuen Schmerz in meinem Hinterkopf aufflammen.
Gut. Mehr Schmerz bedeutete, die Axt war nicht ganz durchgegangen, sonst würde ich jetzt nichts mehr fühlen. Wenn man tot war, spürte man keinen Schmerz mehr, zumindest behaupteten das alle Geister, die ich kannte.
Der Dämon grinste und leckte sich mein Blut von den Lippen. Als er den Geschmack wahrnahm, wich sein höhnisches Grinsen Entsetzen. »Was …?«
Ich schleuderte mein Silbermesser in seinen offenen Mund und nagelte seinen Kopf an die Mauer. Dann stürzte ich mich auf ihn und rammte ihm den Knochenzweizack in die Augen, bis ich spürte, wie die Spitzen auf die Wand trafen.
Seine Augen explodierten, Rauch und Blut flossen heraus. Der Schwefelgestank raubte mir den Atem, aber ich stieß den Zweizack noch fester hinein. Als er begann, zu einem Skelett zusammenzuschrumpfen, und schließlich endgültig tot war, wich die Anspannung des Kampfes Erleichterung.
Ich riss die Waffen heraus und wirbelte herum, falls sich noch andere Dämonen hierher teleportierten. Nach einer Viertelstunde steckte ich das Silbermesser in den Gürtel. Damit konnte man keine Dämonen töten, das gelang nur mit Knochen ihrer eigenen Brüder, und jetzt hatte ich jede Menge Material, um neue Waffen herzustellen.
Ich riss den zwei Dämonen die Arme aus, dann erkundete ich das Grab. Zeit und Staub hatten die Gemälde und Hieroglyphen an den Wänden verblassen lassen, doch in einer Szene erkannte ich den Gott Horus mit dem Falkenkopf und in einer anderen den grünhäutigen Gott Osiris. Weitere Gemälde zeigten Szenen aus dem Leben der Verstorbenen. Es hätten auch persönliche Kostbarkeiten, Statuen, Schätze und Prunkgegenstände da sein müssen, doch der Innenraum des Grabs war leergeräumt worden. Das erklärte den überladenen Jeep.
Die Siegel an der inneren Grabkammer waren ebenfalls aufgebrochen. Ich ging hinein und stellte wütend, aber nicht überrascht fest, dass die beiden kunstvoll bemalten Särge, in denen sich die Mumien befanden, zerstört worden waren. Nur die Tongefäße, in denen sich die Organe der Mumien befanden, waren noch da. Dann roch ich etwas, das mich überraschte. Frisches Blut.
Ich schob einen Haufen Kobras zur Seite, und gegenüber dem Sarkophag kam die Leiche einer jungen Frau zum Vorschein. Ihre Haut hatte den gleichen goldfarbenen Bronzeton wie meine, das Gesicht war von ihrem langen schwarzen Haar verdeckt. Als ich es zurückstrich, fluchte ich.
Ich war ihr gefolgt, seit ich mich mit dem Programm eines befreundeten Hackers in alle neueren Krankenakten gehackt hatte, die digital vorhanden waren. Ich suchte nach einer besonderen Art psychischer Störung: nach Leuten, die behaupteten, aus einer anderen Zeit zu stammen, und über die keine neueren Akten existierten, die etwas anderes bewiesen.
Beim Anblick ihrer Leiche verzog ich das Gesicht. Ihr Oberkörper war von riesigen Schnittwunden überzogen, die nicht zufällig wirkten. Sie waren ganz präzise gesetzt worden und hatten lebenswichtige Organe oder Arterien ausgelassen, um ihr keinen schnellen Tod zu gewähren. Unter dem Blut entdeckte ich auf ihrem Körper Zeichen. Ich drehte sie um und fand weitere auf ihrem Rücken. Sofort kroch schwarze Magie über meine Haut, als würde ein Dutzend Spinnen auf mir herumkrabbeln.
Plötzlich bäumte sich in der Nähe eine Kobra auf und stürzte sich auf mein Gesicht. Gereizt schleuderte ich sie zur Seite, aber dafür biss mich eine andere ins Bein. Schluss jetzt! Ich packte so viele ich konnte und floh aus dem Grab. Draußen ließ ich sie los. Ich musste noch ein paarmal hinein- und hinaussteigen, bis ich fertig war, aber ich war froh, sie endlich entsorgt zu haben. Man musste sie hergebracht haben, um die arme Frau noch stärker zu verängstigen. Angst war eine mächtige Zutat für schwarze Magie, und jemand hatte an der Frau ein schreckliches Ritual durchgeführt.
Ich ging zurück zu ihrer Leiche und wischte mit meinen Kleidern das Blut von den Symbolen. Einige erkannte ich wieder, andere nicht, dabei war ich äußerst bewandert, was Magie anging. Ich holte mein Handy heraus und machte Bilder von den Symbolen. Dann beugte ich mich zu der Frau hinunter, schloss ihre Augen und ließ meine tiefsten Sinne frei.
Die Magie, die man zur Durchführung des Rituals verwandt hatte, traf mich zuerst und raubte mir mit ihrem widerlichen Gestank, der mir wohlvertraut war, den Atem. Dagon. Blut, Angst und der Schwefelgestank der Dämonen hatten den Geruch meines ärgsten Feindes bislang überlagert, doch jetzt roch ich Dagons Magie und konnte mich gerade noch beherrschen, mich nicht zu übergeben.
Ich schluckte heftig und schob mich an dem Gestank vorbei, um festzustellen, ob es noch andere magische Spuren auf ihr gab. Der Tod hatte fast nichts zurückgelassen, doch dann nahm ich erneut den bitteren Geschmack von Dagons Magie wahr, diesmal allerdings deutlich schwächer.
Tief in der Frau steckte etwas von Dagons Kraft. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Sie hatte in der Psychiatrie, aus der sie geflohen war, die Wahrheit gesagt. Sie stammte nicht aus der heutigen Zeit, sondern aus einer weit zurückliegenden Epoche.
Vielleicht war sie deshalb in diesem trostlosen Teil der Wüste herumgelaufen. Heute herrschte hier Einöde, doch vor einigen Jahrtausenden hatte sich hier eine blühende Stadt befunden, und wer Angst hatte, lief nach Hause.
Ich setzte mich zurück und stieß einen frustrierten Seufzer aus. Hatte Dagon sie umgebracht, weil sie eine jener Seelen war, die Dagon in sich gehortet hatte und die nach ihrer Befreiung wiederauferstanden waren? Dagon war bösartig, aber es gab etwas, das Dämonen noch mehr schätzten als Rache: Macht.
Wieder strich ich über die Zeichen. Bei ihrem grausamen Tod war reichlich Kraft aus dieser Frau gesaugt worden. Dem Aussehen und dem Geruch ihrer Leiche nach zu urteilen, war ich nur Stunden zu spät zu ihrer Rettung gekommen. Dagon könnte sich früher am Abend genau dort befunden haben, wo ich jetzt kniete – geschwächt und unvorbereitet und leicht zu töten. Wäre ich doch nur schneller hier gewesen …
Aber Dagon war entkommen. Die anderen Dämonen, die bei ihm gewesen waren, beinahe auch. Wenn ich beim Überfliegen der Wüste heute Nacht nicht den Jeep entdeckt hätte, hätte ich sie niemals gefunden, und ich hatte die Aufgabe, alle frisch wiederauferstandenen Seelen zu finden … bis auf die, nach der ich mich am meisten sehnte.
Vertrauter, erbarmungsloser Schmerz durchströmte mich. Er brannte so sehr, dass ich die ermordete Frau mit finsterem Neid betrachtete. Ihr konnte der Schmerz, dem ich nicht entfliehen konnte, nichts mehr anhaben. Ich war tatsächlich dankbar, dass ich jetzt genauso sterblich war wie jeder andere Vampir. Das bedeutete, dass dieser schreckliche Schmerz vorbei war, wenn sich eines Tages ein Silberdolch in mein Herz bohrte und mich tötete.
Doch bis dahin musste ich einen Schwur erfüllen.
Diese Frau hatte ich nicht retten können, aber ich würde sie nicht dort zurücklassen, wo sie umgebracht worden war. Ich hob sie hoch und flog sie aus dem Grab. Dann schaufelte ich mit meinen Händen ein neues Grab, denn ich hatte zwar Waffen dabei, aber keinen Spaten. Bei dem weichen Sand und dank meiner übernatürlichen Kraft dauerte es allerdings nicht lang.
Sobald sie anständig begraben war, sprach ich ein Gebet und bat die Götter, ihr gnädig zu sein. Dann starrte ich auf das behelfsmäßige Grab, und der leidende Teil in mir fragte sich, ob es mir bald wie ihr ergehen würde. Ob ich irgendwo tot in einem anonymen Grab verrotten würde.
Wenn dem so war, hoffte ich, dass meine letzten Gedanken Ian galten. Ich wollte mich an sein freches Grinsen erinnern, an seinen schnellen Verstand, seine tiefe Loyalität und seinen unendlichen Mut. Vor allem wollte ich noch einmal durchleben, was ich in seinen Armen empfunden hatte. Noch nie hatte ich mich so ganz und gar ausgeliefert und zugleich vollkommen angenommen gefühlt. Geschätzt. Vielleicht sogar geliebt, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten …
Energisch wischte ich die Tränen fort, die über meine Wangen liefen. Ich durfte nicht länger an Ian denken. Sonst würde ich zu ihm zurücklaufen, ganz gleich, ob ich dadurch alle Dämonen zu ihm führte. Ich hatte Ian schon einmal umgebracht, noch einmal wollte ich das nicht zulassen.
Ja, vielleicht würde ich tot in einem anonymen Grab enden, bevor das vorbei war, aber viereinhalbtausend Jahre alt zu sein hatte durchaus seine Vorteile. Wenn ich nicht wie früher explodierte, wenn ich getötet wurde, war ich immerhin so alt, dass meine Leiche vermutlich sofort zu Staub zerfiel. Ich würde nicht in einem Grab vor mich hin rotten.
Ich musste die positiven Aspekte sehen, wie man heute sagte.
Die Nacht verbrachte ich, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Dagon zu dem Grab zurückkehren sollte, in der Wüste. Er konnte nicht mehr teleportieren. Diese Fähigkeit hatte ihm mein Vater, der ehemalige Wächter vom Tor zum Jenseits, genommen, sodass Dagon wie jeder andere gehen oder fahren musste.
Doch er tauchte nicht auf. Am Ende fuhr ich den Jeep weit weg von dem Grab und informierte das ägyptische Ministerium für Altertümer durch einen anonymen Anruf über den Fund. Sie würden sich um die Reliquien kümmern. Der Sonnenaufgang sorgte dafür, dass keine Dämonen in der Nähe waren, denn sie vertrugen die Sonne nicht, und so kehrte ich in mein Hotel zurück.
Als ich die Tür öffnete, flog mir sofort ein graues Knäuel entgegen. Ich fing Silver auf und drückte den Simargl an meine Brust. Obwohl er ein übernatürliches Wesen und kein Hund war, winselte er glücklich. Doch wenn man nicht genau hinsah und nicht merkte, dass er statt mit Fell von flaumigen Federn bedeckt war, hatte Silver Ähnlichkeit mit einem grauen Samojeden. Allerdings waren da noch seine alles andere als hündischen Flügel.
»Ich habe dich auch vermisst«, sagte ich zu Silver und drückte ihn erneut an mich, bevor ich ihn auf dem Boden absetzte. Silver sah erwartungsvoll auf die verschlossene Tür hinter mir, und seine Flügel zuckten hoffnungsfroh.
»Nein«, erklärte ich und kämpfte mit meiner neuerdings brüchigen Stimme. Zu sehen, dass Silver noch immer darauf wartete, dass Ian durch die Tür kam, versetzte meinem Herzen einen weiteren Stich.
»Nein«, wiederholte ich, diesmal mit mehr Nachdruck. Mit hängenden Flügeln trottete Silver davon und warf noch einen letzten Blick auf die Tür, erst dann fand er sich damit ab, dass sie geschlossen blieb.
»Hast du Hunger?«, fragte ich, um ihn abzulenken.
Das funktionierte. Er folgte mir und zuckte wieder fröhlich mit den Flügeln. Ich bestellte etwas beim Zimmerservice, zog meine zerrissenen, blutigen Klamotten aus und knüllte sie in eine Plastiktüte. Ich wollte sie irgendwo entsorgen, wo man sie später nicht fand. Vorerst zog ich einen Bademantel über und wartete. Silver war nicht der Einzige, der Hunger hatte.
Zwanzig Minuten später verschlang Silver einen Teller mit gedünstetem Gemüse, und ich wischte mir einen vereinzelten Blutstropfen vom Mund. Der Zimmerkellner würde sich nicht daran erinnern können, dass er mich genährt hatte, nur daran, dass ich ihm ein üppiges Trinkgeld gegeben hatte.
Gerade war ich auf dem Weg in die Dusche, als mein Handy den Eingang einer neuen Nachricht meldete. Ich ignorierte es, begierig den Geruch von Tod, Blut und schwarzer Magie von mir abzuwaschen. Das Telefon läutete noch ein paarmal, doch ich ging weiter zum Bad. Ich hatte mich von meinem Job als Gesetzeshüterin freistellen lassen, daher konnte es nichts mit der Arbeit zu tun haben, und die meisten meiner engeren Freunde waren tot. Positiv betrachtet war ich ein Workaholic auf Urlaub, der fast alle seine Lieben überlebt hatte; ich konnte mich bei dem Absender der Nachricht melden, wann es mir passte.
Ich duschte in aller Ruhe. Anschließend legte ich meinen Glamourzauber ab und mit ihm das Aussehen einer blauäugigen zierlichen Blondine, das ich normalerweise wählte. Als ich in den Spiegel blickte, sah ich meine echte Erscheinung – eine größere, kurvigere Frau Mitte zwanzig mit silberfarbenen Augen und langem, fast weißem Haar, das von goldenen und blauen Strähnen durchzogen war. Ich trocknete es, zog den Bademantel wieder über und ging zurück ins andere Zimmer. Ich würde noch ein paar Stunden im Internet recherchieren und nach der nächsten wiederauferstandenen Seele suchen, bevor ich mir etwas Schlaf gönnte. So sah mein Leben jetzt aus. Es mochte emotional unerfüllt sein, aber zumindest war es produktiv.
Silver lag auf dem Bett und beobachtete mich mit schläfrigem Blick. Er wartete darauf, dass ich vor dem Einschlafen mit ihm kuschelte. Mit Silver zu kuscheln war das Highlight des Tages, doch zuerst nahm ich das Handy zur Hand.
Neun ungelesene Nachrichten. Mein Magen krampfte sich zusammen. Nur Ian hinterließ so viele Nachrichten hintereinander, auch wenn ich sie niemals las. Mein Vater hatte mir versichert, dass alle Erinnerungen, die Ian an mich hatte, aus seinem Gedächtnis gelöscht waren. Darum vermutete ich, dass Ian mich weiterhin anrief und mir schrieb, weil ihm jemand erzählt hatte, dass wir verheiratet waren.
Er musste sich keine Sorgen machen. Ich würde die wenigen Personen, die die Zeremonie bezeugt hatten, dazu bringen, diese zu »vergessen« und die Ehe für ungültig erklären lassen. Bis dahin musste ich mich nicht quälen, indem ich Ians Nachrichten auf meiner Mailbox abhörte oder sie las, allerdings hatte ich gestern zufällig die Worte »Ich warne dich« gesehen, bevor ich auf Löschen gegangen war.
Er konnte mir mit nichts drohen. Selbst wenn er es zu seinem Lebensziel erklärte, konnte Ian mich nicht mehr verletzen, als er es schon getan hatte. Der Anblick seiner Leiche hatte mir das Herz herausgerissen. Wochen später war ich immer noch damit beschäftigt, mich wieder zu fassen.
Doch diese Nachrichten stammten nicht von Ian. Deinetwegen wurden ernsthafte Klagen gegen den Rat erhoben, lautete die erste von Xun Guan, meiner ältesten Freundin, ebenfalls Gesetzeshüterin. Komm sofort her. Die nächste stammte von Felix, einem anderen Gesetzeshüter. Du musst umgehend vor dem Rat erscheinen, um zu einer Klage Stellung zu nehmen, die mit dir zu tun hat.
Was? Ich scrollte zur nächsten, sie stammte von Thonos, dem offiziellen Scharfrichter des Rates. Deine Anwesenheit ist erforderlich. Dein angeblicher Ehemann weigert sich zu gehen, bis über die Klage, die er deinetwegen gegen den Rat erhebt, gerichtet wurde.
»Was?«, kreischte ich.
Das erschreckte Silver derart, dass er hochflog und an die Decke stieß. Ich war zu fassungslos, um ihn zu trösten. Ich scrollte durch die übrigen Nachrichten, und die relevanten Teile brannten sich in mein Gehirn.
Ian wirft dem Rat vor, seine Ehefrau zwangsweise von ihm fernzuhalten …
Er behauptet, der Rat würde gegen das Gesetz verstoßen und dich gegen deinen Willen von ihm trennen …
Er weigert sich zu gehen, bis du persönlich erscheinst und diese Vorwürfe bestätigst oder widerlegst …
»Du arroganter, rücksichtsloser Irrer!«, tobte ich und schleuderte das Handy quer durchs Zimmer. Es zerschellte, und ich verfluchte als Nächstes mich selbst. Jetzt musste ich den Rat mit dem Handy von jemand anderem anrufen. Ich musste ihn bitten, Ian nicht umzubringen, ehe er etwas getan hatte, das ein Todesurteil verdiente – wenn er das nicht bereits getan hatte.
»Wie konntest du nur zum Rat gehen?«, schäumte ich weiter, während ich mich anzog. »Bones hat dir doch erzählt, dass wir nur zum Schein geheiratet haben! Und das Gesetz hat dich doch noch nie interessiert. Warum solltest du das tun?«
Ich warne dich.
Ians Textnachricht blitzte in meinem Kopf auf. So viel zu dem Gedanken, er könnte mir mit nichts drohen! Aber wie hätte ich auch ahnen können, dass er die höchste herrschende Vampirinstanz verklagte? Da jagte ich um die ganze Welt, um den Schwur zu erfüllen, durch den ich Ian von den Toten zurückgebracht hatte, und er forderte den Sensenmann zu einer Wiederholung heraus!
Nun, ich musste zum Rat gehen und denen ausreden, was auch immer für eine Strafe sie gegen Ian verhängen wollten, dann musste ich ihn noch einmal verlassen. Es wäre weniger schmerzhaft, mir die Eingeweide herauszureißen und auf ihnen herumzutrampeln.
Doch mir blieb keine Wahl. Ich durfte Ian nicht der Gnade des Rates überlassen, und ich durfte eine direkte Vorladung des Rates nicht ignorieren. Wenn ich das tat, konnte ich genauso gut auf der Stelle als Gesetzeshüterin abtreten.
Ich biss derart fest die Zähne zusammen, bis mein Kiefer knackte. Ian wollte ein Treffen, wahrscheinlich, damit ich mich offiziell von unserer Ehe lossagte. Damit keiner daran zweifelte, dass er ein freier Mann war?
Nun gut. Er würde sein Treffen bekommen. Hoffentlich konnte ich den Rat davon überzeugen, ihn lange genug am Leben zu lassen, dass es ihm leidtat.
Der Berg Lycabettus ragte mit seinem zerklüfteten Gipfel aus Kalkstein wie ein mächtiger Steinriese über Athen auf. Ich erinnere mich, dass die Leute sagten, dieser Fleck sei entstanden, weil die Göttin Athene schlechte Nachrichten erhalten habe und versehentlich einen Berg habe fallen lassen. Später hieß es, der Berg sei die Heimat ängstlicher Wölfe, daher das Spiel mit dem Wort lycos – griechisch für Wölfe. Beide Legenden stimmten nicht. Wie so oft war die Wahrheit wesentlich absonderlicher.
Der Lycabettus war der offizielle Sitz des amtierenden Vampirrats. Oh, der Rat besaß noch andere, weniger bedeutende Gerichte auf anderen Kontinenten, doch nur hier führten alle elf Ratsmitglieder den Vorsitz, wenn das Gericht tagte, und sie kamen nur zusammen, wenn die Klagen wirklich ernst waren.
Zum Beispiel, wenn der gesamte Rat von einem Vampir verklagt wurde, der eher dafür bekannt war, gegen das Gesetz zu verstoßen, als auf seine Einhaltung zu pochen.
Ich stieg die ausgetretenen Steinstufen hinauf, die zu dem modernisierten Amphitheater auf dem Gipfel führten. Die Seilbahn war heute Abend nicht in Betrieb, da keine der berühmten Sehenswürdigkeiten des Lycabettus geöffnet hatte. In Athen, das am Fuß des Bergs lag, mochte so viel Trubel herrschen wie immer, doch die Stille hier oben war beinahe unheimlich. Normalerweise war dieser Ort mit seiner reichen Geschichte und der beispiellosen Aussicht auf die Stadt ein Touristenmagnet. Jetzt herrschte Grabesstille.
Kein Dämon sollte so dumm sein, das höchste Vampirgericht während einer Sitzung anzugreifen. Dennoch überprüfte ich bei jedem Schritt die Umgebung. War die Nachricht von diesem Verfahren bis zu Dagon durchgedrungen? Vielleicht. Vampire waren genauso anfällig für Tratsch wie jede andere Spezies. Wenn Dagon tatsächlich von den Ereignissen des heutigen Abends gehört hatteund einen Überfall wagte, musste ich unbewaffnet gegen ihn kämpfen, denn als Angeklagte konnte ich wohl kaum bewaffnet vor Gericht erscheinen …
Moment, was war das? Ich verspannte mich, als ich es noch einmal hörte. Ians Stimme, sein britischer Akzent so glatt wie immer. Ihn zu hören, war eine ganz spezielle Form des Überfalls, und ich blieb stehen, um mich einen Moment zu sammeln. Du kannst das. Komm schon!
Mit eiligem Schritt setzte ich den Aufstieg fort. Ich war fast auf dem Gipfel des Bergs angekommen, als ich erneut stehen blieb, weil ich etwas noch Unwahrscheinlicheres als eine Horde Dämonen hörte. Große Götter über und unter der Erde, wurde im Rat etwa gelacht?
»… dann bin ich neben ihm gelandet, ließ den Kriegsherren zu seinen Füßen fallen und sagte: ›Ist das die Sau, nach der du suchst?‹«, sagte Ian, woraufhin erneut lautes Gelächter losbrach.
Irgendwie hatte Ian es geschafft, dass der normalerweise strenge Rat wie ein Haufen fröhlicher Trunkenbolde in einem Comedy-Club klang! Ich hatte seinen Charme unterschätzt, das war ein Fehler gewesen. Selbst bei unserem ersten Treffen, als ich Ian nur als Köder benutzt hatte, um Dagon anzulocken, hatte er mich mit seinem Charme bezirzt.
Und jetzt musste ich so tun, als würde er mir nichts bedeuten.
Als ich das Amphitheater betrat, zog Ian wie eine unsichtbare Macht meinen Blick auf sich. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, war sein Haar vom Tod weiß gewesen, und sein Gesicht hatte fast nur noch aus Knochen bestanden. Jetzt hatte sein Haar wieder diesen leuchtenden Kastanienton, und sein Profil zeigte seine makellose Alabasterhaut, den Ansatz der hohen Wangenknochen, die Linie seines markanten Kinns und einen Teil einer dunklen, geschwungenen Augenbraue.
Als ob er meinen durchdringenden Blick spürte, drehte er sich zu mir um. Ich sah weg, damit ich ihm nicht in die Augen schauen musste. Dennoch brannte sich der kurze Blick, den ich auf ihn geworfen hatte, in mein Gehirn.
Dem Anlass entsprechend war er in einen schwarzen Anzug gekleidet, der so perfekt saß, dass er maßgeschneidert sein musste. Darunter trug er ein weißes Hemd, und der komplizierte Seidenknoten am Hals wurde von einem Edelstein zusammengehalten, der dunkelrot blitzte, als er sich umdrehte. Als ich ihn so ganz, so umwerfend, so lebendig sah, wurde meine Kehle eng, meine Brust schnürte sich zusammen, und meine Augen brannten.
Erschrocken merkte ich, dass ich den Tränen nah war. Ich hatte getan, was ich konnte, um mich für diesen Moment zu wappnen, doch ein einziger Blick hatte mich bereits umgehauen.
Ich grub die Nägel in meine Handflächen, bis ich Blut spürte. Der leichte Schmerz war nicht stark, aber ich klammerte mich an ihn. Ich würde mich nicht erniedrigen, indem ich vor Ian und dem gesamten Rat heulte! Ich trug mein marineblaues Kostüm, es war elegant und dunkel – die richtige Mischung fürs Gericht. Jetzt kaschierte die dunkle Farbe das Blut in meinen Handflächen, und das Parfum, das ich aufgelegt hatte, um den Geruch meiner Gefühle zu überdecken, verbarg auch den schwachen Blutgeruch.
»Da ist sie ja endlich, meine entlaufene Braut«, sagte Ian. Ich grub die Nägel fester in meine Handflächen und atmete tief durch, um mich zu wappnen.
Großer Fehler. Sein Duft, eine Mischung aus Cognac und Karamell, verführte mich, ihn einzuatmen, bis er mich erfüllte. Ihm so nah zu sein, bedeutete, dass seine Aura mich streifte, als würde er mich mit seiner Macht berühren.
Möge mich doch irgendjemand auf der Stelle töten.
Um mich abzulenken, musterte ich die Umgebung, die ich bislang nicht beachtet hatte. Die Sitzreihen um die Bühne des Amphitheaters lenkten das silberfarbene helle Mondlicht auf uns wie zusätzliche Scheinwerfer. Die Reihen waren leer, denn die einzigen sitzenden Personen hatten auf elf Thronen in der Mitte der kreisförmigen Bühne Platz genommen. Hekima, eine der vier Frauen des Rats, nickte mir zu. Ihr grau meliertes Haar war wie üblich zu einem strengen Knoten zusammengebunden, aber ihre braunen Augen schimmerten warm. Von allen Ratsmitgliedern mochte ich sie am liebsten.
Ich lächelte Hekima an, dann nickte ich etwas förmlicher Haldam zu, dem offiziellen Sprecher des Rats. Anschließend neigte ich den Kopf vor den übrigen neun Ratsmitgliedern, ehe ich mich den anderen Personen auf der Bühne zuwandte.
Mencheres, Ians Sire, war da. Sein langes schwarzes Haar hing wie ein Seidenschal um seine Schultern, während er mich mit vorwurfsvollem Blick aus seinen tiefdunklen Augen musterte. Mach mir keine Vorwürfe, Bones ist schuld!, hätte ich gern erwidert. Ich hatte Bones gesagt, er solle auf Ian aufpassen und dafür sorgen, dass er sich unauffällig verhielt. Eine einfache Anweisung, aber mit dieser Klage hatte Ian sich quasi eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt, bevor er sich während eines Dämonenfeuerwerks mit einer Kanone abschoss.
Zumindest liebte Mencheres Ian. Das bedeutete, ich konnte auf ihn zählen. Wenn der Rat seinen Tod forderte, würde Ian sich ohne Rücksicht auf Verluste einen Weg hinauskämpfen, aber ich wollte nicht, dass dabei meine hier anwesenden Freunde verletzt wurden. Mencheres’ hervorragende Kräfte zusammen mit meinen eigenen Fähigkeiten ermöglichten es, Ian ohne Blutvergießen fortzuschaffen.
Ich wandte den Blick von Mencheres ab und sah zu Xun Guan, meiner langjährigen Freundin und ehemaligen Geliebten. Als sie von mir zu Ian schaute, verschleierte sich ihr Blick. Ich reagierte mit einem leichten Kopfschütteln. Nein, sollte diese Geste sagen. Ich ändere nicht meine Haltung, ich leugne meine Ehe.
Xun Guan hob das Kinn. Botschaft angekommen, sagte diese kaum merkliche Bewegung. Dann wandte sie sich ab und zeigte nur noch ihr hübsches Profil und ihr pechschwarzes hochgestecktes Haar.
Ich ließ den Blick weiter zu Thonos gleiten, dem offiziellen Scharfrichter des Rats. Sein widerspenstiges schwarzes Haar war zu einem Knoten zurückgebunden, offenbar hatte Thonos noch nicht mitbekommen, dass Haarknoten bei Männern nicht mehr angesagt waren. Ich nickte ihm zu, dann zuckte mein Blick zu Julius, Priscilla, Gan und Vachir. Mein unheilvolles Gefühl kehrte zurück. Der Rat hatte gelacht, aber die Dinge konnten sich mit tödlicher Geschwindigkeit ändern. Da sie sechs ihrer stärksten Gesetzeshüter hier hatten, waren sie darauf sicherlich vorbereitet.
»Ehrbare Richter«, begrüßte ich den Rat. »Wie gewünscht stehe ich Euch zur Verfügung.«
Ihre Heiterkeit erstarb. »Veritas«, sagte Haldam und strich sich über den langen weißen Bart, der zu dem schneeweißen Haar auf seinem Rücken passte. »Man hat dich darüber informiert, was uns vorgeworfen wird. Bevor wir fortfahren, müssen wir als Erstes feststellen, ob dieser Mann«, er deutete mit dem Kopf auf Ian, als müsste er mich daran erinnern, wen er meinte, »wirklich dein Ehemann ist.«
Ich wählte meine Worte mit Bedacht. »Nein, obwohl er Grund zu der Annahme hat, dass er es ist …«
»Weil ich mich zum Beispiel an die Trauung erinnere?«, warf Ian ein.
Mein Blick glitt zu Ian, als hätte er ihn auf sich gezogen. Gott, diese Augen. Der gefühlvolle Ausdruck darin stand im Widerspruch zu seinem fröhlichen und so provozierend schiefen Grinsen. Ja, es war offensichtlich, dass er mich wiedererkannte. Irgendwie erinnerte sich Ian an mich – und nicht nur an die kaltherzige Schlampe, für die er mich gehalten hatte, bevor wir uns vor Monaten zusammengetan hatten, um Dagon zu besiegen!
Ich wollte mich schon in seine Arme werfen, als mir klar wurde, wie viel fehlte. Ian mochte mich besser kennen als vorher, aber nicht so gut wie das letzte Mal, als wir zusammen gewesen waren. Ich hatte nicht vergessen, wie er mich in den letzten Momenten seines Lebens angesehen hatte. Jetzt war alles, was damals in seinem Blick gelegen hatte, fort.
Meine Hoffnung erlosch. Es hatte sich nichts geändert. Ich war immer noch ein Ziel der Dämonen, und er war nicht derselbe Ian wie der, der in meinen Armen gestorben war.
»Deine Erinnerung ist eine Wahnvorstellung, die durch eine Überdosis Red Dragon in Kombination mit einem feindlichen Zauber entstanden ist«, sagte ich und wies ihn ohne einen weiteren Blick ab. »Eine kurze Zeit, die ich unter demselben Einfluss von Drogen und Zauber stand, habe auch ich geglaubt, dass ich mit ihm verheiratet sei«, fuhr ich fort und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Rat zu. »Leider hat sich dieser Glaube als falsch erwiesen.«
»Blödsinn«, sagte Ian sanft.
Ich drehte mich nicht um, um ihn noch einmal anzusehen, aber ich war kurz davor. Was bei den sieben Höllen machte er da? Ich bot ihm seine Freiheit und sogar noch eine plausible Ausrede für diese leichtsinnige Klage. Er musste nur die Klappe halten und es schlucken!
»Wir standen unter dem Einfluss eines Zaubers«, wiederholte ich in schärferem Ton. »Man hat uns mit ihm belegt, als wir vor einigen Wochen in New York die Letzten ausgeschaltet haben, die mit Rotem Drachen dealten. Darum glaubten wir selbst, verheiratet zu sein, und darum haben wir diese falsche Überzeugung auch vor Xun Guan und ihren Vollstreckern wiederholt.«
»Warum war ich überhaupt mit dir zusammen?«, fragte Ian in diesem verdammt verführerischen Ton.
Ich biss die Zähne aufeinander, dann zwang ich mich, den Kiefer zu entspannen. »Du hast mich über einen möglichen Dealer von Rotem Drachen informiert. Ich habe deinen Verdacht bestätigt, wir wurden angegriffen, und du hast mich notgedrungen unterstützt, obwohl du Zivilist bist.«
»Ich bin zu spät gekommen, um zu helfen«, warf Xun Guan ein. »Als ich Veritas und ihrem Zivilisten begegnet bin, hatte sie den Dealer und die Quelle bereits getötet, ebenso wie einige Partner des Dealers.«
»Aber erst nachdem man mich gezwungen hat, eine große Menge Red Dragon zu trinken, um zu ihnen vorzudringen«, fügte ich hinzu. »Das zusammen mit dem Zauber, mit dem man uns, wie ich später herausfand, belegt hatte, führte zu unserem gefährlichen Geisteszustand und der falschen Annahme, wir wären verheiratet. Dank meiner vermehrten Kraft und meines Alters kehrte meine Erinnerung an die wahren Ereignisse in den nächsten Tagen zurück. Seine Erinnerung«, ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, »offenbar nicht.«
»Ian«, sagte Mencheres. »Vielleicht solltest du über diese plausible Version der Ereignisse nachdenken?«
Ian ignorierte seinen Sire. »Eine Frage an Euch, ehrbare Richter.« Er gab sich unbekümmert, doch ich hörte, dass ihm todernst war, was er sagte. »Gibt es einen Präzedenzfall von einer Vampirhochzeit, die annulliert wurde, weil beide Seiten berauscht und auf andere Weise beeinflusst waren, als sie sich das Ja-Wort gaben?«
»Es hat nie eine offizielle Annullierung einer Vampirhochzeit gegeben«, antwortete Haldam, was stimmte, auch wenn es schrecklich altmodisch und ungerecht war.
»Darüber müssen wir uns keine Sorgen machen, denn wir sind nicht verheiratet«, knurrte ich.
Er schenkte mir ein breites Grinsen, von dem ich mich nicht blenden ließ. Der Blick aus seinen türkisfarbenen Augen war haiähnlich. »Hast du eine andere Definition dafür, wenn zwei Vampire sich in die Handflächen schneiden und sich vor Zeugen das Ja-Wort geben, von denen einer mir jetzt gerade auf den Rücken starrt?«
»Wie kannst du dich daran erinnern?«, platzte ich heraus und merkte, dass Xun Guan Ian tatsächlich finster anstarrte.
»Relevanter ist, ob er die Wahrheit sagt«, bemerkte Haldam unter zustimmendem Murmeln des restlichen Rats.
Ich gab die einzig mögliche Antwort. »Wie gesagt, wir waren beide stark berauscht und durch die Wirkung des Zaubers verwirrt. Es ist nicht überraschend, dass unsere Erinnerungen differieren.«
Ian deutete auf Xun Guan. »Sie war weder betrunken noch von einem Zauber beeinträchtigt. Fragt sie, ob wir uns in jener Nacht aneinander gebunden haben.«
Wie kannst du dich daran erinnern?, schrie ich diesmal im Stillen. Er konnte sich nicht an alles erinnern. Wenn doch, würde er nicht versuchen, eine Ehe für gültig erklären zu lassen, die er keinesfalls gewollt hatte, als sie geschlossen wurde.
Haldam winkte Xun Guan heran. Sie ging zu ihm, doch ihre gebückte Haltung drückte ihren Widerwillen aus. Bitte, versuchte ich ihr mit einem kurzen Blick zu bedeuten, als sie zu mir herübersah. Bitte bestätige nicht, was er gerade gesagt hat!
»Xun Guan.« Haldams autoritäre Stimme tönte durch das Amphitheater. »Warst du Zeugin einer Trauung zwischen Veritas und dem Vampir? Oder nicht?«
Xun Guan richtete sich zu ihrer normalen Größe auf. Meine Hoffnung sank. Vielleicht hätte ich sie dazu bringen können zu »vergessen«, was sie gesehen hatte, solange sie nur schweigen musste, aber den Rat anlügen? Das würde sie selbst dann nicht tun, wenn sie glaubte, ich habe einen schrecklichen Fehler begangen, weil ich betrunken war und unter dem Einfluss eines Zaubers stand. Xun Guan liebte mich, aber noch mehr liebte sie das Gesetz. Das war immer schon so gewesen. Darum hatte ich ihr niemals meine Geheimnisse anvertraut.
»Ja«, sagte Xun Guan mit fester, wenn auch angespannter Stimme. »Ja, das war ich, ehrbare Richter.«