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Vor Jahrhunderten flohen die Menschen vor einer übermächtigen Alienarmee auf den Planeten Safehold. Dort herrscht eine Kirchendiktatur, die jede moderne Technik verbietet. Doch das Inselkönigreich Charis kämpft für seine Unabhängigkeit und für technischen Fortschritt. Mit an vorderster Front: Merlin Athrawes. Und nun hat Merlin Wissen über einen geheimen Orden erlangt, der jahrhundertealte Aufzeichnungen hütet. Darin enthalten sind gefährliche Offenbarungen, welche die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern könnte ...
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Seitenzahl: 814
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Juni, im Jahr Gottes 897
.I. Delthak-Werke, Baronie High Rock, Altes Königreich Charis
.II. HMS Defiant, Jack’s Land, und HMS Dreadnought, Golf von Dohlar
.III. Aivahnstyn, Provinz Klippenkuppe, Republik Siddarmark, und Stahlberg, Grafschaft Usher
.IV. HMS Thunderer, Shwei Bay, HMS Destiny, Harchong-See, und charisianische Botschaft, Siddar-Stadt, Republik Siddarmark
.V. Sylmahn-Kluft, Provinz Mountaincross, Republik Siddarmark
.VI. Der Tempel, Stadt Zion, die Tempel-Lande
.VII. Fairkyn, Provinz New Northland, Republik Siddarmark
.VIII. Stadt Zion, die Tempel-Lande
.IX. HMS Thunderer, Meerenge von Kaudzhu, und HMS Dreadnought, südliche Shwei Bay, Provinz Shwei, Kaiserreich Harchong
.X. Provinz Klippenkuppe, Republik Siddarmark
.XI. Der Tempel, Stadt Zion, die Tempel-Lande
.XII. HMS Thunderer, auf dem Hahskyn, Provinz Shwei, Südliches Kaiserreich Harchong, und das Dorf Kyrnyth, Provinz Klippenkuppe, Republik Siddarmark
Juli, im Jahr Gottes 897
.I. HMS Thunderer, Hahskyn Bay, Provinz Shwei, Südliches Kaiserreich Harchong, und Guarnak, Provinz Klippenkuppe, Republik Siddarmark
.II. Schindel-Untiefe, Hahskyn Bay, Provinz Shwei, Südliches Kaiserreich Harchong
.III. Im Süden der Meerenge von Kaudzhu, Hahskyn Bay, Provinz Shwei, Südliches Kaiserreich Harchong
.IV. Meerenge von Kaudzhu, Hahskyn Bay, Provinz Shwei, Südliches Kaiserreich Harchong
.V. Westlicher Flusslauf des Schwarzsands und Treykyn, Provinz Klippenkuppe, Republik Siddarmark
.VI. Charisianische Botschaft, Siddar-Stadt, Republik Siddarmark
.VII. HMS Chihiro, Gorath Bay, Königreich Dohlar, und HMS Destiny, Klaueninsel, Harchong-See
.VIII. Mahzgyr, Herzogtum Gwynt
.IX. Internierungslager Dynnys, Isyksee, Provinz Tarikah, Republik Siddarmark
.X. Der Tempel, Stadt Zion, die Tempel-Lande
.XI. HMS Chihiro, Gorath Bay, Königreich Dohlar
.XII. HMS Destiny, Talismaninsel, Golf von Dohlar
August, im Jahr Gottes 897
.I. Königlicher Palast, Gorath, Königreich Dohlar, und Königlicher Palast, Tellesberg, Altes Königreich Charis
.II. Der Tempel, Zion, die Tempel-Lande
.III. HMS Chihiro, Gorath Bay, Königreich Dohlar, und die Selyk-Glydahr-Landstraße, Fürstentum Sardahn
.IV. HMS Destiny, Talismaninsel, im Golf von Dohlar
.V. Internierungslager Chihiro, Hyrdmyn, Provinz New Northland, Republik Siddarmark
.VI. Seenstadt, Provinz Tarikah, Republik Siddarmark
.VII. Sankt Zherylds Abtei, Bistum Sankt Shulmyn, die Tempel-Lande
September, im Jahr Gottes 897
.I. Trosan-Kanal, Gorath Bay
.II. HMS Chihiro, Gorath Bay, Königreich Dohlar, und der Tempel, Stadt Zion, die Tempel-Lande
.III. Klaueninsel, Harchong-See
.IV. Shyan, Insel im Golf von Dohlar
.V. Der Tempel, Stadt Zion, die Tempel-Lande
.VI. Gorath, Königreich Dohlar
.VII. Charisianische Botschaft, Siddar-Stadt, Republik Siddarmark
.VIII. Fern-Meerenge, Golf von Dohlar
Oktober, im Jahr Gottes 897
.I. Stadtvilla des Grafen Thirsk, Gorath, Königreich Dohlar
Glossar
Die Erzengel
Hierarchie der Kirche des Verheißenen
Charaktere
David Weber ist ein Phänomen: Ungeheuer produktiv (er hat zahlreiche Fantasy- und Science-Fiction-Romane geschrieben), erlangte er Popularität mit der HONOR-HARRINGTON-Reihe, die inzwischen nicht nur in den USA zu den bestverkauften SF-Serien zählt. David Weber wird gerne mit C. S. Forester verglichen, aber auch mit Autoren wie Heinlein und Asimov. Er lebt heute mit seiner Familie in South Carolina.
David Weber
NIMUE ALBAN
GEFÄHRLICHEOFFEN-BARUNGEN
Roman
Aus dem Amerikanischen vonDr. Ulf Ritgen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by David WeberPublished by arrangement with Tom Doherty Associates LLC.All rights reserved.Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Hell’s Foundations Quiver« Teil 2Originalverlag: Tor Books, New YorkDieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press, LLCdurch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,30827 Garbsen, vermittelt.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Beke Ritgen, BonnTitelillustration: Arndt Drechsler, RegensburgUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3985-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Sharon, Megan, Morgan und Michael,die vier Gründe für mich, morgens aufzustehen.
Das wäre dann wohl alles«, seufzte Ehdwyrd Howsmyn, Herzog von Delthak. Er stieß sich mit dem auf Rollen gesetzten Sessel von seinem Schreibtisch ab und reckte und streckte sich ausgiebig. Jenseits der Fensterscheiben seines Arbeitszimmers war es so dunkel, wie es in den Delthak-Werken nur werden konnte. Die Gasbeleuchtung im Zimmer war hell, doch auf Dauer strengte sie die Augen an. Nun, es war ja auch wirklich schon spät. »Hoffentlich war’s das«, setzte er dann hinzu. »Ich habe Zhain versprochen, dass ich heute pünktlich zum Abendessen nach Hause komme … wenn sie einverstanden ist, dass wir eine Stunde später essen als sonst. Und da sie zugestimmt hat …«
Er verzog das Gesicht, und Nahrmahn Tidewater und Zosh Huntyr lachten leise. Selbst Engelsgeduld wäre bei dem außerordentlich anspruchsvollen Terminkalender von Zhain Howsmyns Ehemann auf die Probe gestellt worden. Zhain sah nicht gern, wie viel (und wie lang) er Tag für Tag arbeitete – vor allem, weil er selbst sich dazu unermüdlich antrieb. Zugleich jedoch bemühte sie sich nach Kräften, ihn nicht durch Ansprüche ihrerseits zusätzlich unter Druck zu setzen. Allerdings beharrte sie darauf, dass er wenigstens zwei Tage eines jeden Fünftags rechtzeitig zum Abendessen nach Hause käme und sich ansatzweise genug Schlaf gönnte. Sogar in dieser Hinsicht hatte Ehdwyrd seine Frau schon häufiger enttäuscht, als er hätte benennen können. Doch er bemühte sich redlich, Verstöße dieser Art auf das absolut unvermeidliche Maß zu beschränken. Hatte Ehdwyrd Howsmyn aber seiner Gemahlin etwas versprochen, setzte er Himmel und Hölle in Bewegung, um sein Wort zu halten.
»Allerdings möchte ich noch einmal betonen«, erklärte er seinen leitenden Handwerksmeistern, während er den letzten Ordner mit Produktionsberichten zuklappte und sich dann aus dem Sessel stemmte, »dass sie mir seit dieser Geschichte mit der Herzogswürde ein wenig mehr Freiraum zugesteht. Wenn die Herrn mich dann also entschuldigen wollten …«
»Oh, ich für meinen Teil ziehe stets vor, meinen Beitrag zu Mistress Zhains Zufriedenheit zu leisten«, gab Huntyr zurück. »Vor allem, wenn es sie davon abhält, ihre Unzufriedenheit an uns auszulassen.«
»Zosh, ich bin entsetzt! Wirklich, was denken Sie von mir! Wie können Sie glauben, ich würde die Schuld für meine Verspätung auf Sie abwälzen!«
»Nun, weil Sie es der Erfahrung gemäß tun … beispielsweise damals, als Sie zu spät nach Hause gekommen sind, nachdem Sie sich ein wenig arg lang mit Taigys’ neuestem Spielzeug beschäftigt haben«, warf Tidewater ein.
»Tja, mir scheint wenig sinnvoll, hier noch länger zu verweilen und mich beleidigen zu lassen!«, gab Howsmyn zurück, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Dann steuerte er auf die Tür des Arbeitszimmers zu. »Daher …«
Ein jaulender Heulton ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. Howsmyns Augen weiteten sich, während Tidewater und Huntyr entsetzt von ihren Stühlen hochfuhren. Ein zweites schrilles Heulen gesellte sich zu dem der ersten Sirene. Alle drei Männer wirbelten gleichzeitig herum und stürmten zur Tür.
Es war, als blickte man geradewegs in einen Vulkan.
Flammen tosten wie in einem Gebläseofen – nur dass es hier keinen Gebläseofen gab. Als Vorgeschmack auf die Hölle selbst stieg eine dicke, schwarze Rauchsäule empor, die Unterseite fahl angeleuchtet von den auflodernden Flammen. Deren Hitze traf die Männer wie ein Fausthieb.
In Manufakturen, vor allem in solchen von der Größe der Delthak-Werke, war es immer gefährlich. Niemand wusste das besser als Ehdwyrd Howsmyn. Ebenso lange, wie er darüber nachdachte, wie er die Produktion vorantreiben und beschleunigen könnte, hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie sich seine Arbeiter – und auch seine Werkhallen – vor den Unfällen schützen ließen, die immer und überall lauerten. Dessen waren sich auch seine Arbeiter und Angestellten bewusst, und sie wussten seine Bemühungen zu schätzen, auch wenn Howsmyn selbst nie mit dem Erreichten zufrieden war. Sein Verstand sagte ihm, dass sich selbst mit allen nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen Unfälle niemals zur Gänze verhindern ließen. Ihm war auch bewusst, dass es in den Delthak-Werken, trotz deren Größe, trotz der Vielzahl an prinzipiell gefährlichen Arbeitstechniken und trotz des beinahe schon fieberhaften Arbeitstempos zu deutlich weniger Unfällen kam als in deutlich kleineren Manufakturen mit ungleich kleinerer Belegschaft. Denn deren Eigner hatten sich sehr viel weniger mit Sicherheitsmaßnahmen befasst, und sie hatten auch keinen werkseigenen Rettungsdienst eingerichtet.
Im Augenblick jedoch war auch das nur ein schwacher Trost.
Die Werksfeuerwehr hatte gleich auf das erste Aufheulen der Sirenen reagiert. Noch bevor Howsmyn die Unglücksstelle erreicht hatte, waren sie eingetroffen. Schläuche waren an die allgegenwärtigen Hydranten gekuppelt und die ersten kräftigen Wasserstrahlen geradewegs in die Flammen gelenkt. Doch alles hatte seine Grenzen, und der ›Eisenhüttenmeister von Charis‹, wie man Howsmyn nannte, knirschte mit den Zähnen, als ihm bewusst wurde, wo genau sich der Brandherd befand und wie gewaltig die Feuersbrunst schon geworden war.
»Meister Howsmyn!«
Als er seinen Namen hörte, wirbelte er herum. Gerufen hatte Commander Stahnly Gahdwyn, der Leiter der Werksfeuerwehr. Zuvor war er stellvertretender Leiter der Feuerwehr von Tellesberg gewesen – Howsmyn hatte ihn für die Delthak-Werke abgeworben. Dort hatte sich der Commander auf die neuen Aufgaben gestürzt wie ein ausgemachter Geizhals auf eine Kiste Gold. Gahdwyn war ein kantiger, nicht gerade hochgewachsener Bursche mit dunklem Haar und braunen Augen. Seine linke Hand war auffallend vernarbt, eine Erinnerung an einen Großbrand in Tellesberg. Spätestens seit dieser Zeit sah er in Feuer seinen persönlichen Feind, nicht etwa eine unpersönliche Naturgewalt.
»Was ist passiert, Chief?«
»Unklar, Sir!« Gahdwyn nahm den Stahlhelm ab und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Könnten die Gasleitungen sein.«
»Ich habe keine Explosion gehört!«
»Nein, Sir.« Gahdwyn schüttelte den Kopf. »Ich gehe von einem größeren Riss aus, nicht von einer Explosion. Als meine Jungs hier eingetroffen sind, stand da vorn, genau in der Mitte des Brandherds, eine Flammensäule. Das Standardvorgehen im Falle eines Brandes sieht als Erstes eine Unterbrechung der Gaszufuhr vor, und weil die gesichtete Flammensäule dann sehr schnell zusammengebrochen ist, gehe ich davon aus, dass das die Ursache war. Leider haben sich in der Zwischenzeit die Flammen tief genug in die Umgebung gefressen, und hier gibt es, weiß Shan-wei, genug brennbares Gefahrengut, um das Feuer die ganze Nacht hindurch zu ernähren – von den Deckenträgern, den Querbalken und Sparren aus Holz einmal ganz abgesehen.«
»Scheiße!«, entfuhr es Ehdwyrd Howsmyn aus tiefstem Herzen.
»Allerdings, Sir.« Gahdwyn setzte den Helm wieder auf und straffte die Schultern. »Ich habe schon sämtliche Unterstützungstrupps herbeigerufen. Eine weitere Ausbreitung der Flammen werden wir wohl verhindern können, aber ich müsste lügen, wenn ich sage, hier unten sähe es gut aus.«
»Ich weiß«, kurz legte Howsmyn dem Leiter der Werksfeuerwehr die Hand auf die muskulöse Schulter, »ich weiß. Tun Sie, was Sie können, Chief.«
»Großer Gott!«, sagte Brahd Stylmyn. »Großer Gott, was für ein Desaster!«
Howsmyn bezweifelte, dass sich Stylmyn überhaupt bewusst war, den Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Vor Erschöpfung sackte der Ingenieur regelrecht in sich zusammen, als er im fahlen Halbdunkel des heraufdämmernden Morgens zuschaute, wie die Feuerwehr darum rang, die letzten Flammen zu ersticken. Ebenso wie Howsmyn selbst war Stylmyn rußgeschwärzt, und überall hatte seine Kleidung Brandflecken. Stylmyns schlimm verbrannte rechte Hand war unter einem verschmutzten Verband verborgen.
»Es hätte viel schlimmer kommen können«, gab Howsmyn zurück. Stylmyn drehte sich zu ihm um, und der Industrielle zuckte schicksalsergeben mit den Schultern. »Wir hätten die ganze Gießerei verlieren können.«
Stylmyn verzog das Gesicht, Bitterkeit war darin zu lesen.
Howsmyns Reaktion war erneut ein Schulterzucken. »Ich habe gesagt: Es hätte viel schlimmer kommen können. Und ›hätte schlimmer kommen können‹ ist nicht das Gleiche wie ›gut‹!«, ergänzte er. »Das wahre Ausmaß der Brandkatastrophe können wir momentan noch nicht beurteilen. Der ganze Schutt muss erst abkühlen, ehe wir uns das genauer ansehen können. Aber was auch immer geschehen mag: Unsere Pläne mit den König Haarahlds wird das gehörig durcheinanderwirbeln!«
»Da sagen Sie was, Sir … verdammt noch mal!«, pflichtete ihm Stylmyn bei. Dann straffte er die Schultern. »Gehen Sie jetzt lieber nach Hause und duschen Sie ausgiebig, Sir. Und wenn Sie schon zu Hause sind, sollten Sie auch gleich was frühstücken. Später kann ich Ihnen vielleicht schon eine erste Schadensmeldung geben.«
»Sie haben doch selbst gute Assistenten, Brahd.« Howsmyn bedachte seinen Leitenden Ingenieur mit einem gestrengen Blick. »Sehen Sie zu, dass sich die Heiler um Ihre Hand kümmern, und dann gehen Sie selbst duschen! Wenigstens vier Stunden bleiben Sie von hier fort, haben wir uns verstanden?«
Stylmyns Miene verspannte sich noch mehr. Einen Moment lang schien es, als wollte er sich dieser Anweisung tatsächlich widersetzen. Doch dann schüttelte er sich nur und atmete einmal tief durch, egal wie verräuchert die Luft hier war.
»Recht haben Sie, Sir«, bestätigte er dann erschöpft. »Sehen wir uns dann hier um … sagen wir: neun Uhr wieder?«
»Klingt gut.« Howsmyn klopfte ihm kurz auf die Schulter. »Und ich muss jetzt nach Hause und meiner Frau erklären, was ich die ganze Nacht getrieben habe.«
»Sie hatten recht, als Sie Stylmyn gesagt haben, es hätte schlimmer kommen können, Ehdwyrd«, meinte Merlin Athrawes mehrere Stunden später.
»Leider hatte ich auch mit etwas anderem recht: ›Hätte schlimmer kommen können‹ ist nicht das Gleiche wie ›gut‹!«, versetzte Howsmyn bitter. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ich so etwas zugelassen habe!«
»Seien Sie doch nicht albern, Ehdwyrd!«, drang Sharleyans Stimme ungewohnt scharf aus dem Com. Ihr Abbild auf Howsmyns Kontaktlinsen runzelte missbilligend die Stirn. »Es grenzt an ein Wunder, dass wir nicht schon viel mehr Unfälle dieser Art hatten, wenn man bedenkt, mit welchem halsbrecherischen Tempo wir … Sie die Anlagen ausgebaut haben!« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir vorstelle, was während der vergangenen Jahre alles hätte passieren können …!«
»Stimmt genau«, bestätigte Cayleb mit fester Stimme. »Wenigstens ist ziemlich sicher, dass es wirklich ein Unfall war, keine Sabotage wie seinerzeit bei der Hairatha-Mühle.«
»Und niemand ist ums Leben gekommen, Ehdwyrd«, setzte Paityr Wylsynn sehr leise hinzu. »Ihre Brandschutzübungen und Ihre Werksfeuerwehr und dass Sie wirklich überall Wasserleitungen verlegt haben … das alles hat letzte Nacht vielen Menschen das Leben gerettet. Ich finde, das sollten Sie zumindest im Hinterkopf behalten, wenn Sie sich früher oder später wieder in Selbstvorwürfen ergehen. Betriebsunfälle passieren nun mal, ganz egal, wie viel Vorsicht man walten lässt! Ich bin einfach nur dankbar, dass es an einem Ort passiert ist, an dem jemand im Vorfeld genug über mögliche Schwierigkeiten nachgedacht hat – und damit meine ich Sie, nur für den Fall, dass das noch nicht klar genug geworden sein sollte! Auf diese Weise konnte verhindert werden, dass sich das Debakel zu einer echten Katastrophe auswuchs.«
»Das sehe ich auch so«, meldete sich Domynyk Staynair von der Heckgalerie seines Flaggschiffs aus zu Wort.
»Wie schwer ist der Rückschlag, den wir erleiden?«, erkundigte sich Nimue Chwaeriau von ihrem bescheidenen, aber doch behaglichen Schlafgemach im Palast von Manchyr aus.
»Glücklicherweise ist die Rohrgießerei praktisch unbeschädigt«, antwortete Howsmyn nach kurzem Schweigen. »Vermutlich werden wir trotzdem ein paar Fünftage verlieren, weil wir alles reinigen und dann für eine gründliche Inspektion auseinandernehmen müssen. Dann muss alles wieder zusammengesetzt und ans Laufen gebracht werden. Aber ich glaube nicht, dass es viel schlimmer sein wird.
Die richtig schlechten Nachrichten betreffen vor allem die Flotte.« Seine Miene wurde noch grimmiger. »Bis auf zwei Stück sind sämtliche Zehn-Zoll-Lafetten den Flammen zum Opfer gefallen. Ich habe noch die beiden Rohre, mit denen wir die ersten Probeschüsse absolviert haben, und die könnte ich zu denen hinzunehmen, die bereits fertiggestellt sind. Aber der Gedanke, die an Bord eines Schiffes einzusetzen, gefällt mir überhaupt nicht. Und selbst dann hätten wir nur die Hauptgeschütze für eine einzige König Haarahld. Die Rückstoßzylinder der anderen Lafetten werden wir neu bauen müssen. Und wir müssen uns Quadrat- um Quadratzoll sämtlicher Rohre anschauen. Das allein ist ein horrender Zeitverlust. Dazu kommt, dass die Hälfte der Zehnzöller und mindestens die Hälfte der Achtzöller sich noch mitten in der Fertigung befinden. Aber solange wir die erforderlichen Maschinen nicht wiederhergestellt oder neu zusammengebaut haben, stockt die Fertigung. Außerdem werden wir mit größter Wahrscheinlichkeit die Gebäude selbst abreißen und neu aufbauen müssen.« Erneut verzog er das Gesicht. »Einen Teil der Rohrwerkstatt können wir vielleicht noch retten, aber das gesamte Dach ist hinüber, und alles aus Holz – Sparren, Balken und der Fußboden, wirklich alles – ist praktisch hin und muss erneuert werden. Wahrscheinlich können wir uns aus Segeltuchplanen behelfsmäßige Dächer improvisieren, und vielleicht können wir unsere Maschinen – oder die Ersatzmaschinen – noch auf dem alten Grundstück in Betrieb nehmen, während wir unmittelbar daneben neue Werkhallen bauen … heikel, das Ganze, wahrhaftig heikel, und das, egal wie wir es angehen.«
»Gut, dass Ahbaht beschlossen hat, sich dieser Schraubengaleeren anzunehmen«, gab Rock Point gelassen zurück. »Wir müssen die Dohlaraner in Schach halten, bis wir bereit sind, uns um die Gorath Bay selbst zu kümmern.«
Howsmyn grunzte missliebig Zustimmung, stemmte sich aus dem Stuhl … und schwankte ein wenig, so erschöpft war er. Dann ging er zu dem Fenster hinüber, von dem aus er die verkohlten Überreste seiner Rohrgießerei überblicken konnte. Von hier oben schien ihm eine Reparatur schlichtweg unmöglich … Störrisch schüttelte er den Kopf und rief sich selbst ins Gedächtnis zurück, wie ›Unmögliches‹ seine Mitarbeiter und er schon geschafft hatten.
»Im besten Falle«, sagte er schließlich, »wirft uns das bei der Fertigstellung der König Haarahlds um mindestens drei Monate zurück, wahrscheinlich eher um vier oder gar fünf.« Wie Galle lag ihm der Geschmack dieses Eingeständnisses auf der Zunge – und in gewisser Weise wurde alles noch schlimmer, als er sich an das letzte Gespräch mit Eysamu Tahnguchi zurückerinnerte. »In ein paar Tagen kann ich das genauer einschätzen.«
»Na ja, wenn das so ist, dann ist das eben so«, erklärte Cayleb deutlich gelassener, als allen anderen zumute war. Ein angespanntes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ist ja nicht so, als hätten wir, während wir warten, nicht noch anderes zu tun, oder?«
»Sie haben mich rufen lassen, Sir?«
»Ja«, bestätigte Sir Dahrand Rohsail und wandte sich von dem Heckfenster ab, das ihm einen Panoramablick auf Stella Cove bot. Es war der Ankerplatz der Royal Dohlaran Navy westlich von Jack’s Land. Sein Flaggschiff, die Defiant, lag zwischen Ribbon Island und der Bucht, das Heck der größeren Insel zugewandt. Es wehte ein kräftiger Westwind. Das war die eine Schwachstelle von Stella Cove: Obwohl die kleineren Inseln unmittelbar vor der Küste einen gewissen Schutz vor Stürmen boten, die immer wieder von Westen her aufzogen, und obwohl Ribbon Island einiges an Unwettern von der Bucht abhielt, war sie als Ankerplatz alles andere als perfekt.
»Ja«, wiederholte er, »ich habe Sie rufen lassen, Markys.« Er deutete auf ein Blatt Papier auf seinem Schreibtisch. »Schauen Sie sich das hier einmal an.«
Markys Hamptyn, sein Flaggkommandant, griff nach dem Blatt und entfaltete es. Der Bogen war so dünn, wie das bei Nachrichten, die per Boten-Wyvern übermittelt wurden, üblich war. Sofort erkannte Hamptyn die Handschrift von Admiral Caitahno Raisahndos Sekretär. Erstaunt wölbte der Kapitän eine Augenbraue. Raisahndo, Rohsails Stellvertreter, und Rohsail selbst hegten zutiefst empfundene Abneigung füreinander, doch zugleich hatten sie sehr wohl gelernt, einander zu respektieren. Raisahndos Flaggschiff, die Demonslayer, stand in der Saram Bay, und zwar zusammen mit der anderen Hälfte von Rohsails Westgeschwader, um die Südküste von Nord-Harchong und die Randstaaten zu schützen.
Angespannt überflog Hamptyn die Nachricht, dann las er sie erneut, dieses Mal gründlicher. Schließlich suchte er den Blick seines Admirals. »Ich verstehe, warum Sie mich sprechen wollten, Sir.«
Er legte die Depesche auf den Schreibtisch zurück und trat dann zu Rohsail an das Fenster. Fünfundzwanzig weitere Galeonen lagen neben der Defiant vor Anker, von zweien abgesehen ausschließlich echte Kriegsgaleonen. Es waren keine umgebauten Handelsschiffe mehr, die beim letzten Besuch der Imperial Charisian Navy im Golf von Dohlar noch den Großteil der Royal Dohlaran Navy ausgemacht hatten. Zwei der Schiffe, darunter die Defiant, waren Prisen, die den Charisianern bei jener Gelegenheit abgenommen worden waren. Ja, einst hatte HMS Defiant aus der Königlichen Flotte von Dohlar den Namen HMS Dancer getragen und zur Kaiserlichen Flotte von Charis gehört. Es hatte Monate gedauert, all die Schäden zu beseitigen, die das ehemals feindliche Schiff während der Schlacht in der Harchong-Meerenge davongetragen hatte. Doch die Schiffszimmermänner von Dohlar hatten eine ganze Menge dazulernen können, als sie sich die Bauweise des Schiffes genauer angeschaut hatten. Unter anderem wussten sie nun endlich, wie sie die Rümpfe ihrer eigenen Schiffe unter der Wasserlinie verkupfern konnten. Diese Information hatten sie umgehend an alle anderen Werften von Mutter Kirche und auch an sämtliche ihre weltlichen Verbündeten weitergegeben.
»Das klingt, als hätte der Gegner alles zum Einsatz gebracht, was er auf Talisman zur Verfügung hatte«, meinte Hamptyn nach kurzem Schweigen.
»Das sehe ich auch so.« Rohsail verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schürzte die Lippen, während er erneut über die neu eingetroffene Kunde aus der Saram Bay nachdachte. »In gewisser Hinsicht ist es bedauerlich, dass den Harchongesen keine unserer Brief-Wyvern aus Jack’s Land zur Verfügung standen. Wir wären dann deutlich früher unterrichtet gewesen.«
»Jawohl, Sir, stimmt«, bestätigte Hamptyn. »Andererseits hätte dann Admiral Raisahndo nicht so rasch davon erfahren. Auch das hat seine Vorteile – vorausgesetzt, wir wollen denen nachsetzen.«
»Und genau das ist die große Frage, nicht wahr?«, gab Rohsail trocken zurück.
Mehrere Sekunden lang betrachtete er schweigend die anderen Schiffe, dann wandte er sich um, ging mit großen Schritten an den Kartentisch und blickte stirnrunzelnd darauf hinab, Hamptyn immer noch an seiner Seite.
»Sie haben recht – vorausgesetzt, die Harchongesen haben die Lage richtig eingeschätzt. Aber wir reden hier von den Harchongesen, also sollten wir uns darauf nicht unbedingt verlassen! Trotzdem: Lassen Sie uns davon ausgehen, die Einschätzung wäre korrekt. Dann scheinen die Charisianer wirklich alles zum Einsatz gebracht zu haben, was sie von Talisman aus aufzubieten hatten. Und wenn das stimmt, stehen dann ihre fünfzehn unseren sechsundzwanzig Schiffen gegenüber. Bedauerlicherweise sind zwei von diesen fünfzehn Bombardierungsschiffe, und ein weiteres eines dieser verdammten Panzerungetüme.«
»Jawohl, Sir. Aber ein Schiff kann nun einmal immer nur an einem Ort gleichzeitig sein und nur ein oder maximal zwei Schiffe gleichzeitig angreifen«, gab Hamptyn zu bedenken. »Wenn Admiral Raisahndo wirklich so rasch die Anker hat lichten lassen, wie er das hier ankündigt, sind sein Geschwader und er jetzt geradewegs auf dem Weg hierher und nur noch einen Tag weit entfernt.«
Rohsail nickte. Caitahno Raisahndo entstammte einer beklagenswert miserablen Familie und besaß keinerlei Kultur, und wenn es darum ging, einfache Matrosen Disziplin zu lehren, war er entschieden zu weich. Doch so ungern Rohsail das auch zugab: An sich hatte dieser Mann etwas im Kopf. Für Dahrand Rohsail bestand keinerlei Zweifel daran, dass Hamptyn recht hatte: Raisahndo befand sich bereits jetzt mit vierundzwanzig weiteren Galeonen auf dem Weg hierher – und drei Viertel dieser Galeonen waren von vornherein als Kriegsschiffe angelegt worden. Sie aus der Saram Bay abzuziehen, war ein großes Risiko, auch wenn die Harchongesen recht hätten und wirklich nur eines jener Panzerschiffe die Streitmacht begleitete, die derzeit auf die Shwei Bay zuhielt. Denn ein Panzerschiff sollte sich eigentlich überleben lassen. Laut den Dokumenten, die sie aus dem Wrack von HMS Turbulent geborgen hatten, nachdem die Galeone der Ketzer bei Martyn’s Point an Land gespült worden war, konnte Sharpfield nicht mehr als acht oder höchstens zehn weitere Galeonen vor der Klaueninsel stehen haben. Mit einer derart kleinen Flottille würde er wohl kaum abenteuerlustig werden, selbst wenn zu dieser kleinen Flottille tatsächlich ein Panzerschiff gehören sollte.
Theoretisch also sollte Raisahndo gefahrlos zum Geschwader von Jack’s Land hinzustoßen können und so Rohsails eigenes Geschwader auf neunundvierzig Galeonen aufstocken. Damit ergäbe sich ein Kräfteverhältnis von drei zu eins, und das sollte für einen Sieg selbst gegen eines der Panzerschiffe der Charisianer ausreichen. Problematisch würde eher, die eigene Flotte gefechtsbereit zu machen. Denn selbst jetzt noch war bei nicht einmal der Hälfte seiner Schiffe der Rumpf verkupfert. Die Schiffe mit nicht verkupferten Rümpfen waren nach so langer Zeit auf See in beklagenswertem Zustand. Der Verband wäre folglich gute zwanzig Prozent langsamer als die Schiffe der Ketzer, deren Rümpfe allesamt verkupfert waren. Nur der verkupferten Rümpfe wegen hatten seine Galeonen die Handvoll Schoner aufbringen können, die der Gegner seit der Wiedereinnahme der Klaueninsel eingebüßt hatte. Nun, auch das war ihnen nur bei steifer Brise gelungen, da dann die größeren dohlaranischen Schiffe hatten mehr Segel setzen können als die charisianischen Schoner.
»Ich frage mich …«, sagte er gedehnt und tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe, während er erneut die Karte betrachtete.
»Was fragen Sie sich, Sir?«, forderte Hamptyn seinen Vorgesetzten zum Weitersprechen auf, nachdem dieser nach jenem kurzen Halbsatz mehr als zwei Minuten lang geschwiegen hatte.
Der Admiral gab sich sichtlich einen Ruck und stieß ein Schnauben aus. Dass Hamptyn bereit gewesen war, ihn, seinen Vorgesetzten, in seinem Gedankengang zu unterbrechen, sprach Bände darüber, wie lange Hamptyn ihm bereits als Flaggkommandant diente. Oder vielmehr: Dass der Flaggkommandant mittlerweile zu erkennen gelernt hatte, wann ein gewisser Admiral sich völlig in seinen eigenen Gedanken verrannt hatte und dringend wieder in die ihn umgebende Welt zurückgeholt werden musste.
»Sie haben den Shwei-Schlund durchquert«, sagte er. »Die Frage ist jetzt, welchen Kurs sie anlegen.«
»Das nachvollziehbarste Zielobjekt wäre wohl Yu-shai, Sir.«
»Möglich. Vermutlich wäre es für sie auch durchaus sinnvoll, zunächst einen Notankerplatz vor Talisman einzurichten, bevor sie sich mit ihren regulären Kriegsgaleonen in den Yu-shai-Meeresarm hineinwagen und damit riskieren, durch die dortigen Geschütze Schäden hinzunehmen. Das würde zudem die Anwesenheit der Bombardierungsschiffe erklären. Aber was, wenn die Charisianer etwas ganz anderes im Schilde führen?«
»Es gibt rings um die Shwei-Bucht eine ganze Reihe potenzieller Zielgebiete – sogar rings um beide Shwei-Buchten«, räumte Hamptyn ein. »Aber Yu-shai dürfte wohl von allen das Lohnenswerteste sein.«
»Nur, weil das der Sammelpunkt ist, den alles und jeder passieren muss, der den Shwei-Schlund und den Golf durchquert«, gab Rohsail zu bedenken. »Wenn die Ketzer wirklich die Absicht haben, den gesamten Westteil des Golfs abzuriegeln, hätten sie von einer Einnahme Yu-shais ungefähr so viel wie ein Drachenbulle von Zitzen.«
Hamptyn runzelte die Stirn. Die Aufgabe des Westgeschwaders lautete, die Ketzer genau davon abzuhalten, und er war mehr als nur gelinde überrascht, dass Rohsail diese Möglichkeit so offen und mit einer derartigen Ruhe angesprochen hatte, selbst ihm gegenüber.
Andererseits ist ja außer mir niemand hier, der es hören würde. Und wenn ich’s recht bedenke, sagt er ja auch nicht, dieses Vorhaben werde den Ketzern gelingen – er sagt nur, es könne ihre Absicht sein. Denn wenn es denen darum gehen sollte, dann werden sie ihre Zielgebiete an der Küste wohl nach genau diesem Gesichtspunkt auswählen, oder nicht?
»Sie denken über das charisianische Vorgehen in der Alexov-Bucht nach, Sir, richtig?«, fragte Hamptyn dann.
»Ja«, bestätigte Rohsail. »Aber eigentlich treibt mich etwas ganz anderes um: Wissen die, dass sich Admiral Hahlynd auf dem Weg nach Yu-shai befindet, oder wissen sie das nicht?«
»Wie sollten sie, Sir?«, gab Hamptyn ruhig und sachlich zurück. »Wir wissen doch selbst erst seit drei Fünftagen von Graf Thirsks jüngsten Plänen.«
»Mindestens eines sollten wir mittlerweile auf die harte Tour gelernt haben: Die Spione der Ketzer zu unterschätzen wäre ein großer Fehler«, versetzte Rohsail grimmig. »Was ich hier so … interessant finde, ist Folgendes: Wenn die Charisianer tatsächlich über Admiral Hahlynd Bescheid wissen und trotzdem die Frechheit besitzen, so tief in gegnerisches Gebiet vorzustoßen, dann haben die sich selbst mehr als genug Zeit dafür eingeräumt, Ki-dau zu erreichen. Und wenn die wirklich ordentlich Mumm haben – und daran scheint es den Ketzern, weiß Shan-wei, niemals gefehlt zu haben! –, dann bleibt denen vielleicht sogar genug Zeit, bis nach Symarkhan zu kommen, bevor Admiral Hahlynd dort eintrifft.«
»Mit den Galeonen derart weit flussaufwärts, Sir?« Nachdenklich rieb sich Hamptyn das Kinn. »Möglich wäre das, ja … Und Admiral Raisahndo hat gemeldet, die Ketzer hätten ein halbes Dutzend Schoner mitgebracht. Die sind darauf ausgelegt, auch unter Ruder zu fahren – und das wäre natürlich auf einem Fluss unter praktisch allen nur erdenklichen Umständen von Vorteil. Wie sehen denn die Verteidigungsanlagen von Symarkhan aus? Könnten die Ketzer allein mit diesen Schonern Marineinfanteristen anlanden?«
»Ich vermute, dass Symarkhan überhaupt keine Verteidigungsanlagen besitzt.« Rohsail zuckte mit den Schultern. »Wenn es doch so viele mögliche Zielobjekte in Küstennähe gibt, warum sollte man sich dann bei einer Kleinstadt, die beinahe zweihundert Meilen weit im Inland liegt, überhaupt die Mühe machen, sie entsprechend zu befestigen? Glücklicherweise meldet Raisahndo, dass die Harchongesen in alle Richtungen Meldegänger und Semaphorennachrichten ausgesandt haben, kaum dass sie die Ketzer im Shwei-Schlund entdeckt hatten. Und wir müssen jetzt ebenfalls ein paar Nachrichten absetzen.«
»Jawohl, Sir. An welche Art Nachrichten hatten Sie gedacht?«
»Mir ist durchaus bewusst, dass Raisahndo bereits in See gestochen sein wird, aber ich möchte, dass noch innerhalb der nächsten Stunde Wyvern zu Captain Kharmahdy geschickt werden.« Hamptyn nickte; Captain Styvyn Kharmahdy befehligte die Batterien und die restlichen von Rhaigairs Küstenverteidigungsanlagen in der Saram Bay. »Er soll Graf Thirsk mithilfe der Semaphoren eine Vorrangnachricht zukommen lassen und ihn über die Bewegungen der Ketzer informieren. Und er soll ihn vorwarnen, dass die Harchongesen auf einen Angriff auf den Kanalzugang von Symarkhan zumindest vorbereitet sein müssen. Weiterhin möge er Admiral Hahlynd – und die Kanalaufsicht – drängen, die Verlegung der Panzerschiffe soweit wie möglich voranzutreiben.«
»Jawohl, Sir«, bestätigte Hamptyn.
Es war wirklich eine Schande, dass die Defiant nicht mit Boten-Wyvern ausgestattet worden war, mit deren Hilfe die Nachricht auf dem direkten Wege nach Yu-shai hätte übermittelt werden können! Immerhin konnte das Semaphorensystem die Nachricht innerhalb von weniger als acht Stunden von der Saram Bay bis nach Gorath befördern – Tageslicht und nicht zu widrige Wetterverhältnisse vorausgesetzt. Und jede Anweisung Thirsks an Hahlynd würde dann mit der gleichen Geschwindigkeit über die Semaphorentürme entlang praktisch jedes größeren Kanals weitergegeben.
»Sobald das erledigt ist«, fuhr Rohsail fort, »möchte ich bei allen Schiffen innerhalb von vier Stunden Bereitschaft zum Ankerlichten gemeldet wissen. Wenn wir dann selbst den Shwei-Schlund durchqueren, setzen wir ein Boot mit einer Nachricht für Gouverneur Wolkenschatten ab. Der Baron ist schlau genug, Symarkhan auf das Kommende so gut wie möglich vorzubereiten. Hoffen wir, dass die lokale Miliz über genug Artillerie verfügt, um wenigstens die verdammten Schoner in Schach zu halten! Wollen die Ketzer dann ihr Panzerschiff zum Einsatz bringen, verschafft uns das wenigstens drei oder vier Tage. Schließlich muss dieses Ungetüm erst einmal den Fluss hinauf.«
»Jawohl, Sir. Ich kümmere mich umgehend darum.«
»Recht so, Markys, und selbst wenn wir uns hier den Kopf darüber zerbrechen, was die Ketzer gegen uns zu unternehmen gedenken, sollten wir nicht die Möglichkeit außer Acht lassen, was wir gegen sie unternehmen können! Denen bleibt genug Zeit, ihr Ziel zu erreichen, sofern der Wind nicht beschließt, ihnen übel mitzuspielen. Aber sollte Admiral Hahlynd schneller als erwartet vorankommen und seine eigenen Panzerschiffe in den Fluss schaffen können, bevor die Ketzer Symarkhan erreichen, verarbeitet er damit deren verdammten Schoner zu Kleinholz. Ach, die werden sogar deren reguläre Galeonen erledigen! Und wenn wir denen dichtauf genug folgen können und es uns der Wind gestattet, die Ketzer irgendwo in Küstennähe festzunageln …«
Wieder nickte Hamptyn, denn der Admiral hatte voll und ganz recht, was diese beide Möglichkeiten betraf. Der Flaggkommandant verspürte wenig Neigung, darüber nachzusinnen, wie viele dohlaranische Galeonen ein einzelnes feindliches Panzerschiff wohl zerstören würde, bevor es gelänge, es niederzuzwingen. Ja, es bestand sogar die keineswegs abwegige Möglichkeit, dass es dieses vermaledeite Schiff fertigbrächte, sich den Weg durch das gesamte Geschwader zu bahnen. Doch die gewöhnlichen Galeonen, von denen es derzeit begleitet wurde, würden das auf keinen Fall schaffen … und die Königliche Flotte von Dohlar hatte mit den Ketzern noch mehr als nur eine Wyvern zu rupfen.
»Nord-Shwei-Kap vier Strich steuerbord, Sir«, meldete Lieutenant Stahdmaiyr, und Captain Kahrltyn Haigyl grunzte befriedigt.
»Ich danke Ihnen, Dahnyld.«
Der Kapitän stand neben dem Kompassstand von HMS Dreadnought und rieb sich mit dem Zeigefinger über die Augenklappe, die seine leere linke Augenhöhle verdeckte, während er konzentriert auf die beleuchtete Karte hinabblickte. Dann hob er den Kopf und schaute zu den Segeln des Schiffes hinauf.
Kahrltyn Haigyl war gewiss nicht der beste Seemann, der jemals bei der Imperial Charisian Navy Dienst getan hatte, und es wäre ihm, ehrlich gesagt, deutlich lieber gewesen, wenn er bei Tageslicht durch die Shwei-Schlund-Passage hätte navigieren dürfen. Gleich nach den ersten Angriffen von Graf Sharpfields Leichten Kreuzern auf den Schiffsverkehr im Golf von Dohlar hatten die Harchongesen alle Bojen aus dem Shwei-Schlund fortgeschafft. Zugegeben, selbst an ihrer schmalsten Stelle maß die Passage noch gut siebzig Meilen. Doch der Himmel war wolkenverhangen, kein Mond war zu sehen, der gut befahrbare Tiefwasserbereich war ungleich schmaler, und Haigyl hatte keinen ortskundigen Lotsen an Bord. Überall hier gab es Untiefen, Sandbänke oder unmarkierte Felsspitzen. All die schöne Panzerung der Dreadnought würde dem Schiff nicht helfen, wenn es sich ein Loch in den Rumpf risse.
Doch im Augenblick war Zeit wichtiger als Vorsicht. Die Talismaninsel hatte Haigyl deutlich früher erreicht als erwartet – kaum einen Fünftag nach Captain Ahbahts Abfahrt. Dort hatte er dann die Nachricht vorgefunden, die Ahbaht für ihn zurückgelassen hatte. Genauer gesagt: Commander Makgrygair hatte ihm die Nachricht durch einen Boten überbringen lassen. Dessen kleines Boot hatte die Dreadnought erreicht, bevor Haigyls Schiff noch ganz in die Rahzhyr-Bucht eingefahren war. Keine zehn Minuten, nachdem Haigyl die Nachricht gelesen hatte, hatte er wenden und das Schiff in den offenen Golf hinaussteuern lassen.
Er verstand ganz genau, was Ahbaht beabsichtigte, und Kahrltyn Haigyl war schon immer dafür gewesen, den Kampf zum Feind zu tragen – vor allem, wenn das bedeutete, dem Geschwader jene gepanzerten Galeeren der Dohlaraner vom Hals zu halten. Aber es konnte gewiss nicht schaden, dem geschniegelten kleinwüchsigen Emeraldianer ein wenig zusätzliche Unterstützung zukommen zu lassen. Außerdem hatte Haigyl nicht die Absicht, den ganzen Spaß Ahbaht allein zu überlassen.
Trotzdem wäre ihm Tageslicht lieber gewesen. Mit Kugeln, Granaten und kaltem Stahl kam er zurecht; Felsen, Sandbänke und Untiefen waren etwas völlig anderes.
»Immer so weiter, Dahnyld«, sagte er, der Tonfall gelassen.
Der Diener schenkte Bischof-Kommandeur Cahnyr Kaitswyrth Tee ein und zog sich dann lautlos zurück. Der Bischof-Kommandeur umschloss die Tasse mit beiden Händen und hielt sie sich dicht genug unter die Nase, um den aromatischen Duft des dampfend heißen Getränks einzuatmen. Er verbannte jeden Gedanken an Regen, der unablässig auf das Dach der Stadtvilla hinabprasselte, aus seinem Kopf. Schnee und Eis wäre Kaitswyrth deutlich lieber gewesen.
»Haben Sie schon irgendetwas Neues von Vikar Allayn gehört, Cahnyr?«, erkundigte sich Pater Sedryk Zavyr, der dem Bischof-Kommandeur am Frühstückstisch gegenübersaß.
Kaitswyrth verzog das Gesicht, als er die Sorge in Zavyrs Tonfall erkannte. Offenkundig gingen die Gedanken seines Intendanten ziemlich genau in die gleiche Richtung wie seine eigenen.
»Nicht seit letztem Donnerstag«, erwiderte er, erkennbar freudlos. Es hätte keinen Sinn gehabt, vor Zavyr etwas geheim halten zu wollen. Dafür arbeiteten sie nun schon zu lange zusammen – und dachten entschieden zu ähnlich. »Es wäre mir sehr viel lieber, wenn es mehr zu erfahren gegeben hätte, aber seien wir doch ehrlich: Nach dem, was er in seiner letzten Nachricht gemeldet hat, kann er uns kaum noch viel weiter schicken, solange die Kanäle oben im Norden noch nicht eisfrei sind. Und für mich klingt es so, als würde jemand in Zion aktiv dafür sorgen, dass alles, was irgendwo verfügbar wird, auf jeden Fall Wyrshym zugewiesen wird.«
Er hatte sich redlich bemüht, in seiner Stimme keine Klage mitschwingen zu lassen, doch er wusste selbst, dass es ihm nicht gelungen war: Zavyrs Gesichtszüge verspannten sich. Der Oberpriester hatte sicher vollstes Verständnis für die missliche Lage, in der ein gewisser Cahnyr Kaitswyrth steckte. Seine Treue aber galt nach wie vor dem Großinquisitor, und sie wussten schließlich beide, wer hinter den Anstrengungen steckte, ein Maximum an Ressourcen von der Gletscherherz-Armee zur Sylmahn-Armee umzuleiten.
»Aber wir wollen nicht ungerecht sein«, zwang Kaitswyrth über seine Lippen. »Vikar Allayn hat uns nicht vergessen: Schließlich hat er von der Tanshar-Armee und von Baron Wheatfields Jhurlahnkianern und Usheriten bereits rund dreiundfünfzigtausend Mann und sechzig Geschütze zu uns abkommandiert. Er pflichtet unserer Lageeinschätzung bei: Auch er empfindet es als … bedauerlich, dass er uns nicht noch weitere Artillerie zukommen lassen kann. Aber letztendlich sind dreiundfünfzigtausend Gewehre immerhin dreiundfünfzigtausend Gewehre, Sedryk.«
»Aber wenn Ihre Schätzung der Truppenstärke, die derzeit von den Ketzern zusammengezogen wird, auch nur ansatzweise zutrifft«, setzte Zavyr an, »dann können Sie doch …«
»Wenn man bedenkt, wie schwer es uns überhaupt fällt, die Truppenstärke der Ketzer zu schätzen, dürften meine Zahlen eher noch zu niedrig liegen«, fiel ihm Kaitswyrth düster ins Wort. »Und ich bezweifle ernsthaft, dass Cayleb und Stohnar ähnliche Schwierigkeiten wie wir haben, weitere Geschütze aufzutreiben – für Symkyn.« In einem freudlosen Lächeln ließ der Bischof-Kommandeur die Zähne aufblitzen. »Die werden dieser Angelegenheit sogar oberste Priorität eingeräumt haben, jede Wette! Und für diese Entscheidung hätten sie auch verdammt gute Gründe – Shan-wei soll sie holen!« »Allmählich glaube ich, zumindest einige unserer Vorgesetzten in Zion, die bislang noch nicht persönliche Erfahrungen mit der Artillerie der Ketzer gemacht haben, unterschätzen die aktuelle Bedrohung.«
»Sollte dem so sein, dann liegt das zumindest nicht daran, dass ich Ihre Berichte nicht stets voll und ganz unterstützt hätte.« Zavyr nahm einen Schluck aus seiner Teetasse und verzog das Gesicht. »Ich spreche das ja nur äußerst ungern aus, aber mir scheint, Sie haben recht: Zumindest einige der Entscheidungsträger in Zion sind … ein wenig weltfremd.«
»Wenigstens beginnt das Eis auf den Kanälen allmählich abzutauen«, wechselte Kaitswyrth in einem bewusst muntereren Tonfall das Thema. »Ich könnte mir zwar wünschen, es wären nicht die gesamten Mächtigen Heerscharen entlang des Heiliger-Langhorne-Kanals aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur, aber immerhin sind sie auf dem Weg. Und wir können immer noch darauf hoffen, dass Regen und Matsch die Ketzer dazu bewegen, in ihren Unterkünften zu bleiben, in denen es kuschelig und behaglich ist. Vielleicht haben wir ja Glück, und die bleiben dort, bis uns jemand genug Verstärkung zukommen lässt, damit wir die Chance bekommen, die Stellung tatsächlich zu halten.«
»Ich habe hier den Bericht der Kanalaufsicht für Sie, Mein Gebieter«, meldete Wynshyng Pahn, seines Zeichens Baron Kristallener Himmel. Sein Atem stand ihm als dichte weiße Wolke vor dem Mund, während er sein Reittier zügelte und sich neben Gebieter der Pferde Gwainmyn Yiangszhu setzte, den Baron Stürzender Felsen.
»Werde ich ihn hören wollen?«, erkundigte sich dieser.
»Wahrscheinlich nicht«, räumte Gebieter der Fußtruppen Kristallener Himmel ein. »Nördlich von Mhartynsberg ist der ganze Kanal immer noch ein einziger großer Eisblock.«
»Sie haben recht: Das wollte ich wirklich nicht hören. Aber sonderlich überraschend kommt das nicht.« Ein dünnes Lächeln umspielte Stürzender Felsens Lippen, und seine knappe Handbewegung schien jede einzelne der zahllosen Schneeflocken einzuschließen, die ein bleigrauer Himmel nach wie vor auf sie hinabwirbeln ließ.
»Wenigstens werden Sie heute Abend ein festes Dach über dem Kopf haben, hoher Herr«, gab sein dienstältester Brigadekommandeur und Stellvertreter zu bedenken. »Das ist doch auch schon etwas.«
»Aber die einfachen Mannschaftsdienstgrade werden selbiges über sich wohl kaum behaupten können.«
»Nein, leider nicht«, bestätigte Kristallener Himmel.
Es überraschte ihn stets aufs Neue, wenn Stürzender Felsen eine derartige Bemerkung fallen ließ. Der Gebieter der Pferde war achtzehn Jahre älter als Kristallener Himmel und dabei zäh wie Leder. Zugleich war er ein Adeliger der ganz alten Schule, die noch nie dafür bekannt gewesen war, sich sonderlich viele Gedanken um das Wohlergehen der Leibeigenen auf ihren ausgedehnten Ländereien in Maddox zu machen. Ja, anfänglich war Stürzender Felsen sogar offenkundig skeptisch gewesen ob der Entscheidung, ihm Kristallener Himmel zu unterstellen. Schließlich galt der jüngere Baron als Freidenker, der beizeiten sogar schon die Frage angesprochen hatte, ob es nicht sinnvoller wäre, statt Leibeigener, die dauerhaft rechtlich an gewisse Ländereien gebunden waren, lieber eine freie Bauernschaft zu haben – nur rein theoretisch, natürlich! Doch zugleich hatte der Baron sich mit Feuereifer der Aufgabe gewidmet, die Mächtigen Heerscharen Gottes und der Erzengel mit neuen Waffen auszustatten und entsprechend auszubilden. Er hatte ganz offenkundig auch erkannt, dass die ›einfachen Mannschaftsdienstgrade‹ für den Heiligen Krieg unerlässlich waren. Ja, Kristallener Himmel vermutete mittlerweile sogar, dass es Stürzender Felsen als seine Pflicht ansah, für das Wohlergehen dieser Männer zu sorgen – und das nicht nur, um seine Waffe stets gut geschärft zu wissen. Dennoch bezweifelte Kristallener Himmel, dass Stürzender Felsen das jemals offen zugeben würde.
»Aber die Mannschaftsdienstgrade werden wohl heute rechtzeitig genug ihr Lager aufschlagen können, um sich eine warme Mahlzeit zuzubereiten, hoher Herr. Und südlich von uns taut der Kanal bereits. Wenn das anstehende Hochwasser die Mächtigen Heerscharen nicht zu sehr aufhält, sollten uns deren erste Einheiten innerhalb der nächsten Fünftage einholen.«
»Ich werde zutiefst erfreut sein, wenn das geschieht«, bestätigte Stürzender Felsen. »Aber wir sind immer noch weit von der Sylmahn-Armee entfernt, und ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht: Wir werden nicht rechtzeitig dort eintreffen.«
Kristallener Himmel drehte sich ruckartiger zu dem Gebieter der Pferde um, als er das eigentlich beabsichtigt hatte. Mit merklich geweiteten Augen starrte er seinen Vorgesetzten an.
»Es hat doch keinen Sinn, sich etwas anderes einzureden, Wynshyng«, erläuterte Stürzender Felsen mit schwerer Stimme. »Ach, natürlich werde ich zusehen, dass wir weiterhin ein ordentliches Marschtempo vorlegen. Wir kämpfen immerhin im Namen Gottes, also werde ich auch nicht die Möglichkeit eines Wunders außer Acht lassen. Aber von einem Wunder einmal abgesehen, kann nichts und niemand verhindern, dass die Ketzer mindestens einen Monat vor uns bei Bischof-Kommandeur Bahrnabai eintreffen.«
»Wenn das stimmt, hoher Herr – und mein Erstaunen gilt Eurer Offenheit, nicht Eurer Einschätzung der Lage –, wird dann Vikar Allayn dem Bischof-Kommandeur nicht gestatten, sich zurückzuziehen?«
»Wenn es nach Vikar Allayn ginge, dann hätte sich der Bischof-Kommandeur bereits zurückgezogen«, antwortete Stürzender Felsen unverblümt. »Aber nach Vikar Allayn geht es nun einmal nicht, und das wissen Sie genauso gut wie ich.« Er blickte dem jüngeren Adeligen so lange fest in die Augen, bis dieser nickte. Stürzender Felsen zuckte mit den Schultern. »Rein militärisch betrachtet, ist das eine Fehlentscheidung. Betrachtet man jedoch die Notwendigkeiten des Heiligen Krieges, mag sie genau das Richtige sein. Selbst wenn sich damit sonst nichts gewinnen ließe, müssten sich die Ketzer zunächst des Bischof-Kommandeurs annehmen, und das verschafft den Mächtigen Heerscharen weitere Zeit, dem Kanal zu folgen und sich dem Feind entgegenzustellen. Und angesichts der Versorgungslage ebendieses Bischof-Kommandeurs ist davon auszugehen, dass es ihm ernstlich an Lebensmitteln und Lasttieren gebricht. Also könnte er zu diesem Zeitpunkt ohnehin nur einen Teil seiner Truppen abrücken lassen.«
Kristallener Himmels Nasenflügel bebten, doch dann nickte er erneut, langsam und bedächtig.
»Ach, jetzt schauen Sie nicht so betrübt, Wynshyng!« In einer ungewohnten Geste der Zuneigung gab ihm Stürzender Felsen einen Klaps auf die Schulter. »Gott hat uns niemals versprochen, es würde leicht, und wäre Shan-wei nicht auf der Welt entfesselt, und täte sie nicht alles in ihrer Macht Stehende zur Unterstützung der Ketzer, hätte es einen Heiligen Krieg niemals gegeben. Sosehr die Vorstellung auch schmerzen mag, Bischof-Kommandeur Bahrnabais gesamte Armee zu verlieren, beträgt seine Gesamtstärke nicht einmal ein Zehntel der Truppenstärke der Mächtigen Heerscharen, und Graf Regenbogen über den Wassern kommt jeder Mann und jedes Geschütz zu, die hinter uns den Kanal hinaufkommen. Was auch immer der Sylmahn-Armee widerfahren mag: Lange bevor die Ketzer die Grenzen der Randstaaten erreichen, bekommen sie es mit uns zu tun, und uns bleibt noch der gesamte Sommer, um ihnen zu zeigen, dass nicht einmal Shan-wei sie vor Gottes Zorn zu bewahren vermag!«
»Guten Morgen, Sir.«
Lieutenant Zhaksyn salutierte, als der Kapitän an Deck kam. Mit ernster Miene erwiderte Sir Bruhstair Ahbaht den militärischen Gruß, dann nickte er dem Leutnant zu, trat an die Heckreling heran und blickte nach Südosten: Die Morgensonne tauchte die Marssegel seines Geschwaders in flüssiges Gold. Vor siebzehn Tagen hatten sie die Talismaninsel hinter sich gelassen, und der wolkenlose Himmel schien wie eine polierte blaue Halbkugel über ihnen zu liegen: Die Luft war klar, es war hell und heiß … und praktisch windstill.
Die Reihe seiner Schiffe war weiter auseinandergezogen, als er sich das gewünscht hätte. Doch im Augenblick störte ihn das deutlich weniger als der Anblick der sonnengebleichten Segel, die schlaff herabhingen oder nur schwächlich killten. Derzeit schlich die Thunderer mit weniger als einem Knoten dahin. Statt Wellenrauschen vor dem Bug war kaum mehr als ein Flüstern zu vernehmen, und von mehreren ihrer Begleitschiffe wurde sie langsam, aber stetig überholt. Ahbaht liebte sein Schiff, das dank seiner beachtlichen Takelung schon beim leisesten Lüftchen bemerkenswerte Geschwindigkeiten erreichte und dabei für ein Schiff dieser Größe und Tonnage überraschend wendig war. Doch wenn sich die Luft praktisch überhaupt nicht mehr rührte, fühlte es sich an, als schleppe sein geliebtes Schiff einen Anker hinter sich her … und die Zeit drängte!
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wippte er unruhig auf den Fußballen auf und ab. Er spürte die enervierende Hitze der Äquatorsonne nahen. Schon jetzt lag die Temperatur nahe achtzig Grad Fahrenheit (ein gewisser Merlin Athrawes hätte von mehr als fünfundzwanzig Grad Celsius gesprochen, wovon Ahbaht natürlich nichts wusste). Wenn erst einmal der Nachmittag hereinbräche, würden die Matrosen jeden Schatten nutzen, der sich nur finden ließe. Sir Bruhstair hatte bereits Sonnensegel aufspannen lassen, um die Decks der Thunderer ein wenig zu verschatten. Aber auf eine kühlende Brise, nein, darauf würden die Männer an diesem Tag vergeblich warten.
Ach, jetzt stell dich nicht an wie ein altes Waschweib, Bruhstair!, herrschte er sich selbst an. Ja, dem optimistischsten aller Zeitpläne hinkst du ein wenig hinterher, aber du hast immer noch einen ganzen Fünftag Spielraum. Und genau wie du Lywelyn und Zheryko gesagt hast, kannst du ja jederzeit wenden lassen und in die Heimat zurückkehren, wenn du siehst, dass du das Ziel nicht rechtzeitig erreichen wirst.
Einen Moment lang blickte er schweigend zum alles andere als kooperativen Himmel empor, dann wandte er sich erneut Zhaksyn zu.
»Ich glaube, wir ziehen den Geschützdrill heute ein wenig vor, Ahlber.« Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Bringen wir es hinter uns, bevor es richtig heiß wird.«
»Allmählich macht mich das nervös«, gestand Cayleb Ahrmahk.
Acht Uhr am Morgen in der Shwei Bay entsprach in Siddar-Stadt dreizehn Uhr, dem Safehold-Gegenstück der Mittagsstunde. Auf dem Tisch zwischen ihm und Aivah Pahrsahn standen noch die Reste des Mittagessens. Sie erwarteten noch Henrai Maidyn und Daryus Parkair, den Schatzkanzler und den Seneschall der Republik. Die beiden befanden sich auf dem Weg zur Botschaft, um General Stohnars und Herzog Eastshares jüngste Depeschen zu besprechen. Nach wie vor bemühte Maidyn sich nach Kräften – meist auch mit Erfolg –, sich nicht über die Effizienz des charisianischen Spionagenetzwerks zu ärgern, dem der überwiegende Teil sämtlicher nachrichtendienstlicher Informationen zu verdanken war. Dennoch hätte es keinerlei Sinn gehabt, sich einreden zu wollen, seine eigenen Agenten würden auch nur ansatzweise so viel über den Gegner in Erfahrung bringen oder dessen Reihen auch nur annähernd so effizient unterwandern wie deren Gegenstücke aus Charis. Kaiser Cayleb – nun, genauer gesagt: Seijin Merlin und dessen weitreichendes Spionagenetzwerk – und Madame Pahrsahn waren einfach ungleich effektiver: Mittlerweile verließ sich die Republik geradezu exzessiv auf sie.
»Mich verleitet die Wetterlage auch nicht gerade dazu, vor Freude Luftsprünge zu vollführen, Euer Majestät«, gab Sir Dunkyn Yairley über Com zurück. Er befand sich derzeit an Bord seines Flaggschiffs. HMS Destiny und das zugehörige kleine Geschwader fuhren stetig weiter nach Osten; derzeit durchquerten sie gerade bei deutlich frischerem Westwind die Harchong-See. An Bord der Destiny war es erst drei Uhr morgens, doch Lieutenant Aplyn-Ahrmahk und er waren für diese Konferenz extra früh aufgestanden. »Mir ist voll und ganz bewusst, was Sir Bruhstair da treibt, und meines Erachtens hat er ganz und gar recht damit. Zugleich würde ich gern über mich sagen können, exakt die gleiche Entscheidung getroffen zu haben, wäre ich an seiner Stelle gewesen, und es ist schon richtig: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Aber Rohsail koordiniert seine Einheiten ungleich besser, als Ahbaht erwartet hatte – und ich auch, wie ich zugeben muss. Bei den Windverhältnissen, mit denen sich Ahbaht derzeit herumschlagen muss …« Er beendete den Satz nicht, sondern schüttelte nur den Kopf.
»Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie selbst ja bereits Erfahrungen machen dürfen mit … widrigen Windverhältnissen, Mein Lord«, bemerkte Merlin.
Er blickte durch das Fenster des Konferenzsaals, in dem sich schon bald Cayleb, Aivah, Maidyn und Parkair einfinden sollten. Vorgeblich befassten er und die anderen Angehörigen der Garde sich gerade mit einer Sicherheitsüberprüfung, wie sie nun einmal routinemäßig anstand, wenn derart erlauchte Persönlichkeiten zusammentrafen. Doch in Wahrheit begutachtete er gerade Bildmaterial aus der harchongesischen Provinz Shwei. Kleine grüne und rote Icons krochen über sein Blickfeld: Sie alle bewegten sich stetig nach Süden – und die roten Icons waren unverkennbar in der Überzahl.
»Ja, das stimmt wohl«, bestätigte Baron Sarmouth. Sein Beitritt zum Inneren Kreis war noch frisch genug, dass ihm unwillkürlich ein Schauer der Beunruhigung durchfuhr, hier und jetzt nicht nur mit dem Furcht einflößenden Seijin Merlin zu sprechen, sondern dafür auch noch ein Gerät zu verwenden, das seiner gesamten bisherigen Ausbildung und auch seiner persönlichen Erfahrungen gemäß nur dämonischen Ursprungs sein konnte, doch seine Mundwinkel zuckten. »Das gilt sogar für Hektor ebenso wie für mich selbst. Allerdings ging es damals um gänzlich andere Widrigkeiten.«
»Das wohl«, pflichtete ihm Cayleb bei. »Andererseits haben Sharleyan und ich Sie beide den ganzen Hurrikan hindurch fest im Blick behalten, auch wenn weder Sie noch er das damals wissen konnten. Als ich Ihnen anschließend sagte, wie sehr mich Ihr seemännisches Geschick beeindruckt hat – vor allem, nachdem dann auch noch das Ankertau gerissen war! –, war ich also deutlich … besser informiert, als Ihnen zum damaligen Zeitpunkt vermutlich bewusst sein konnte.«
»Du hättest das mal vom Achterdeck aus erleben sollen, Cayleb«, warf Hektor ein. »Ich glaube, keiner von uns hätte damals ernstlich geglaubt, dass er das wirklich hinbekommen würde, hätten wir die Zeit gehabt, darüber nachzudenken.« Der Leutnant zuckte mit den Schultern. »Glücklicherweise blieb uns diese Zeit nicht! Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, das zu tun, was er von uns verlangte, um uns Sorgen darüber zu machen, ob es das Richtige war!«
»Tja, wie auch immer …« Es war offenkundig, wie peinlich Sarmouth dieses Lob war. »Aber das ändert auch nichts an der Tatsache, dass Rohsail mittlerweile mindestens einen Tag wieder wettgemacht hat. Oder daran, dass er zusammen mit Raisahndo auf mehr als das Dreifache an Mannstärke kommt.«
»Nein, das wohl nicht«, bestätigte Merlin, »und ich wünschte wirklich, wir könnten ihn das irgendwie wissen lassen.« Unglücklich verzog er das Gesicht. »Ich versuche mir selbst schon die ganze Zeit einzureden, dass das hier nicht wieder auf Gwylym Manthyr und die Schlacht in der Harchong-Meerenge hinausläuft … aber leicht fällt mir das nicht.«
»Ich sehe zumindest keinerlei Anzeichen für jene Sorte Sturm, die seinerzeit Gwylyms Takelage ruiniert hat – und Owl auch nicht«, gab Cayleb zu bedenken. »Und Rohsail mag ja durchaus aufgeholt haben, aber das gilt eben auch für die Dreadnought. Haigyl sollte Ahbaht eingeholt haben, bevor Rohsail zu einem von ihnen aufkommt, und ich wüsste wirklich keinen Captain zu nennen, den ich an seiner Stelle lieber an meiner Seite wüsste. Solange diese verdammten Schraubengaleeren noch nicht ins Spiel gekommen sind, sollten die Thunderer und die Dreadnought das Ungleichgewicht der Kräfte wettmachen. Und wir sollten auch die Tumult und die Turmoil nicht vergessen: Die sind zwar nicht gepanzert, aber ihre Steilgeschütze mit gezogenem Rohr sollten reichlich große Löcher in jede Galeone reißen können, die ihnen in die Quere kommt.«
»Verzeihen Sie, dass ich das so frage«, ergriff nun Aivah das Wort, »aber ich kenne mich mit Booten längst nicht so aus wie Sie Charisianer.« Beim Wort ›Booten‹ verzog Cayleb gequält das Gesicht, und Aivah blinzelte ihm kurz zu. »Aber wie gefährlich sind diese sogenannten Schraubengaleeren denn nun wirklich?«
»Ja, genau das ist die große Frage«, setzte Merlin zu einer Antwort an. »Unsere Sechs-Zoll-Geschütze sollten deren Panzerung eigentlich durchschlagen können, aber sie ist eben doch dicker, als wir den Dohlaranern in unseren bisherigen Abschätzungen zugetraut hatten. Wenigstens wurde Eisen verwendet, kein Stahl, und oberflächengehärtet wie Ehdwyrds sind Dohlars Panzerplatten auch nicht, aber den Dreißig-Pfund-Granaten widerstehen sie trotzdem mühelos. Selbst massive Dreißig-Pfund-Kugeln werden sie nicht ohne Weiteres durchschlagen – da bräuchte es schon eine ganze Reihe Treffer an genau derselben Stelle. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass unsere Sechs-Zoll-Granaten in Standardausführung sie so leicht knacken können, wie wir alle uns das wünschen. Bei den Panzerbrechern bin ich mir ziemlich sicher, dass sie damit zurechtkommen, aber von dieser Munition haben beide Panzerschiffe längst nicht so viel dabei, wie mir das lieb wäre, und bei den Bombardierschiffen sieht es noch übler aus.«
»Aber nur deren vorderen Rümpfe sind gepanzert, oder?«
»Im Prinzip ja«, bestätigte Merlin. »Der Rest ist mit deutlich leichteren Platten bestückt, um den Rudergängern zumindest einen gewissen Schutz vor Handfeuerwaffen und Geschützen wie den Wölfen zu bieten. Aber davon abgesehen sind zwei Drittel ihrer Rümpfe ungepanzert. Das Problem ist, dass sie bei derartigen Wetterverhältnissen dank ihrer Schonertakelung und dieser verdammten Schrauben keinerlei Probleme hätten, unseren Schiffen ihren Bug zuzuwenden. Noch schlimmer: Mit Schonersegeln können die auch ohne die Schrauben luvseitig zu uns aufkommen – und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass sie mit den Schrauben sogar geradewegs gegen den Wind fahren können! Wenn man dann noch die schiere Zahl an Buggeschützen bedenkt, kommt ein Schiff heraus, das insgesamt deutlich gefährlicher ist, als uns lieb ist.«
»Und diese verflixten Schraubengaleeren sind zudem auch noch schneller, als uns lieb ist.« Hektors Tonfall verriet unverkennbar Frustration. »Ohne Dampf sollten die eigentlich unter Schrauben kaum von der Stelle kommen!«
»Schrauben sind effizienter als Ruder, auch wenn ich wirklich nicht damit gerechnet hatte, dass Zhwaigair den Kurbeln eine derart wirksame Getriebeübersetzung verschaffen würde«, merkte Merlin gelassen an. »Die Schiffe sind obendrein auch noch leicht genug konstruiert, um einen beachtlichen Sprint vorzulegen. Andererseits ist gerade die Getriebeübersetzung eine mögliche Schwachstelle: Während des Drills sind reichlich Übersetzungen verschlissen worden. Und wegen der leichten Bauweise sind die Schiffe zerbrechlich. Auf hoher See sind sie sogar noch nutzloser als die dohlaranischen Galeeren vor dem Armageddon-Riff.«
»Was wirklich nützlich wäre, würden wir hier nicht von einer landeinwärts gelegenen Bucht reden«, versetzte Cayleb säuerlich. Finster betrachtete er dasselbe Kartenmaterial, das auch Merlin vor sich sah, dann gab er sich sichtlich einen Ruck und sagte: »Na, von hier aus können wir an der Lage ohnehin nichts ändern.« Kurz schürzte er die Lippen. »Und darin habe ich in letzter Zeit deutlich mehr Erfahrungen sammeln dürfen als gewünscht. Wie dem auch sei: Henrai und Daryus müssten jetzt jede Minute hier eintreffen. Das wiederum bringt uns zu der Eisdecke auf dem Wyvernsee und unserem lieben Freund Bischof Gorthyk.«
Wieder verzog er die Lippen, doch dieses Mal zu einem äußerst unschönen Lächeln.
General Trumyn Stohnar warf einen Blick auf die Uhr.
Beklagenswerterweise war es erst sieben Minuten später als beim letzten Mal, da er auf die Uhr geschaut hatte. Ein Ding der Unmöglichkeit, schließlich hatte er sich mit eisernem Willen mindestens ein Dutzend Mal bewusst davon abgehalten, sie in der Zwischenzeit hervorzuziehen!
Dass er tatsächlich so angespannt sein sollte, ließ ihn jetzt ein ungläubiges Schnauben ausstoßen. Wie sich wohl die ihm unterstellten Männer fühlten? Sie warteten voller Ungeduld auf dasselbe wie er selbst. Die Hildermoss-Armee hatte nicht mehr viel mit der verzweifelten, zahlenmäßig unterlegenen Streitmacht zu tun, die er im letzten Frühling befehligt hatte. Aus der Handvoll halb verhungerter, erschöpfter Regimenter war eine Armee aus sechs Schützendivisionen geworden, unterstützt durch sechs Regimenter siddarmarkianischer Dragoner. Deren Ausrüstung war, zugegeben, der charisianischen nach wie vor unterlegen. Dennoch standen die Dragoner heute besser da, als das der Republic of Siddarmark Army bislang jemals vergönnt gewesen war. Jeder von Stohnars achtzigtausend Infanteristen war mit einem Gewehr ausgestattet, davon mehr als ein Drittel Hinterlader, jedes Gewehr mit Bajonett. Die zwölftausend Dragoner führten ausnahmslos Gewehre oder Karabiner mit gezogenem Lauf, und insgesamt verfügten Stohnars Divisionen über mehr als zweitausend Mörser und beinahe sechshundert Feldgeschütze. Zugegeben, bei jenen Feldgeschützen handelte es sich vornehmlich um Dreißigpfünder und Vierzehnpfünder aus Flottenbeständen, die nun auf Lafetten aus charisianischer Fertigung ruhten. Das verschaffte seiner Artillerie beachtliche Schlagkraft, auch wenn es sich nicht um Vier-Zoll-Geschütze mit gezogenem Rohr handelte, wie sie bei einer zunehmenden Anzahl von Artillerieregimentern der Imperial Charisian Army zum Einsatz kamen.
Nun gut, er selbst verfügte nicht über charisianische Feldgeschütze mit gezogenem Rohr. Aber er wusste, woher …
In der Nachtschwärze, die in diesen frühen Morgenstunden über dem Wyvernsee lag, stieg eine einzelne Rakete senkrecht zum Himmel auf.
»Sir! Colonel Olyvyr!«
Ruckartig richtete sich Bryntyn Olyvyr in seinem Klappstuhl auf und schüttete sich dabei den halben Inhalt seiner beklagenswert kleinen Tasse heißer Schokolade über den Kasack. Es war erst fünf Uhr am Morgen. Derart hoch im Norden würde der Sonnenaufgang noch lange auf sich warten lassen. Beinahe im Halbschlaf hatte er sein spartanisches Frühstück eingenommen und dabei zugelassen, dass seine Gedanken in die Heimat wanderten, zu seiner Frau und seinen drei Söhnen.
Er fluchte leise, aber inbrünstig, während er hastig die Schokolade von seiner Uniform wischte, doch sein Ärger galt deutlich mehr seiner eigenen Ungeschicklichkeit als seinem Adjutanten. Lieutenant Dahntahs diente unter ihm bereits, seit die Sankt-Yura-Division im letzten Sommer nach Osten marschiert war. Er störte seinen Vorgesetzten niemals nur aus einer Laune heraus, und was auch immer den Burschen zu seinem alarmiert klingenden Ausruf bewogen hatte, ließ Olyvyr vermuten, dass ein mit Schokolade getränkter Kasack dagegen ein zu vernachlässigendes Malheur wäre.
Die Tür der kleinen Hütte, die ihm als Hauptquartier diente, flog auf, und der junge Dahntahs stürzte herein. Die braunen Augen hatte er weit aufgerissen, und sein selbst im Idealzustand meist zerzaustes Haar stand wild in alle Himmelsrichtungen ab, als er schlitternd vor seinem Vorgesetzten zum Stehen kam.
»Was gibt’s, Taydohr?«, fragte Olyvyr scharf.
»Eine Signalrakete, Sir – über dem See!«
Ein eisiger Schauer, der nicht das Geringste mit der nasskalten Morgenluft zu tun hatte, kroch Olyvyr vom Nacken aus langsam den Rücken hinab und sorgte schließlich dafür, dass sich sein unablässig hungriger Magen zusammenkrampfte. Jeder Offizier der Sylmahn-Armee wusste, dass die Ketzer einen Angriff unternehmen würden, sobald das Wetter ihnen einen Vorstoß gestattete. Doch die Eisdecke auf dem Wyvernsee schmolz nun schon seit mehreren Fünftagen immer weiter, was durch das einsetzende Frühlingshochwasser nur noch beschleunigt wurde. Ebenso wie die meisten anderen Ressortoffiziere unter Bischof-Kommandeur Bahrnabais Kommando erinnerte sich auch Olyvyr noch bestens an die Frühlingsüberflutungen des vergangenen Jahres. Ja, letztes Jahr um diese Zeit war die Sylmahn-Kluft weiß Langhorne ein wahrer Albtraum aus Schlamm und brusttiefem Wasser gewesen! Das konnte ja wohl nur heißen, dass der Ketzer Stohnar nun ebenso im Schlamm feststeckte wie die Sylmahn-Armee … und dass der erwartete Angriff aus dem Westen erfolgen musste, dem Guarnak-Ascheneis-Kanal entlang.
Doch offenkundig hieß es das keineswegs.
Der Oberst setzte die Tasse ab, wischte sich noch einmal mit der Serviette über den Kasack, griff gleichzeitig mit der anderen Hand schon nach dem Mantel und ging mit großen Schritten auf die Tür zu. Dahntahs blieb noch lange genug in der kleinen Hütte zurück, um sich den Schwertgurt seines Vorgesetzten zu greifen, dann folgte er ihm dichtauf.
Olyvyr stürmte ins Freie und zupfte dabei seinen Mantel zurecht. Umgeben von blauem Flammenschein und Rauch hing die Signalrakete, von der Dahntahs gesprochen hatte, hoch am Himmel: Unter einem jener Fallschirme, die die Ketzer so gern verwendeten, sank sie allmählich wieder in die Tiefe. Der unvermittelt aufgeflammte Lichtschein schien die Dunkelheit über dem See noch undurchdringlicher zu machen. Doch ganz offenkundig war die Rakete nur wenige tausend Schritt vor den verschlammten, halb überfluteten Schützengräben des 1. Regiments gezündet worden. Das bedeutete, dass sie von jemandem abgefeuert worden war, der sich irgendwo auf dem See selbst befand. Mit beiden Händen schützte Olyvyr seine Augen vor dem schmerzhaft grellen Gleißen. Konzentriert starrte er in die Schwärze hinein und suchte nach … was auch immer sich dort draußen befinden mochte. Dabei fragte er sich, was die Ketzer wohl im Schilde führten.
Was bei Shan-weis eigener Hölle treiben die überhaupt auf der Ostseite des Sees? Der Gedanke brannte regelrecht in seinem Verstand. Die müssten doch Bischof Zhasyn angreifen, nicht uns!