No such Future - Friederike Müller-Friemauth - E-Book

No such Future E-Book

Friederike Müller-Friemauth

3,8

Beschreibung

Ihnen wird geraten, sich stärker der Zukunft anzunehmen? Einschlägige Trends zu beachten? Strategien für morgen zu entwickeln? Endlich Nachhaltigkeitsrichtlinien zu formulieren? Fragen Sie sich als Führungskraft oder Unternehmer nicht auch, ob dieser Wahnsinn Methode hat? Jeder kennt den tagtäglichen E-Mail-, Telefon- und Tagungs-Terror: Agenturen und Berater lassen nichts unversucht, um immer neue sprachlich hochgetunte Trendsäue durchs unternehmerische Dorf zu jagen. Und uns diese als unverzichtbar für die Unternehmenszukunft zu verkaufen. Dass viele aufgeschlossene Unternehmer hier Zeit und Geld investieren, ist mangels Alternativen zwar verständlich entschuldbar ist es nicht. Selber denken hilft! Dieses Buch ist ein Anti-Planungsbuch für den Mittelstand. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Mainstream im Management und der dazu passenden Trend- und Zukunftsbranche entwickelt das Buch die Anforderungen an das, was flexible Unternehmer ohnehin besser können als die Großen: Selber denken! Dazu bedarf es keiner Universaltrends und komplizierter Ableitungstools, sondern nur weniger Schritte, um die zentralen Stellhebel zu identifizieren, die ein Unternehmen und dessen Zukunft bestimmen. Systematisch, kontrollierbar und unabhängig.

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Friederike Müller-Friemauth

No such Future

Ein Trainingslager fürmittelständischenUnternehmerverstand

Bildnachweis

S. 99: © Jeanette Dietl – Fotolia.com; S. 101: © jd-photodesign – Fotolia.com;

S. 103: © Andrey Kisilev – Fotolia.com; S. 105: © lassedesign – Fotolia.com;

S. 107: © Antrey – Fotolia.com, S. 109: © Gina Sanders – Fotolia.com

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat: Claudia Franz | [email protected]

Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen | www.martinzech.de

©2015 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2013 erschienenen Buchtitel „No such Future“ von Friederike Müller-Friemauth,©2013 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-479-7

ISBN epub: 978-3-86200-981-7

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise,nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

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AUFSTELLUNG

Warmlaufen

VOR DEM SPIEL

Spiel-Ansetzung

Auf dem Spielformular

Die Premier League des Prognosemarktes

Spiel-Philosophie: Mia san mia!

Betriebswirtschaftslehre und Zukunftsforschung
Zukunftsforschung und Trendreportagen

Regeln und Ressourcen

Rules of the Game
Ausstattung

ANPFIFF

Ball flachhalten oder stürmen?

Trendzirkus als Chancentod
Einflussfaktoren statt Trends
Spielanalyse

Unterschiedliche Ballführung

Auslaufmodelle …
… und junge Talente
Spielanalyse

Zug zum Tor – Schnelles Umschalten von Abwehr auf Angriff

Alternativen erkennen – fokussiert improvisieren
Stellungsspiel: Positionierung
Spielanalyse

Zukunftsfähige Spielkultur

Tolle Moral
Schluss-Offensive
Spielanalyse

ABPFIFF

Mixed Zone

Spielanalyse

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Kommentare zum Spiel
Bälle einsammeln
Shakehands
Über die Spielführerin

Warmlaufen

»Wer einen Zweck in die Welt setzt,muss dann mit dem Zweck gegen die Welt spielen –und das kann nicht gut gehen oder jedenfalls nicht so, wie er denkt.«NIKLAS LUHMANN

Für alle, die wie ich – it was in another lifetime – dachten, ihr Leben »strategisch planen« zu können. Und wenn dem so gewesen wäre? Wenn Strategie, Planung oder Prognose tatsächlich Wirklichkeit geworden wären? Womöglich wäre ich ganz woanders gelandet. Vielleicht in einer Neuen Welt. Vor einem Steinway-Flügel. Später war ich tatsächlich eine Zeit lang in New York. Allerdings nicht, um Klavier zu spielen, sondern aus eher »taktischen« Gründen: um etwas über Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu lernen.

»Das Leben ist verrückter als Scheiße«, heißt es drastisch im Jahrhundert-Schlüssel-Film »Es war einmal in Amerika« über die Neue Welt New York. Falls das stimmt, sollten wir wenigstens darauf vorbereitet sein, wenn irgendwann mal was in die Hose geht.

Für alle also, die ihr Leben unternehmen wollen!

Dieses Buch ist wirtschaftsorientiert geschrieben. Aber wer es mit Blick auf den gesellschaftlichen Zeitgeist liest, wird erkennen, dass es nicht nur für kleine und mittelständische Unternehmer taugt, sondern für jeden von uns Kleinen und Mittleren. Denn Ziele, Strategien und Fakten sind nicht alles – und Zukunft muss trotzdem bewältigt werden.

Nicht zuletzt ist dieses Buch für Prof. Dr. Eckard Minx, zu meiner Zeit noch Leiter der Abteilung für Zukunftsforschung bei der damaligen DaimlerChrysler AG, der meine ersten Schritte auf der Reise ins Morgen begleitete.

Odenthal, 2013

VOR DEM SPIEL

»Ja; mach nur einen Plan sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan gehn tun sie beide nicht.«

BERTOLT BRECHT

 

Spiel-Ansetzung

»Strategie? Für so was haben wir keine Zeit.«

In kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) haben Pläne und Strategien einen denkbar schlechten Ruf. Strategisches Planen? Kostet! Und zwar nicht nur Zeit und Geld, sondern auch Nerven. Immer geht was schief. Und manchmal kommt auch schlicht nichts dabei heraus – egal, wie viele Gedanken man sich im Vorfeld gemacht hat. Deshalb verzichten viele, die nicht über die gut gefüllten Marketing-»Kriegskassen« der Großkonzerne verfügen, lieber ganz darauf, sich Gedanken über Zukünftiges zu machen. Sie verlassen sich aufs Durchwursteln: Muddling through als Methode. Und üben sich in Pragmatismus.

Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps.Und MORGEN? Scheint wieder die Sonne!

Schmerzensgeld in Form von Honoraren für Berater, die diese Leerstelle früher oder später ausfüllen müssen, inbegriffen. Nachvollziehbar ist das. Denn einige Entscheider haben es durchaus versucht und erfahren, wie auf der Grundlage jeweils aktueller »Trends« ständig neue, angeblich »erfolgssichere Strategien« mit lautstarkem Ballyhoo durchs unternehmerische Dorf gejagt wurden. Nur, um dann umgehend wieder in der Versenkung zu verschwinden. Derartiges zeichnet sich außerdem durch ein erstaunliches Grundverständnis aus – nämlich, dass ein strategischer Plan darin bestünde:

∎dass er komplexe Unternehmenswelten – zusammengestaucht in Form von Zahlen, Daten, Fakten – »vollständig« analysiert,

∎ darauf aufbauend »optimale« Maßnahmen festlegt und

∎ diese dann in »rational« kontrollierbare, »systematisch« aufeinander folgende Handlungsschritte umsetzt.

Vollständig – optimal – rational – systematisch. Sieht so der Alltag eines kleinen oder mittelständischen Unternehmens aus? Wenn »hungrige« Unternehmer eins schnell lernen, dann das: In Starrheit und Verfahrensstrenge liegt der Schlüssel zu einer positiven Entwicklung bestimmt nicht.

Erfolg hängt vielmehr davon ab:

∎ veränderte Situationen schnell zu bewerten,

∎ neue Entscheidungen zu treffen,

∎ frühere Bestimmungen gegebenenfalls zu revidieren und

∎ dabei immer den Überblick zu behalten.

Und das alles unter realen Bedingungen – vor dem Hintergrund notorisch unvollständiger Informationen, einer unsicheren Marktentwicklung und eines durch Zufälle geprägten Geschäftsverlaufs. Deswegen gilt:

Dieses Buch ist ein Anti-Planungsbuch.

Es rät von der klassischen betriebswirtschaftlichen Planung, von »Strategie-Projekten« und »Prozess-Architekturen« entschieden ab. Zudem richtet es sich gegen Zukunftsvorsorge, die mit Kennzahlen-Prognosen, Trend-Monitoring-Daten, »Desk-Research«, ausgefeilten Maßnahmenkatalogen und wirtschaftlichen »Meilensteinen« unternehmerische Kernziele erreichen will. Zukunft entsteht auf unendlich viele Weisen. Aber so? Sicher nicht!

Perspektivwechel: Kluges Taktieren statt brotloser Planungskunst

»Die Zukunft ist das, was wir nicht kennen können«, so der kongeniale Wegbegleiter zukunftsforscherischen Denkens Niklas Luhmann. Und der beste Freund der Zukunft? Ist der Zufall! Zukunft und Zufall – diesem Duo infernale mit festgezurrten Plänen zu Leibe rücken zu wollen, bedeutet Scheitern auf Ansage. Deswegen hat die Zukunftsforschung methodisch das Pferd gewechselt. Sie setzt nicht mehr auf Strategie (laut Duden: »genau geplantes Vorgehen«), sondern auf Taktik (»Ausnutzung einer Lage«). Das ist grundlegend und führt zu einem konsequenten Wechsel der Perspektive: Weg vom vorab fixierten »Gefechtsziel« – hin zum »Manöver«. Hier wird strikt situativ gehandelt und ständig neu entschieden.1

»Der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist.«

LOUIS PASTEUR, Naturwissenschaftler

Selbstverständlich sollte man auch weiterhin wissen, was man erreichen will. Aber wenn die Zeiten so »volatil« sind, wie immer behauptet wird, macht es keinen Sinn, sich an der Erreichung »strategischer« Ziele abzuarbeiten. Die Kunst besteht vielmehr in blitzschnellem, flexiblem Taktieren. Das Ziel vor Augen, klar – aber den Weg dorthin? Bahnen Urteilsvermögen und Vorbereitet-Sein. Es geht darum, sofort auf Entwicklungsmöglichkeiten zu reagieren und gegen Unvorhersehbares oder Störfälle gefeit zu sein. Daher lautet die zentrale Regel methodisch seriöser Zukunftsforschung:

Dem Unvorhersehbaren kann man nicht »strategisch« begegnen. Aber man kann »taktisch« klug mit Zukunft umgehen. Und den Zufall? Den kann man manchmal einfach auskontern!

Spiel-Art

Von der Strategie zur Taktik – dieser Perspektivenwechsel hat Konsequenzen. Etwa, dass man das altehrwürdige, auf Zahlen fixierte Instrumentarium zunächst getrost vergessen kann. Oder auch, dass man die Entwicklung eines Unternehmens durchaus selbstständig bewerkstelligen kann, und zwar ohne komplizierte »Tools« oder reflexhafte Marktforschung. Stattdessen geht es um den Rückgriff auf das, was Unternehmer ohnehin am besten können (sollten) – nämlich geschäftlichen Sachverstand mit praktischer Gestaltungskompetenz zusammenzubringen.

Ablenkungsmanöver Social Media

 

Für wachstumsorientierte Unternehmen zählt allein, wie man Kunden findet und zu Neugeschäften kommt. Dennoch verbringen sie viel Zeit mit Strategien, Skalierungsverfahren, der Balanced Score Card, Softwaretricks und anderem Nebensächlichem.

Der Hype um die Social Media ist ein schönes Anschauungsobjekt des »Nebenkriegsschauplätze-Phänomens«. Entscheider ertrinken in Offerten zu Kongressen, Tagungen und Beratungen, wie man Twitter, Facebook oder Blogs effektiv nutzt. Dabei wären die mit den sozialen Medien angeblich verbundenen, revolutionären Marktvorteile das eigentlich Interessante!

Die immer neuen Trends und Moden erzeugen ein Dauerrauschen, das eine Gestaltung von Zukunft geradezu verhindert: Der Blick wird fixiert auf aufmerksamkeitsheischende Phänomene – ohne markt- oder unternehmensbezogene Beurteilung der angeblich damit einhergehenden Positionsgewinne! Die Gestaltungsebene ist völlig abgeschnitten: »Was bedeutet das Mit-Surfen auf einem Trend für meine Marktchancen? Ist das überhaupt relevant für mich?«

Zukunftsbewältigung mittels Trends ist oft kurios, immer überraschend und macht Spaß. Dem unternehmerischen Zweck angemessen ist sie aber nicht, wenn es nur um neuen Treibstoff für die Aufmerksamkeitsökonomie geht.

Dieses Buch fordert dazu auf, selber zu denken. In Alternativen. Auf Vorrat.2 Den Horizont der eigenen unternehmerischen Möglichkeiten selbstständig und kühn zu öffnen. Warum diese geradezu halsbrecherisch anmutende Empfehlung? Und das in Zeiten, in denen es trendy ist, entweder auf die »Schwarmintelligenz« zu setzen oder wenigstens auf den eigenen Schwarm von Consultants? Harakiri – aus Angst vor dem Tod? Nö. Eine zeitgemäße Zukunftsforschung folgt einem ehernen Grundsatz:

Unter Bedingungen unzureichender Information und unsicherer, dynamischer, komplexer Umfelder gestaltet man sein Handlungsfeld mit den Mitteln, über die man verfügt und die man beeinflussen kann. Das ist nämlich das einzig verlässliche Fundament, das man hat.

Darum gehts – ums Unternehmerische: Das Identifizieren der eigenen »Stellhebel« und die Nutzung des eigenen Potenzials. Dafür besitzen Unternehmer die nötige Erfahrung und Branchenkompetenz. Aber: Sie müssen auch bereit sein, Zeit und Energie in Zukunft zu investieren. Das ist weit mehr als eine Herausforderung. Es ist ein Überlebensprinzip.

Die Kleineren verfügen über eine viel höhere Wendigkeit als die Großen – das ist einer der wichtigsten »Treiber« des Erfolgs kleiner und mittlerer Unternehmen. Deshalb geht es im Folgenden darum, wie sich dieser Treiber konsequent für die Zukunft einsetzen lässt.

Im Kern ist dieses Buch ein Trainingslager für taktisch klugen Unternehmerverstand – in einem Spiel mit künftigen Möglichkeiten.

Selber-Denken tut Not

Und jetzt die schlechte Nachricht: Das mit dem Selber-Denken ist ernst gemeint.3 Ohne großen theoretischen Aufwand lassen sich mit wenigen, aber systematisch aufeinander aufbauenden Schritten die zentralen Stellhebel identifizieren, die ein Unternehmen und dessen Zukunft ausmachen – wir werden zeigen, wie. Das Selber-Denken kann einem dabei allerdings keiner abnehmen. Das ist der Nachteil gegenüber dem »Berater Ihres Vertrauens« oder der Managementmethode EasyQuick 4.0, die jedem kinderleicht aufzeigt, was er noch nie zu fragen wagte.

Das Gerüst für kühnes Denken auf Vorrat ist Gegenstand dieses Buches. Es ist ein Gegenmodell zu den vorgefertigten Standardrezepten für unternehmerischen Erfolg. Dafür braucht man ein intensives Verständnis für die Kräfteverhältnisse, die Regeln und die wechselnden Gegner auf dem ureigenen Spielfeld. Denn davon hängt der erfolgversprechende Zugriff auf Zukunft ab.

Herkunft der Zukunft

Zukunftsforschung ist in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus unterschiedlichen Quellen und Impulsen entstanden. Militärstrategie gehörte dazu, Philosophie, Wirtschaftswissenschaft, Biologie, Psychologie und Kybernetik. Zukunftsforschung ist also wahrlich interdisziplinär. Bekanntes Beispiel sind die Shell-Szenarien der 1970er-Jahre. Damit bereitete der Energiekonzern die Lehren aus der ersten »Ölkrise« auf und versuchte, Optionen für das weitere Vorgehen zu erarbeiten.

Heute sind zukunftsforscherische Methoden Bestand in fast allen Planungsstäben der Global Player. Dort beheimatet – und genau für diese Großkonzerne konzipiert.

Zukunftsforschung in KMU: Fehlanzeige!

Im Mittelstand oder bei Kleinunternehmen kommt Zukunftsforschung allerdings nicht vor. Warum? Wie entwickeln sie Innovationen? Haben sie andere Hilfsmittel? Liefern ihnen Trends aus der Zeitung, Tipps vom Branchenverband, Hinweise von den eigenen Mitarbeitern und Unternehmensexperten oder »Geheiminfos« von Beratern Empfehlungen für die Zukunftsvorsorge? Wohl kaum. Gerade Mittelständler beklagen nach Durchleuchtung ihres Betriebes durch Consultants oft, dass ihnen als Fazit oft genau das präsentiert wird, was sie den Beratern selbst zu Anfang berichtet haben – frei nach dem unter Zukunftsforschern gerne zitierten Treppenwitz: Show me your watch and I’ll tell you the time.

Ein Grund für die Leerstelle an zukunftsbezogenem Urteilsvermögen in KMU dürfte in der Dominanz der Betriebswirtschaftslehre liegen. Die meisten Unternehmer sind mit ihr »großgeworden« und setzen automatisch Zukunftsvorsorge mit Planungswissen gleich. BWL ist von ihrer Tradition her eine kaufmännische Organisations- und Handelslehre aus dem 19. Jahrhundert. Mit ihr wurden ursprünglich die wichtigsten Betriebsbelange (Buchhaltung, Vertrieb und Ähnliches) transparenter und effizienter gemacht. Dabei dreht sich alles um interne Verfahrensfragen. BWL ist eine beeindruckende organisationswissenschaftliche Sortiermaschine: Sie sammelt, ordnet, prüft, berechnet und optimiert. Am Ende identifiziert sie wirtschaftliche Probleme und behauptet oft, dass ihre Lösung die einzig richtige sei und deshalb kontrolliert abgearbeitet werden müsse. Und das sei dann aber auch mal genug an Aufwand, meinen viele Entscheider. Bloß: Kann man so Zukunft gestalten? Auf neue Wettbewerber reagieren? Mit Zufällen jonglieren? Technologiesprünge verkraften oder sie sogar blitzschnell für sich nutzen? Zukunftsforscher glauben das nicht.

Erfahrene Zukunftsforscher denken nicht in Kaufmannslogik. Sie lehnen Erbsenzählen und Entscheiden in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen als Mittel der Zukunftsvorsorge rundweg ab.

Warum? Weil die Faktoren, die man berücksichtigen muss, viel zu komplex und daher nicht berechen- oder kontrollierbar sind. Neue Kunden, Märkte, Technologien, Veränderungen der Rahmenbedingungen, politische Vorgaben und vieles mehr: Dieses Spektrum bekommt man weder mit Stärken-Schwächen-Analysen noch mit Rankings oder Wichtigkeits-Dringlichkeits-Sortieren unter einen Hut. Versucht man es trotzdem, vergleicht man Äpfel mit Birnen. Das ist keine Zukunftsvorsorge, sondern Spekulation. Je durchdachter und durchgerechneter, desto starrer und untauglicher. Man sollte sich daher vom Kreisklassen-Niveau der betriebswirtschaftlichen Zukunfts-Spökenkiekerei nicht verunsichern lassen.

Erfahrene Zukunftsforscher misstrauen »Business-Plänen«, die rosige Aussichten versprechen (müssen). Papier ist geduldig. Vielmehr konzentrieren sie sich darauf, wie sich das Auf-uns-Zukommende beeinflussen und gestalten lässt: Wie Bevorstehendes befördert, geformt oder verhindert werden kann. Praktisch. Konkret. Jetzt.

Insofern geht es in diesem Buch auch immer um ein neues Verständnis von Unternehmertum. Denn Unternehmer sind Gestalter par excellence! Die Winkelzüge unternehmerischen Handelns sind für KMU viel wichtiger als »Milestone-Watching«, Daten-Updates oder das Mit-Surfen auf der neuesten ultimativen Managementmode. Einzig die Summe und das Zusammenspiel ihrer Tätigkeiten verleihen den KMU ihr unternehmerisches Gesicht. Nur dadurch werden sie unverwechselbar, interessant, innovativ und richtungweisend. Und wenn nicht? Dann hilft auch keine noch so gut geplante Strategie.

Zum Spielmacher werden: Zugriff auf morgen

Taktisches Spiel mit den eigenen Möglichkeiten

Wirkliche Zukunftsforscher entwickeln nicht die Zukunft, sondern Zukünfte. Sie identifizieren zentrale Stellhebel einer Organisation und entwerfen einen nur für dieses Entscheidungssystem bedeutsamen Gestaltungsraum. Um das Unternehmen auf Bevorstehendes und möglichst viele Eventualitäten vorzubereiten, werden für diesen Raum verschiedene Optionen – Zukünfte – durchgespielt. Zukunftsforschung setzt also auf gedanklich-spielerisches Taktieren, auf Vorwegnehmen und Entwerfen und nicht auf das Finden des einzig wahren Unternehmensziels.

Wirkliche Zukunftsforscher organisieren einen Schnelldurchlauf von Entwicklungsmöglichkeiten und Eintrittswahrscheinlichkeiten und versuchen, diese möglichst erfolgversprechend zu »händeln«. Es geht hier also um einen Intensivkurs in systematisch kalkulierter Improvisation. Dabei lernen Unternehmer ihre individuellen Finessen und taktischen Stärken kennen, aber auch ihre Konditionsprobleme. Zudem entwickeln sie ein Gespür dafür, wie sich ihre Stärken nutzen und ihre Schwächen ausbremsen lassen.

Wie wichtig das ist, hat man im (Profi-)Fußball längst kapiert: Eine ganze Reihe jüngerer Trainer versucht, ihren Spielern statt sturem Positionsspiel Flexibilität und Situationsverständnis beizubringen. Das Konzept dahinter: ihre Spieler in (fast) jeder Situation entscheidungsfähig und reaktionsschnell zu machen. So geschulte Fußballer sind Meister in kalkulierter Improvisation.

»Wir müssen gewinnen, alles andere ist primär.«HANS KRANKL

Mit Blick auf den Sport lässt sich aber noch einiges mehr lernen. Etwa ein anderes Verständnis von Entscheidungen als in der Wirtschaft. Entscheidungen haben im Sport einen völlig anderen Stellenwert. Sie werden verstanden als »situationsgerecht« oder »angemessen«, nicht als einzig richtig. Unternehmer hingegen haben die Devise verinnerlicht: »Machst du’s nicht richtig – schon isses verkehrt!« Entscheidung X hat unausweichlich die Konsequenz Y. Solche Kausalketten lassen sich kaum sprengen – und falls doch, dann nur mit größter Anstrengung und enormen Kosten. Wir sind fixiert auf das Denken in simplen Ursache-Wirkungs-Ketten. Aber: Wenn sich die Gegebenheiten ändern, müssen dann nicht auch getroffene Entscheidungen revidiert werden?

Die Fähigkeit zum schnellen, intelligenten Kurswechsel ist DAS Erfolgsgeheimnis kleiner und mittelständischer Unternehmen.

Dieses Erfolgsgeheimnis kann man von der spielerischen Leichtigkeit des Fußballs lernen. Denn auch in Unternehmen geht es um Spiel-Gestaltung: Es gilt, seine kontrollierte Offensive in einer neuen Situation taktisch überzeugend durchzusetzen. Und zudem zählen Erfolgreiche auf ihre eigenen Fähigkeiten und die Stärken ihres Teams. Wer sich das Spiel von anderen aufzwingen lässt, hat schon verloren – das passiert leider häufig. Viele Unternehmer beschäftigen sich allzu gern mit dem, was sie nicht im Griff haben. Sie lassen sich von Business-Flüsterern und von dem, was gerade neu und aktuell ist, ins Abseits locken. Dabei führt allein die Perfektionierung der zur Mannschaft passenden Spielkultur dazu, dass man ein Spielniveau erreicht, um oben mitspielen zu können.

Mitspielen!

Aus allen diesen Gründen ist Bolzen ein richtig gutes Sujet für Zukunftsforscher. Deshalb lehnt sich dieses Buch an ein Fußballspiel an. Wer will, kann mitspielen. Die »Spielanalyse« am Ende der einzelnen Kapitel zeigt beispielhaft ein methodisches Verfahren aus der Zukunftsforschung – die Szenariotechnik. Unsere Kurzvariante dieser Methode verrät in groben Zügen, wie Projektionen in der Zukunftsforschung funktionieren. Konkret am Beispiel dieser Methode: Was das eigene Unternehmen auf dem jeweiligen Markt ausmacht. Was Ihr Betrieb dort zu suchen hat. Wie er »tickt«. Wie man die eigenen Stellhebel und Einflussfaktoren identifiziert. Wie sich diese auf die geschäftliche Zukunftsperspektive auswirken. Und wie hungrige Sieger-Naturelle mittels solcher Taktiken zum Spielmacher werden und zu unternehmerischem Erfolg gelangen.

Vor dem Anpfiff werfen wir aber zunächst einen Blick auf die erste Liga des Zukunfts- und Prognosemarktes. Auch wenn man sich auf die eigenen Stärken konzentrieren sollte – ein Blick auf die Spielgestaltung bei den Großen kann nie schaden.

Auf dem Spielformular

Die Premier League des Prognosemarktes

Liga-Struktur

Die Zukunftsbranche ist recht übersichtlich – zumindest, was die erste Liga betrifft. Zwar gibt es eine Sintflut an Publikationen und Zukunftsstudien zu demographischen, energiepolitischen, ökologischen, globalen und vor allem wirtschaftlich-unternehmerisch interessanten Entwicklungen. Doch diese Infotainment-Schwemme stammt fast ausschließlich aus der Feder – oder besser aus dem Laptop – einer kleinen Schar von Hot-Shots, die sich im gleißenden Stadion-Flutlicht positioniert haben. Die berühmte sichtbare »Spitze des Eisbergs« der Profession. Aber sie prägt das Image der Zukunftsforschung, und das maßgeblich.

In diesem Unterkapitel erfahren Sie

∎ Einzelheiten über die Annalen der Zunft,

∎ wer die Branche in der öffentlichen Wahrnehmung repräsentiert

∎ und wie sie sich verändern müsste, um im Heute anzukommen.

Vor dem Blick auf die Hot-Shots von heute zunächst einer zurück – um die aktuelle Situation der Zukunfts- und Trendforschung zu verstehen. Denn, wie schon erwähnt: Zukunft hat Herkunft! (Ein weiterer Treppenwitz der Zukunftsforscher spielt mit dieser Einsicht: Die Zukunft ist immer schon da – nur ungleichmäßig verteilt …)

Aus den Annalen

Der Wunsch zu wissen, was die Zukunft bringt, ist ein urmenschlicher. Seit jeher wurde zu den Sternen oder Wolken geguckt. Ins Feuer. In den Rauch. Die Glut. Oder den Kaffeesatz. Wurden Schildkrötenpanzer, Knochen oder Schafgarben geworfen, um die dabei entstehenden Formen auf Kommendes zu erkunden. Wurden Träume gen Morgen gedeutet. So bekam der biblisch verbuchte Joseph bekanntlich nach Auslegung der pharaonischen Nachtmahre, die seines Erachtens erst sieben fette und dann sieben magere Jahre vorhersagten, einen Job als Nahrungsmittel-Manager im alten Ägypten. Statusträchtig waren solche Kompetenzen also schon immer.

»Jeder sollte an irgendwas glauben, und wenn es an Fortuna Düsseldorf ist.«CAMPINO

Das für unser westliches Abendland maßstabgebende professionelle Modell für Zukunftsmanagement steht noch halb im Mythos – nämlich im »alten« Griechenland. Hier wurde die Tradition begründet, unternehmerisch »in Zukunft zu machen«. An den Hängen des Parnass-Gebirges, in Delphi. Die potente Kundschaft dieser griechisch-antiken Zukunfts-Offenbarungsstätte hatte existenzielle Fragen an den Gott Apollon (und durfte mit üppigen Opfergaben die Rechnung begleichen). Beim Warten auf die Antwort konnten die Kunden über philosophische Sinnsprüche, die an den Tempelwänden zu lesen waren, meditieren: »Erkenne dich selbst!«, stand da, oder: »Nichts im Übermaß«. Trotz der kryptischen Botschaften, die die Orakelei verlautbarte, wurde sie zur ersten Zukunftsprognose-Erfolgsstory des europäischen Kontinents. Obwohl – oder besser gesagt – weil irgendwie jeder »seine« Zukunft vorher»sehen« konnte.

Nüchterner marschierte die moderne Zukunftsforschung Mitte des letzten Jahrhunderts auf: beim US-Militär. Zur Vorbereitung auf Konflikte und zur Erarbeitung politischer Programme. Darüber fand sie den Weg in Forschungsinstitute und Thinktanks, bei denen sich wichtige Entscheider Rat holen. Und: Nach und nach wurden auch Großkonzerne auf der ganzen Welt auf sie aufmerksam.

In Deutschland erhielt sie ihren wissenschaftlichen Ritterschlag per Lehrstuhl-Etablierung in Politikwissenschaft und Soziologie. In den 1950er-Jahren stand dafür der Name Ossip K. Flechtheim am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. In den 1970er-Jahren war Rolf Kreibich, Soziologe und Präsident derselben Universität sowie 1981 Mitbegründer des Berliner IZT (Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung), federführend. Zu den international herausragenden wissenschaftlichen Vertretern des Fachs zählen auch Herman Kahn oder Robert Jungk und einige andere mehr.

Das Geschäftsmodell von Delphi

 

Kunden-Fragen wurden damals einer pythischen Priesterin vorgelegt. Diese inhalierte ethylenhaltiges Gas, das aus einer Erdspalte strömte und ihre Höhle erfüllte; sie war also dauer-stoned und antwortete recht kryptisch.

Das Interessante am Geschäftsmodell von Delphi aber ist die Performance. Die »wahnsinnigen« Statements mussten von Beratern für die einzelne Kundenseele umcodiert und spirituell in Szene gesetzt werden. Der Erfolg hing zentral vom Zugang zur sozialen Gerüchteküche ab: Was jeweils gerade gemunkelt wurde, beeinflusste die Passung der einzelnen Weissagungen – und damit die Kundenzufriedenheit – erheblich.

Zu den bekanntesten Kunden zählte Krösus, steinreicher lydischer König. Vor dem Kampf gegen die Perser suchte er Rat beim Orakel mit folgendem Ergebnis: Wenn er in den Krieg zöge, würde er ein großes Reich zerstören. Seine Schlussfolgerung? Immer fröhlich angreifen! Nach dem für ihn katastrophal ausgegangenen Feldzug wollte Krösus den Grund für diese, seiner Meinung nach, teuer bezahlte, aber grandios gescheiterte Vorhersage wissen – und bekam ein Muster an Beschwerdemanagement geboten: Er solle sich mal bloß nicht so haben. Er habe doch ein Reich zerstört! (Wenn auch sein eigenes.) Treffer – versenkt.

Um ähnliche Konter fertigzubringen, werden Marketer heutzutage durch Rhetorik-, »Wie werde ich schlagfertiger?«-, NLP- und Neuromarketing-Kurse geschleust. Hier ist Delphi noch immer Benchmark: ein Unternehmenskonzept, das angefangen von Produktentwicklung bis hin zum Endverbraucher die Zukunftsschau zu einer frühen, hohen Blüte getrieben hat. Von Trendforschern genauestens studiert und in die Moderne übersetzt.

In den letzten 30 Jahren spielte Zukunftsforschung, zumindest an deutschen Universitäten, kaum noch eine Rolle. Lehrstühle und Aufmerksamkeit verschwanden. Erst seit Kurzem gibt es an der FU Berlin wieder Zukunftsforschung – diesmal am Fachbereich Erziehungswissenschaften …

Erstaunlicherweise tauchte die Branche hierzulande genau zu der Zeit in außeruniversitären, wenn auch wissenschaftsnahen und oft industriefinanziert forschenden Einrichtungen auf, als in den 1980er-Jahren der Hochschulzweig der Zukunftsforschung abstarb. Die Disziplin zog in Denkfabriken ein und eroberte langsam, aber stetig deutsche Großunternehmen.

Stand ist, dass mit Zukunftsforschung vor allem Fachkreise arbeiten – wissenschaftliche Einrichtungen sowie spezielle »Foresight«-Abteilungen internationaler Konzerne. Kurzum: Zukunftsforschung machen die, die es sich leisten können.

Zukunftsforschung: So (seriös) …

Wichtige Akteure

Wer sind diese Fachkreise, die sich mit Zukunftsforschung beschäftigen? Zum Beispiel die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die – allein schon durch ihr Werbebudget – als eine der wenigen überregional präsent ist. Oder die Stiftung für Zukunftsfragen von British American Tobacco (ehemals BAT Freizeit-Forschungsinstitut), die sich in den letzten Jahrzehnten mehrfach mit Freizeit- und Tourismusstudien hervortat. Aber auch die Stiftung Neue Verantwortung mit Associate- und Fellow-Programm, die für eine Beratungsplattform nach amerikanischem Muster steht und Vorschläge auf der politischen Zukunfts-Agenda platzieren will. Zudem gemeinnützige und forschungsorientierte Organisationen, wie das Sekretariat für Zukunftsforschung (SFZ) und das schon erwähnte Berliner IZT. Außerdem Agenturen und Methodenanbieter mit speziellen Werkzeugkoffern – etwa die Scenario Management International AG ScMI, entstanden im Umfeld des IT-Unternehmens Nixdorf (Paderborn), oder Z-Punkt, ein Beratungsunternehmen in Thinktank-Tradition.

»Mein Problem ist, dass ich immer sehr selbstkritisch bin – auch mir selbst gegenüber.«ANDREAS MÖLLER

All diese solide arbeitenden Einrichtungen engagieren sich in wirtschafts-, technologie- sowie politikberatender Funktion mit zukunftsforscherischer Perspektive. Zuständig sind sie für die »Big Points« wie Demographie, Klimawandel, Energie, Mobilität, Wohnen, Neue Märkte, Globalisierung et cetera und für wettbewerbsorientierte Markt-Umfeld-Analysen. Allerdings präsentieren sie sich entweder mit einem explizit forscherischen Anspruch – und sind daher massenmedial uninteressant. Oder sie arbeiten ausschließlich für bestimmte zahlungskräftige Auftraggeber, die wenig Lust haben, diesen (ihren) Teil der Zunft und dessen Erkenntnisse an die große Glocke zu hängen. Und sind dazu meist unbekannt.

… oder: So (rebellisch) …

Eine zweite Abteilung der Zukunftsforschung – sozusagen der Jugend-forscht-Bereich – führt die subjektive Seite von Zukunftsvorsorge unter der Hand wieder in die unternehmerische Planung ein. Will also Kreativität und marktorientierte Profilbildung in die Profession zurückholen.

Die am Mittelmaß Übersättigten und Außer-Gewöhnlichen

Die neuen Propheten entstammen einer jüngeren Generation als die (weiter unten beschriebenen) Wortführer der Branche. Sie kommen aus anderen Milieus und pflegen andere Geisteshaltungen als der dominante Mainstream. Volker Remy, Kjell A. Nordström, Jonas Ridderstråle – um nur einige zu nennen. Zugegeben: Im engeren Sinne sind das noch nicht einmal Zukunftsforscher. Nur: In Bereichen, wo der Denk-Trott seinen eingeschlurften Weg wandelt, darf man sich nicht wundern, wenn man plötzlich von ganz woanders und von ganz anderen überholt wird.

Erster Paukenschlag: Naomi Kleins »No Logo!«

Eine der Pionierinnen dieser neuen Spezies von außergewöhnlichen Entwicklungs-Forscherinnen war Naomi Klein. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie mit »No Logo!« die Bibel der Globalisierungskritiker. Hier nahm sie einen Dauerbrenner der Zukunftsbranche ins Visier: das Thema Marke und deren scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg. Sie schilderte den Marken-Hype in westlichen Ländern und beschrieb die Mechanismen, mit denen Konzerne und Marketingexperten die Begierde nach Marken-Produkten pushen. Ein systemkritisches Manifest also, mit dem Naomi Klein es laut The Times schaffte, »quasi über Nacht als die ›einflussreichste Person unter 35 Jahren‹« gehandelt zu werden.

»Fake for Real«: Moderne Eulenspiegeleien

Ihr folgten, mit ähnlichem Duktus, die jungen Agenturfrauen Judith Mair und Silke Becker. In »Fake for Real« knöpften sie sich die altehrwürdige Kunden-»Behandlung« – erstmals bekannt geworden mit den priesterlich aufgewerteten Kommunikationspraktiken von Delphi – in zeitgemäßem Gewand vor und stellten den Echtheitswahn (»Authentizität«) auf den Prüfstand. Dabei heraus kam eine Fundamentalkritik der modernen Kundenfürsorge. Diese wäre nichts anderes als eine abgefeimte Sozialtechnik im Dienste wirtschaftlicher Interessen. Authentizitätswahn, Kult-Marketing oder Kult des Sozialen seien, den Autorinnen zufolge, nur ein Symptom dafür, dass es ein ökonomisches Außerhalb – Kunden-Umsorgung und »Service« hin oder her – gar nicht mehr gäbe. Und das ganze Kult-Gerede: Ein einziger Fake for Money!

Querdenkerfraktion, Managementlehre und Gründerszene

Auf den Bestsellerlisten mit Perspektive Zukunft standen aber zuletzt nicht nur Rabatz machende Rabauken, sondern auch zahmere Zeitgeister. Wie zum Beispiel Anja Förster und Peter Kreuz. Zwar streifen die beiden etwas episodenhaft und ziellos über die Spielfelder innovativer Unternehmen, Marke »Jäger und Sammler«. Sie orten dabei aber immer wieder illustre Vorbilder in unternehmerischem Querdenken und haben sich den Titel »Paradoxie-Künstler« inzwischen redlich verdient.

Auch bei den Management-Vordenkern tut sich was in puncto Zukunft. »Der Blaue Ozean als Strategie« von W. Chan Kim und Renée Mauborgne etwa hat für Aufsehen gesorgt. Beide stammen von der privaten Business School INSEAD (Institut Européen d’Administration des Affaires). Sie bieten eine Methode für unternehmerisches Wachstum, die mit dem klassischen Strategieverständnis gründlich aufräumt. Die Autoren suchen nach Spielregeln jenseits des Horizonts der Betriebswirtschaftler mit ihrem Fokus auf Kunde, Wettbewerb, Marktanteil und so weiter.

»Was Sie hier sehen, ist möglicherweise die Antizipierung für das, was später kommt.«WILFRIED MOHREN

Und last, but not least ist es die Gründer- und Entrepreneurship-Szene, die innovative und ungewöhnliche Pfade für die Zukunftsvorsorge ausspäht. Günter Faltin gehört dazu, wie auch Ansätze in der Tradition von Saras Saravathy, etwa von Michael Faschingbauer, Stuart Read und anderen. Diese »rebellische« Zukunftsforschung prägt allerdings genauso wenig wie die »seriös«-wissenschaftsnahe Abteilung das Image der Zunft. Dafür sorgt der sichtbare Teil des »Eisbergs«.

… oder: So (exzentrisch) …

Der medial tonangebende Teil der Zukunftsforschung ist jedoch ihr populärwissenschaftlicher Ableger: die Trendforschung. Repräsentiert durch immer und überall öffentlich posierende Vertreter mit Star-Appeal.

Diese Disziplin gibt Fan-Kreisen eine Heimat, die nicht nur dem Morgen auf der Spur sind, sondern darüber hinaus auch nach Orientierung suchen. Denn sie vermittelt einiges, das über rein Zeitlich-Zukünftiges deutlich hinausgeht.

Und warum ex-zentrisch – also vom Zentrum weg? Mit der Attitüde dieser Trendspezi(e)s verbunden ist immer der Anspruch, der Mittelmäßigkeit zu entkommen und mit eigentümlichen Positionen ungläubiges Staunen zu erzeugen. Ihre Vorbilder sind die Hofnarren. Mit den Schellen Alarm schlagen; dem ganz alltäglichen Wahnsinn den Spiegel vorhalten; durch Brechung des Blickwinkels alles einmal ganz anders erscheinen lassen – das gehört zum Habitus.

Von ihren hofnärrischen Urahnen haben die Hauptdarsteller der Zunft aber nicht nur den Willen zur Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit übernommen, sondern auch den Spaßfaktor. Weite Teile der Trendforschung widmen sich einer modern unterhaltenden Prophetie: der Trendverkündung. Die Szene gilt als cool. Sie »zieht« und »bedeutet« etwas, und zwar weit über den engen Bereich der Trendkäufer hinaus.

Propheten der zeitgenössischen Trendforschung

Protagonisten im deutschsprachigen Raum sind zum Beispiel David Bosshart vom schweizerischen Gottlieb Duttweiler-Institut, »Zukunftstrainer« und Redner wie Sven Gábor Jánszky oder Pero Mićić von der FutureManagementGroup AG oder auch Peter Wippermann vom Hamburger Trendbüro. Während es um Gerd Gerken aus Worpswede, den in den 1980er-Jahren berühmt-berüchtigten Ausrufer von fraktaler Marke und Management by Love, still geworden ist, gibt es jedoch einige Nachrücker: etwa Simonetta Carbonaro, Designmanagement-Professorin-Beraterin für Konsum-Psychologie. Oder Peter Kruse, der kollektive Intelligenz sowie die Errungenschaften der Hirnforschung in Richtung Zukunft extrapoliert.

»Die Breite an der Spitze ist dichter geworden.«BERTI VOGTS

Gehandelt werden sie wie Stars: Horst Opaschowski, ehemaliger Leiter des BAT Freizeitforschungs-Instituts, wird als Zukunftspapst oder Mr. Zukunft verehrt. Norbert Bolz, Dauergast von Trendkongressen und Talkshows, gilt als Dandy der Medientheorie. Und Matthias Horx, der wohl bekannteste deutsche Trendforscher, hat sich den Ehren-Titel Trend-Guru redlich verdient. Alles Experten für Selbstvermarktung: Die eigene Person zur Marke zu stilisieren ist Pflichtprogramm, Kritik unerwünscht.4

Nun gehört Klappern bekanntlich zum Handwerk und Marketing zum Berater. So weit kein Grund zur Beanstandung. Was allerdings definitiv nicht dazugehört, sind mitverkaufte Weltsichten und eine teilweise sektenartige Rhetorik. Das öffentlich präsente Bild der Trendforschung entwächst nämlich einer Mischung aus »postmoderner«, im Duktus bedeutungsschwangerer Orakelei vorgetragener neoliberaler Gesellschafts-Phantastereien. Und nicht zu vergessen: einem gehörigen Maß an religiöser Emphase. Die Szene macht vor allem Selbstoptimierungs-Angebote und bedient sich verschiedener Coaching- und Psycho-Techniken, die sich manchmal arg nach »Post-Theologie« anhören, oft aber auch nur simple marktradikale Glaubenssätze nachbeten.5

Heimlicher Nutzen exzentrischer Trendforschung

Mit der exzentrischen Trendforschung bekommt man also ein spezielles Weltbild vermittelt. Zugestanden: eines der gehobenen Klasse – stupend lässig, philosophisch angehaucht, mit akademischen Weihen und elaboriertem Sprach-Code. Bloß: Wer will das eigentlich?

… oder: So (Besser nicht)?

Ursprünglich war – vernünftig praktizierte – Trendforschung ein integraler Bestandteil von Zukunftsforschung.

Während zukunftsforscherische Methoden das bearbeiteten, was vor uns liegt, ab einer zeitlichen Reichweite von etwa fünf Jahren, beschäftigte sich Trendforschung als der kleine, gegenwartsnähere Zweig mit Kommendem bis zu einer zeitlichen Reichweite von höchstens zwei bis drei Jahren. Sie registrierte und deutete also in Ansätzen bereits erkennbare Entwicklungen. Daher blieb sie prognostisch bescheiden und stellte den Blick scharf auf interessante neue Fluchtpunkte: Phänomene, die sich aus »frühen Anzeichen« für neue Entwicklungen sehr wahrscheinlich ergeben könnten.

So verstandene Trendforschung war und ist daher von ihrem Grundgedanken her immer »gerichtet« oder »gerahmt«. Sie steht in Bezug zu einem denkbaren Endpunkt, etwa einer Fragestellung. Einem Interesse. Einem Fokus. Einem Ziel. Auf jeden Fall steht sie: »In Hinblick auf«. Denn Trends sind nicht offen. Das als wahrscheinlich prognostizierte Ziel einer neuen Entwicklung ist zumeist im Trend-Label abgebildet. Modell: Zielscheibe. Trendbeschreibungen – im seriösen Sinn – sind immer gedacht als Darlegungen über neue Entwicklungen »mit Perspektive auf etwas«.

Methodisch betrachtet sind TrendsHilfsmittel der Zukunftsforschung.

Sie eröffnen neue Blickwinkel und Handlungsmöglichkeiten, indem sie erste »schwache Signale« auf den Punkt bringen, diese Weak Signals innovativ bündeln. Ja gut, und leise Töne der »Nachrichten aus der Zukunft« auch mal überbetonen, überzeichnen. Damit wir auch mitbekommen, welche Spielräume sich auftun – und welche möglichen Abseits-Stellungen …

Aber: Ohne klare Zielgerade und Fragestellung (Warum? Wozu? Und: Wer zum Teufel will das überhaupt wissen?) flottieren Trends frei im Raum und auf dem prognostischen Spielfeld pausenlos ins Abseits. Sie stehen dann in keinem Passweg, zu nichts und niemandem. Degenerieren zu Kuriositätensammlungen, Marke: »Gut, dass wir darüber gesprochen haben.« Und sind zu allermeist prognostisch völlig nutzlos.

State oft the Art: Neues aus der Anstalt

Leider ist bei den medial gehypten, für die Branche charakteristischen Trendreportagen der letzten Jahre genau das der Fall. Präziser: seit den sogenannten »postmodernen« 1990er-Jahren. Ab da mussten wir Zeugen und Leser sein von Trendbüchern, -magazinen und -reports, die ohne jedes perspektivische »Framing« in bunter Folge Auffälliges, Kurioses, Seltsames oder was auch immer aus New York, Witten-Herdecke, Rio, Hamm-Pelkum, Tokio oder Friedrichshafen aufpickten und aneinanderreihten. Motto: Alles so schön bunt hier! Ich kann mich gar nicht entscheiden! Ständig gabs Neues aus den angesagten Szene-Metropolen dieser Welt – locker-fluffig präsentiert und immer mit einem lustigen Label versehen. Mit einem Nutzwert, der oft so unterirdisch war wie viele dieser Trends selbst. Und das alles in monatlichem Turnus gut honoriert auf die Konzern-Tische informationshungriger Entscheider.

Für den überwiegenden Teil der KMU waren derartige Trendreportagen allerdings immer schon bestenfalls unterhaltsam. Und in der gegenwärtigen Zeit multipler Dauerkrisen ist die Toleranzschwelle für solch talmiartiges Trendgeplänkel im Klein- und Mittelstand noch weiter gesunken. Oberflächlichkeit, der Fokus auf Merkwürdigkeiten und ein nervtötender, pseudo-globaler Denglisch-Sprech: Manche KMU-Entscheider halten diese (Abart von) Zukunftsforschung schlicht für entbehrlich.

Marketing als »Gottesdienst am Kunden«

 

Erinnern Sie sich noch an Cocooning, den Trend der US-Forscherin Faith Popcorn aus den 1980er-Jahren? An den Wellness-Hype? Das Kult-Marketing? Die Tage des Kundendialogs seien gezählt, hieß es bei Letzterem. Marken würden zu Mythen, Logos zu Hostien. Das moderne Marketing würde religiöse Werte durch Waren-Ikonen ersetzen. Frisch recycled heißt der Kult des Sozialen heute bei Norbert Bolz Sociopleasure – ritualisiertes Marketing als »Gottesdienst …«. Soll heißen: alter Wein in neuen Schläuchen.

Dann aber So! Oder?

Dass die Aufnahmebereitschaft gegenüber solchen Trendreportagen merklich nachließ und ein Sammelsurium an Freak-Art noch keinen Aussagewert über die Zukunft hat, erkannte die Branche irgendwann dann auch einmal selbst. Und die Trendreporter reagierten.

Entgrenzter Trendbegriff

Fortan geht der Trend zu xy-Trends. Der ehedem noch einigermaßen übersichtlich auf Zeitspannen von zwei bis drei Jahren bezogene Trendbegriff wurde – zeitlich-sachlich-sozial – aufgepeppt. Anything goes! Und was nicht passt, wird passend gemacht. Unter dem aktuellen Begriffs-Rettungsschirm »Trend« wird heute so Schillerndes gehandelt wie Zivilisationen, technologische Zyklen, Konjunkturen, Marktphasen,Modewellen oder Lifestyles und einiges mehr. »In einer groben Vereinfachung (!) lässt sich der meta-historische Prozess als eine Schichtung von zyklischen Schwingungen verstehen, in denen die einzelnen Ebenen jeweils verschiedene Zeit-Schwünge ausführen«.6

»Verkompliziert« (wenn das überhaupt noch möglich ist) wurden diese Trendschwünge zusätzlich durch Bezüge auf verschiedene Trendebenen. Beispielsweise auf Mikrotrends (die sind kleiner), Makrotrends (die sind größer), Megatrends (die sind erheblich viel größer und vor allem lang anhaltender) sowie Meta