Nimmerwiedersehen - Stefan Barz - E-Book

Nimmerwiedersehen E-Book

Stefan Barz

4,8

Beschreibung

Der neue Roman des Jacques-Berndorf-Preisträgers Tödliches Klassentreffen in der Eifel Zwanzig Jahre nach dem Abitur treffen sich die Ehemaligen des Münstereifeler Gymnasiums auf einem abgelegenen Pferdehof, um ihr Jubiläum zu feiern. Cornelius Beck hat eigentlich keine Lust zu feiern. Er ist aus einem ganz anderen Grund zu dem Treffen gekommen: Als einziger glaubt er nicht daran, dass sein bester Freund damals einem Unfall zum Opfer gefallen ist, sondern dass er ermordet wurde. Heute ist er in die Eifel zurückgekehrt, um den Mörder zu einem Geständnis zu zwingen. Mitten in der Nacht, während die Anderen feiern, verschwindet Cornelius. Als er wenig später tot auf einem Feld gefunden wird, steckt eine Heugabel in seinem Rücken. Der junge Kommissar Jan Grimberg nimmt die Ermittlungen auf. Kein leichtes Spiel, denn er muss tief in die Vergangenheit eintauchen, und außerdem hat er große Probleme damit, sich mit seinem neuen Partner Jürgen Wagner zu arrangieren, der nur seine Karriere im Blick zu haben scheint.

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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

Schandpfahl

Stefan Barz, geboren 1975 in Köln, wuchs in Kommern auf und lebt heute in Wuppertal. In Bonn studierte er Germanistik und Philosophie und arbeitete nebenbei als freier Journalist. Nach dem Studium wurde er Lehrer und begann mit dem Schreiben fiktionaler Texte. 2011 erschien seine erste Kurzgeschichte Klassenzimmer, 2014 sein erster Kurzkrimi Erbsünde, mit dem er gleich für den Agatha-Christie-Krimipreis nominiert wurde. Einen weiteren großen Erfolg feierte Stefan Barz im Jahr 2014 mit seinem Debütroman Schandpfahl, für den er den Jacques-Berndorf-Förderpreis verliehen bekam. www.stefan-barz.de

Stefan Barz

Nimmerwiedersehen

Originalausgabe© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von: © Robert Kneschke, © Stillfxund © Andrey Burmakin - www.fotolia.deLektorat: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-364-5E-Book-ISBN 978-3-95441-376-8

»Jeder ist an allem schuld.Wenn jeder das wüsste, hätten wir das Paradies auf Erden.«

Fjodor Dostojewskij

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Epilog

Prolog

Er fühlte sich wie Gott.

Früher hatte er sein Leben immer als bedeutungslos eingestuft. Es gab Milliarden von Menschen auf der Welt, was bedeutete da das Leben eines Jungen, der in einem kleinen Kaff in der Eifel lebte? Er konnte sich damals nicht vorstellen, dass er irgendetwas bewirken könnte, und fand das Leben einfach langweilig, öde, ja fast überflüssig. Aber an diesem Abend wurde ihm endgültig klar, dass er zu großartigen Taten in der Lage war. Er konnte Dinge verändern, er konnte Menschen verändern. Er war wie Gott, nur dass es ihn selbst tatsächlich gab. Er spürte in dieser Nacht die Wirkung der schöpferischen Macht.

Es war ihm in nur einer Stunde gelungen, einen Menschen zu verwandeln. Er konnte sich gar nicht daran sattsehen, wie jämmerlich dieses Menschlein da auf dem Boden lag und ein ganz und gar anderer geworden war. Am frühen Abend noch war dieses Häufchen Elend ein Erwachsener gewesen wie er selbst, ein junger Mann, der bald eigene Wege gehen wollte und der sicher einige erstrebenswerte Ziele und Träume hatte wie jeder andere auch, der kurz vor dem Abitur stand und gute Leistungen brachte. Und jetzt, in dieser Nacht, war er eine armselige Kreatur, die auf dem Boden kauerte, um Gnade wimmerte und bereit war, alles zu tun, damit sie aufhörten.

Er fühlte sich wie Gott ….

1. Kapitel

10. November 2015

Eigentlich gab es nur einen Grund, warum Cornelius Beck so fest entschlossen war, zum diesjährigen Abiturjubiläum zu gehen.

Das Wiedersehen mit alten, fast vergessenen Freunden trieb ihn an diesem Abend jedenfalls nicht dorthin. Neun gemeinsame Jahre am Hannah-Arendt-Gymnasium in Bad Münstereifel waren zwar eine intensive Zeit gewesen. Hier waren ernste Freundschaften entstanden. Kindisch waren sie am HAG oft gewesen, aber sie hatten auch viel Spaß gehabt. Cornelius hatte mit seinen Freunden das Rauchen gelernt, zum ersten Mal Schnaps getrunken, eine Band gegründet und die ersten Mädchen verführt. Doch nach dem Abitur war jeder seinen eigenen Weg gegangen, und die Freundschaften waren alle in Vergessenheit geraten.

Warum also wollte er die alten Hannah-Arendt-Gymnasiasten vom Abiturjahrgang 1995 auf einem öden Pferdehof in Antweiler wiedersehen? Um zu zeigen, dass er es zum PR-Berater geschafft hatte? Oder um seine Jugendliebe Daniela wiederzusehen?

Nein! Er wollte endlich den Mörder seines besten Freundes stellen, der vor zwei Jahrzehnten ungestraft davongekommen war. Ganz einfach.

Cornelius schaltete einen Gang runter, steuerte mit seinem Audi auf das nächste Eifeldorf zu. Rechts auf einem Feld war eine besondere Attraktion ausgeschildert. Cornelius nahm den Fuß vom Gas. Er warf einen Blick über die Schulter und konnte trotz der einsetzenden Dunkelheit eine Kapelle erkennen, die kunstvoll aus Fichtenstämmen konstruiert war. Das besondere Gebäude machte Eindruck auf ihn, obwohl er nie viel für Religion übrig gehabt hatte.

Cornelius sah nach vorne. Willkommen in Wachendorf stand auf einem schmucken Holzschild neben den kahlen Bäumen. Er fuhr durch den Ort, in dem sich alte Backsteinhäuser mit Neubauten vermischten. Langsam bog er in die Petrusstraße ein. Rechts ließ er das malerische Schloss Wachendorf liegen. Hinter dem Ortsausgang beschleunigte er nur mäßig. Fast im Schritttempo erreichte er nach einem weiteren Kilometer sein Ziel. Antweiler.

Am Ende der Straße bog Cornelius wieder ab. Dann erschien ein alter Gutshof. Nach wenigen Metern lenkte er seinen A3 in die Hofeinfahrt. Gut Hermannstein stand groß auf einem hölzernen Schild am Zaun, der den Hof umschloss. Hier war es also. Cornelius erinnerte sich nicht daran, jemals in der Schulzeit hier gewesen zu sein. Er schaltete noch einen Gang runter und rollte langsam durch zwei hohe, weit geöffnete Stahltore hindurch. Am einfachsten wäre es, dachte er, wenn er das Tor heute Abend schließen würde. Dann hätte der Mörder seines besten Freundes keine Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, säuselte eine blecherne Frauenstimme.

Ach ja, hatte er das? Cornelius zog den Zündschlüssel aus dem Schloss und blieb einige Minuten im Wagen sitzen. Vor ihm standen die alten, rot-braunen Backsteinmauern eines großen Gehöfts mit Wohnhaus, Gästehaus und einer Stallanlage. Cornelius bekam eine Gänsehaut und schüttelte sich.

Sollte er nicht lieber umkehren? Wäre es nicht besser, zurück zu seiner Frau und seiner drei Jahre alten Tochter zu fahren und sein Leben wie bisher weiterzuleben?

Er war nun fast zweieinhalb Stunden von Marburg hierhergefahren und hatte jahrelang auf den Moment gewartet. Die Chancen standen gut, dass der Mörder kommen würde. In der Doodle-Umfrage für die Terminsuche hatte er sich für heute eingetragen. Er war es Chris schuldig – seinem vielleicht einzigen echten Freund aus der Schulzeit, der kurz vor dem Abitur auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen war.

Alle hatten damals an einen Unfall geglaubt. Cornelius glaubte das nicht mehr.

Seine rechte Hand umklammerte den Zündschlüssel und suchte wieder nach dem Schloss. Schließlich landete der Schlüsselbund klirrend im Fußraum des Fahrersitzes. Blind tastete er nach den Schlüsseln, und als er sie endlich gefunden hatte, klopfte es an der Seitenscheibe. Cornelius zuckte zusammen und atmete dann erleichtert auf. Es war Marcus Dietrich, neben dem er früher manchmal im Musikunterricht gesessen hatte. Marcus war damals ein unerträglicher Langweiler gewesen.

»Hey Connie, alles klar? Schön dich zu sehen, Mann!«

Cornelius stieg aus und ließ sich gezwungenermaßen von Marcus umarmen. Cornelius deutete seinerseits eine Umarmung an, denn mit seinen Armen kam er gar nicht um den breiten Körper seines Schulkameraden herum. Marcus hatte den Hof mit einer Reithalle, mit Stallungen für die Unterbringung von mehr als zwei Dutzend Pferden und einem großen Haus mit zahlreichen Gästezimmern und einer großen Kellerbar vor einigen Jahren von seinen Eltern geerbt. Die Erbschaft hatte Marcus wohl endgültig um die Möglichkeit gebracht, je aus der Eifel rauszukommen. Und so war er einer der wenigen HAGler, die immer in der Eifel geblieben waren. Das heutige Abi-Treffen war auch Marcus’ Initiative gewesen, und er hatte bereitwillig angeboten, auf seinem Hof zu feiern. Inklusive Übernachtung. Marcus hatte sich schon zu Schulzeiten schwer damit getan, Anschluss in der Klasse zu finden, und Cornelius vermutete, dass seine Einladung zum Klassentreffen auch von dem heimlichen Wunsch nach Freundschaften getrieben wurde.

»Wie geht’s dir, Alter?«, fragte Marcus fröhlich.

»Ganz gut«, log Cornelius.

»Und jetzt komm schnell rein, du bist nicht der Erste. Einige sind schon da. Alex, Dirk, Katrin, der Mattes, Judith, Steffi, Daniela und Martin sitzen schon an der Bar.«

Ja, lass uns reingehen, dachte Cornelius und stieg aus. Eine halbe Stunde später stand Cornelius an der Bar. Eine junge Frau namens Astrid setzte sich plötzlich neben ihn auf einen Hocker und fragte, wie es ihm so gehe. Sie sei Anwältin geworden, gab sie preis und legte wie zufällig ihren BMW-Schlüssel auf die Theke. Cornelius sah unbeeindruckt daran vorbei. Im gleichen Moment schaltete sich von hinten Susi ins Gespräch ein und erzählte ungefragt aus ihrem Leben. Sie habe Sonderpädagogik studiert, und es sei ja so wichtig, dass man einen Beruf habe, der Sinn stifte. Cornelius schnaubte verächtlich. Als ob ein Beruf dem Leben einen Wert geben könnte. Aber einige dieser Spinner hier schienen tatsächlich zu glauben, dass das, was man hier auf der Wiedersehensparty aus seinem Leben offenbarte – mein Job, mein Auto, meine Kinder, mein Ferienhaus –, dass das irgendetwas mit Sinn oder sogar Glück zu tun hatte. Alles würde irgendwann zu Staub zerfallen, und nichts davon würde übrig bleiben. Cornelius’ Blick glitt immer wieder durch den Raum. Er zählte knapp dreißig Abiturienten seines Jahrgangs, mehr als doppelt so viele hatten damals die Reifeprüfung am HAG abgelegt. Die meisten erkannte er spätestens auf den zweiten Blick. Nur drei oder vier ehemalige Mitschüler konnte er gar nicht mehr zuordnen. Aber einen hatte er sofort wiedererkannt: den Mörder, der auf der Eckbank saß und sich mit einem Mitschüler unterhielt, der unter die Spieleentwickler gegangen war, wie Cornelius schon erfahren hatte. Cornelius beobachtete die beiden und dachte an Krokodile, die stundenlang unbeweglich daliegen und ihre Beute beobachten konnten, ehe sie zuschlugen.

Er drehte sich um. Plötzlich traf ihn der Schlag: Mit eleganten Schritten tänzelte eine schwarzhaarige Frau auf ihn zu. Daniela! Sie blickte ihm vertraut in die Augen, als hätte sie ihn gestern erst zuletzt gesehen. Es blieb kaum aus, dass er hin und wieder an sie denken musste, denn Daniela konnte kleinere Erfolge als Schauspielerin feiern. Zuletzt hatte sie eine Nebenrolle in einer Daily Soap gehabt. Cornelius steckte seine rechte Hand in die Hosentasche und streifte sich mit Daumen und kleinem Finger den Ring ab.

»Wie geht’s?«, fragte Cornelius betont locker.

»Habe mich gerade von meinem Freund getrennt, aber sonst gut. Und wie geht es dir?«

Die Worte hätte er fast überhört, weil er sich gleichzeitig, während sie vor ihm stand, immer wieder nach dem Mörder seines besten Freundes umsah. Der bewegte sich unauffällig in der Menge. Dass der sich überhaupt hierher traute!

Alle hatten damals geglaubt, dass es ein Unfall war. Aber Cornelius wusste inzwischen, dass es keiner war, sondern dass Chris in eine tödliche Falle gelockt worden war. Es war beim jährlichen Bad Münstereifeler Feuerwerksspektakel »Burg in Flammen« gewesen, als er Chris zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Nachdem die schönen Feuerwerksbilder vor der Münstereifeler Burgkulisse in die Luft gegangen waren, hatte die Clique noch ein paar Bier getrunken, und Chris war als Erster müde geworden und wollte alleine runter zum Stadtzentrum gehen, wo er wohnte. Mit Maria hatte Chris gerade Schluss gemacht, deswegen hatte er wohl mehr getrunken als üblich. Beim Überqueren der Nöthener Straße, die sich serpentinenartig den Berg runter nach Bad Münstereifel schlängelte, war er plötzlich von einem Auto erfasst worden, das ein wenig zu schnell hinter der Kurve aufgetaucht war. Der Notarzt hatte Chris noch am Unfallort wiederbeleben können, aber im Krankenhaus war er in der gleichen Nacht den schweren Verletzungen erlegen.

Ein tragischer Unfall.

Nur dass es kein Unfall war.

Darüber hatte Cornelius nun Gewissheit, und diese Gewissheit hatte ihn in den letzten Wochen mächtig aufgewühlt. Vor Kurzem hatte er die Eltern von Chris zu seinem 20. Todestag besucht, und Chris’ Mutter hatte Cornelius eine Kiste mit den Büchern ihres längst verstorbenen Sohnes geschenkt. Weil sie endlich loslassen wollten, hatten die Eltern nun angefangen, Christians Hab und Gut unter seinen Freunden und Bekannten zu verteilen und sein Zimmer, das sie zwei Jahrzehnte unberührt gelassen hatten, aufzulösen. »Zwanzig Jahre haben wir hier gelebt, als würde Christian jeden Moment nach Hause kommen. Aber wir wollen nun unser Leben so ändern, wie Christian es gewollt hätte. Jetzt, nach seinem zwanzigsten Todestag, ist es endlich an der Zeit, loszulassen und unser Haus zu verändern«, hatte seine Mutter gesagt. Es waren hauptsächlich Bücher von Stephen King und Friedrich Nietzsche – Bücher, die Cornelius und Chris beide mit Leidenschaft gelesen hatten, wobei Cornelius damals gar nicht sicher war, ob Chris sich wirklich für Nietzsche interessierte oder die Bücher nur gekauft hatte, um Cornelius zu imponieren. Die meisten Bücher von Chris hatte Cornelius selbst zu Hause und brauchte sie eigentlich nicht. Während Cornelius Christians Bücher auspackte und sich vorstellte, wie Chris darin gelesen hatte, war aus Kings Roman Shining ein zusammengefalteter Zettel gefallen. Vermutlich hatten Chris’ Eltern ihn nicht bemerkt, oder sie hatten ihn für ein Lesezeichen gehalten. Aber was Cornelius da in der Hand hielt, war eindeutig: Chris hatte vor seinem Tod einen Drohbrief erhalten. Mit ausgeschnittenen Zeitschriftenlettern hatte sein Mörder ihm geschrieben:

Noch einmal, und du bist tot! Verlasse so schnell wie möglich diese Stadt!

Als Cornelius diesen Brief gelesen hatte, wurde ihm schlagartig klar, was ihm viel früher schon hätte deutlich werden müssen: Chris war nicht einfach über die Straße gelaufen und überfahren, sondern regelrecht in den Tod getrieben worden. Er hatte sich noch mal daran erinnert, was der Unfallfahrer damals in der Gerichtsverhandlung ausgesagt hatte: »Er hat plötzlich einfach auf der Straße gestanden. Leicht gebückt, mit strauchelnden Armen stand er plötzlich einen Meter vor mir und sah mit weit aufgerissenen Augen in das Scheinwerferlicht. Oh Gott, diese Augen werde ich nie vergessen! Und dann dieser dumpfe Schlag …«

Der Mann hatte vor Gericht völlig verzweifelt gewirkt und bereute zutiefst den Unfall, für den er keine Schuld trug. Chris’ Mörder, da war sich Cornelius jetzt sicher, hatte Chris auf die Straße gejagt – oder vielleicht sogar auf die Straße gestoßen. Jemand hatte die Drohung im Brief ernst gemacht. Und er wusste auch, dass nur einer als Mörder infrage kam.

»Hey Cornelius!«

Ein Mann mit modischem Hemd, jugendlicher Frisur und Dreitagebart kam auf Cornelius zu. Der blickte ihn an, als wäre er gerade aus einem Tagtraum gerissen worden.

»Alex? Alex Brandner?«, fragte Cornelius überrascht.

»So wahr ich hier stehe, mein Lieber. Lass dich umarmen.«

Etwas unbeholfen umarmten sich die beiden, als sich ein attraktiver Mann – leicht angegraute Haare, glattrasiert, randlose Brille – zu ihnen gesellte. Dirk Meyer.

»Tag die Herren«, sagte Dirk in einer Stimme, die fast unmännlich hoch war.

»Oh mein Gott, seid ihr alt geworden!«, lachte Alex.

»Na, und du erst«, konterte Dirk.

Alex räusperte sich und fragte: »Wie läuft’s denn so? Beruf?«

»Banker«, antwortete Dirk wie aus der Pistole geschossen.

Alex warf einen fragenden Blick zu Cornelius.

»PR-Berater«, sagte Cornelius. »Und du?«, gab er die Frage an Alex zurück.

»Ich bin Grafiker. Habe eine eigene Agentur. Läuft bestens. Und sonst? Verheiratet?«

»Jepp«, gab Cornelius preis. »Und um die nächste Frage zu beantworten: Ja, ein Kind. Tochter. Drei Jahre alt.«

»Wie süüüüüß«, gab sich Alex entzückt. »Und du, Dirk?«

»Meine Frau und ich haben Zwillinge. Bist du auch unter der Haube?«

Statt zu antworten, hob Alex seine Hand und offenbarte seinen Ehering.

»Kinder?«, fragte Dirk weiter.

»Nö«, war Alex’ knappe Antwort. Er wirkte plötzlich unkonzentriert, fahrig, als wollte er nicht weiter über das Thema reden.

»Wollt ihr keine Kinder, deine Frau und du?«, schaltete sich Cornelius wieder ins Gespräch ein.

»Mein Mann und ich, wir wollen keine, nein«, sagte Alex. Für einen Moment schaute er die beiden anderen ernst an, herausfordernd, als wollte er fragen: Na, wie weit reicht eure Toleranz jetzt? Aber dann prustete er los. »Na, kommt schon – ihr müsst jetzt nicht verlegen sein. Ihr habt doch damals alle irgendwie geahnt, dass ich schwul bin, oder?«

»Cool, wie offen du damit umgehst«, sagte Dirk.

Alex winkte ab. »Heute ist das doch kein Problemchen mehr, nicht wahr? Vor zwanzig Jahren sah das sicher noch anders aus, und damals ist es mir auch schwerer gefallen, mich vor anderen zu outen. Nicht, dass ich selbst ein Problem damit hatte. Nein, Gott bewahre … Aber Schwulsein hatte damals noch etwas Anstößigeres als heute, obwohl wir damals schon auf das 21. Jahrhundert zugedüst sind, was? Wisst ihr noch, wie schockiert einige Spießer damals auf Popgruppen wie Erasure und Frankie goes to Hollywood reagiert haben, weil die ihr Schwulsein so provokant gezeigt haben?« Wieder lachte Alex und erhob das Glas.

Hin und wieder sah Cornelius zu Chris’ Mörder hinüber und überlegte, wann der Zeitpunkt günstig sein würde. Nicht zu früh. Cornelius neigte zwar dazu, unangenehme Situationen möglichst lange aufzuschieben. Aber der Mörder würde ihm in der nächsten Stunde noch nicht weglaufen. Er ahnte ja nicht einmal, dass Cornelius von seinem Verbrechen wusste.

Viele Wochen lang hatte er die Nächte halb wach gelegen, die Bilder von Chris und dessen Mörder im Kopf gehabt. Seine Firma hatte ihn tagsüber so gefordert, dass er abschalten konnte, aber wenn er nach Hause kam und mit seiner Tochter spielte, kamen allmählich die Gedanken an den Mörder, und nachts übernahmen sie vollends die Kontrolle über ihn. Zuerst hinterließen die Bilder der Vergangenheit nur Ratlosigkeit und Wut, und dann, vor etwa drei Wochen, war ihm klar geworden, dass er etwas unternehmen musste. Dass er nicht einfach zum Klassentreffen gehen, ein paar Bier mit alten Schulkameraden trinken und dann wieder nach Hause fahren konnte.

Cornelius hatte seinen Kurzmantel noch nicht ausgezogen. Mit der rechten Hand fühlte er nach dem Elektroschocker, den er sich vor einigen Wochen besorgt hatte. 14 Ampere waren eine ordentliche Stromstärke, er würde den Mörder damit so lange quälen, bis der sich wimmernd auf dem Boden winden und ein Geständnis abgeben würde, das er mit dem Smartphone aufnehmen wollte. Soweit sein Plan, der funktionieren würde, da war sich Cornelius sicher. Elektroschocker wurden in manchen Staaten als wirksames Folterinstrument eingesetzt. Extreme, akute Schmerzen, Verbrennungen und permanente Angstzustände würden seinen Gegner früher oder später zum Einlenken bringen. Und selbst wenn nicht, dann hatte er ihm wenigstens eine kleine Lektion erteilt – das war er Chris schuldig.

Anke spürte, wie sie die Blicke auf sich zog. Und das lag nicht an ihrer Verspätung. Es war fast neun Uhr. Inzwischen waren alle HAGler, die sich angekündigt hatten, eingetroffen. Sie war eine der Letzten, die vor einigen Minuten in Marcus’ Bar eingekehrt waren.

Die ehemaligen Arendt-Gymnasiasten sahen auf die blauen Strähnen in ihren Haaren. Sie hatte sich die sanfte Rebellin in ihr bewahrt, die sie damals gewesen war. Ihre kleine Schulclique war eine nette Bande aus Alternativen, Grunge-Rockern und Sozialen gewesen, aber sie sah sofort, dass keiner ihrer alten Freunde noch etwas von dem bewahrt hatte, was sie damals darstellten. Sie waren damals rebellisch gewesen, aber nicht aufmüpfig. Sie wollten Spaß haben, aber nicht um jeden Preis, und sie wollten einfach alle nette Menschen sein. Heute war Anke Psychologin und riet ihren Patienten, sich selbst immer treu zu bleiben.

Anke beobachtete das Treiben und bemerkte Cornelius, dem sie einen verächtlichen Blick zuwarf. Die Geschichte mit Cornelius war lange her, aber sie spürte, dass seine Anwesenheit doch wieder alte Narben aufriss. Sie drehte sich von ihm weg und sah dann Martin, ihren besten Freund von damals, der auf sie zusteuerte.

»Hey Martin, schön, dass du auch hier bist. Mit dir habe ich eigentlich gar nicht hier gerechnet – gut siehst du aus«, freute sich Anke.

Martin vergrub seine Hände verlegen in den Hosentaschen. »Danke, Anke«, antwortete er.

Immer noch so schüchtern wie damals, dachte Anke. »Wie geht es dir denn?«, fragte sie weiter.

»Gut.«

»Wirklich, Martin?«

»Ja, wirklich. Ich arbeite als Buchhändler, habe ein kleines Antiquariat in Euskirchen.«

»Du hast die Eifel also nie verlassen?«

»Nein, ich habe hier meine Wurzeln und meine Freunde.«

»Apropos Freunde: Wie geht’s eigentlich Jendrik?«, fragte Anke nach. »Den habe ich ja auch ewig nicht gesehen.«

»Dem geht’s gut. Aber er kann heute nicht hier sein. Ich habe ihm natürlich Bescheid gesagt, und ich hätte mich vielleicht auch wohler gefühlt, wenn er mit dabei gewesen wäre, aber er hatte schon was vor. Und außerdem gehörte er ja nicht zu unserer Jahrgangsstufe.«

»Du siehst ihn also noch öfter, ja?«

Martin nickte. »Hm. Er war mal für eine Weile weg. Hat als Künstler längere Zeit im Ausland gearbeitet. Ich glaube, er entwirft irgendwelche Modellnachbauten für Auftraggeber aus der Industrie. Aber jetzt ist er wieder da.«

»Und wo lebt er jetzt?«

»Mal hier, mal dort. Du kennst doch Jendrik.«

»Familie hat er sicher nicht, oder?«

»Kannst du dir das bei Jendrik vorstellen?«

Beide lachten. Nach einer Atempause sagte Anke: »Ihr seid also immer noch beste Freunde?«

»Einen besseren Freund als Jendrik kann man sich wohl nicht vorstellen.«

»Ich weiß«, sagte Anke und streichelte Martins Arm. »Und ich glaube, du kannst froh sein, dass du so einen Freund wie Jendrik hast, Martin.«

Ein greller Blitz riss Cornelius wieder aus den Gedanken. Er blickte auf und sah eine hübsche Frau mit modischem Kurzhaarschnitt vor sich, die auf das Display ihrer Canon-Kamera drückte. Es war Katja Landsberg. Sie lächelte zufrieden. Dann legte sie den Fotoapparat routiniert wieder an, zielte erneut auf Cornelius und drückte ab.

»Hast du mich gerade erschossen?«, fragte Cornelius charmant.

»Nein, ich habe dich gerade unsterblich gemacht«, sagte Katja und zeigte Cornelius die Aufnahme. Er fand sich fremd auf dem Foto, als wäre er gar nicht er selbst. Aber die Aufnahme hatte etwas, fand er.

»Schön, dass du auch hier bist. Wie geht’s dir?«, wollte Katja wissen.

»Gut«, antwortete Cornelius gefühlt zum hundertsten Mal heute.

Kurze Verlegenheitspause.

»Du wolltest damals Journalist werden, oder?«, bohrte Katja weiter.

»Das ist lange her, ja. Aber ich habe dann die Fronten gewechselt. Jetzt bin ich PR-Berater. Das war das Beste, was ich machen konnte. Als Zeitungsreporter verdient man doch nichts mehr, und die meisten Zeitungen bauen immer mehr Personal in ihren Redaktionen ab. In der PR wird man gut bezahlt, wenn man gut ist. Ich kann nicht klagen. «

»Wobei Geld ja nicht alles ist, wenn man Spaß an seinem Beruf hat«, warf Katja ein.

»Na gut, wenn einem eine Wohnung in einem Reihenhaus und eine Fiesta reicht …« Er merkte, dass Katja ihn missmutig ansah, und fragte schnell: »Was machst du denn so?«

Katja hob Ihre Kamera hoch.

»Fotografin? Den Beruf gibt es noch?«

»Einfacher geworden ist es nicht. Aber ich beiße mich so durch. Und gerade habe ich eine Ausstellung im Kurhaus über Nebellandschaften.«

»Und von Kunst kann man leben?«

Katja schüttelte den Kopf mit einem gequälten Lächeln. »Nein, leider nicht. Ich jobbe gerade noch als Kellnerin, um über die Runden zu kommen.«

Cornelius lachte wohlwollend.

Katja sah ihn ernst an: »Das war kein Scherz!«

Cornelius räusperte sich. »Das bringt doch sicher auch ein bisschen Abwechslung ins Leben, wenn man zwei Jobs hat.«

»Nee, bestimmt nicht. Aber was kann ich denn dafür, dass inzwischen jeder glaubt, selbst Fotos machen zu können? Vor zwanzig Jahren sah das noch anders aus.«

»Also, wenn ich für eine Kampagne mal eine Knipse brauche …«

»Ach Cornelius, leck’ mich!«

Katja zog wortlos ab und fotografierte die nächsten Gäste.

Daniela hatte sich zu Cornelius, Alex und Dirk gesellt.

»Daniela, komm zu mir!«, sang Alex und nahm sie in den Arm. Daniela ließ es geschehen. Sie feixten noch eine Weile herum, dann waren Dirk und Alex in ein Zweiergespräch vertieft. Sie trat einen Schritt näher an Cornelius.

»Ich freue mich sehr, dass du auch hier bist«, sagte sie. Ihre Augen funkelten.

Er bestellte für sich und Daniela ein Bier, und sie erzählten sich von früher, dann von ihrem Leben nach der Schule, von ihren Träumen und Zielen und wie alles gekommen war. Dabei hatte ihr Gespräch eine Leichtigkeit, wie Cornelius es mit seiner Frau nicht mehr kannte. Er und Daniela konnten sich einfach die Bälle zuwerfen und auffangen. Cornelius fühlte sich zum ersten Mal an diesem Abend wohl. Seine Anspannung löste sich langsam.

Cornelius ließ sich fallen. Nur eine Stunde später war ihm klar, dass er heute Abend die Treue zu seiner Familie brechen würde.

Katja hatte ihre Kamera beiseitegelegt und holte sich ihr fünftes Bier. Sie vertrug nicht viel und merkte, dass ihr bereits jetzt vom Alkohol schwindelig wurde. Alles Scheiße, dachte sie. Warum war sie überhaupt hergekommen?

»Alles klar, Katja? Wir haben uns ja noch gar nicht gesprochen.« Das war Yvonne Behr, damals die größte Tratschtante des Hannah-Arendt-Gymnasiums, die mit ihren falschen Fingernägeln auf Katjas Schulter tippte.

»Ich hatte ja auch noch keine Gelegenheit, mit dir ins Gespräch zu kommen«, antwortete Katja und fragte sich, ob sie schon leicht lallte.

»Ja, ich musste gerade eine arme Seele trösten.«

Aha, dachte Katja. Immer noch die Alte. »Und wen? «, fragte sie, um nicht mehr an ihre dunklen Gedanken erinnert zu werden.

»Mattes. Der hat wohl Liebeskummer.«

»Das ist ja wirklich wie zu alten Schulzeiten«, erwiderte Katja.

»So in etwa, ja. Der war doch damals total in Daniela verknallt.«

»Das war doch jeder zweite Junge, ich weiß auch nicht, was die alle an der gefunden haben.«

»Aber der arme Mattes ist es wohl immer noch. Ich habe doch gemerkt, wie der sie schon den ganzen Abend anschmachtet.«

Katja sah zu Mattes, der eigentlich Matthias hieß, konnte aber gerade keine Auffälligkeiten erkennen – außer vielleicht, dass Mattes von allen ihren Schulkameraden am meisten ergraut war. Vielleicht würde sie mehr sehen, wenn sie durch die Linse sah. Aber davon hatte sie heute Abend genug. Verdammte Scheiße.

»Tja«, setzte Yvonne ihre Analyse fort. »Aber leider sieht es gerade so aus, als wäre Daniela mehr an Cornelius interessiert als an Mattes. Daniela und Cornelius verstehen sich gerade blendend, und ich wette, da läuft heute Abend noch was. Also: Wetten?«

»Okay«, willigte Katja gelangweilt ein. Sie würde es Cornelius nur zu sehr gönnen, wenn er heute Abend versagte. Seine Worte hatten gesessen.

Knipse!

Hatte dieser widerliche Wicht denn eine Ahnung, wie gerade Katjas Lebenstraum zerplatzte? Vor einem halben Jahr war ihr Fotostudio, in dem so viel Herzblut steckte, pleitegegangen. Und jetzt trug sie abends fremden Menschen Essen und Getränke hinterher, um ihre Miete zahlen zu können, und ihre letzte Energie steckte sie noch in künstlerische Fotos, die kaum jemand beachtete. Und ausgerechnet so jemand wie Cornelius war überaus erfolgreich.

Knipse.

Yvonne sprach ununterbrochen weiter, aber Katja hörte nicht, was sie sagte. Sie merkte, dass sie zu viel getrunken hatte.

Das wirst du mir büßen, Cornelius Beck!

Dreitausend Ameisen rannten über seinen Körper, so fühlte sich das Kribbeln an. Marcus Dietrich lachte wie von Sinnen. Das war eine geile Party, geile Stimmung, geiles Speed. Seit er sich das Crystal durch die Nase gezogen hatte, war der Abend irgendwie lila und schrill, fand Marcus. Das wurde aber auch Zeit. Kurz zuvor hatte er noch am Rande einer Depression gestanden. Eigentlich lief die Wiedersehensfeier, die er immerhin organisiert hatte, bestens. Vorhin, als die Runde vollzählig war, hatte Alex sogar eine Ansprache gehalten und Marcus eine Flasche Bordeaux überreicht und ihm für die Initiative gedankt. Und natürlich für die tolle Übernachtungsmöglichkeit auf dem Hof. Aber Marcus war seit Beginn der Party in tiefe Melancholie verfallen. Denn das Wiedersehen mit alten Schulfreunden hatte ihn daran erinnert, dass er eigentlich nie Freunde gehabt hatte. Und auch heute Abend schien sich niemand wirklich für den Gastgeber zu interessieren. Aber jetzt, wo die Droge auf dem Höhepunkt ihrer Wirkung war, war alles gut.

Steffen schlurfte an ihm vorbei.

»Toiletten sind da hinten, andere Richtung«, sagte Marcus.

»Ich weiß. Ich ziehe mich schon mal zurück. Habe mir noch Arbeit mitgebracht, die ich heute noch erledigen muss«, antwortete Steffen. Marcus wollte gerade nachhaken, welche Arbeit denn so wichtig sei, aber Steffen hatte sich schon aus dem Staub gemacht.

Selbst schuld, dachte Marcus. Plötzlich hatte er eine gute Idee. Er wollte die Meute hier mal richtig aufwecken, legte eine Scheibe Death Metal von Cannibal Corpse auf und drehte die Anlage lauter. Einige sahen irritiert in seine Richtung. Marcus lachte wieder wie von Sinnen.

Und dann erschrak er plötzlich zu Tode. Jemand hatte gerade eine Waffe gezückt, das hatte er gesehen. Cornelius Beck! Er hatte den ganzen Abend schon bemerkt, dass Cornelius sich merkwürdig benahm. Mehrmals hatte er heute Abend in seine Richtung gesehen, als würde er auf der Lauer liegen. Und jetzt hatte er gerade beobachtet, wie Cornelius eine Waffe – er konnte sie nicht genau erkennen, aber es war eine Waffe – aus seinem Mantel herauszog und schnell wieder verschwinden ließ. Da! Cornelius hatte wieder zu ihm herübergeschaut, als wollte er ihn gleich abknallen. Oder halluzinierte er vom Speed? Nein, er war sich sicher, dass Cornelius hinter ihm her war. Marcus ging hinter der Bar in die Hocke und stieß einen lauten Schrei aus.

Er war nur für eine einzige Person zum Klassentreffen gekommen, und sein Herz schlug höher, als er sie sah. Für einen Moment war es still um ihn herum. Er hörte all die Stimmen nicht und sah nur diese Frau, die mit langsamen Schritten durch die Stille ging.

Ich will dich für immer lieben.

Karsten holte sich sein drittes Bier aus dem Kühlschrank, setzte sein Feuerzeug am Kronkorken an und ließ den Deckel in hohem Bogen durch die Bar fliegen. Dann tänzelte er zurück zu seinen alten Freunden. Er bemerkte, wie Daniela immer wieder zu ihm herübersah. Wenn ihre Blicke sich trafen, lächelte sie schüchtern und sah dann wieder verlegen weg.

Fühlte sie wie er? Karsten malte sich aus, wie ihr erstes Gespräch heute Abend verlaufen würde. Wie sie zunächst Smalltalk führen würden, der dann in ein langes, persönliches Gespräch über Lebensansichten und Träume mündete. Nach zwei Stunden würde sie sagen, wie toll sie sich unterhalten könnten, und dann würde Daniela ihm gestehen, dass sie seit der Schulzeit immer wieder an ihn gedacht habe. Sie würden sich wiedersehen, sie würden sich viel Zeit lassen. Daniela würde merken, dass er nicht auf Sex aus sei, sondern auf eine ernste Beziehung. Sie würden zusammenziehen, er würde ihr im Urlaub auf Korsika einen Heiratsantrag machen, beide würden weinen vor Glück. Er würde ihr ein guter Ehemann sein und ihr ein gutes Zuhause geben.

Sein Plan, Daniela nun endlich anzusprechen, wurde durchkreuzt, als ihn Mattes abfing und eine alte Erinnerung an die Skifreizeit im österreichischen Wagrain, wo sie mit der achten Klasse gewesen waren, auffrischen wollte. Karsten hörte mit einem Ohr zu, konzentrierte sich aber mehr darauf, Daniela nicht aus den Augen zu verlieren.

Einen Moment noch hörte er Mattes reden, dann wurde es wieder still.

Ich will dich für immer lieben.

2. Kapitel

11. November 2015

Dirk schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Er sah auf die leuchtenden Zeiger seiner Armbanduhr. Es war kurz nach 3 Uhr in der Nacht. Sein Herz pochte wie nach einem Marathon.

Er sprang aus dem Bett und versuchte, ruhiger zu atmen. Es gelang ihm nicht. Er versuchte, sich im fremden Zimmer zu orientieren, ohne das Licht anknipsen zu müssen, und tastete sich zur Tür. Er öffnete sie leise, ging mit schnellen Schritten Richtung Bad und presste seine Hände immer wieder gegeneinander. Schnell öffnete er die Tür und zog sie leise hinter sich zu, ohne abzuschließen. Dann drehte er den Wasserhahn auf und wusch sich mit kaltem Wasser die Hände, und als er damit fertig war, wusch er sie noch einmal. Dann stützte er sich am Waschbecken ab und sah sich streng im Spiegel an.

Was hast du getan?

Sein Gegenüber im Spiegel verzog die Wangen zu einer Fratze, dann liefen Rotz und Wasser aus Augen und Nase. Er schluchzte wie ein Kind, konnte sich aber schnell wieder fassen.

Dass die Badezimmertür aufging, bemerkte er erst, als Alex schon hinter ihm stand.

»Hier bist du also«, sagte Alex nur. »Wo warst du so lange?«

»Wir hätten das nicht tun sollen«, flüsterte Dirk.

»Doch, ich denke, das war nötig. Für dich«, entgegnete Alex.

»Ich fühle mich einfach nur mies«, sagte Dirk.

»So ist es oft, wenn man ein Tabu bricht«, antwortete Alex nüchtern.

»Aber es wird alles zerstören.«

»Das glaube ich nicht. Es wird nur alles verändern, und es ist besser so. Ich gehe mal an die frische Luft. Entspann dich und versuch wieder zu schlafen«, sagte Alex und klopfte ihm auf die Schulter. »Niemand wird davon erfahren, niemand hat uns gesehen. Bald wird es dir bessergehen.«

Auf dem Flur brach im gleichen Moment plötzlich eine bedrohliche Unruhe aus.

Dirk wusch sich schnell durch das Gesicht, damit niemand bemerkte, dass er geweint hatte. Jetzt reiß dich zusammen, sagte er zu sich selbst. Dann ging er aus dem Bad hinaus, um nachzusehen, was los war.

Daniela lief ihm direkt in die Arme. Sie sah ihn ängstlich an: »Dirk! Hast du Cornelius gesehen?«

»Cornelius? Den habe ich zuletzt vor Mitternacht gesehen, das ist schon eine Weile her.« So ganz stimmte das nicht. »Der ist sicher schon im Bett«, fügte er hinzu.

Daniela atmete schnell und spielte mit ihren Händen. »Nein, ist er nicht.«

»Hast du nachgesehen?«

»Ja. Nein. Außerdem …«

»Außerdem was?«

»Außerdem war er eigentlich in meinem Bett …«

»Oh lala«, sang Alex, der plötzlich hinter ihr stand. Alex merkte aber sofort, dass mit Daniela nicht zu spaßen war.

»Er wollte nur kurz eine rauchen gehen und ist dann nicht wiedergekommen. Das war vor zweieinhalb Stunden!«, stammelte sie.

»Und er ist nicht einfach in sein Zimmer gegangen?«, fragte Alex.

»Nein.«

Dirk dachte kurz nach, dann sagte er: »Habe ich das richtig verstanden: Eigentlich ist Cornelius verheiratet, aber heute Nacht war er mit dir im Bett? Es geht mich ja nichts an, ich will nur verstehen, was los ist, wenn ich dir helfen soll.«

»Seine Ehe läuft halt nicht mehr so gut, hat er mir erzählt«, erklärte Daniela, die immer noch vor Aufregung zitterte.

»Du musst dich nicht rechtfertigen«, warf Alex ein. »Aber entschuldige, wenn ich das anspreche: Könnte es nicht sein, dass er einfach doch kalte Füße bekommen hat und nach … also danach abgehauen ist, zurück zu seiner Frau, meine ich?«

»Sein Auto steht noch hier«, sagte Daniela.

»Ist er vielleicht noch mit irgendwem in der Bar versackt? Robby, Martin, Stevie …«, wollte Dirk wissen.

»Da ist keiner mehr«, sagte Daniela.

»Vielleicht ist er noch mit alten Kumpels in die nächste Wachendorfer Kneipe gegangen?«, fragte Alex.

»Was hat denn hier bitte schön um diese Zeit noch auf? Außerdem geht er nicht an sein Handy. Und sein Portemonnaie liegt noch auf der Kommode. Der ist doch nicht ohne Geld losgezogen. Dirk, irgendwas stimmt hier nicht.«

»Hm«, brummte Dirk. »Was sollen wir nun tun?«

»Wir müssen die Polizei rufen!«, sagte Daniela entschlossen.

»Daniela, er ist gerade mal zwei Stunden weg«, gab Dirk zu bedenken.

»Zweieinhalb!«

»Na gut, dann zweieinhalb. Die Bullen lachen uns doch aus.«

»Ich werde hier aber jetzt nicht einfach rumsitzen!«, keifte Daniela ihn an.

»Okay, okay. Wir schauen mal, wer noch wach ist, dann suchen wir das Gelände ab, und wenn Cornelius in einer Stunde nicht auftaucht, wecken wir alle und machen einen Plan«, schlug Alex vor.

Eineinhalb Stunden später gab es immer noch keine Spur von Cornelius. Dirk, Daniela, Birgit, Alex und Marcus hatten mit Taschenlampen das Gelände abgesucht und zunächst nichts gefunden, bis Marcus die Gruppe auf kleine Blutflecken neben dem Pferdestall aufmerksam gemacht hatte – und auf einen weißen, kleinen Gegenstand, der wie ein abgebrochener Zahn aussah.

»Das kann alles und nichts bedeuten«, hatte Dirk versucht, Daniela zu beruhigen, aber er wusste selbst, dass dieser Fund noch mehr Unruhe in die Situation brachte. Sie beschlossen, alle Übernachtungsgäste zu wecken und sich in der Bar einzufinden.

Kurz darauf brachte Marcus noch eine weitere schlechte Nachricht: »Karsten ist auch verschwunden!«

Zwei auf mysteriöse Weise verschwundene Personen waren Grund genug, die Polizei sofort zu verständigen. Zehn Minuten später war eine Streife vor Ort. Die beiden Beamten ließen sich alle Details zu den beiden Vermissten nennen, fragten, wann sie zuletzt gesehen worden seien, ob Cornelius und Karsten in einer besonderen Freundschaft oder Feindschaft zueinander gestanden und ob sonst irgendwer aus der Gruppe eine besondere Beziehung zu den beiden gehabt hätte. Daniela gestand wahrheitsgemäß ihre Affäre mit Cornelius und bat die Beamten, nichts davon Cornelius’ Frau zu sagen.