Nimue Alban: Die Streitmacht - David Weber - E-Book

Nimue Alban: Die Streitmacht E-Book

David Weber

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Beschreibung

Die Menschheit musste vor einer außerirdischen Spezies auf eine fremde Welt fliehen. Hier unterlag sie lange Zeit einer Kirchendiktatur, die jede moderne Technik verbot. Doch das Inselreich Charis hat seine Unabhängigkeit erklärt und den Vorstoß in das Zeitalter der Dampftechnik geschafft. Die Kirche musste in der Schlacht schwere Verluste hinnehmen. Doch sie sammelt bereits wieder ihre Kräfte. Der Kampf um die Zukunft der Menschheit ist noch nicht vorbei...

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Juli, im Jahr Gottes 896

.I.

.II.

.III.

.IV.

.V.

August, im Jahr Gottes 896

.I.

.II.

.III.

.IV.

.V.

.VI.

.VII.

.VIII.

.IX.

.X.

.XI.

.XII.

.XIII.

September, im Jahr Gottes 896

.I.

.II.

.III.

.IV.

.V.

.VI.

.VII.

.VIII.

.IX.

.X.

Oktober, im Jahr Gottes 896

.I.

.II.

Charaktere

Glossar

Die Erzengel

Über den Autor

David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der HONOR-HARRINGTON-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.

David Weber

NIMUE ALBAN:

DIESTREIT-MACHT

Aus dem Amerikanischen vonDr. Ulf Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2013 by David Weber

Published by arrangement with Tom Doherty Associates, LLC.

All rights reserved.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Like a mighty army« Teil 1

Originalverlag: Tor Books, NY

This work was negotiated on behalf of St. Martin’s Press LLC through

Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Arndt Drechsler, Regensburg

Textredaktion: Beke Ritgen

Lektorat: Ruggero Leò

Umschlaggestaltung: Arndt Drechsler, Regensburg

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-404-20785-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Dot Barnette,Weltklasse-Adoptivgroßmutter.Die Kinder lieben dich … und wir auch.

Prolog

»Das wär’s dann wohl«, murmelte Nahrmahn Baytz, lehnte sich in seinem Lieblingssessel zurück und starrte blicklos auf die säuberlich gedruckten Seiten, die er in Händen hielt.

Mittlerweile war er nicht mehr auf eine Schnittstelle zum gedruckten Wort angewiesen, musste nicht erst lesen – was jede Informationsaufnahme entschleunigte: Als virtuelle Persönlichkeit im eigenen Miniuniversum konnte er unmittelbar mit der künstlichen Intelligenz namens Owl interagieren. Allerdings hatte der ehemalige Fürst von Emerald festgestellt, dass es für ihn etwas Tröstliches hatte, Informationen nach wie vor so zu verarbeiten, wie er es zu Lebzeiten gewohnt gewesen war.

»Ja«, bestätigte die schlanke Gestalt, die ihm an dem kleinen Steintisch gegenübersaß. Die Person, ein Er, aber vielleicht auch eine Sie, hatte schwarze Haare und saphirblaue Augen. Sie war der einzige regelmäßige Besucher auf Nahrmahns Terrasse, auf der er so gern saß, um den prächtigen Blick auf die funkelnden Wellen der Eraystor-Bucht zu genießen. »Vermutlich könnte ich zwar auf die gesperrten Dateien zugreifen, aber gemäß meiner Analyse besteht eine Wahrscheinlichkeit von dreiundachtzig Prozent, dass dadurch interne Sicherheitsroutinen aktiviert würden. In diesem Falle sänke die Chance auf sechzig Prozent, zumindest einige verwertbare Informationen zu extrahieren, bevor es zur vollständigen Löschung des Datenkerns käme. Obendrein ist unmöglich einzuschätzen, welche Datenmenge gesichert werden könnte. Allerdings übersteigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Dateien selbst unwiderruflich gelöscht werden, siebenundneunzig Prozent. Im selben Prozentsatz ist zu erwarten, dass die Sicherheitsprotokolle die molekularen Schaltkreise des Schlüssels rekonfigurieren, was dann weitere Untersuchungen verhindert. Falls zum Erstellen der gesperrten Dateien und der zugehörigen Sicherheitsmaßnahmen eine zivile KI vom Typ eins genutzt wurde, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ich selbst überschrieben und damit effektiv zerstört würde, bei neunundfünfzig Prozent plus/minus fünf Prozent. Zu zweiundsiebzig Prozent und gleicher Fehlertoleranz würde mein Zentralkortex das zwar überleben, dabei aber so weit geschädigt, dass eigenständiges Bewusstsein fortan ausgeschlossen wäre. In diesem Falle läge die Chance auf eine erfolgreiche Reintegration der Persönlichkeit unter siebenunddreißig Prozent – angesichts der Vielzahl bislang unbekannter Faktoren sind genauere Aussagen nicht möglich. Wurden die gesperrten Dateien allerdings von einer Typ-eins-KI in Militärausführung erstellt, übersteigt die Wahrscheinlichkeit meiner Zerstörung neunundneunzig Prozent.«

Nahrmahn betrachtete sein Gegenüber: Die Miene war gelassen, der Tonfall ruhig. Nahrmahn schüttelte den Kopf. Nach den Maßstäben des restlichen Universums hatte Owl erst vor wenigen Monaten Bewusstsein entwickelt und vollständig integriert. Für Owl hingegen – und auch für Nahrmahn selbst – war deutlich mehr Zeit verstrichen. Mittlerweile war die KI dem untersetzten, kleinen Fürsten zum Freund und Kollegen geworden. Doch hin und wieder gab es Augenblicke – wie etwa diesen hier –, in denen Nahrmahn unsanft ins Gedächtnis gerufen wurde, dass Owl in Wahrheit eben doch kein Wesen aus Fleisch und Blut war. Nahrmahn war sich sicher, dass die KI – was KI zu sein in diesem Stadium auch bedeuten mochte – tatsächlich genauso ruhig und gelassen war, wie sie wirkte … und das, obwohl sie hier über ihre eigene Zerstörung sprach. Dass Owl zerstört würde, war praktisch unvermeidbar, falls beschlossen würde, die Untersuchung von Schuelers Schlüssel fortzusetzen.

Nahrmahn betrachtete, was aussah wie ein Briefbeschwerer aus hochglanzpoliertem Stahl mitten auf dem Tisch; Sonnenlicht spiegelte sich darin. In Wirklichkeit befand sich dieser harmlos aussehende Briefbeschwerer ebenso wenig hier wie der Tisch; doch wenn Nahrmahn nun danach griffe und sich die auf Hochglanz polierte Stahlkugel gegen den Kopf schlüge, würde sich das sehr real anfühlen. Zumindest ein Teil von Nahrmahn Baytz hätte den real existierenden Schlüssel nur zu gern an der tiefsten Stelle der real existierenden Eraystor-Bucht versenkt und ihn den Fischen dort als Dauerleihgabe überlassen.

Leider wäre das ebenso nutzlos wie unmöglich, dachte er.

»Auch wenn ein Löschen des Schlüssels und der Verlust sämtlicher darauf gespeicherten Daten bedauerlich wäre«, sagte er dann, »würden wir das vermutlich überleben. Ich bin mir recht sicher, der Rest des Inneren Kreises wird mir beipflichten: Dich zu verlieren wäre deutlich, ähm … lästiger, Owl. Beruflich ebenso wie persönlich.«

»Ich gestehe, dass mir besagte Wahrscheinlichkeiten nicht erfreulich erscheinen«, gab Owl zurück.

»Das beruhigt mich«, versetzte Nahrmahn trocken. Er legte den Bericht wieder auf den Tisch und setzte den Schlüssel darauf, damit die Blätter nicht von der nächsten Böe über die gesamte Bucht verteilt würden. »Andererseits wüsste ich wirklich gern, welche Informationen diese Dateien bergen.«

»Abgesehen davon, dass es sich dabei überwiegend um ausführbare Dateien handelt und eine der Dateien recht groß ist, vermag ich ohne Zugriff keine weiteren Aussagen zu treffen.«

Tja, eine Zwölf-Petabyte-Datei darf man vermutlich mit Fug und Recht als groß bezeichnen, kommentierte Nahrmahn in Gedanken nüchtern. Er dachte darüber nach, was für eine gewaltige Zahl das war – um ein Vielfaches größer als alles, was er sich zu seinen Lebzeiten je hätte vorstellen können. Allein schon dieser Größe wegen würde ich gern einen Blick in diese Datei werfen! Aber Neugier rechtfertigt nicht das Risiko, Owl zu verlieren. Nichts rechtfertigt dieses Risiko!

»Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass diese ausführbaren Dateien etwas mit dem zu tun haben, das sich unter dem Tempel befindet«, sinnierte er laut, lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück und lauschte dem Rauschen der Brandung. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass es durch einen Menschen aktiviert werden muss – was auch immer ›es‹ eigentlich ist.«

»Vorausgesetzt, die Aktivierung ist eine direkte Reaktion auf den Schlüssel«, gab Owl zu bedenken. »Bislang haben wir allerdings noch keinen Hinweis darauf gefunden, dass nicht doch auf ein automatisches Aktivierungsprotokoll zugegriffen wird, sobald die Sensoren des Bombardierungssystems verbotene Technologie orten. Und bislang konnten wir auch noch nicht ermitteln, ob es weitere Schlüssel oder sogar weitere Kommandostationen gibt – oder möglicherweise gänzlich unterschiedliche Aktivierungsprotokolle.«

»Stimmt«, nickte Nahrmahn. »Und nirgends in Schuelers Aufzeichnungen finden sich Hinweise darauf, dass menschliches Handeln erforderlich wäre, wenn es um den Jahrtausendbesuch der sogenannten Erzengel geht. Eigentlich schade.«

»Korrekt«, stimmte ihm der Avatar der KI zu, und Nahrmahns Mundwinkel zuckte. Owl hatte, zumindest seinen Maßstäben nach, recht lange gebraucht, sich diese typisch menschliche Gewohnheit anzueignen: das Offensichtliche zu bestätigen, um dem Gegenüber das Signal zu geben, man folge dessen Gedankengang. Owl hatte schwer mit der Vorstellung zu kämpfen gehabt, dass Menschen allen Ernstes auf die Idee kommen könnten, er würde ihrem Gedankengang nicht folgen … obwohl seine alte Persona, die noch nicht über ein eigenes Bewusstsein verfügt hatte, genau das sogar recht häufig getan hatte. Diese alte Persona aber hatte die Gedankengänge ihres Gegenübers nicht wirklich verstanden.

Nahrmahns Belustigung währte nicht lange: Seine Gedanken kehrten zu den Aufzeichnungen zurück, mit denen er sich wieder und wieder befasst hatte. Er verstand voll und ganz, warum Paityr Wylsynn und dessen Vorfahren geglaubt hatten, von Gott selbst berührt worden zu sein. Nahrmahn hätte exakt dasselbe geglaubt, wenn ihm ein Abbild eines der Erzengel erschienen wäre und ihm erklärt hätte, seine Familie und er seien für eine heilige Mission auserwählt. Und Nahrmahn verstand auch, warum sich die gesamte Familie Wylsynn all die Jahre voller Eifer der Aufgabe gewidmet hatte, die Seele der Kirche des Verheißenen vor Schaden zu bewahren.

So viele Generationen – so viele Leben! –, alle darauf bedacht, die Reinheit und Heiligkeit einer Lüge zu bewahren! Wieder kochte in ihm der mittlerweile vertraute Zorn hoch. All diese Wylsynns, tief im Herzen der Kirche, die ebenso wenig wie alle anderen gewusst oder auch nur geahnt haben, dass die Kirche mit all ihren Lehren nichts anderes war als ein gewaltiges Lügengebäude – mit dem einzigen Zweck, die Menschheit für alle Zeiten zu versklaven und hier auf Safehold gefangen zu halten.

Manchmal fiel es Nahrmahn noch schwerer als sonst, im Hinterkopf zu behalten, dass Langhorne, Bédard und der Rest des Kommandostabs auf Safehold wahrscheinlich wirklich geglaubt hatten, das Richtige zu tun. Nach seinem eigenen körperlichen Ableben hatte Nahrmahn Zeit gehabt, die Befehle zu lesen, die Eric Langhorne ursprünglich erhalten hatte: Pei Kau-yung und Pei Shan-wei hatten sie hier an diesem Ort versteckt, der Eingeweihten mittlerweile als ›Nimues Höhle‹ bekannt war. Nun wusste Nahrmahn, in welchem Maße Langhorne von seinen ursprünglichen Befehlen abgewichen war, als er die Erinnerungen der Kolonisten manipuliert und die Kirche des Verheißenen erschaffen hatte, die jedwede Form fortschrittlicher Technik für alle Zeiten ächtete. Nahrmahn hatte sich redlich bemüht, Langhornes Entscheidungen zu begreifen: Sie konnten nur aus purer Angst, aus schierem Entsetzen heraus geboren sein. Doch weil Nahrmahn nun einmal wusste, wie die ursprünglichen Befehle gelautet hatten, war es ihm unmöglich, Langhorne diese Entscheidungen auch zu vergeben.

Doch den Schueler, den Paityr und der Rest seiner Familie dank des Schlüssels kennengelernt haben, war nicht derselbe Mann wie der Psychopath, dem Das Buch Schueler zugeschrieben wird. Das wirft eine weitere Frage auf, die einen zur Verzweiflung treiben kann: Wer von den beiden war der echte Schueler? Der Autor ›seines‹ Buches, oder doch der ›Erzengel‹, der seinerzeit der ganzen Familie Wylsynn aufgetragen hat, niemals zu vergessen, dass es die Pflicht von Mutter Kirche sei, Gottes Kinder zu beschützen und zu nähren?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müsste die Partei, zu der Nahrmahn und seine Freunde gehörten, vermutlich eines Tages den Tempel doch physisch einnehmen. Dann könnte man sich mit dem befassen, was unter dem Bauwerk verborgen lag, ohne Gefahr zu laufen, deswegen unabsichtlich den eigenen Tod herbeizuführen. Vielleicht fände sich die Antwort auch, wenn es gelänge, doch noch auf die Daten zuzugreifen, die so trügerisch und verlockend nah im Schlüssel gespeichert waren. Doch auch das erschien Nahrmahn unwahrscheinlich. Also würde die Frage vermutlich für alle Zeiten unbeantwortet bleiben – was Nahrmahn Baytz wirklich bedauerte. Falls der Mensch, der die Nachricht für die Wylsynns aufgezeichnet hatte, der ›echte‹ Schueler war, hätte Nahrmahn ihn eigentlich gern persönlich kennengelernt.

Wieder musste er an die dunklen Augen des Mannes denken, an die hohen Wangenknochen und an den leidenschaftlichen Ernst, mit dem er gesprochen hatte – mit volltönender, tiefer Stimme und einem sonderbaren Akzent.

»Wir hinterlassen euch eine gefallene Welt«, hatte die Stimme leise und unendlich traurig gesagt. Nahrmahn hatte sich die Aufzeichnung mehrmals ansehen müssen; anfangs hatte es seine ganze Konzentration erfordert, den Mann zu verstehen: In eintausend Jahren hatte sich die Sprache deutlich verändert – vor allem im Klang. Doch selbst das hatte nicht von der Eindringlichkeit des Mannes ablenken können, nicht von seinem durchdringenden Blick. »Das ist nicht die Welt, die uns im Sinn gestanden hat, nicht die Welt, die wir schaffen wollten. Doch selbst Erzengel können vom Bösen berührt und verdorben werden. Der Krieg, der nach Shan-weis Sturz hier auf Safehold getobt hat, ist dafür Beleg genug. Doch Gott hat einen Plan für Seine ganze Schöpfung und für Seine Kinder. Ihr, die ihr diese Botschaft seht, wisset, dass ihr wahrlich Kinder Gottes seid. In Seinem Namen trage ich euch auf, das niemals zu vergessen. Erinnert euch stets daran: So sehr wir Erzengel auch in der Erfüllung unserer Aufgaben gescheitert sein mögen, so sehr wir zugelassen haben, dass Seine Welt befleckt und verderbt wird, es ist und bleibt eure Aufgabe, sich Seiner Liebe zu erinnern und sie in eurem eigenen Leben widerzuspiegeln. Leicht wird diese Aufgabe nicht! Nur zu vielen von euch wird sie Trauer und Verlust bringen, und nur zu oft mag euch diese Aufgabe eine undankbare, bittere Pflicht scheinen. Doch es ist die wichtigste Aufgabe, der ein Mensch sich nur widmen kann. Ich hinterlasse euch diese Botschaft, weil ich euch als meine Wächter sehe, meine Hüter, die Wachposten auf dem Schutzwall. Ziel von Gottes Kirche ist es, Seine Kinder zu leiten, für sie zu sorgen, sie zu lieben und ihnen zu dienen. Lasst nicht zu, dass die Kirche von dieser hohen, heiligen Aufgabe ablässt! Lasst nicht zu, dass sie Stolz und Arroganz verfällt, dem Streben nach weltlicher Macht oder nach Reichtum! Lasst nicht zu, dass sie vergisst, welches Schicksal es zu erfüllen gilt – das Schicksal, für das die Kirche überhaupt nur geschaffen wurde. Bleibt treu, bleibt wachsam, bleibt tapfer und wisset, dass das Ziel und die Aufgabe, denen ihr dient, die Opfer wert sind, die ich euch abverlange!«

Wie hätten die Wylsynns an der Wahrhaftigkeit dieses Mannes zweifeln können?, fragte sich Nahrmahn. Ich kenne die Wahrheit über die Erzengel und die Kirche, und obwohl ich die Wahrheit kenne, verspüre ich den Drang, das Bedürfnis, ihm jedes einzelne Wort zu glauben! Kein Wunder, dass Samyl Wylsynn und sein Bruder Zhaspahr Clyntahns Inquisition so abgrundtief verabscheut haben! Und doch …

Nahrmahn seufzte schwer, denn genau das war der Haken an der Sache. Welche Worte der Schueler aus der Aufzeichnung auch immer gewählt hatte, es änderte nichts an den entsetzlich barbarischen Strafen, die in dem Buch verzeichnet waren, das er geschrieben hatte. Und das Volk von Safehold kannte die Aufzeichnung im geheimen Schlüssel nun einmal nicht. Seit fast eintausend Jahren wurde auf Safehold Schuelers Buch gelesen, wurde jedes Wort darin geglaubt, wurde nach jenem Buch gelebt. Ja, gerade mit den darin verzeichneten harschen, kompromisslosen Anweisungen, wie der ›Zweck‹ von Mutter Kirche zu beschützen und rein zu halten sei, ließ sich jeder einzelne vergossene Blutstropfen ebenso erklären wie jede Gräueltat, die in Gottes Namen begangen worden war.

»Nun«, sagte Nahrmahn, »dann haben wir dem Schlüssel jetzt wohl so ziemlich alles an Information abgerungen, was wir konnten. Und du hast ganz recht: Wir müssen die Möglichkeit im Blick behalten, dass ein anderer Erzengel, möglicherweise auch Schueler selbst, weitere Schlüssel oder Kommandostationen eingerichtet hat. Aber jetzt zu etwas völlig anderem: Hast du noch einmal über meinen Vorschlag nachgedacht?«

»Selbstverständlich, Euer Hoheit.« Owl lächelte; ganz offenkundig belustigte ihn die Vorstellung, er könnte nicht darüber nachgedacht haben.

»Und? Wäre das machbar?«

»Im Rahmen der vorgegebenen Parameter: ja. Allerdings entgeht mir der Sinn eines solchen Vorgehens«, antwortete Owl. Fragend hob Nahrmahn eine Augenbraue, und Owl neigte den Kopf ein wenig zur Seite – eine Geste, die er sich von Nahrmahn abgeschaut hatte. »Wie Sie sich gewiss erinnern werden, Euer Hoheit, sind meine Intuition und meine Fantasie weniger stark ausgeprägt als bei einem Menschen. Ich will keineswegs behaupten, dieses Vorgehen habe keinen Sinn. Ich weise lediglich darauf hin, dass ich keinen Sinn darin sehe.« Er zuckte mit den Schultern. »Angesichts dessen, was in meiner Datenbank gespeichert ist, wird es Jahrzehnte dauern, bis es für mich nötig werden könnte, ›Experimente‹ durchführen zu lassen, um Menschen wie Baron Seamount und Ehdwyrd Howsmyn dabei behilflich zu sein, verlorenes Wissen und verlorene Techniken zurückzugewinnen und zu perfektionieren.«

»Das wohl. Andererseits gibt es auch in deinem Wissensfundus Lücken, oder nicht? Deine Aufzeichnungen sind äußerst umfangreich, aber eben doch nur endlich. Also ist es sehr wohl möglich, dass wir beide Neues, durchaus Nützliches entwickeln, das sich im Rahmen deines Industriemoduls auch produzieren ließe. Und egal, von welcher Seite man es dann betrachtet: Es könnte sich als praktisch erweisen, wenn du in der Lage wärest, virtuelle Experimente durchzuführen. Würdest du mir beipflichten?«

»Ja, diese Möglichkeit besteht. Sie werden es mir aber gewiss nachsehen, wenn ich mir eine Anmerkung gestatte, Euer Hoheit: Es ist statistisch gesehen ungleich wahrscheinlicher, dass Ihr Vorschlag dazu dient, Sie abzulenken und zu unterhalten, als dass dadurch unerwartete, vielleicht gar entscheidende neue Möglichkeiten eröffnet würden. Und Sie werden mir es gewiss auch nicht verübeln, wenn ich darauf hinweise, dass Sie in vielerlei Hinsicht skrupellos sind. Vielleicht trifft es das Wort ›verschlagen‹ sogar noch besser.«

»Ich bin es durchaus gewohnt, meinen Willen zu bekommen«, erklärte Nahrmahn würdevoll. »Gleichzeitig jedoch möchte ich darauf hinweisen, dass es für diejenigen, die das gleiche Ziel verfolgen wie ich selbst, meist von Vorteil ist, mir meinen Willen zu lassen.«

»Bei ihrem letzten Besuch über Kom hat Prinzessin Ohlyvya das ein wenig anders ausgedrückt«, gab Owl zu bedenken. Stillvergnügt lachte Nahrmahn.

»Nur, weil sie mich schon so lange und so gut kennt. Du hingegen bist eine elektronische Persönlichkeit, die mich erst vor bemerkenswert kurzer Zeit kennengelernt hat und die nur in äußerst eingeschränktem Maße über Fantasie und Intuition verfügt. Daher sollte es ein Kinderspiel für mich sein, dich durch ein einfaches Täuschungsmanöver dazu zu bewegen, alles genau so zu tun, wie ich das gern hätte. Darf ich davon ausgehen, dass dir das jetzt auch klar geworden ist?«

»Oh ja«, bestätigte Owl und lächelte. »Voll und ganz, Euer Hoheit.«

Juli,im Jahr Gottes 896

.I.Gletscherherz-Armee,Provinz Westmarch,und(verstärkte) 1. Brigade,Provinz Gletscherherz,Republik Siddarmark

Das Abhörgerät auf der Schulter von Bischof-Kommandeur Cahnyr Kaitswyrths Kasack war viel zu klein, um es mit bloßem Auge zu erkennen – dabei aber bemerkenswert leistungsstark. In seinem Sessel in der fernen Stadt Siddar, in der nächtliche Stille herrschte, lehnte sich Merlin Athrawes zurück und lauschte dem, was ihm das Gerät in Echtzeit übermittelte.

»Mir sind die Depeschen von Captain General Maigwair durchaus bekannt«, fauchte Kaitswyrth und bedachte die Bischöfe Gahrmyn Hahlys und Tymahn Scovayl sowie Colonel Wylsynn Maindayl über den Kartentisch hinweg mit einem finsteren Blick.

Als das Wort ›Captain General‹ fiel, wurden Hahlys’ und Scovayls Mienen gleichzeitig völlig ausdruckslos, während Colonel Maindayl die Lippen zusammenkniff. Der Colonel bekleidete bei Kaitswyrth den Posten, der im Kaiserreich Charis als ›Stabschef‹ bezeichnet wurde. Maindayl blickte drein, als wolle er seinem Vorgesetzten widersprechen oder ihn zumindest von seiner Idee abbringen. Doch aus dem Augenwinkel blickte er zu dem Oberpriester hinüber, der mit steinerner Miene unmittelbar neben Kaitswyrth stand, und biss die Zähne zusammen. Der Oberpriester trug die purpurne Soutane eines Inquisitors des Schueler-Ordens.

Einen Moment lang musterte Kaitswyrth voller unterdrücktem Zorn seine drei Untergebenen. Sonderlich viel Geduld hatte der Bischof-Kommandeur noch nie gehabt. Es war jedoch ungewöhnlich, dass er seine Frustration derart offen zeigte – und das auch noch auf Kosten von Divisionskommandeuren wie Scovayl und Hahlys. Ebenso ungewöhnlich war, dass er seinen Zorn in dieser Weise an Maindayl ausließ – gut, nicht beispiellos, aber dennoch ungewöhnlich.

Natürlich hat er im Moment auch ein bisschen Stress, dachte Merlin und lächelte dünn. Zu schade aber auch!

»Also gut«, fuhr Kaitswyrth dann ein klein wenig ruhiger fort, nachdem nun aller Widerspruch erstickt war. »Ich verstehe Ihre Skepsis, und ich verstehe auch die Bedenken des Captain Generals. Aber wir machen hier längst keine so schweren Zeiten durch wie Bischof-Kommandeur Bahrnabai. Wenn erst einmal der Winter angebrochen ist, dann, natürlich, wird uns das noch gehörig in den Hintern beißen. Aber im Gegensatz zu Bahrnabai haben wir im Augenblick dank des Charayn-Kanal noch freie Nachschubwege bis nach Dohlar. Und es ist völlig unmöglich, dass die Ketzer mit ihren Shan-wei-verdammten …« Er hielt inne, suchte offensichtlich nach den richtigen Worten, dann stieß er ein Grunzen aus. »Diese rauchspeienden gepanzerten Schiffe, an denen Kanonenkugeln einfach abprallen, müssen von Dämonen ersonnen worden sein – und die Idee dazu hat ihnen wahrscheinlich Proctor persönlich eingegeben! Aber auch damit können die Ketzer unmöglich unbemerkt hinter unsere Linien gelangen und den Kanal abriegeln. Außerdem haben wir auf der Strecke von Aivahnstyn bis hierher Versorgungsgüter für mehr als zwei Monate gelagert. Selbstverständlich müssen wir uns noch ein geeignetes Winterquartier suchen, sobald es mit Nachschub eng wird. Und gewiss, es heißt zusätzlich Zeit einzukalkulieren, denn die Männer sollen den Winter über anständige Dächer über dem Kopf haben, nicht bloß Zeltplanen. Aber wir haben gerade einmal Ende Juli, und Vikar Zhaspahr hat völlig recht: Wir müssen den Ketzern so viel Druck wie möglich machen, bevor uns der Schnee zwingt, den Vormarsch zu stoppen.«

Interessant, dass er Zhaspahr Vikar nennt, Magwair aber Captain General!, sinnierte Merlin. Wenn man dem Bischof-Kommandeur zuhört, käme man nie auf die Idee, dass sie beide der ›Vierer-Gruppe‹ angehören … und zumindest laut der offiziellen Kommandostruktur der Armee Gottes heißt Kaitswyrths Oberbefehlshaber Maigwair.

»Nun, richtig, die Ketzer haben Bahrnabai mit ihren neuen Waffen schwere Verluste beigebracht.« Wieder durchbohrte Kaitswyrth seine Untergebenen der Reihe nach mit Blicken. »Andererseits haben sie ihn ohne Vorwarnung angegriffen und ihn völlig überrascht. Und, Langhorne noch mal, abgesehen von deren neu entwickelten Gewehren haben wir keine neuen Waffen gesehen, als wir die Schanzen der Ketzer überrollt haben, oder stimmt das etwa nicht?«

»Doch, das stimmt, Mein Lord«, bestätigte Maindayl nach kurzem Schweigen. »Aber bei allem schuldigen Respekt, Sir, meines Erachtens sollten wir bedenken, dass es sich bei den Ketzern hinter diesen Schanzen um reguläre Truppen der Siddarmark und um Marineinfanteristen der Ketzer gehandelt hat. Jetzt hingegen sieht es ganz danach aus, als hätten wir es mit der Armee der Ketzer zu tun. Und nach allen Berichten über das, was Bischof-Kommandeur Bahrnabai widerfahren ist, scheint diese Armee über eine gänzlich andere Ausrüstung zu verfügen.«

Merlin musste sich eingestehen, dass es beachtlichen Mut erforderte, Kaitswyrth zu widersprechen, ob mit Nachdruck oder so zaghaft wie jetzt gerade. Dass neben ihm Bischof-Kommandeur Cahnyrs Sonderintendant Sedryk Zavyr stand und Kaitswyrth ein Gesicht zog, als hätte er in eine grüne Dattelfeige gebissen, tat sicher ein Übriges. Kaitswyrth spießte seinen Stabschef mit finsterem Blick förmlich auf, doch dann atmete er tief durch und rang sich ein Nicken ab.

»Da haben Sie recht, Wylsynn«, räumte er ein. »Und auch wenn das manchem vielleicht noch nicht klar ist …«, stirnrunzelnd blickte er Scovayl und Hahlys an, »bin ich mir dessen durchaus bewusst. Aber selbst wenn die Ketzer wirklich all das haben, wovon Wyrshym berichtet hat, sitzen wir hier nicht in einem gottverfluchten Tal fest – ohne jegliche Flügelsicherung und ohne eine andere Wahl, als dem Feind geradewegs entgegenzumarschieren.« Mit dem Zeigefinger tippte Kaitswyrth mehrmals auf die ausgebreitete Karte und führte ihnen so noch einmal die exakte Position seiner Armee vor Augen: im äußersten Südostzipfel der Provinz Westmarch, eingekeilt zwischen den Provinzen Gletscherherz und Klippenkuppe … mitten im Wald von Ahstynwood. »Die Gletscherherz-Kluft ist mehr als einhundertundfünfzig Meilen breit, um Langhornes willen! Und die Ketzer haben schlimmstenfalls … wie viel? Zehntausend Mann? Seien wir doch großzügig und sagen fünfzehntausend! Das sind dann gerade einmal hundert Mann pro Meile, und ein Großteil des Gebiets ist dichtester Wald – ach, eigentlich alles! Bei all den Bäumen werden denen diese gottverdammten Gewehre mit ihrer widernatürlichen Reichweite nicht viel nutzen, oder?«

Einen Moment lang hielt Maindayl dem Blick seines Vorgesetzten stand. Merlin fragte sich schon, ob der Stabschef einwerfen würde, dass die gleichen Bäume natürlich auch Kaitswyrths eigene Mobilität deutlich einschränkten. Doch falls Maindayl tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt hatte, überlegte er es sich klugerweise anders.

»Und dann gibt es da noch etwas zu bedenken«, knurrte Kaitswyrth und hieb erneut auf die Karte. »Im Augenblick stecken wir hier mitten im Wald und können uns nicht vom Fluss entfernen – wir hängen hier so hilflos wie ein Zinkenbock im Maul einer Peitschenechse! Ich weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich möchte mir bei Shan-wei nicht während des Winters hier draußen den Arsch abfrieren! Und vor allem möchte ich nicht, dass sich die Ketzer, die vor uns stehen, nach Herzenslust auf unser Kommen vorbereiten können, während wir darauf warten, dass nach und nach die Eiszapfen an unseren Nasenspitzen abtauen. Schauen Sie her!«

Mit dem Zeigefinger folgte er dem Lauf des Daivyn, von der Gletscherherz-Kluft bis hinunter zum Eissee.

»Derzeit sind die Nachschublinien dieses Dreckskerls Eastshare völlig gesichert – von seiner aktuellen Position bis nach Siddar-Stadt. Aber wir sind nur zweiundsiebzig Meilen vom Eissee entfernt, und bis nach Saithor sind es weniger als zweihundertachtzig, wenn wir den See geradewegs durchqueren und dann den Grauwasser nehmen. Ach, sogar von Tairys selbst sind wir keine hundertachtzig Meilen weit entfernt! Meinen Sie vielleicht, es würde den Ketzern keinen gehörigen Schlag versetzen, wenn wir die Provinzhauptstadt einnähmen – ganz egal, was die uns in der Sylmahn-Kluft angetan haben? Ich würde wirklich gern so weit vorstoßen – oder zumindest weit genug, um ein paar tausend Kavalleristen vorauszuschicken, die dann das ganze Schlangennest abfackeln! Aber notfalls gebe ich mich auch damit zufrieden, den Eissee zu überqueren. Wenn wir den Punkt einnehmen, an dem der See den Grauwasser speist, packen wir beim nächsten Feldzug Gletscherherz geradewegs an der Gurgel!«

Tja, das stimmt leider, dachte Merlin säuerlich. Wahrscheinlich hat Eastshare da zwar auch noch ein Wörtchen mitzureden, aber mit einem hat Kaitswyrth zweifellos recht: Wenn er es tatsächlich schafft, am Herzog vorbeizukommen, könnte das richtig übel werden. Ich wünschte wirklich, wir hätten eines der Panzerschiffe auf dem Eissee!

»Wir verfügen über mehr als einhundertfünfzigtausend Mann, einschließlich der Tempelgetreuen Milizen, die wir eingesammelt haben«, fuhr Kaitswyrth fort und tippte ein weiteres Mal auf die Karte – sanfter zwar, aber trotzdem mit Nachdruck. »Die Ketzer können es sich einfach nicht leisten, eine Position zu weit flussaufwärts zu beziehen und sich vom See zu entfernen. Dann müssten sie schließlich ständig damit rechnen, dass wir doch hinter deren Linien gelangen und ihnen den Rückweg abschneiden – so wie uns das beim ersten Haufen Ketzer gelungen ist. Wenn wir den Feind frontal angreifen und zugleich auch von der Seite anrücken und damit den Rücken der Ketzer bedrohen, dann müssen sie sich zurückziehen. Und wenn wir sie dann bis zum See zurückgetrieben haben, kommen sie nicht mehr weiter – und da behindern uns dann auch keine Bäume mehr. Ich würde zu gern sehen, wie die es anstellen wollen, unter Dauerbeschuss ihre Truppe auf Kähne einzuschiffen!

Und wenn sie versuchen, am Seeufer entlang zu fliehen, ganz ohne Unterstützung durch Kavallerie, ist es leicht, sie zu umgehen. Dann können wir sie zwingen, sich auf freiem Feld zum Kampf zu stellen. Deswegen will ich keine Argumente mehr hören, weswegen wir hier unbedingt die Stellung halten müssen! Schlimmstenfalls nehmen wir geringfügige Verluste hin und verbrauchen einen Teil der Versorgungsgüter, die wir entlang des Flusses deponiert haben. Aber wenn alles gut läuft, stoßen wir weit genug vor, dass wir Gletscherherz hinter uns haben und im Frühling das Tiefland erreichen. Und in der Zwischenzeit bringen wir noch jede Menge von diesen dreckigen Ketzern um. Haben wir uns verstanden?«

Sein Stabschef und beide Divisionskommandeure nickten, und der Bischof-Kommandeur nahm die Geste auf – knapp und selbstsicher.

»Das wäre dann alles. Bis morgen Abend möchte ich die Marschpläne sehen. Wegtreten!«

Das war jetzt nicht gerade das, was ich hören wollte, dachte Merlin. Er erhob sich aus seinem Sessel, trat an das Fenster heran und blickte auf die Lichter von Siddar-Stadt hinab. Während der letzten Tage hatten Gewitter getobt, doch nun hatten sie sich aufgelöst. Die Luft war klar und kühl; in der nächtlichen Schwärze funkelten die Lichter der Stadt. Allzu viele waren es nicht, und im Vergleich zu dem, was Nimue Alban aus der Terra-Föderation gewohnt war, waren sie auch alles andere als hell. Aber immerhin waren sie zahlreich genug, um einen Betrachter von hier oben die wichtigsten Straßen der Stadt erkennen zu lassen. Trübsinnig ließ Merlin den Blick über die Stadt schweifen.

Zu schade, dass Kaitswyrth nicht einfach in Panik geraten ist! Anzunehmen, dass Eastshare nicht über die gleichen Waffen verfügt, die Kynt in der Sylmahn-Kluft zum Einsatz gebracht hat, ist idiotisch. Aber vielleicht ist es keine Idiotie, vielleicht versteht der Bischof-Kommandeur einfach nur genau, was Clyntahn von ihm will? Der Großinquisitor hat darauf bestanden, Kaitswyrths Armee offiziell Gletscherherz-Armee zu nennen, während Wyrshyms Truppen die Sylmahn-Armee bilden. Zeigt irgendwie ziemlich deutlich, was nach Clyntahns Meinung gefälligst zu geschehen hat, nicht wahr? Und Kaitswyrth wird deutlich eher als Wyrshym versuchen, dem Großinquisitor das zu geben, was der will … militärisch sinnvoll oder nicht!

Leider sind seine Schätzungen, was die Stärke der Truppen vor ihm angeht, gar nicht so falsch – und vom Grauwasser ist er weniger als einhundertachtzig Meilen entfernt, ob er den Eissee nun nördlich oder südlich umrundet. Die Strecke könnte er in weniger als zwei Fünftagen schaffen – stünde nirgends in der Gegend jemand herum, der darauf wartet, das Feuer auf ihn zu eröffnen.

Wenn es ihm gelänge, Eastshares Versorgungslinien in der gleichen Art und Weise zu durchbrechen, wie das HMS Delthak und HMS Hador bei denen von Bischof-Kommandeur Bahrnabai Wyrshym gelungen war, bliebe Eastshare wirklich keine andere Wahl, als den Rückzug anzutreten. Trotz seiner überlegenen Bewaffnung konnte und durfte er nicht ignorieren, dass einhunderundfünfzigtausend Mann einen Umfassungsangriff vorzunehmen in der Lage waren.

Es wird wohl Zeit, das Seijin Ahbraim dem Herzog erneut einen Besuch abstattet. Aber vorher sollte ich noch einmal mit Nahrmahn reden. Und auch, er griff auf sein internes Chronometer zu, mit Cayleb, wo doch jetzt sein Kom-Gespräch mit Sharleyan beendet ist.

»Euer Durchlaucht, bitte verzeihen Sie die Störung, aber Sie haben Besuch.«

Ruhsyl Thairis, Herzog Eastshare, blickte auf, als Corporal Slym Chalkyr, sein langjähriger Offiziersbursche, Captain Lywys Braynair in das behelfsmäßige Arbeitszimmer im Kommandostand führte. Die Truppen hatten den Kommandostand aus dicken Baumstämmen und Erdwällen angelegt, robust genug, sogar einem direkten Treffer durch eines der Sechs-Zoll-Steilfeuergeschütze der Kaiserlichen Armee von Charis zu widerstehen – alles, wie es sich für das Herzstück von Eastshares Armee gehörte. Die Pioniere hatten darüber hinaus beim Errichten des Unterstands auch auf mögliche Schussfelder geachtet. Matt spiegelte sich der Lampenschein im Kommandostand auf den Läufen der Gewehre, die entlang einer der Wände aufgereiht standen.

Neugierig hob Eastshare eine Augenbraue und blickte seinen recht jugendlich wirkenden rothaarigen Adjutanten fragend an.

»Was für eine Art Besucher ist es denn, Lywys?«, erkundigte er sich, und sein Adjutant lächelte.

»Die Art Besucher, die stets zu Ihnen vorzulassen Sie mir aufgetragen haben, Euer Durchlaucht. Wenn ich es richtig verstanden habe, handelt es sich um einen Freund von Seijin Merlin.«

»Ach?« Eastshare erhob sich. »Dann ist es wohl Seijin Ahbraim, nicht wahr?«

»Ganz recht, Euer Durchlaucht«, erklang eine andere Stimme – dieses Mal ein Tenor –, und Ahbraim Zhevons schritt an Captain Braynair vorbei. Wie stets trug er schlichte Reisekleidung und hatte das braune Haar zu einem Zopf geflochten, den er zu einem Knoten zusammengebunden trug. Der unerwartete Gast verneigte sich vor dem Herzog.

»Es freut mich, Euch zu sehen«, begrüßte ihn der Herzog und drückte seinem Besucher den Unterarm. Jemanden aus dem einfachen Volk hätte er vermutlich nicht derart herzlich und unbefangen begrüßt, doch Ahbraim Zhevons gehörte nicht zum einfachen Volk. Zhevons hatte niemals den Titel für sich in Anspruch genommen, trotzdem zweifelte Eastshare keinen Moment daran, dass sein Besucher ebenso sehr ein Seijin war wie Merlin Athrawes.

»Andererseits«, fuhr der Herzog fort und ließ den Unterarm des Seijin los, »ist es nicht Eure Art, für einen kleinen Schwatz vorbeizuschauen, wann immer Ihr gerade in der Nähe seid. Ich dachte, Ihr wäret nach Siddar-Stadt zurückgekehrt?«

»Meines Wissens habe ich nie behauptet, ich wolle in die Hauptstadt zurückkehren, Euer Durchlaucht«, widersprach Zhevons. »Zugegeben: Ich hatte nicht damit gerechnet, bereits nach weniger als zwei Fünftagen zurückzukehren, aber manche Pläne ändern sich nun einmal. Und manchmal ist das mehr als bedauerlich.«

»Inwiefern?« Eastshare kniff die Augen zusammen.

»Mir scheint, unser Freund Kaitswyrth steht kurz davor, eine rauere Gangart vorzulegen. Wenn ich mich nicht sehr täusche, plant er einen Umfassungsangriff gegen Ihre Stellungen. Wussten Sie, dass seine Truppen jetzt offiziell als Gletscherherz-Armee bezeichnet werden?«

»Ganz schön ehrgeizig«, versetzte der Herzog trocken.

»Vermutlich Clyntahns dezenter Hinweis darauf, wohin diese Armee als Nächstes ziehen soll. Kaitswyrth hat sich das anscheinend sehr zu Herzen genommen. Sicher würde er Sie am liebsten geradewegs bis zum See zurückdrängen, aber ich nehme an, notfalls gäbe er sich auch damit zufrieden, die Gegend um den See wieder fest im Griff zu haben und Sie nach Saithor und Tairys zu scheuchen.«

»Ach ja?« Eastshare ließ die Zähne aufblitzen. Ein Lächeln war das nicht. »Da haben meine Leute und ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden.«

»Ich glaube nicht, dass er frontal gegen Sie vorrücken wird.«

»Und ich glaube, dass er gar keine andere Wahl hat, Meister Zhevons. Ihr habt für unsere Stellungen hier wirklich den idealen Ort ausgesucht. Zu beiden Seiten davon ist der Wald zu dicht, als dass der Gegner dort Truppen in Formation durchmarschieren lassen könnte. Und Kaitswyrths Kavallerie wird ihm hier überhaupt nichts nutzen. Sowohl der Fluss wie die Landstraße führen geradewegs durch unsere Linien. Kaitswyrth kommt nicht an uns vorbei, will er nicht gleich eine neue Straße anlegen – und zwar so weit von uns entfernt, dass wir ihn nicht einmal mit unseren Steilgeschützen erwischen. So könnten wir ihn leicht beschäftigen … sagen wir: bis nächsten Sommer.«

Stimmt wohl, dachte Ahbraim Zhevons, der keine übermäßig große Ähnlichkeit mit Merlin Athrawes hatte – dank der Rekonfigurierbarkeit der letzten Generation PICAs. Der Wald von Ahstynwood, der fast die gesamte Gletscherherz-Kluft bedeckte, bestand vor allem aus uraltem safeholdianischen Baumbestand, nur hier und dort fanden sich terranische Einwanderer. Manche der Baumstämme hatten einen Durchmesser von sechs oder sogar zehn Fuß – einige der Titaneichen erreichten gar mehr als das Doppelte. Gott allein wusste, wie tief diese Riesen wurzelten! Obendrein war der Waldboden von einem dichten Sekundärwald aus schier undurchdringlichen Büschen überzogen, hier und dort durchbrochen von kleineren Hainen noch dichter wachsender Baumsorten. Das Unterholz war noch schlimmer als die unberührte Wildnis zurzeit des Amerikanischen Bürgerkriegs aus unvordenklichen Terra-Zeiten. Denn auf Terra hatte nie Drahtrebe gewuchert, deren Dornen sie zu einem wunderbaren, natürlichen Stacheldraht machten, und auch Feuerranken hatte es dort nicht gegeben – diese Kletterpflanze war nicht nur exakt so brennbar, wie ihr Name vermuten ließ, sondern zu allem Überfluss auch noch giftig. Durch dieses Unterholz würde Kaitswyrths Gletscherherz-Armee ganz gewiss nicht so bald neue Straßen ziehen.

»Sicher, Kaitswyrth könnte möglicherweise kleinere Infanterietrupps an uns vorbeischleichen lassen«, fuhr Eastshare fort und trat an die Wandkarte heran, die seine schwer befestigte aktuelle Stellung zeigte. Major Lowayl, der Kommandeur seiner Pioniereinheiten, brachte diese Karte täglich auf den neuesten Stand, und der Herzog schenkte ihr einen Blick, wie echte Geizhälse ihn ausschließlich Goldbarren vorbehielten. »Aber er wird diese Stellung nicht stürmen, ohne für jeden erbeuteten Zoll bitter zu zahlen – und im Busch, das weiß ich genau, haben meine Jungs eine viel bessere Chance als seine. Dort draußen stehen zwei vollständige Bataillone Aufklärer-Schützen, die nur auf feindliche Patrouillen warten. Wenn seine Kundschafter wirklich die Köpfe in dieses Hornissennest stecken wollen, wird Kaitswyrth nicht allzu viele Berichte über diese Patrouillengänge erhalten.«

Kein Muskel in Zhevons Gesicht zuckte, aber es fiel ihm nicht leicht, so unbewegt zu bleiben. Die safeholdianische Hornisse maß durchschnittlich gute zwei Zoll, und auch wenn ihr Gift bei den meisten Menschen weniger Schaden anrichtete als bei eigentlich einheimischen Lebensformen, zeigten doch etwa zehn Prozent aller Menschen darauf allergische Reaktionen … nicht selten mit tödlichem Ausgang. Ebenso wie das terranische Insekt, das hier als Namensgeber gedient hatte, vermochte auch die safeholdianische Hornisse mehrmals zuzustechen … Doch anders als ihr terranisches Gegenstück griff diese Tierart instinktiv die Augen der Opfers an. Die umfassende Ausbildung der Aufklärer-Schützen machte den Vergleich des Herzogs damit nur noch um so treffender.

»Es freut mich, dass Sie mit Ihrer Lage im Großen und Ganzen zufrieden sind, Euer Durchlaucht«, meinte Zhevons nach kurzem Schweigen. »Aber allmählich beschleicht mich der Verdacht, ich könnte Sie mit meinem Enthusiasmus ein wenig zu sehr … mitgerissen haben. Von hier bis zum See sind es sechzig Meilen. Können Sie eine derartige Distanz wirklich gut genug abdecken? Sind Sie sich sicher, dass er keine Batterien in Stellung bringen und Ihren Frachtern damit den Zugang zum See versperren kann?«

»Ich kann natürlich nicht dafür garantieren, dass er es nicht versucht«, räumte Eastshare ein. »Aber ich kann garantieren, dass er, sollte er das wirklich versuchen, keinen großen Spaß an der Sache haben wird. Colonel Celahk hat sich da etwas überlegt, um uns die Spinnenratten vom Leib zu halten.«

Zhevons neigte den Kopf zur Seite. Colonel Hynryk Celahk war Eastshares Leitender Artillerist. Er stammte aus dem Alten Königreich Charis, hatte zuvor als Offizier bei der Flotte gedient und liebte inbrünstig alles, was Bumm! machte.

»Sagen wir: Wenn der Gegner wirklich versuchen sollte, Sechspfünder oder meinetwegen sogar Zwölfpfünder in Stellung zu bringen, dann ist er dazu herzlich eingeladen. Der Colonel ist dafür gerüstet. Selbst wenn Kaitswyrth es tatsächlich schaffen sollte, uns zum Rückzug ein Stück weiter entlang des Flusses zu bewegen, wird Hynryk sie bestimmt dazu animieren können, währenddessen respektvollen Abstand zu uns zu halten.«

»Ich verstehe.« Nachdenklich rieb sich Zhevons das Kinn, dann nickte er. »Das klingt ganz danach, als hätte ich mir unnötig Sorgen gemacht.«

»Nein, unnötig sind diese Sorgen wahrlich nicht, Meister Zhevons«, widersprach Eastshare. »Zahlenmäßig sind wir in einem Verhältnis von mehr als zehn zu eins unterlegen. Bei einem solchen Zahlenverhältnis gibt es so etwas wie eine sichere Stellung nicht. Aber eines kann ich Euch versprechen: Unser Freund Kaitswyrth wird wahrlich keine Freude daran haben, uns aus dieser Stellung zu vertreiben. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass er das überhaupt versuchen wird – nicht nach dem, was Kynt dem armen Wyrshym angetan hat … und Brigadier Taisyn hat ihm ja auch schon einige Verluste beigebracht. Also: Eure Warnung schadet gewiss nicht! Und wo wir gerade so offen miteinander reden: Kaitswyrth hat noch zwei Monate oder ein bisschen mehr, um den aktuellen Feldzug fortzusetzen. Wenn er tatsächlich glaubt, er könnte uns aus der Kluft vertreiben, wäre es töricht von ihm, diese Chance nicht zu ergreifen, bevor ihm Schnee um die Ohren weht. Das heißt, ich war wohl ein bisschen zu optimistisch, was meine Vermutungen hinsichtlich seiner Pläne betrifft. Ja, sogar so optimistisch, dass er uns ohne Ihre Warnung vielleicht tatsächlich überrascht hätte.«

»Das bezweifle ich sehr.« Zhevons lächelte. »Aber es ist sehr freundlich von Ihnen, es so auszudrücken, Euer Durchlaucht.«

»Nun, Ihr seid nun einmal ein Freund von Seijin Merlin«, merkte Eastshare an und lächelte, »und Freunden von Seijin Merlin gegenüber bin ich immer ausgewählt höflich.«

Sein Lächeln verwandelte sich in ein ausgewachsenes Grinsen, das aber rasch wieder erlosch. Eastshare verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete nachdenklich die schematische Darstellung seiner Befestigungsanlage.

»Möglicherweise«, sagte er schließlich, »war ich wirklich übermäßig zuversichtlich. Lywys?«

»Jawohl, Euer Durchlaucht?«, antwortete der junge Captain.

»Richten Sie Major Lowayl aus, dass ich ihn dringend sprechen muss. Vermutlich hat er sich bereits zur Nacht zurückgezogen, also bitten Sie ihn freundlicherweise um Verzeihung, dass ich ihn wecken lasse.«

»Sofort, Euer Durchlaucht.« Zum militärischen Gruß legte Captain Braynair die Hand an die Brust und verneigte sich höflich vor Zhevons, eher er davoneilte. Eastshare blickte zu Chalkyr hinüber.

»Wir werden wohl ein paar Tassen heiße Schokolade brauchen, Slym.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Der Abend könnte deutlich länger werden, als jeder – außer Meister Zhevons vielleicht – geahnt haben dürfte.«

»Aye, Euer Durchlaucht. Wünschen Sie dazu auch ein paar Sandwiches?«

»Gar keine schlechte Idee«, antwortete Eastshare beifällig. Für einen winzigen Moment nahm der grauhaarige Corporal Haltung an, dann verschwand er.

»Leider werde ich nicht bleiben können, Euer Durchlaucht«, bat Zhevons um Entschuldigung. »Ich habe noch etwas zu erledigen, und wegen meines kurzen Ausflugs hierher bin ich bereits jetzt spät dran.«

»Ich verstehe.« Eastshare nickte. »Ich danke Euch noch einmal für die Warnung und verspreche, das Beste daraus zu machen.«

»Mehr könnte ich unmöglich verlangen, Euer Durchlaucht.«

Zhevons verneigte sich und verließ ebenfalls das herzogliche Arbeitszimmer – nicht ohne ein weiteres winziges Abhörgerät zurückzulassen. Er war gerade wieder spurlos (wie es sich für einen Seijin gehörte) im Wald verschwunden, während sein PICA auf dem Weg zu dem getarnten Aufklärer-Schwebeboot auf Merlin-Athrawes-Modus umstellte, da erschien Lowayl bereits in Eastshares Arbeitszimmer: Der Major wirkte geradezu widernatürlich wach und sah tadellos gepflegt aus.

»Sie wollten mich sprechen, Euer Durchlaucht?«

»Allerdings.« Eastshare trat wieder an die Wandkarte heran und tippte mit dem Finger darauf. »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erklärte, Kaitswyrth beabsichtige einen Frontalangriff, unterstützt von zwei Flügeln, um uns zum Rückzug zu zwingen?«

»Ich würde sagen, er braucht dringend einen guten Bédardisten, der ihn wieder zur Vernunft bringt, Euer Durchlaucht«, erwiderte der Major forsch (was ihn jünger wirken ließ als die zwölf Jahre, die er tatsächlich jünger als Eastshare war) und lächelte breit.

»Das ist genau das Selbstbewusstsein, das Generäle sehen wollen«, lobte ihn Eastshare. »Aber ein besonnener General zieht auch unwahrscheinliche, aber mögliche Entwicklungen in Erwägung. Deswegen gibt es ein paar Kleinigkeiten, mit denen ich unsere aktuelle Stellung noch verbessern möchte. Und Sie suchen sich einen Ihrer besten Pioniere und besorgen ihm ein paar anständige Helfer, mit denen er dann zum Eissee zieht. Melden Sie sich über Semaphore bei Erzbischof Zhasyn. Es kann nicht schaden, wenn er auch noch ein paar tausend Grubenarbeiter aus Gletscherherz zusammentrommelt und sie anweist, Spitzhacke und Schaufel mitzubringen. Ich möchte an der Einmündung des Daivyn in den See einen ordentlich verstärkten Brückenkopf sehen. Falls uns der Gegner tatsächlich zurücktreibt – oder falls es mir auch nur angeraten erscheinen sollte, unsere Kommunikationswege zu verkürzen –, möchte ich, dass der Zugang zum See durch eine richtig massive Stellung gesichert ist.«

»Jawohl, Euer Durchlaucht.« Lowayl hatte seinen Notizblock gezückt und schrieb eifrig mit.

»Gut. Sobald das erledigt ist, stellen Sie mir ein weiteres Arbeitskommando zusammen – genau hier, am Nordende unserer Stellung. Wenn ich Kaitswyrth wäre und ernstlich vorhätte, uns aus der Gegend zu fegen, würde ich versuchen, unsere Stellung zu umrunden und dann wieder auf die Landstraße zu kommen. Von dort aus könnte ich dann Haidyrberg angreifen … auf jeden Fall aber hätte ich dann meine Leute wenigstens schon auf der anderen Seite der gegnerischen Stellung. Falls Kaitswyrth tatsächlich genauso denken sollte, würde ich ihn in dieser Hinsicht gern ein bisschen … entmutigen. Deswegen hatte ich mir gedacht …«

Merlin lauschte den beiden Offizieren der Imperial Charisian Army, während er die Leiter zum Cockpit des Aufklärer-Schwebeboots erklomm. Mit einer Hand tastete er nach dem schwarzen Spitzbart, der gerade wie in einem beschleunigten Holo aus seinem Kinn wuchs, während gleichzeitig alle Gesichtszüge zur Normalkonfiguration zurückkehrten. Zufrieden lächelte Merlin Athrawes.

.II.Wald von Ahstynwood,südwestlich von Haidyrberg,Provinz Westmarch,Republik Siddarmark

»Da vorne ist was, Sergeant«, meldete Private Pahloahzky. Platoon Sergeant Nycodem Zyworya verkniff sich die Grimasse, die zu ziehen sein erster Impuls gewesen war.

Shyman Pahloahzky war kaum siebzehn Jahre alt, litt unter massiver Akne und hatte mit seinen blauen Augen bislang deutlich weniger vom Leben gesehen, als er andere gern glauben machte. Seit Bischof-Kommandeur Cahnyrs Armee im Ansturm gegen die Schanzen der Ketzer ihren ersten Blutzoll entrichtet hatte, war der junge Bursche von Tag zu Tag nervöser geworden. Mit großspurigem Auftreten versuchte er nach Kräften, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen – was gelegentlich mehr als nur enervierend war. Trotzdem versucht er wirklich, ein guter Soldat zu sein, ermahnte sich Zyworya selbst.

»Was denn so, Shyman?«, fragte er, als der ersten Meldung keine Erklärungen folgten.

»Weiß nicht«, gestand Pahloahzky. »Aber in einem der Bäume da vorn habe ich ’ne Bewegung gesehen. Für ein Eichhörnchen oder ’ne Baumechse war’s zu groß.«

Zyworya verbiss sich eine ätzende Aufzählung aller erdenklichen Dinge, die größer als Eichhörnchen oder Baumechsen waren und sich allesamt zweifellos auch in einem gottlosen Wald wie diesem hier fanden.

»Ich verstehe«, entgegnete er stattdessen. »Na, dann sollten Sie wohl Lieutenant Byrokyo informieren.«

»Öhm … jawohl, Sergeant.« Angesichts der Vorstellung, dem Lieutenant unter die Augen zu treten, schluckte Pahloahzky hörbar, und Zyworya verkniff sich ein Lächeln.

»Er ist gleich da hinten«, fuhr der Unteroffizier fort und deutete den Pfad entlang, dem der 2. Zug seit geraumer Zeit folgte. Gehorsam trottete Pahloahzky gegen die Marschrichtung den mittleren Gliedern des Zuges entgegen.

»Meinen Sie, er hat wirklich was gesehen, Hagoh?«, erkundige sich Zyworya. Corporal Raymahndoh Myndaiz zuckte mit den Schultern.

»Ich bin mir verdammt sicher, dass er irgendwas gesehen hat, Sarge.« Der Corporal verzog das Gesicht. »Ich hab’s aber nicht gesehen. Was das gewesen sein könnte – die überaktive Fantasie des Jungen eingeschlossen –, weiß Langhorne allein. Und der erzählt’s mir nicht.«

Zyworyas Mundwinkel zuckten, doch zugleich schüttelte er tadelnd den Kopf. »Sie wissen doch, wie Pater Zhorj darüber denkt, den Namen der Erzengel ungebührlich im Munde zu führen, Hagoh!«

»Wer führt hier irgendwelche Namen ungebührlich im Munde?«, versetzte Myndaiz. »Ich habe bloß gesagt, dass er mir nicht erzählt, was Shyman gesehen oder nicht gesehen hat.«

Erneut schüttelte Zyworya den Kopf, dann machte er auf dem Absatz kehrt und folgte Pahloahzky.

Lieutenant Byrokyo, Führer des 2. Zuges, war kaum zwei Jahre älter als Private Pahloahzky und nicht einmal halb so alt wie Zyworya. Auch der Lieutenant hatte immer noch etwas von der Unbeholfenheit der Jugend an sich … dort aber endeten auch schon die Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Private. Byrokyo war selbstbewusst, gebildet und belesen und hätte sicher einen guten Lehrer abgegeben.

Zumindest nach Zyworyas Meinung gehörte Byrokyo zu den besseren Subalternoffizieren der Gletscherherz-Armee.

»… groß war es denn, Shyman?«, fragte Byrokyo gerade, als Zyworya in Hörweite kam.

»Das weiß ich nicht genau, Sir«, gestand Pahloahzky, wahrscheinlich bereitwilliger, als er das einem der Unteroffiziere des Zuges gegenüber eingeräumt hätte. Noch etwas musste Zyworya dem Lieutenant zugestehen: Jung oder nicht, Byrokyo gelang das Kunststück, stets ein offenes Ohr für seine Untergebenen zu haben, ohne damit die eigene Autorität zu untergraben. »Ich habe das nur ein paar Sekunden lang gesehen, und bei all dem Laub und den Schatten kann man in dem trüben Licht schon ganz schön durcheinander kommen.«

»Aber es befand sich eindeutig dort oben in der Titaneiche?«

»Jawohl, Sir.«

»Und es ist darin noch höher geklettert?«

»Jawohl, Sir.«

»Können Sie dem Platoon Sergeant den Baum zeigen – und auch sagen, in welcher Höhe das ungefähr war?«

»Jawohl, Sir.«

Nachdenklich blickte Byrokyo ihn an, dann blickte über die Schulter des Privates hinweg zu Zyworya. Der Platoon Sergeant zuckte mit den Schultern und vollführte mit der Hand eine ›Da-muss-ich-passen‹-Geste. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Lieutenants.

»Na gut, Shyman«, sagte er, »dann bespreche ich das jetzt mit dem Platoon Sergeant.«

»Jawohl, Sir!«

Offensichtlich erleichtert zog sich Pahloahzky zurück – gerade so, dass er zwar außer Hörweite war, aber in kürzester Zeit zum Lieutenant zurückeilen könnte, käme ein solcher Befehl. Byrokyo bedeutete Zyworya mit einer Handbewegung, näher zu treten.

»Was meinen Sie?«, fragte er leise.

»Sir, Pahloahzky ist ’n guter Junge, aber eben ein bisschen nervös. Der könnte sich die Sache einbilden.«

»Es gibt einen Unterschied zwischen ›könnte sich die Sache einbilden‹ und ›bildet sich die Sache ein‹«, gab Byrokyo zu bedenken. Der Platoon Sergeant nickte.

»Das stimmt natürlich, Sir. Deswegen habe ich ihn ja auch zu Ihnen geschickt.«

Nun war es an Byrokyo zu nicken. Nachdenklich trommelte er mit den Fingern der rechten Hand auf seine Schwertscheide. Der Dienst bei der Armee Gottes war ganz anders, als Antonyo Byrokyo erwartet hatte. Vermutlich hatte er sich das ganz und gar selbst zuzuschreiben: Er hatte sich so tief in seine Bücher vergraben, dass er nie darüber nachgedacht hatte, ob die Welt seiner Heldengeschichten etwas mit dem wirklichen Leben zu tun hatte. Beispielsweise waren in keiner dieser Heldengeschichten die Strafen Schuelers vorgekommen. Schon der Kampf Mann gegen Mann in einer echten Schlacht war ungleich brutaler, als sich Byrokyo trotz all seines Wissens hatte vorstellen können. Aber was nach der Schlacht geschah, war noch um einiges schlimmer.

Sein Zug gehörte zur 1. Kompanie des 1. Regiments der Zion-Division. Diese Division hatte den letztendlich erfolgreichen Ansturm gegen die Schanzen der Ketzer am Daivyn angeführt und hatte dabei hohe Verluste hinnehmen müssen. Mehr als die Hälfte der Soldaten waren tot oder verwundet. Der 2. Zug konnte sich geradezu glücklich schätzen, nur neun seiner vierundzwanzig Männer verloren zu haben. Antonyo Byrokyo hatte nicht die Absicht, weitere Soldaten zu verlieren, denn es waren nun einmal seine Soldaten – Männer, die er seit dem Aufbruch aus den Tempel-Landen kannte und anführte. Er war für sie verantwortlich, und es war immer besser, ein bisschen zu vorsichtig zu sein als nicht vorsichtig genug.

»Also gut«, entschied er. »Wir werden jetzt nicht gleich bei jedem Schatten in Deckung gehen, Nycodem, aber unnötige Risiken sollten wir auch vermeiden. Myndaiz’ ganzer Trupp und Sie sehen sich das an, Nytzah und ich halten hier die Stellung und geben Ihnen Rückendeckung. Lassen Sie sich von Pahloahzky die Titaneiche zeigen, und umstellen Sie den Baum. Und dann begutachten Sie die Lage.« Er hob die Schultern. »Auch wenn sich Pahloahzky das Ganze vielleicht nur einbildet, sollten Sie die Sache angehen, als wäre es blutiger Ernst. Und lassen Sie den Private deutlich wissen, dass wir ihn nicht einfach ignorieren. Ich habe nichts gegen Leute mit überaktiver Fantasie, die uns vor Dingen warnen, die nicht da sind. Es hat doch keinen Sinn, wenn alle Angst davor haben, für eine Falschmeldung zusammengestaucht zu werden, obwohl sie sich ganz sicher sind, etwas bemerkt zu haben.«

»Jawohl, Sir.« Zum Salut schlug Zyworya Langhornes Szepter, dann gab er dem wartenden Private mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen, dass es weiterginge. Gemeinsam kehrten sie zum vordersten Glied des Zuges zurück.

Corporal Lahzrys Mahntsahlo – 3. Trupp, 1. Zug, B-Kompanie, 1. Bataillon des 1. Aufklärer-Schützenregiments – murmelte einen Fluch, als die Armee Gottes vorsichtig dem Zinkenechsenpfad folgte. Sie marschierten in offener Schützenreihe – soweit das der schmale Pfad gestattete – und wirkten dabei verwünschenswert wachsam. Mahntsahlo hatte schon befürchtet, entdeckt worden zu sein; schließlich hatte er sich gerade bewegt, als die Vorhut um eine Biegung des Pfades gekommen war. Nun jedoch rührte sich der Corporal nicht mehr, nicht einmal ein bisschen, verschmolz mit dem Muster aus Laub und Sonnenlicht fast wie eine Maskenechse auf der Jagd. Er konzentrierte sich ganz darauf, unsichtbar zu sein, und selbst aus nächster Nähe hätte ein Beobachter kaum die wachsamen braunen Augen ausmachen können. Denn Mahntsahlo hatte das Gesicht mit grüner und schwarzer Farbe getarnt.

Schon seit langer Zeit legte die Armee des Königreichs Chisholm Wert darauf, dass alle Soldaten der leichten Infanterie eine Ausbildung als Plänkler erhielten. Trotzdem schämte sich Corporal Mahntsahlo nicht zuzugeben, dass die Aufklärer-Schützen aus dem Alten Charis – Marineinfanteristen hin oder her! – diesen Plänklern noch so manches hatten beibringen können. So hatten sich die Chisholmianer zuvor nie mit Dingen wie Tarnung befasst. Woran das lag, wusste der Corporal nicht, doch es war nun einmal so: Der Gedanke schien ihnen einfach nie gekommen zu sein. Andererseits war es sämtlichen Armeen auf dem Festland ebenso ergangen … und der Corporal war sich ziemlich sicher, dass auch bei der Armee Gottes bislang noch niemand begriffen hatte, wie gut ein Aufklärer-Schütze mit seiner Umgebung verschmelzen konnte.

Der Rest seiner Schützengruppe war noch besser verborgen als Mahntsahlo, doch sie befanden sich auf dem Boden, wo die Gewehrschützen der Kirche sie leicht erreichen könnten. Andererseits …

Die Infanteristen kamen zum Stehen, und zwei Männer trotteten voraus. Sie verließen den Waldpfad und bahnten sich einen Weg durch das Blaublattdickicht. Schließlich war offenkundig, was sie im Sinn hatten: Sie umrundeten den Stamm der Titaneiche. Mahntsahlos Herz schlug ein wenig schneller. Er mahnte sich, dass es immer noch einen Unterschied machte, ob die beiden Männer da unten etwas suchten oder es auch fanden. Dann bemerkte er, wie auf dem Pfad ein linkischer, hagerer Bursche auf jemanden einredete, der den charakteristischen Brustpanzer eines Unteroffiziers trug. Die drei konzentrischen Ringe darauf wiesen ihn als Platoon Sergeant der Armee Gottes aus. Der junge Bursche deutete exakt auf die Stelle, an der Mahntsahlo gewesen war, als ihm die Frage durch den Kopf gegangen war, ob die feindliche Vorhut ihn vielleicht entdeckt hätte. Glücklicherweise war das mindestens dreißig Fuß unterhalb der aktuellen Position des Aufklärer-Schützen gewesen – seinen Steigeisen sei Dank!

Er lauschte dem Wind, der das Laub leise rascheln ließ, und wartete.

»Und was auch immer das war: Es ist noch höher gestiegen«, erklärte Pahloahzky und deutete immer noch zu dem hoch aufragenden Baum hinauf. Die ganze Sache scheint ihm ein bisschen peinlich zu sein, dachte Zyworya, aber er bleibt bei seinem Bericht.

»Ich verstehe.«

Einen Moment lang kratzte sich der Platoon Sergeant am Kinn und lauschte: Er hörte, wie der Wind das wachsartige Laub der Blaublattsträucher rascheln ließ, dazu kamen in der Ferne die Rufe von Vögeln und Wyvern. Der schmale, gewundene Pfad, den sie erkunden sollten, verlief ab hier beinahe zweihundert Schritt weit fast schnurgerade, und die dichten Blaublattsträucher, die ihnen schon seit einer halben Stunde das Leben schwer machten, waren hier im Schatten der riesigen Titaneiche deutlich ausgedünnt. Rings um den dicken Baumstamm war im grünen Zwielicht ein dichter Teppich aus altem Laub zu erkennen, hier und da von kleinen Lichtflecken durchsetzt, wo einzelne Sonnenstrahlen doch einen Weg durch die Krone fanden. Wie verwehter Schnee häufte sich das Laub vor einigen umgestürzten kleineren Baumstämmen an, und auch hier wuchs noch reichlich Blaublatt, aber im Großen und Ganzen war die Sicht ungleich besser als zuvor. Zumindest hier auf dem Boden. Falls sich tatsächlich irgendetwas dort oben auf der Titaneiche befand, konnte der Platoon Sergeant es inmitten all der Äste und Blätter nicht ausmachen. Aber das hieß ja nicht, dass es dort oben nicht doch etwas gab. Er zuckte mit den Schultern.

»Legt an!«, befahl er und nahm das eigene Gewehr von der Schulter.

Oh Scheiße!, dachte Mahntsahlo, als die Infanteristen der Armee Gottes die Gewehre hoben. Kurz durchzuckte ihn Panik, doch dann begriff er, dass sie nicht einmal ansatzweise in seine Richtung zielten. Seine Erleichterung war beinahe schon schmerzhaft, doch …

»Na gut, Shyman«, sagte Zyworya. »Sind Sie gut beim Baseball?«

»Was?« Verdutzt blinzelte ihn der Private an. »Öhm, Verzeihung, Sergeant, ich meine, jou … ja, ich glaub schon. Vor allem als Shortstop.«

»Ach was!« Zyworya grinste. Derartige Reflexe hätte er dem Burschen gar nicht zugetraut. »Dann suchen Sie sich mal ein paar schöne Steine und werfen Sie die zu den Ästen rauf!«

»Jawohl, Sergeant!«

Na prächtig! Es kostete Mahntsahlo einiges an Beherrschung, nicht den Kopf zu schütteln, als der erste Stein im hohen Bogen angesaust kam und lautstark von der Rinde der Titaneiche abprallte. Der Bursche hatte wirklich einen guten Wurfarm, und Mahntsahlo war nur etwa sechzig Fuß in die Höhe gestiegen. Natürlich würden ihn die Steine kaum ernstlich verletzen, wenn sie ihn träfen … aber es würde dann eben auch nicht so klingen, als seien sie gegen Holz geprallt.

Und wenn das passiert, werden die Dreckskerle da unten bestimmt gleich das Feuer eröffnen – ganz egal, ob sie etwas sehen oder nicht, dachte er. Wirklich ärgerlich! Na ja, vielleicht kommen die ja gar nicht bis zu mir. Und Captain Gahlvayo möchte, dass wir so viele wie möglich von denen anlocken, bevor die bemerken, dass wir hier sind.

Er biss die Zähne zusammen und zwang sich dazu, tief und gleichmäßig durchzuatmen. Letztendlich hing alles davon ab, wie hartnäckig die Tempelknechte wären. Am liebsten wäre es Lieutenant Makysak, wenn Corporal Brunohn Sayranoh und er ihnen noch ein bisschen Freiraum ließen, weil dann vielleicht auch der Rest der Kolonne etwas weiter vorrückte – aber das war nun einmal eine Ermessensfrage. Der Lieutenant vertraute darauf, dass sie beide die richtige Entscheidung träfen. Und Mahntsahlo vertraute ganz darauf, dass Sayranoh die richtige Entscheidung traf – jemand musste es ja tun. Wenn die jetzt nur noch ein paar weitere Steine werfen und dann weiterziehen würden, dann wäre alles prima. Aber wenn es danach aussähe, als würden die sich hier auf eine größere Aktion einlassen wollen …

An der ersten Base möchte ich keinen Ball von Pahloahzky fangen müssen, dachte Zyworya, während ein weiterer Stein im Laubwerk verschwand. Und Spaß bei der Sache hat der Junge auch noch! Eines war ganz klar: Was auch immer der Private gesehen haben mochte, es musste fort sein – mittlerweile waren genug Steine gegen den Baum geprasselt, dass so ziemlich jedes Viech Reißaus genommen hätte. Aber der Junge sollte ruhig noch ein bisschen Spaß haben. Der Rest des Trupps grinste fast genauso breit wie Pahloahzky selbst.

Noch ein paar Steine, dachte er, und dann ist’s auch …

Der letzte Stein knallte gegen die Rinde des Baums, und Pahloahzky bückte sich nach dem nächsten. Gerade als der Private zum Wurf ansetzte und sich Zyworya zur Seite drehte, um ihn wissen zu lassen, das sei jetzt der letzte Stein, war ein anderer, deutlich schärferer Knall zu hören.

Die kleine Drehbewegung rettete Zyworya das Leben. Die Halb-Zoll-Kugel, die ihn sonst frontal in die Brust getroffen hätte, traf den Brustpanzer jetzt in einem spitzen Winkel. Trotzdem fühlte es sich für den Platoon Sergeant an, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. Er taumelte drei Schritte weit zurück. Gleichzeitig umklammerte Shyman Pahloahzky das, was von seinem Gesicht noch übrig geblieben war: Das abgeprallte Projektil hatte ihn genau unter dem rechten Auge getroffen. Der Private stürzte zu Boden und schrie aus Leibeskräften, während ihm das Blut zwischen den Fingern hindurchrann. Zyworyas Blick zuckte nach rechts in die Höhe.

Über einem der Blaublattsträucher stieg eine Rauchwolke auf, die rasch im Spiel von Licht und Schatten des Waldes verwehte – gute einhundertundfünfzig Schritt entfernt. Zyworya sah keine Spur desjenigen, der das Gewehr abgefeuert hatte. Aber den Schützen brauchte er ja auch nicht zu sehen.

»Rechte Flanke – hundertfünfzig Schritt!«, bellte er. »Myndaiz, schnappen Sie sich die erste Gruppe und finden Sie den Dreckskerl! Die zweite Gruppe folgt mir! Bewegung!«

Der Corporal – eigentlich hätte er Sergeant sein müssen, doch der Zug hatte nur sechs Mann Ersatz erhalten, keiner davon ein Sergeant – reagierte augenblicklich. Fünf Mitglieder seiner unterbesetzten Gruppe übernahmen die Führung, schwärmten nach rechts aus und rückten dann im halben Laufschritt vor, die Bajonette bereits aufgepflanzt. Die anderen fünf Männer folgten Zyworya deutlich langsamer; sie rechneten damit, jederzeit das Feuer zu eröffnen. Hinter sich hörte der Platoon Sergeant, wie Lieutenant Byrokyo Corporal Nytzahs Gruppe Befehle zurief. Er selbst konzentrierte sich zu sehr auf seine eigene Aufgabe, um dem, was der Lieutenant brüllte, sonderlich viel Aufmerksamkeit zu schenken. Doch nachdem sie nun schon so lange Zeit Seite an Seite gekämpft hatten, wusste er, dass jeder dieser Befehle sinnvoll war.

Pahloahzky schrie immer noch, und irgendwo im Hinterkopf wunderte sich Zyworya wieder einmal, wie langsam in derartigen Momenten doch die Zeit verging. Früher war ihm nie aufgefallen, wie dehnbar Zeit war. Doch dann hatte er zum ersten Mal eine halbe Ewigkeit in einem entsetzlichen Gefecht verbracht, nur um später zu erfahren, dass es weniger als fünfzehn Minuten gedauert hatte – und er hatte miterlebt, wie während eines einzigen Lidschlags Dutzende von Männern gestorben waren.

Myndaiz’ Gruppe hatte die Hälfte der Strecke bis zu der allmählich verwehenden Rauchwolke zurückgelegt, als ein Dutzend weiterer Gewehre feuerte. Diese befanden sich mindestens achtzig Schritt südlich des ersten Gewehrs und bildeten von Ost nach West eine gerade Linie, fast genau im rechten Winkel zu Myndaiz’ Schützenreihe. Drei seiner fünf Männer gingen sofort zu Boden, mindestens drei Kugeln trafen Myndaiz selbst. Die beiden Überlebenden des Trupps wirbelten sofort zur Reihe der Angreifer herum … und ein halbes Dutzend weiterer Gewehre eröffnete das Feuer.

Die gesamte Gruppe ist ausgeschaltet!, begriff Zyworya entsetzt. Zwei der Männer bewegten sich noch, krochen unter entsetzlichen Schmerzen auf ihn zu, zogen eine Blutspur hinter sich her … und er sah überhaupt nichts! Die Schützen mussten doch irgendwo da vorn sein – da waren doch die Rauchwolken! Aber der Platoon Sergeant sah nichts!

»Feuerschutz!«, bellte er, und drei der fünf Männer an seiner Seite krümmten ab. Ein besseres Ziel als die verwehenden Rauchwolken hatten sie nicht, doch wer auch immer diese Gewehre benutzte, musste jetzt gerade nachladen – genau wie Zyworya selbst. Er würde ganz gewiss nicht mit nur fünf Mann dem Feind entgegenstürmen, wenn sich dort im Wald mindestens viermal so viele Gegner versteckten!