Nightfall Sonata - Emilia Cole - E-Book

Nightfall Sonata E-Book

Emilia Cole

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Beschreibung

Er ist der Bass zu meinem Song, die Pause zwischen den Tönen, die Intensität jeder Note.

Um meinem schwerkranken Bruder zu helfen, wollte ich jemanden bestehlen - ein folgenschwerer Fehler.
Ich dachte, mein Leben wäre vorbei.

Doch dann war da Brad.
Mit jedem Tag schlich er sich tiefer in mein Herz, raubte mehr und mehr meiner Töne und machte sie zu unseren.
Wie eine stille Sonate.


In sich abgeschlossen, kein Cliffhanger

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Inhalt

Inhalt

Impressum

Chronologische Übersicht Maybe-Adagio

Sonate, die

1. Satz

Schwedische Gardinen

Visionär und Virtuose

Sonntag ist heilig

Zufälle

Supermegatolles Liebesleben

Bienen und Blumen

Weiße Rosen

Alter, geiler Bock

Niemals allein

Vernissage

Schmerzhafte Erkenntnis

2. Satz

Übernachtungsparty

Nein … oder Ja?

Schwarze Rosen

Schnitzeljagd

Ich will bei dir sein

Der Hottie und die Liebe

Der Bass in meinem Herzen

3. Satz

Nightfall Sonata

Gefeuert

Wahrheiten

Tiefe Risse

4. Satz

Was sind wir?

Wenn Dinge zerbrechen

Ich liebe dich …

…doch ich lasse dich gehen

Ohne dich und mit dir

Heimkehr

Nachwort / Dank

 

Impressum

© 2023 Rinoa Verlag

c/o Emilia Cole

Pater-Delp-Straße 20

47608 Geldern

 

ISBN: 978-3-910653-14-6

 

www.rinoaverlag.de

www.emilia-cole.de

 

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeit zu lebenden Personen ist rein zufällig.

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Chronologische Übersicht Maybe-Adagio

Maybe Next Time (Maybe 1)

Light Serenade (Adagio 1)

Maybe Tomorrow (Maybe 2)

Tomorrow comes Today (Maybe 3)

Nightfall Sonata (Adagio 2)

Maybe: Valentines Edition (Maybe Special)

Maybe Forever (Maybe 4)

Maybe This Day (Maybe 5)

Midnight Symphony (Adagio 3)

Maybe Always (Maybe 6)

 

 

 

 

 

Hear me sing

Swim to me, swim to me

Let me enfold you

Oh my heart, oh my heart

Is waiting to hold you

 

 

Song To The Siren von Tim Buckley

Sonate, die

Substantiv, feminin

[zoˈnaːtə]

 

 

zyklisch angelegte Instrumentalkomposition mit meist mehreren Sätzen in kleiner oder solistischer Besetzung

1. Satz

Das Flüstern der Musik

Schwedische Gardinen

Ausgebrannt.

Wenn ich so darüber nachdachte, beschrieb dieses Wort mein Leben ziemlich gut. Alles, was ich besessen hatte, jeder Cent, den ich derzeit einnahm, floss in die Hände meines Bruders. Nicht, weil ich ihm Geld schuldete, sondern weil seine Therapie teuer war und uns die Haare vom Kopf fraß.

Und weil mein Bruder und ich auf der Straße landen würden, falls das so weiter ging, hatte ich mich auf diese Feier in dieses edle Penthouse geschleust.

Allein der offene Raum mit der schwarzen Hochglanzküche war doppelt so groß wie unsere gesamte Wohnung. Das Wohnzimmer imponierte mit einer Glasfront, durch die man über Teile Manhattans und den Central Park sehen konnte.

Gigantische abstrakte, schwarz-weiße Gemälde zierten die Betonwände, und auf einem Podest vor der Scheibe stand ein Steinway. Ein Konzertflügel, der mindestens einhunderttausend Dollar gekostet hatte.

Eine Bekannte von mir, Carol, hatte eine Catering-Aushilfe gesucht, weil eine Mitarbeiterin krank war. Ich hatte keine Erfahrung darin, hatte ihr aber einfach eine Lüge aufgetischt und behauptet, ich hätte bereits gekellnert. Der Job wurde halbwegs ordentlich vergütet, sodass Lucas und ich immerhin die nächsten Tage überstanden.

Um mich herum hielt sich die Creme de la Creme der Schickimickigesellschaft auf. Ein Streichquartett spielte im Hintergrund irgendwelche lahmen klassischen Stücke, alle Gäste waren piekfein angezogen. Nicht eine Krawatte war schief gebunden, nicht eine Haarsträhne verrutscht.

Und ich stand hier mit dem Silbertablett, auf dem Horsd'œuvre nett angerichtet waren, und überlegte, ob es auffiel, wenn ich das Tablett mitgehen ließ.

Für diesen Anlass hatte ich mir sogar einen Hosenanzug bei einer Freundin geliehen. Er saß nicht so richtig, weil ich dünner war, aber immerhin waren wir in etwa gleich groß.

Carol kam zu mir. »Hast du Mr Cunningham schon gesehen, Melody?« Suchend ließ sie ihren Blick über die Gäste schweifen.

»Wen?«

»Na, den Hausbesitzer und Gastgeber.«

»Ach so … nicht wirklich. Ich weiß nicht einmal, wie er aussieht.«

Sie beugte sich weiter zu mir und senkte die Stimme. »Er soll heiß sein. Und Single.«

Vermutlich war er nur so heiß, weil er Millionen auf dem Konto hatte.

Ich unterdrückte ein Lachen. »Was hast du vor? Willst du dich an einen millionenschweren, alten Mann ranmachen? Der lacht dich doch aus.«

Das wäre dann wohl das Paradebeispiel vom Austausch: Attraktivität gegen sozialen Status.

Sie zuckte die Schultern und wackelte mit den Brauen. »Du glaubst doch nicht, dass ich dieses Teil hier umsonst angezogen habe.« Sie deutete über ihren roten Einteiler, der am Rücken tiefe Einblicke gewährte. Auffallen tat sie damit allemal. »Was meinst du, wie oft man die Chance hat, so einen Mann kennenzulernen?«

»Ehrlich gesagt will ich so jemanden gar nicht kennenlernen«, murmelte ich argwöhnisch. »Diese Kerle sind alle gleich und glauben, dass man alles kaufen kann. Nein danke, da verzichte ich freiwillig.«

Und deswegen war Carol auch nur eine Bekannte und keine Freundin. Ich teilte ihre Ansichten nicht. Wenn ich ehrlich war, fand ich ihre Oberflächlichkeit sogar abstoßend.

Sie schnalzte mit der Zunge und verzog sich endlich wieder.

Nach und nach leerte sich das Tablett und ich lächelte und nickte jedem Gast freundlich zu. Obwohl ich den Frauen gerne ihre Nerzschals von den Schultern gerissen hätte. Wie konnte man nur echtes Fell tragen? Wie konnte man die Pelzindustrie unterstützen?

Aber klar, wenn man so viel Geld hatte, interessierte einen sowieso nichts.

Außer vielleicht das nächste Polospiel.

Oder das nächste Pferderennen, bei denen die armen Tiere mit Drogen vollgepumpt wurden und sich beim Rennen die Beine brachen.

Ich zwang mich, nicht weiter darüber nachzudenken, sonst würde ich wirklich jemanden an die Gurgel gehen.

Als das dämliche Tablett endlich leer war, eilte ich damit in die Küche und suchte meine Tasche zwischen dem ganzen Kram, den die Firma mitgebracht hatte. Mit einem prüfenden Blick hinter mich ließ ich das Tablett darin verschwinden.

Zurück im Wohnbereich ertönte eine Stimme zwischen den Gästen, nachdem es still geworden war. »Vielen Dank für die Einladung«, sagte eine Frau. Ich versuchte, an den Menschen vorbeizusehen, doch erkannte nur ihre Schuhe. War ohnehin egal.

Vom Wohnzimmer ging ein Flur ab, dessen gläserne Flügeltüren weit geöffnet waren. Während die Frau weiter vor sich hin brabbelte, schlich ich hinüber.

Alle achteten auf sie, perfekt.

Als ich gerade im Flur verschwinden wollte, hielt das dunkle Timbre einer Männerstimme mich allerdings auf. »Es ist wie immer eine Ehre für mich, die Spendengala für Sie zu organisieren …«

Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf.

Seine Stimme war einnehmend und präsent.

Ob das dieser Cunningham war?

Egal, ich würde es nie herausfinden.

Er redete weiter und schwadronierte über die Spenden und allen möglichen Quatsch, während ich innerlich die Augen verdrehte.

Ich schlich rückwärts in den Flur und lief dann an einigen Türen vorbei. Hier würde ich sicherlich irgendetwas finden, das ich verkaufen konnte. Dieser Schwerreiche würde es ohnehin nicht bemerken, wenn etwas fehlte.

Ich drückte die letzte Tür im Gang auf und gelangte in ein Schlafzimmer. Leise schloss ich sie hinter mir und ging durch den großzügigen Raum, der ebenfalls zur Fensterfront hin ausgerichtet war.

Zugegeben, dieses Penthouse war beeindruckend und die Morgensonne über dem Central Park aufgehen zu sehen war vermutlich atemberaubend.

Ein Hauch von einem Parfum hing in der Luft. Irgendwie herb und kräftig und doch stach eine dezent süße Note heraus.

Das Bett war gigantisch und ich strich im Vorbeigehen mit den Fingerspitzen über den graugrünen Seidenbezug. Selbst der Bettbezug war teurer als unsere wöchentliche Miete.

Was für eine Dekadenz.

Wenn ich bedachte, dass ich auf einem ausrangierten Futon einer Bekannten schlief und mein Bruder auf der Couch im Wohnzimmer, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

Und dieser Mann hatte so viel, dass er vermutlich gar nicht mehr wusste, was er alles mit seinem Geld anstellen sollte.

Der Reichtum dieser Welt war wirklich ungerecht verteilt.

Allerdings stand sonst nicht sehr viel in dem Raum. Wenige impressionistische Gemälde in silbernen Rahmen zierten die Betonwände, von denen zwei weitere Türen abgingen. Vermutlich das Ankleidezimmer und das Bad.

Ich sah mich wieder zu den Bildern um und ging auf ein bestimmtes zu. Er hatte ernsthaft einen Monet hier hängen?

Das war doch ein Witz.

Keine Ahnung, ob das Bild echt war.

Fasziniert lehnte ich mich vor und sah über die Pinselstriche, die tausende kleine Erhebungen bildeten. Es war eindeutig gemalt und kein Kunstdruck. Ich wollte es berühren, hielt mich aber im letzten Moment davon ab, weil ich es nicht beschädigen wollte.

Voller Ehrfurcht wich ich zurück und sah es mir noch einmal aus sicherer Entfernung an.

Von Kunst hatte ich nicht besonders viel Ahnung, aber die Bilder mit den Seerosen von Monet waren mir natürlich ein Begriff. Nymphéas en fleur hieß dieses hier, soweit ich mich recht erinnerte. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Rockefeller es für schlappe 85 Millionen verkauft hatte, aber der Käufer unbekannt geblieben war.

Halleluja.

Stand ich gerade ernsthaft vor einem originalen Monet, der nicht gesichert war?

Vielleicht klaute ich das Bild?

Ich lachte leise, weil es besonders unauffällig wäre, würde ich hier mit diesem riesigen Gemälde herausspazieren.

Lediglich eine lange Kommode säumte die Wand gegenüber dem Bett und ich zog die oberste Schublade ganz rechts auf. Manschettenknöpfe soweit das Auge reichte. Sie waren fein säuberlich in entsprechende Halterungen sortiert. Ich hatte nicht gewusst, dass es so etwas für diese Dinger gab.

Ich öffnete die Schublade daneben.

Jackpot.

Mindestens zehn Rolex.

Ich warf noch einen Blick zur Tür und nahm die mit dem roten Zifferblatt heraus, da sie mir ins Auge stach. Die würde er kaum vermissen. Gut, da wo die Uhr gestanden hatte, war nun eine freie Stelle, aber dieser Kerl konnte sich vermutlich direkt hundert neue Uhren leisten. Und ich benötigte sie für einen guten Zweck.

Heute war ich sozusagen mein eigener Robin Hood.

Ich hob die Uhr behutsam aus der Halterung und sah sie an. Mit dem Finger tippte ich leicht dagegen, weil sie nicht lief. War sie kaputt? Mit einem Kopfschütteln ließ ich sie in der Anzugtasche verschwinden.

Es war nicht das erste Mal, dass ich lange Finger hatte, dennoch war das hier eine Premiere. Sonst klaute ich nur kleine Dinge im Supermarkt, wenn das Geld mal wieder nicht reichte.

Allerdings brauchte ich eine Lösung für Lucas‘ und mein Problem und die Uhr war es definitiv.

Mit hämmerndem Herzen durchquerte ich das Schlafzimmer und gerade als ich die Tür öffnen wollte, wurde sie mir ins Gesicht geknallt.

Ich stürzte nach hinten und hielt mir die Stirn.

Mein Schädel dröhnte und auf einmal wurde ich auf die Beine gerissen. Ich stöhnte und sah einem großen und breiten Kerl in die kühlen, braunen Augen. Er war einer der Securitys.

Mein Puls schoss hoch.

»Was tun Sie hier, Lady?«, fragte er finster und sein Blick zuckte hinter mich.

»Ich habe mich verlaufen«, sagte ich hastig und bei einem Schulterblick fiel mir auf, dass ich die Schublade nicht wieder geschlossen hatte.

Ich versuchte mich loszureißen, aber hatte natürlich keine Chance. Der Kerl zog mich unter Protest durch den Flur und natürlich verstummten die Gespräche im Wohnzimmer. Carol sah mich missbilligend an und der Typ schleifte mich weiter über die Treppe zur Galerie und dann zum Fahrstuhl. Ich war damit beschäftigt, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Als die Türen sich schlossen, ließ er mich endlich los.

»Herrgott, Sie zerknittern meinen Blazer.«

»Ich bringe sie auf die Wache, Sir«, sagte er durch sein Headset.

Verdammte Scheiße.

Nicht schon wieder.

Die Fahrt verbrachte ich auf dem Rücksitz eines gepanzerten Chevrolets. Solche gesicherten Autos hatte ich bis dato nur als Flotte auf der Straße gesehen.

»Ist das der Wagen von Ihrem Boss?«, fragte ich den Anzugtypen neben mir. Er antwortete mir nicht also schaute ich mich weiter um. Die Sitze waren aus hellbraunem Leder und uns gegenüber war eine Minibar.

Vermutlich war die Minibar mehr wert als das gesamte Haus, in dem mein Bruder und ich die Wohnung angemietet hatten.

Hiermit fuhr ziemlich sicher dieser Cunningham mit durch die Gegend. Na ja, immerhin hatte ich einmal in meinem Leben die Möglichkeit, mich ein klein wenig abgehoben zu fühlen.

Und war es nur auf dem Weg zum nächsten Revier.

Mit Stil zur Wache. Das gefiel mir.

 

 

Auf der Wache wurde ich von einem alten Bekannten begrüßt. »Was für eine Überraschung«, sagte der ätzende Cop und packte mich grob am Arm. Er zerrte mich an den Tischen vorbei in den Verhörraum, drückte mich auf den Stuhl und band mich wie einen Köter mit den Handschellen am Tisch fest.

Dann war ich eine Weile allein.

Die Uhr hatte mir der Security-Typ längst abgenommen, er hatte mich gründlich durchsucht, dieser Arsch. Ich ließ meinen Kopf auf den Tisch sinken. Mit der Rolex hätte ich uns bestimmt ein halbes Jahr über Wasser halten können. Wäre ich nur nicht so doof gewesen und hätte die Schublade offengelassen.

Die Tür ging auf und ich richtete mich ruckartig auf, als Chief Summers den Raum betrat. Er warf meine beachtliche Akte auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber.

»Melody, was machen wir nur mit dir?«

Ich hob die Hände, bis die Handschellen mich stoppten, und sah ihn mit einem zuckersüßen Lächeln an. »So tun, als wäre nichts passiert? Dieser Kerl hat seine Uhr zurück, oder?«

Er rieb mit Zeigefinger und Daumen über seinen ergrauten Schnäuzer. »Das ist nicht so leicht. Wenn Mr Cunningham Anzeige erstattet, kommst du mehrere Jahre ins Gefängnis.«

Wie bitte?

Erschrocken drückte ich den Rücken durch.

»Können Sie nicht mit ihm sprechen, Sir?«, flehte ich leise und sah zwischen seinen von Falten umringten Augen hin und her. »Das war ein Versehen … ich entschuldige mich bei ihm. Ich kann nicht in den Knast gehen«, wisperte ich und presste mir eine Träne heraus. Das zog eigentlich immer.

Bis jetzt war ich immer glimpflich davongekommen. Der Chief hatte sich häufig für mich eingesetzt, weil er mich aus irgendeinem Grund mochte. Vielleicht hatte er auch einfach Mitleid.

Summers schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dieses Mal sind mir die Hände gebunden.«

In meiner Brust drückte und spannte es.

Es war so unfair, dass dieser Cunningham über mich entscheiden konnte. Was war das für ein System?

»Bitte«, wisperte ich erneut und wischte mir mit der Hand umständlich die Tränen von der Wange.

Er stand wortlos auf und verschwand wieder, während ich erschlagen gegen die verspiegelte Scheibe starrte.

Das ging nicht.

Ich konnte nicht in den Knast.

Ich musste mich um Lucas kümmern.

Nach einer Weile ließ ich die Stirn auf den Tisch sinken und klopfte immer wieder auf das Metall.

Ich hob den Kopf ruckartig, als die Tür erneut aufging und ein Mann im Anzug in den Raum trat. Sofort schienen die Wände sich statisch aufzuladen. Es fühlte sich an, als wäre für seine Aura nicht genug Platz, als würden die Wände zu zittern beginnen und jede Sekunde einfach auseinandergesprengt.

Automatisch hielt ich die Luft an.

Durch dunkle, blaue Augen schaute er mich an.

Intensiv.

Einschüchternd.

Seine Haare waren akkurat geschnitten, an den Seiten bereits ergraut und auch sein ebenso perfekt gestutzter kurzer Vollbart hatte zu den Ohren hin graue Ansätze. Um seine Augen zeichneten sich Krähenfüße ab und auch auf der Stirn zogen sich zwei deutliche Spuren des Lebens entlang. Zwischen den Augenbrauen entstand in diesem Moment eine steile Falte, weil er sie leicht zusammenzog.

Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig.

Er trug einen tiefblauen Nadelstreifenanzug, der seine Augen unglaublich gut betonte, und seine Krawatte saß perfekt.

Seine Haltung duldete keinerlei Widerspruch.

Er zog das Jackett aus und hängte es über den Stuhl. Darunter trug er noch eine passende Weste. Dann krempelte er die Ärmel des Hemds ein wenig hoch und an seinem linken Handgelenk kam die Uhr zum Vorschein, die noch vor etwa einer halben Stunde in meiner Tasche gesteckt hatte.

Mit einem lauten Ausatmen sank ich in mich zusammen.

Er setzte sich mir gegenüber, verschränkte die Finger unter dem Kinn und dann sah er mich an.

Es kostete mich meine gesamte Kraft, seinen erdrückenden Blick zu erwidern.

Er war … angsteinflößend. Nein, das war nicht das richtige Wort - es war Erhabenheit, die er ausstrahlte.

Er schlug den Ordner auf, der noch auf dem Tisch lag, schloss ihn wieder und sah zurück in meine Augen.

»Miss Seol.« Seine Stimme war tief, beinahe wie die unterste Saite meines Basses.

Ich versuchte zu verstehen, was er in mir auslöste.

Mein Nacken kribbelte.

Mein Herz hämmerte wie verrückt.

»Mr Cunningham«, gab ich schwach zurück.

Er drehte die Rolex leicht an seinem Unterarm hin und her, wodurch meine Aufmerksamkeit drauf gelenkt wurde. Allerdings nicht auf die Uhr, sondern auf die sichtbaren Muskeln unter seiner Haut, auf die dunklen Härchen und die dezente Bräune.

»Das ist eine Rolex Daytona«, sagte er, als würde das irgendetwas erklären. »Sie haben einen guten Geschmack, Miss.«

»Sie sollten das Uhrwerk reparieren lassen.«

Er zog eine Braue hoch und stieß ein ganz leises Lachen aus. »Sie haben sich die teuerste Uhr aus meinem Schrank geholt.«

»Und wenn schon«, sagte ich leise. »Sie können sich hunderte davon neu kaufen.«

»Sie ist limitiert auf zweiundzwanzig Stück.«

Wie dramatisch.

»Es ist nur eine Uhr«, gab ich bissig zurück.

»Ich habe zweihundertsechszigtausend Dollar dafür bezahlt.«

So viel Geld.

Für eine verfluchte Uhr.

»Es ist nur eine Uhr«, sagte ich wieder. »Wie kann man sein Geld nur für so etwas Nutzloses ausgeben?«

»Nun, was würden Sie denn damit machen?«

»Ich würde meinem Bruder helfen. Ich würde anderen Menschen helfen. Aber was wissen Sie schon vom Elend hier in der Stadt? Sie sitzen auf ihrem Thron voller Gold und schauen auf uns herab.«

»Kommen Sie aus Korea?«, fragte er.

»Ich komme aus New York«, antwortete ich angefressen. »Meine Eltern kommen gebürtig aus Südkorea, ja, aber ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

Mit einem Blick deutete er auf meinen Hosenanzug. »Der ist Ihnen zu groß.«

»Ich weiß, ich konnte mir in dieser Woche leider keine Änderungen mehr leisten«, spottete ich.

»Miss Seol, ich begrüße einen angemessenen Umgangston.«

»Wissen Sie, was ich begrüße? Meine Ruhe. War das angemessen genug?«

Er beugte sich leicht über den Tisch und mich umfing der Hauch seines herben Parfums, das auch im Schlafzimmer gehangen hatte. Er roch wie er aussah.

Roh.

Einnehmend.

Unglaublich gut.

Carol hatte nicht übertrieben, als sie gesagt hatte, Cunningham sei sexy.

Herrgott, er war etwa doppelt so alt wie ich und zudem noch in der Position, mich in den Knast zu verfrachten.

Und ich dachte nur daran, wie gut er aussah?

Langsam zweifelte ich wirklich an meinem Verstand.

»Sie habe zwei Möglichkeiten«, erklärte er und sah mir wieder direkt in die Augen. Aber seine Augen waren … intensiv. Ich hatte Probleme, mich auf seine Worte zu konzentrieren. »Sie können ins Gefängnis gehen oder Sie tun etwas für mich.«

Einige Male blinzelte ich. »Etwas für Sie tun? Ich bin keine Nutte, Sie Vollarsch!« Was dachte er sich denn bitte?

»Sie sollen für mich arbeiten«, hängte er ruhig dran.

»Wieso soll ich bitte für Sie arbeiten?« Weshalb tauchte er hier auf und bot mir so etwas an, nachdem ich ihn bestohlen hatte?

»Ich zahle Ihnen fünftausend Dollar pro Woche.«

»Fünf…?« Das meinte er doch nicht ernst? »Verarschen Sie mich? Bin ich eine Art gemeinnütziges Projekt für Sie, damit sie bei Ihren Schickimickifreunden gut dastehen, indem sie eine arme Seele aus der Gosse holen?«

Sein Blick wurde ausdruckslos. »Sie haben die Wahl. Fünftausend oder Gefängnis.«

Eine Wahl konnte man das ja nicht gerade nennen …

»Was soll ich für Sie tun?«

»Ich benötige eine neue Haushaltshilfe.«

»Das ist alles?«

Er nickte. »Das ist alles.«

So wirklich geheuer war mir das nicht. »Sicher?«

Erneut nickte er. »Sicher.«

»Keine versteckten Klauseln?«

»Möchten Sie einen Vertrag haben, Miss Seol?« Irgendwie gefiel es mir, wie er mich Miss nannte. Bei ihm klang es so vornehm und auch ehrfürchtig.

»Wenn ich Ja sage, erlösen Sie mich dann endlich von den Handschellen?« Ich streckte die Hände so weit es ging zu ihm und wackelte mir den Fingern.

Cunningham machte eine Geste in Richtung der Scheibe und wenige Sekunden später ging die Tür auf und mein bester Freund, der ätzende Cop, kam mit dem Schlüssel herein. War ja klar, dass er sich mein Elend hinter der verspiegelten Scheibe ansah. Er löste die Handschellen und ich ließ meine Hände kreisen, wonach er zum Glück wortlos verschwand.

»Wenn Sie für mich arbeiten, sollten Sie sich vernünftig kleiden«, erklärte Cunningham.

»Zweifeln Sie etwa an meinem Geschmack? Schließlich habe ich als Lady Langfinger einen guten Griff gelandet«, zog ich ihn auf.

»Tue ich.«

Humor hatte er definitiv nicht.

»Ich denke, ich gehe freiwillig in den Knast.«

»Ich gebe Mrs Donovan Bescheid und sage ihr, dass Sie vorbeikommen. Sie wird Ihnen etwas Passendes heraussuchen. Montag ist Ihr erster Tag.«

Okay, ich war schon eingestellt?

Er nahm den Kugelschreiber auf, der auf dem Tisch lag und schrieb eine Adresse auf ein Stück Papier, das er einfach aus der Akte zog. Den Zettel schob er über den Tisch zu mir.

Vollkommen überfordert starrte ich Cunningham an und er krempelte wieder an seinen Ärmeln herum, um sie danach an den Handgelenken zuzuknöpfen. Dabei beobachtete ich die Bewegungen seiner Finger ganz genau.

An einer Hand hatte er einen leichten Abdruck am Ringfinger. Er war also verheiratet gewesen und die Trennung schien noch nicht sehr lange zurückzuliegen.

»Meine Adresse kennen Sie bereits, Montag um neun stellen Sie sich bitte vor.«

»Ein Vorstellungsgespräch?«

»Das bedeutet, dass Sie sich bei meinem Portier in der Lobby anmelden.« Er klang dabei, als wäre ich dämlich. Von mir aus sollte er mich für dumm halten, es war in der Regel von Vorteil, wenn man unterschätzt wurde. »Ich werde außer Haus sein, er wird Ihnen alles erklären.«

Damit griff er sein Jackett und ließ mich im Verhörraum zurück.

Überfordert.

Verwirrt.

Der Chief hielt die Tür weiter auf. »Na los, Melody, geh schon.« Langsam stand ich auf, nahm das Stück Papier mit der Adresse, und durchquerte den Raum, wobei Summers mir ein schiefes Lächeln zuwarf. »Du bist ein ganz schöner Glückspilz.« Er reichte mir meine Tasche, die ich zögerlich ergriff.

Wenn ich ehrlich war, war ich mir da nicht sicher. Was da eben mit Cunningham passiert war, war unnormal und ich wurde den Gedanken nicht los, dass ich aus der Nummer so schnell nicht mehr herauskam.

Visionär und Virtuose

Den Weg bis nach Brooklyn legte ich mit der Metro zurück und vermisste die gemütlichen Polster des Chevys schon ein bisschen. Ich konnte gerade sogar verstehen, dass man sich lieber damit herumkutschieren ließ.

Dekadenz hin oder her.

In meinem Abteil stank es nach Frittiertem, einige Jugendliche pöbelten sich an und neben mir saß eine alte Frau, die dringend eine Dusche benötigte. Vielleicht war es auch sie, die nach Imbiss roch.

Ich durchsuchte meine große Tasche, aber natürlich hatten sie das Silbertablett herausgeholt. Verdammt. Jetzt kam ich mit vorerst völlig leeren Händen nach Hause. Was das mit diesem Job zu bedeuten hatte, wusste ich noch nicht.

Irgendwie fühlte ich mich ziemlich verarscht.

Das meinte dieser Cunningham niemals ernst.

Als ich endlich aus der Bahn ausstieg, atmete ich die stickige Luft im Untergrund dennoch dankbar ein. Ich eilte durch die Gänge und kam nach mehreren Minuten auf Brooklyns Gehwegen an.

Das Haus, in dem Lucas und ich wohnten, lag nur wenige Gehminuten von der Station entfernt und als ich den kleinen Metallzaun vor dem Gebäude von weitem sah, ging ich schneller.

Ich war aufgedreht und kribbelig.

Die ganze Zeit spukte mir Mr Cunninghams Blick, seine Dominanz, im Kopf herum.

Dieser ganze Mann.

Ich nahm die drei Stufen, schloss die Tür auf und durchquerte den schmalen Flur, auf dem zwei Wohnungen lagen.

Endlich in meinem trauten Heim angelangt, wurde ich von zwei neugierigen Augenpaaren begrüßt. Lucas und seine Freundin Emma saßen auf der alten Schlafcouch und aßen etwas vom Asiaten gegenüber. Der ganze Tisch stand voll von den weißen Verpackungen mit dem roten Aufdruck. Der Geruch des Essens erfüllte den vollgestopften und engen Raum.

Lucas war mir sehr ähnlich und hatte ebenso braune Augen und dunkelbraune Haare. Emma hingegen hatte weißblondes Haar und graue Augen. Ich fand sie furchtbar süß zusammen und ein gutes Beispiel dafür, dass Gegensätze sich anzogen. Zumindest optisch.

Ich warf die Tasche auf den Sessel und kniete mich vor den Tisch, zog wahllos eine der Schachteln heran und schob mir mit den Stäbchen Nudeln in den Mund.

Genüsslich stöhnte ich.

»Solltest du nicht bis spät abends arbeiten?«, fragte Lucas, der in der Bewegung innehielt.

Ich deutete mit den Stäbchen auf die Verpackung.

Sie tauschten einen Blick aus. »Ist irgendetwas passiert?«, hakte Emma nach.

Wieder deutete ich nur auf die Verpackung.

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Was hast du angestellt?«

Ich schluckte runter. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Schwesterchen«, sagte er streng und ich stöhnte.

»Möglicherweise wollte ich uns eine Finanzspritze besorgen.« Mit den Stäbchen stocherte ich im Essen herum.

Lucas fiel sichtbar alles aus dem Gesicht. »Du wolltest den Typen bestehlen?«

Ich hob die Stäbchen als Zeigefingerverlängerung. »Ich habe ihn bestohlen.«

Emma schnappte nach Luft.

»Und wurde leider erwischt«, murmelte ich mit einem Schulterzucken. »Aber es war schön, Chief Summers mal wiederzusehen.«

»Melly?!«, stieß Lucas aus. »Was denkst du dir dabei?«

»Ich wollte uns helfen. Sieh dich hier doch mal um, das ist kein Zustand mehr. Vor dem Fenster hängt ein alter Teppich von dir, Luc. Wir haben keine Gardinen!« Dabei machte ich eine ausladende Geste durch den Raum. Nicht einmal alle Kartons konnten wir auspacken, weil wir in diesem Loch hausten. »Mit den einhundertfünfzig Dollar von Carol wären wir vielleicht drei oder vier Tage über die Runden gekommen.«

»Die du natürlich nicht bekommen hast«, sagte Lucas trocken.

»Wieso bist du jetzt hier?«, warf Emma ein.

»Vielleicht hat Cunningham mich im Verhörraum besucht«, antwortete ich verlegen.

Lucas überlegte einen Moment. »Warte, das ist der Typ, bei dem ihr gekellnert habt, oder? Dieser Schwerreiche.«

Ich nickte und Emma zog den alten Laptop, alias den Knochen, unter meiner Tasche vom Sessel hervor und klappte ihn auf. »Cunningham?«, hakte sie nach und tippte auf der Tastatur herum.

»Japp«, gab ich zurück und bediente mich wieder an den Nudeln.

»Er ist irgendwie sexy«, sagte sie nach einigen Sekunden.

»Hm-mh«, stimmte ich mit vollem Mund zu.

Lucas rutschte ein wenig unbeholfen zu seiner Freundin, was ich skeptisch beobachtete. Er hatte bei Bewegungen noch immer starke Schmerzen, das sah ich ihm an. Aber das würde er natürlich nie zugeben.

Er deutete darauf. »Er ist eintausend Jahre alt«, meckerte er Emma an, die sich ein Lachen verkniff.

»Hier steht, er ist sechsundvierzig«, las sie vor. »Er hat auch im September Geburtstag. Drei Tage vor dir«, sagte sie in meine Richtung mit einem Augenbrauenwackeln.

»Wow, wir können zusammen lahme Dinnerpartys feiern. Ein Traum wird wahr.«

»Und er besitzt mehrere Hotelketten, ein Label sowie Anteile an allen möglichen Firmen«, murmelte sie.

»Scroll noch einmal runter«, forderte Lucas. Sie schauten beide auf den Bildschirm und hoben zeitgleich den Blick.

»Was?«, nuschelte ich mit vollem Mund. Einige Nudeln fielen herunter, die ich gekonnt mit der Packung auffing.

»Weißt du, auf wie viel sein Vermögen geschätzt wird?«, wollte Lucas wissen, woraufhin ich nur mit dem Kopf schütteln konnte. »Knapp fünf Milliarden Dollar.«

Alle Nudeln fielen aus meinem Mund zurück in die Schachtel und ich hustete einmal und räusperte mich. »Heilige Scheiße. Dann war der Monet in seinem Schlafzimmer ziemlich sicher echt.«

Wieso zum Teufel hatte er mir den Job angeboten? Er konnte sich vermutlich jede Haushaltshilfe der Welt leisten.

Wieso ich?

»Er hat einen Monet?«, fragte Lucas und beugte sich danach etwas vor. »Warum warst du denn in seinem Schlafzimmer?«, hängte er verärgert dran.

Ich verdrehte übertrieben die Augen. »Ähm … weil ich ihn gebumst habe?« Lucas wich die Farbe aus dem Gesicht. »Das glaubst du mir doch nicht ernsthaft?« Mein Bruder konnte eine Knalltüte sein. »Ich habe eine Rolex von ihm geklaut.«

Daraufhin kniff er die Finger in die Nasenwurzel. »Um Gottes willen, Mel.«

»Du hättest das Bild von Monet klauen sollen«, witzelte Emma.

»Daran dachte ich auch, als ich davor stand.« Mit den Stäbchen tippte ich gegen meine geschürzten Lippen.

»Nochmal«, sagte Emma, »wieso bist du wieder hier, wenn du ihn bestehlen wolltest und sogar erwischt wurdest?«

Ich legte die Stäbchen auf den Tisch und stellte auch die Packung ab. »Er hat mir einen Job angeboten.«

»Was?« Lucas runzelte die Stirn.

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, sprach Emma aus, was auch ich mir die ganze Zeit dachte.

»Verarschst du uns?« Lucas wieder.

»Das habe ich ihn auch gefragt«, antwortete ich. »Er kam zu mir und hat gesagt, ich könnte mich entscheiden ob ich in den Knast gehe oder für ihn arbeite.« Sie starrten mich an, als würde mir ein zweiter Kopf wachsen. Mit den Fingern tippte ich auf den Tischrand. »Er zahlt mir fünftausend Dollar pro Woche.«

Beiden klappte der Mund auf.

Lucas hob die Hände. »Du sollst aber nur für ihn arbeiten, oder?« Er riss die Augen auf und deutete auf mich. »Wenn er dich betatscht, schlage ich ihn windelweich!«

Ich lachte unterdrückt. »Er machte nicht den Eindruck, in irgendeiner Weise daran interessiert zu sein, mich betatschen zu wollen.« Kopfschüttelnd stützte ich die Hände hinter mir auf dem Boden ab und setzte mich in einen Schneidersitz. »Er hat bestimmt an jedem Finger eine Frau, die er hin und wieder flachlegt. Was soll er mit mir?«

Schließlich hatte ich keinen Sex.

Zumindest derzeit nicht. Die Sache mit meinem verrückten Exfreund war eine Weile her. Zudem war Cunningham viel älter als ich, was könnte ich einem solchen Mann im Bett bieten? Dachte ich echt an Sex mit diesem Cunningham? Diesem Kerl, der vierundzwanzig Jahre älter war als ich?

Mir war nicht mehr zu helfen.

Lucas runzelte die Stirn und wir musterten uns einen Augenblick still. Es waren diese Blicke, mit denen wir uns gegenseitig Fragen stellten.

Er fragte mich, ob ich das durchziehen wollte.

Ich fragte ihn, ob es in Ordnung für ihn wäre.

»Du solltest es wenigstens versuchen«, sagte er nach wenigen Sekunden. »Wenn es dir nicht gefällt, hörst du ganz einfach wieder auf.«

»Eventuell gehe ich lieber in den Knast.«

Emma lachte darüber.

Ich beugte mich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Wenn ich zwei Monate durchhalte, kann ich vielleicht kündigen und wir haben genug, um uns Monatelang über Wasser zu halten. Wir können dann deine Medikamente und die Physio zahlen.«

Emma lächelte Lucas aufmunternd an. Der wiederum drückte seine Hand an die Hüfte, als würde ihm allein das Gespräch darüber die Schmerzen in die Knochen treiben.

»Dann bist du bald auf den Beinen, Luc«, wandte sich Emma an ihn.

»Das wäre auf jeden Fall hilfreich.«

Seit fast fünf Monaten taten Emma und ich so gut wie alles für Lucas, weil er einen Motorradunfall gehabt hatte. Seitdem hatte er Probleme mit der Hüfte und dem Rücken, weshalb er nicht arbeiten konnte.

Emma schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Uh, ich muss los.« Sie drückte ihrem Freund einen Kuss auf die Lippen und stand auf. Dann schnappte sie sich ihre Tasche von der Küchenanrichte. »Vermutlich lässt mein Chef mich länger arbeiten. Immerhin ist er ein wichtiger Geschäftsmann und muss das raushängen lassen. Wartet also nicht auf mich.« Damit verließ sie die kleine Wohnung und es wurde still.

Ich stocherte weiter in den Nudeln herum und schob mir immer wieder welche in den Mund.

Meine Gedanken wurden auf das Gespräch mit Cunningham gelenkt, darauf, wie seine Augen aufgeleuchtet hatten, als ich ihm Widerworte gegeben hatte. Rückblickend kam es mir so vor, als hätte es ihm sogar gefallen.

Aber der Stock in seinem Arsch hinderte ihn vermutlich daran, Spaß am Leben zu haben.

Lucas leises Lachen lockte meine Aufmerksamkeit zurück. »Was ist?«, fragte ich.

»Sei vorsichtig, okay?«

»Was meinst du?«

»Solche Männer lassen junge Frauen nicht einfach so für sich arbeiten.«

Langsam stellte ich die Nudelbox auf den Tisch. »Luc, sieh mich an, ich falle ziemlich sicher nicht in sein Beuteschema.« Mit einem Stäbchen deutete ich über mich. »O Mann, ich trage ja noch immer diesen ätzenden Blazer.«

»Manchmal willst du naiv sein.«

Ich warf ihm das Stäbchen entgegen und er lachte in sich hinein. »Ach, halt den Mund.«

»Du hast immer die Möglichkeit, da aufzuhören.«

Er brachte mich zum Lächeln. »Mach dir keine Sorgen, mit so einem alten Typen kann ich noch so gerade umgehen.«

Dennoch ließ auch mich der Gedanke daran nicht los. Wieso hatte Cunningham ausgerechnet mir diesen Job angeboten? Es ergab nur in dem Fall Sinn, dass Luc recht hatte. Ich war überhaupt nicht qualifiziert, um seine Haushälterin oder so zu spielen.

Genaugenommen war ich für gar nichts qualifiziert.

 

 

Ich knipste die kleine Lampe neben meinem Bett aus und drehte mich auf den Rücken. Selbst durch die geschlossenen Fenster drangen die Geräusche der Nacht zu mir. Irgendwelche Leute unterhielten sich auf dem Gehweg, irgendwo klirrten Gläser aneinander und sogar eine Katze saß außen auf der Fensterbank. Wie in einem schlechten Film. Fehlte nur noch, dass irgendetwas zu Bruch ging, eine Sirene erklang oder eine Mülltonne schepperte.

Durch die Vorhänge fiel das Licht der Straßenlaterne und zeichnete Schatten auf den Boden und die Zimmerwand.

Wieder dachte ich daran, wie Cunningham mich angesehen hatte.

Wie der Klang seiner Stimme unter meine Haut gekrochen war.

Wie er sich bewegt hatte, wie er aufgetreten war.

Ich griff mein Handy vom Nachtisch und hielt es einige Sekunden einfach nur fest, ehe ich es entsperrte und auf die Browser-App starrte. Ich tippte das Eingabefeld an und zögerte erneut. Mit einem Kopfschütteln legte ich das Telefon zurück auf den Tisch, nur, um direkt wieder danach zu greifen. Erneut schwebte mein Finger über dem Eingabefeld der Suchfunktion.

Das war total bescheuert.

Ich tippte seinen Namen ein, allerdings hielt ich inne, ehe ich die Suche startete.

Ich googelte diesen Cunningham.

Der erste Eintrag war bei Wikipedia. Der Kerl hatte einen Wikipedia-Eintrag. Unglaublich. Sein Vorname war Bradley und auch sein Alter wurde angezeigt. Außerdem standen dort diverse Firmen, die ihm allem Anschein nach gehörten.

Ein Foto von ihm war unter den ersten Zeilen eingeblendet und ich scrollte ein wenig herunter. Die ersten Einträge waren irgendwelche Finanzsachen, das interessierte mich nicht. An dem nächsten Bericht blieb ich hängen.

 

Philanthrop, Visionär und Virtuose Brad Cunningham wieder auf dem Markt.

 

Ach, bitte.

Ich unterdrückte ein genervtes Stöhnen, weil man ihm in all diesen Berichten den Arsch mit goldenem Pulver puderte. Wie sehr konnte man einen Menschen auf einen Thron setzen? Es war genau das, was ich diesem Kerl heute im Verhörraum gesagt hatte. Er sah mit Hohn und Spott auf die Armen herab, ohne irgendetwas daran zu ändern.

Männer wie er hatten die Möglichkeiten, Dinge in Gang zu setzen. Aber sie taten es nie, weil es sie einen Scheiß interessierte.

Ich scrollte wieder nach oben und ehe ich mich versah, wechselte ich zu der Bildersuche.

Ich atmete einmal tief ein und wieder aus.

Fotos von ihm auf diversen Zeitschriften wechselten sich mit Paparazzibildern ab. Natürlich hatte er eine Yacht, was für ein Klischee.

Ich blieb an einem der ersten Bilder hängen, auf denen er glattrasiert war. Es war ein Foto von irgendeiner Gala oder so, er stand auf einem roten Teppich, hatte die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs und einen ziemlich anzüglichen Blick aufgelegt, seine Lippen zu einem dezent schiefen Grinsen verzogen. Sein Kiefer war klargezeichnet und doch nicht zu scharf. Trotz der Falten um die Mund- und Augenpartie sah er fantastisch aus.

Vielleicht sogar wegen seiner Falten.

Auf dem Foto versprühte er das Flair eines Filmstars, weshalb ich darauf klickte. Einige Minuten starrte ich wie gebannt auf die Ablichtung von diesem Mann, der mich heute im Verhörraum besucht hatte.

Fand ich ihn attraktiv? Oder war es das Wissen darum, dass er so viel Geld besaß, das ihn auf diese seltsame Art anziehend machte?

Ich hasste das.

Genau das war der Grund, wieso ich niemals mit solchen Leuten zu tun haben wollte. Kaum hatte ich einen Fuß in sein bescheuertes, gigantisches Loft gesetzt, traute ich meiner Wahrnehmung nicht mehr.

Und trotzdem schaffte ich es nicht, meinen Blick von diesem Bild zu lösen. Ich musste mir eingestehen, dass Cunningham etwas an sich hatte, das meine Aufmerksamkeit magisch anzog.

Mein Bruder sagte immer, dass Menschen mit viel Geld oder Ruhm automatisch attraktiver auf uns wirkten – diese Ansicht teilte ich auch.

Normalerweise.

Gerade war ich mir allerdings nicht mehr sicher, was ich von dem ganzen Tag halten sollte. Und das verwirrte mich, weil ich eine klare Meinung zu solchen Dingen hatte.

Normalerweise.

Hastig sperrte ich das Gerät und schob es zurück auf den Tisch. Mit beiden Händen drückte ich mein Kopfkissen zusammen und legte mich seitlich darauf, bis ich eine gute Position gefunden hatte.

Dann schloss ich die Augen, um möglichst schnell einzuschlafen. Morgen sah ich die Dinge wieder klarer, da war ich mir sicher.

Sonntag ist heilig

Ich sah die Dinge nicht klarer. Kaum öffnete ich die Augen, spukten mir die gleichen Gedanken im Kopf herum wie gestern Abend. Genervt drückte ich das Gesicht ins Kissen und unterdrückte den Drang, zu schreien.

Es klopfte und die Tür wurde geöffnet. Irritiert schaute ich mich zu Emma um. »Mel«, sagte sie hörbar vorsichtig.

»Was ist?«, murmelte ich, wobei ich die Haare aus meinem Gesicht strich.

»Hier ist jemand für dich.«

Ich stieß mich von der Matratze ab. »Was?«

»Irgendeine Carly, sie sagt, sie sei Cunninghams Assistentin.«

Sofort saß ich kerzengerade in meinem Bett. »Was will die denn hier?«

»Sie meinte, du hättest einen Termin.«

»Wie bitte?« Vollkommen irritiert rutschte ich von der Matratze und verließ mein Schlafzimmer. Lucas lag noch auf dem Sofa und spähte zwischen Kopfkissen und Decke zu mir. Ich sah mich zu Emma um. »Wo ist sie?«

»Sie wartet im Wagen. Du sollst dich beeilen.«

Was war denn das für eine Scheiße?

»Wir haben Sonntag, Sonntag ist heilig«, sagte ich zu Emma, die nur mit den Schultern zuckte. Obwohl es mich nervte, dass ich diesen dämlichen Termin hatte, rauschte ich ins Bad, um mich schnell fertigzumachen. Dann zog ich meinen Lieblingshoodie und eine Jeansshort an, ehe ich in meine Flip-Flops schlüpfte. »Bis später«, rief ich, schnappte meine Tasche von der Anrichte und knallte die Wohnungstür hinter mir ins Schloss.

Diese Carly konnte jetzt etwas erleben. Und was dachte sich Cunningham überhaupt, sie einfach herzuschicken? Woher hatten die überhaupt meine Adresse? Es war von morgen die Rede!

Ich stampfte über den Gehweg und riss die Tür dieses protzigen Autos auf. Das erste, was ich wahrnahm, war ein freundliches Lächeln einer blonden Frau.

»Guten Morgen, Ms Seol.« Sie strahlte mich an und mir blieben die Worte im Hals stecken.

»Ähm …«

»Setzen Sie sich«, forderte sie mit einer Geste auf den Sitz.

Zögerlich rutschte ich neben sie auf den Ledersitz und der Fahrer vorne sah sich zu mir um. »Guten Morgen.«

»Morgen?«, gab ich verwirrt zurück.

Die Blonde wandte sich mir zu. »Das ist Nate, ich bin Carly.« Sie drückte ihre Hand an die Brust. Sie trug einen Bleistiftrock und eine hellblaue Bluse. Wie schafften es diese Schnösel nur immer, so adrett und fantastisch auszusehen? Verdammt, sie sah umwerfend aus. Automatisch zupfte ich an meinen fahrig zusammengebundenen Haaren herum. »Mr Cunningham hat uns gebeten, mit Ihnen zu Ms Donovan zu fahren.«

»Was denkt er sich dabei?«, platzte ich heraus. »Wir haben Sonntag und er hat mir nicht einmal gesagt, dass ich heute zu dieser Frau soll. Wozu hat er mir die Adresse gegeben? Woher wissen Sie überhaupt, wo ich wohne? Das ist total gruselig!«

Carly legte den Kopf ein wenig auf die Seite. »Er sagte mir, Sie wüssten Bescheid und meinte zudem, wir sollten Sie sicherheitshalber begleiten. Immerhin ist morgen Ihr erster Tag.«

»Er kann doch nicht einfach beschließen, dass ich für ihn arbeite?!«, regte ich mich auf. »Ich habe nicht einmal zugesagt, was geht denn in seinem Kopf vor?!«

»Also möchten Sie überhaupt nicht für ihn arbeiten?«

»Ähm … doch«, murmelte ich.

Sie lächelte wieder. »Na, wunderbar. Dann ist doch alles geklärt.«

»Was passiert hier?«, nuschelte ich und schaute aus dem Fenster. Dieser Nate startete den Wagen und fädelte sich in den Verkehr ein.

Die ersten Minuten beobachtete ich den Verkehr Brooklyns und bemerkte im Augenwinkel, wie Carly auf ihrem Handy tippte.

Irgendwann schaute ich sie an. »Wie ist er so?«

Sie runzelte die Stirn. »Mr Cunningham?«

»Hm-mh.«

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Züge und legte ihre weißen Zähne frei. »Diplomatisch.«

»Diplomatisch?«

Sie nickte und ließ ihr Handy in den Schoß sinken. »Wenn ich ihn mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es wohl dieses.«

»Hm«, machte ich. »Also ist er ein angenehmer Boss?«

»Wenn man ihm gegenüber rücksichtsvoll und loyal handelt, dann bekommt man eben das zurück.«

Ich schaute wieder aus dem Fenster. Mittlerweile war die Brooklyn Bridge zu sehen und ich fragte mich, wo wir genau hinfuhren. Ich hatte mir die Adresse gestern nicht angesehen und sie einfach in meine Tasche gestopft. Woher hätte ich auch wissen sollen, dass Cunningham das wirklich ernst gemeint hatte? Ich kam mir noch immer ein wenig verarscht vor. Vermutlich lag der Laden an der Upper East oder West Side.

Das alles war unwirklich.

Wir ließen den Central Park hinter uns und fuhren in Richtung Chelsea. Zwar war ich in New York aufgewachsen, doch in dem Stadtteil war ich nie gewesen. Wir folgten einer Straße, auf der verschiedene Geschäfte lagen. Schon der flüchtige Blick in die Schaufenster sagte mir, dass das hier absolut utopisch für mich war. Was dachten sich diese Menschen? Dass ich mir hier ernsthaft etwas kaufen konnte? Allein eine Hose war vermutlich mehr wert als der gesamte Inhalt von Lucas‘, Emmas und meinem Kleiderschrank.

Dieser Nate hielt vor einem Geschäft, dessen Schaufenster natürlich auch viel zu hübsch hergerichtet war. Ich spähte hinein, entdeckte aber niemanden in dem Laden.

Dann sah ich mich zu Carly um. »Ihnen ist aber klar, dass ich mir hier nicht einmal Socken kaufen kann?«

Sie lächelte. Herrgott, hörte sie auch mal auf damit? Es war, als wären ihre Mundwinkel festgetackert. Obwohl sie offensichtlich auch einen Stock im Hintern hatte, war Carly mir doch sympathisch. »Das ist gar kein Problem. Mr Cunningham wird dafür aufkommen.«

»Was?«

»Steigen Sie schon aus.« Sie machte eine auffordernde Geste zur Tür. »Husch, husch.«

Perplex blinzelnd öffnete ich die Tür. Carly stieg nach mir aus und schlug die Tür zu. Dann bedeutete sie mir mit einem Nicken, dass ich ihr folgen sollte. Vor dem Schaufenster blieb ich allerdings stehen.

»Wow«, murmelte ich, als ich mir das rosafarbene Chiffonkleid ansah.

»Folgen Sie mir«, forderte Carly und schloss die Tür auf. Sie hatte einen Schlüssel? Gehörte diesem Cunningham etwa die gesamte Stadt? Ich ging vor ihr in den Laden und blieb stehen. Rosenduft umhüllte mich, die wenigen Kleiderständer waren mit ebenso wenigen Kleidungsstücken behangen. Im hinteren Bereich entdeckte ich eine Sitzecke, wo vermutlich auch die Umkleiden zu finden waren.

Mein Blick zuckte zurück zu den zwei Cocktailsesseln, weil ein Berg von einem Mann in einem saß.

»Ich wusste nicht, dass du kommst«, sagte Carly und ging an mir vorbei. Ich war damit beschäftigt, mich zu sortieren. Denn erneut begannen die Wände um mich herum zu summen.

Mr Cunningham stand auf und richtete seine Krawatte, ehe er einfach an Carly vorbeiging und auf mich zukam.

Sofort drückte ich den Rücken durch.

Ich dachte an das Foto zurück, das ich mir gestern viel zu lange angesehen hatte und überlegte, ob er mir mit oder ohne Bart besser gefiel. Es hatte beides seinen Reiz, fand ich.

Ich rüttelte mich aus den Gedanken.

Ihn vor mir stehen zu haben war noch imposanter, als ihm sitzend gegenüberzutreten.

»Ich wollte mich vergewissern, dass Miss Seol meinem Angebot nachkommt.« Er blickte an mir hinab, ganz langsam wieder herauf.

Er sah mich relativ neutral an.

War es Abwertung unter seiner Maske? Oder doch … Interesse? Ja, klar. Vermutlich war ein Mann wie er an mir interessiert.

Ich verschränkte die Arme. »Es scheint Ihnen ungeheuer wichtig zu sein, dass ich für Sie arbeite. Nebenbei bemerkt können Sie mich nicht einfach unangemeldet abholen lassen.«

»Hm … ich dachte, ich hätte Ihnen mitgeteilt, dass sie sich neu einkleiden sollen? Was dachten Sie, wann Sie herkommen sollen?« Er ließ seine Finger einmal über seinen kurzen Bart gleiten.

Ich scannte ihn genau und ein leichtes und amüsiertes Funkeln trat in seine Augen.

Testete er mich gerade? Meine Arbeitseinstellung, meine Flexibilität oder so?

Es kam mir so vor, als würde er das gerade nicht ernst meinen, aber ich war mir nicht sicher.

Ich hob das Kinn. »Das ist trotzdem dreist«, entgegnete ich. Ich deutete mit einer fahrigen Bewegung über ihn. »Sie scheinen doch sonst so peinlich genau zu sein, Sir, dann seien Sie bei solchen Dingen gefälligst genauso peinlich genau und geben mir Bescheid.«

»Sie stehen hier, also gehe ich davon aus, dass Sie mein Angebot annehmen, oder sehe ich das falsch?«

Wieso wollte ich diesem Kerl schon jetzt an die Gurgel gehen? Noch nie hatte jemand mich dermaßen schnell auf die Palme gebracht.

Er war unverschämt.

»Wenn Sie mich dann entschuldigen, ich habe zu tun«, sagte ich und machte eine Handbewegung, dass er mir aus dem Weg gehen sollte.

»Wie … bitte?« Ihm fiel sichtbar alles aus dem Gesicht und ich legte meine Hand einfach gegen seine Brust, um ihn wegzudrücken.

Er machte einen Schritt zur Seite doch ich hielt inne. Der Stoff seines Sakkos war weicher, als ich angenommen hatte. Es war angenehm, ihn dort zu berühren.

Nein, den Stoff, nicht ihn.

Meine Hand erhitzte fühlbar.

Langsam hob ich den Blick, bis ich in seine tiefblauen Augen schaute.

Ein Summen kroch meinen Arm hinauf, als würde der Subbass eines Songs durch meinen Körper fließen.

Hastig zog ich sie zurück und eilte an ihm vorbei.

Carly sah mich mit großen Augen an, dann schnellte ihr Blick zu Mr Cunningham, der sich räusperte. »Sorg dafür, dass Miss Seol sich etwas Passendes aussucht.« Die Türklingel ertönte und kaum fiel die Tür zurück ins Schloss, konnte ich wieder atmen.

Es war seltsam, aber ich spürte seine Anwesenheit.

»Ähm …«, machte sie. »Gut, dann wollen wir mal.« Ich rührte mich nicht und sie legte den Kopf etwas auf die Seite. »Das geht uns allen so.«

»Was meinen Sie?«

Sie stellte ihre Tasche auf den Tisch zwischen den Sesseln. »Dass man seine Anwesenheit und auch die Abwesenheit spürt.«

»Oh … okay.« Es erleichtert mich, dass sie das sagte. Allmählich hatte mich nämlich ein ganz anderer Gedanke beschlichen, nämlich der, dass mir Cunningham zu gut gefiel. Aber dank Carly konnte ich aufatmen.

Sie wandte sich ab. »Allerdings«, begann sie, ehe sie sich zurückdrehte, »bekommt er selten Widerworte.«

»Vielleicht ist das das Problem«, entgegnete ich, wonach ich mich in dem Laden umschaute. »Sind wir eigentlich allein? Gibt es hier keine Verkäuferin?«

»Ms Donovan ist heute nicht in der Stadt, deswegen haben wir das Geschäft ganz für uns.« Carly hob beide Zeigefinger. »Einen Moment.« Sie verschwand in einen Nebenraum.

Langsam trat ich an eine der Kleiderstangen heran und ließ meine Fingerspitzen über die vier Kleider gleiten. Sie waren alle in hellen Tönen gehalten, das silberfarbene fiel mir allerdings ins Auge. Ich zog es vom Ständer und musterte es einen Moment.

Wow.

Es war bildschön.

Ich tat immer so, als würden mich solche schicken und edlen Kleider kalt lassen, aber wenn ich ganz ehrlich zu mir war, gefiel es mir ausgesprochen gut.

Ich drehte es um und nahm das Preisschild in die Hand. »Okay«, sagte ich laut und hängte das Kleid weg. Die Tür hinter mir ging auf und Carly kam zurück. Sie hielt eine Flasche Champagner und zwei Gläser in der Hand. Ich deutete mit dem Daumen hinter mich. »Dieser silberne Fetzen da kostet fast viertausend Dollar.«

Sie stellte alles auf den kleinen Tisch in der Sitzecke und setzte sich. »Das weiß ich.«

Ich ging zurück, während sie die Flasche öffnete. »Er will mir ernsthaft Kleider für tausende Dollar kaufen?!«

Sie kniff die Augen zu, als sie den Korken entfernte. »Für ihn ist es so, als würden Sie sich ein Eis kaufen.« Mit einem Lächeln gab sie etwas Champagner in das erste Glas. »Machen Sie sich keine Gedanken darüber, das tut ihm nicht weh.«

Ich setzte mich. »Das tue ich aber. Das ist unfassbar viel Geld für mich.«

Sie füllte auch das zweite Glas, stellte die Flasche ab und reichte mir eines. »Ms Seol …«

»Melody, bitte.«

»Melody … das ist wirklich kein Problem. Nehmen Sie es dankbar an, wenn er Ihnen etwas zukommen lässt.«

»Das fühlt sich einfach nicht richtig an … ich will keine Gegenleistung dafür erbringen«, erklärte ich. »Ich weiß ja nicht, was in seinem Schädel vorgeht, aber so eine bin ich nicht.«

»Das würde er niemals verlangen.« Carly klang eindringlich. »Brad ist alles, aber kein Mann, der so etwas verlangt.«

»Sie können mir jetzt natürlich viel erzählen«, murmelte ich.

»Tja, Melody, ich kann Ihnen natürlich nur sagen, was ich von dem Mann halte, für den ich bereits viele Jahre arbeite. Was Sie mit der Information anstellen, das überlasse ich gerne Ihnen.« Sie stieß gegen mein Glas und nahm einen kleinen Schluck. Danach stellte sie das Glas zur Seite und schlug ihre Hände auf die Oberschenkel. »Dann wollen wir mal.«

 

 

Vollkommen überfordert starrte ich die Tüten in meinen Händen an, als ich am Mittag zu Hause war. Ich stand vor der Wohnungstür, weil meine Gedanken irgendwo festhingen.

Wo genau konnte ich nicht ausmachen.

Der ganze Tag war so unwirklich gewesen.

Nach einer Weile schaffte ich es, mich loszureißen und betrat die Wohnung. Lucas stand in der Küche und sah sich zu mir um. »Hey.«

Ich stellte die Tüten auf den Couchtisch, weshalb er sich vom Kochtopf löste. Er kam zu mir und blieb neben mir stehen. Gemeinsam schauten wir auf meine Ausbeute.

»Was ist das alles?«

»Klamotten.«

Er musterte mich verwirrt. »Die waren mit dir einkaufen?«

»Cunningham meinte, ich müsste was Ordentliches zum Anziehen haben, wenn ich bei ihm arbeite.«

Lucas setzte sich auf die Couch und zog eine der Tüten heran. Er spähte hinein, wonach sein Blick zu mir wanderte. »Da ist noch das Preisschild dran.«

»Ich weiß.« Stöhnend setzte ich mich in den abgenutzten Ohrensessel und zog eine der Tüten mit Schuhen heran. Ich hob den Karton behutsam heraus und öffnete ihn. Dann hob ich einen Schuh hoch. Es waren spitze Pumps, silberfarben, mit kleinen Steinchen am äußeren Rand besetzt. Ein schmales Riemchen wurde am Knöchel befestigt, um dem Schuh Halt zu verleihen.

Lucas runzelte die Stirn. »Wow«, machte er.

»Eintausenddreihundert Dollar.«

Er rückte in meine Richtung und nahm den Schuh an sich. »Was zur Hölle?« Dann schaute er mich wieder an. »Wieso kauft der Typ dir so teuren Kram?«

»Seine Assistentin sagt, es wären Peanuts für ihn.«

»Du willst das alles wirklich behalten?«

»Vielleicht verkaufe ich den Kram einfach wieder«, murmelte ich und nahm ihm den Schuh wieder ab. Andererseits … waren die Sachen wirklich schön.

Ich seufzte.

Lucas hingegen stieß ein leises Lachen aus. »Lass dich von dem Scheiß bloß nicht blenden, Melly.«

Ich legte den Schuh zurück und schloss den Deckel. »Das werde ich nicht. Wenn es nur für die Arbeit ist, ziehe ich mich wohl oder übel so an.«

»Oder du verkaufst es einfach wieder.« Er lächelte schief und ich sank zurück in den Sessel. Allein die Tüten wirkten in unserer Wohnung vollkommen deplatziert.

»Selbst wenn ich das alles verkaufe, haben wir mehr davon, sollte ich ein paar Wochen für den Typen arbeiten.«

Lucas nickte. »Gib auf dich acht, ja?«

Ich verdrehte die Augen. »Das sagst du mir zum zweiten Mal. Ich kann auf mich aufpassen.«

Er drückte seine Hand an seine Brust und klopfte dreimal auf die Stelle, unter der sein Herz lag. »Ich meine darauf, Mel.«

Mit einem Kopfschütteln stand ich auf und griff nach den ganzen Tüten auf dem Tisch. »Du denkst, ich würde mich in den alten Kerl verknallen?«

»Du findest ihn anziehend, richtig?«

Ich hielt in der Bewegung inne. »Was redest du denn da?«

»Sei einfach vorsichtig.«

Mit einem genervten Brummen verließ ich das Wohnzimmer und schloss meine Zimmertür hinter mir. Vorsichtig stellte ich meine Ausbeute auf der Kommode ab und trat einige Schritte zurück, bis ich mich im Standspiegel ansehen konnte. Mit beiden Händen strich ich meine Haare hinter die Ohren, die sich aus meinem Dutt gelöst hatten.

Dann blickte ich an mir hinunter.

Wenn ich mich ansah, wusste ich nicht so genau, wer ich war. Das verfolgte mich bereits seit einem Jahr. Ich sprang von einem Job zum nächsten, doch wo ich wirklich ankommen wollte, wusste ich nicht.

Irgendwie war ich ein wenig … verloren.

Verloren in dieser großen Stadt.

In dieser Stadt, die mein Zuhause war, mich derzeit dennoch im Stich ließ.

Sie ließ Lucas und mich im Stich.

Und das erste Mal seit einem Jahr hatte ich die Chance, mehr zu erreichen. Vielleicht konnte Mr Cunningham uns helfen, aus diesem Loch herauszukommen, in dem mein Bruder und ich feststeckten.

Das war eine unglaubliche Chance für uns beide.

Ich strich über meine Taille und zog den Hoodie an meinem Rücken zusammen, sodass meine Figur betont wurde.

Ob ihm heute gefallen hatte, was er gesehen hatte?

Was für ein Schwachsinn. Ich hatte meine ältesten Klamotten angezogen, war gerade aus dem Bett gefallen und meine Frisur sah aus, als würden mehrere Vögel darin nisten.

Mit einem weiteren Kopfschütteln ließ ich den Stoff los und wandte mich ab, um zurück zu Lucas zu gehen.

Er stand wieder am Herd und ich setzte mich mit einem Hopser neben ihn auf die Küchenanrichte. Dann wackelte ich mit den Füßen vor und zurück.

Lucas gab die Nudeln in das kochende Wasser. »Emma sagte, sie muss mit ihren Eltern nach Seattle.«

»Wie lang bleibt sie dieses Mal?«

»Nur ein paar Tage.«

Ich nickte und griff hinter mich in den Schrank, wo ich ein Glas herauszog. Das befüllte ich mit Leitungswasser. »Du willst noch immer nicht mit?«

Er rührte mit dem Holzlöffel durch die Nudeln. »Nicht nach der Nummer, die ihre Mom abgezogen hat.«

Ich trank einen Schluck. »Meinst du nicht, du hast genug gegrollt, was das betrifft?«

Er sah mich scharf an. »Sie hat uns beleidigt.«

»Sie hat dich nur gefragt, ob du gerne Chinesisch isst, krieg dich wieder ein.« Ich rutschte von der Anrichte und stellte das Glas ab. »Du hast eine Macke«, sagte ich und klopfte auf seine Schulter. »Ich bin wieder weg, wir sehen uns später.«

»Bestell Mary und Tanner Grüße.«

»Mache ich«, rief ich, als ich auf dem Weg in mein Zimmer war. Angekommen wanderte meine Aufmerksamkeit automatisch zu den Tüten auf der Kommode. Wieder schwirrte mir Cunningham in den Gedanken herum. Ich wandte mich hastig meinem Schrank zu und zog meine Tasche mit meinem geliebten Bass von oben herunter.

Sobald ich ihn in den Händen hielt, wurde alles um mich herum unwichtig, weil ich wusste, dass ich dann wieder in die Musik abtauchen durfte. Mein Bass half mir, meine Probleme für den Moment zu vergessen und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

Er war ein wenig wie ein guter Freund.

Er fing meinen Kummer auf.

Ich hängte die Tasche um und verabschiedete mich noch einmal von meinem Bruder, ehe ich das Haus verließ. Die drei Blocks zu den Hayes‘ legte ich immer zu Fuß zurück, weil ich es mochte, Brooklyn beim Atmen zuzusehen. Dabei wurde ich jedes Mal ein wenig wehmütig, wenn ich bedachte, wie schnell die Stadt sich veränderte. Dort, wo vor wenigen Jahren noch ein kleiner Coffeeshop gewesen war, wurden nun Obst und Gemüse verkauft. Auf der anderen Seite, wo früher die alte Dame ihren Kiosk geführt hatte, war eine Zweigstelle einer Bank.

Ich bog in die kleine Straße ein. Ein warmer Windzug fegte über den Asphalt sowie die Gehwege und wirbelte Blätter und Staub auf. Mit einem Grinsen im Gesicht erreichte ich das Stadthaus und ging die wenigen Stufen zur Haustür hoch.

Mary riss die Tür auf, ehe ich klingeln konnte. »Du bist spät.« Sie ging durch den Flur und ich folgte ihr, als ich die Tür geschlossen hatte. »Mom und Dad sind bis nächsten Sonntag in den Hamptons«, rief sie aus der Küche. »Wir können heute also so richtig Krach machen.«

Ich stellte meinen Bass neben der Kellertür ab und ging zu Mary, die gerade eine Flasche Limo aus dem Kühlschrank holte. Ich rutschte auf einen der Hocker an der Theke. »Tanner ist heute nicht da, also proben wir allein.«

»Er ist doch immer derjenige, der uns damit in den Ohren liegt, dass wir mehr proben müssen.

---ENDE DER LESEPROBE---