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Mit einer gehörigen Portion Originalität überzeugt Jürgen Roth sein sportaffines Publikum, indem er die Fußballnation Deutschland und deren mediale Vermittler durch in Wortwitz getränkte Beiträge gehörig aufs Korn nimmt. Dem Schreibvirtuosen gelingt es nach "Fußball! Vorfälle von 1996-2007" mal wieder, alle Register der kritischen Sport- und Medienberichterstattung zu ziehen und damit einmal mehr die scheinbar heile Welt der sauberen Fußballgötter zu entzaubern. Kurzum: Es gibt nur noch Fußball ... Oder? Nicht ganz. Trotz eindrucksvoller Beispiele aus dem Fußball verliert Jürgen Roth nicht den Blick für die Nachbardisziplinen. Vom Wintersport bis zur Formel 1 belegen seine Texte anschaulich die Gemeinsamkeiten zwischen den Sportarten. Mit seinen kompromisslos-trockenen Beiträgen entlarvt er nicht nur die Tücken des um immer neue Rekorde bemühten Sportbetriebs - er selbst outet sich trotz alledem als einer der größten Sportfans, die dennoch immer am Ball bleiben werden.
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Seitenzahl: 378
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Roth
Noch mehr Fußball!
Jürgen Roth
Noch mehr Fußball!
Vorfälle von 2007 bis 2010
Mit einem Anhang zu sonstigen Sportgeschehnissen
Jürgen Roth, geboren 1968, lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main. In jüngerer Zeit sind von ihm im Verlag Antje Kunstmann drei Hörspiel-CDs erschienen (Stoibers Vermächtnis, Der Untergang des Bayernlandes und Mit Verlaub, Herr Präsident …, die ersten beiden zusammen mit Hans Well von der Biermösl Blosn) sowie bei Zweitausendeins der Band Schrumpft die Bundesrepublik! (zusammen mit Michael Rudolf und F. W. Bernstein). Im Oktober Verlag liegen von ihm diverse Titel vor, darunter Anschwellendes Geschwätz, Fußball! (Buch und CD), Die Poesie des Biers (2., korrigierte, überarbeitete und stark erweiterte Auflage) und die CD Cowboys * Birken * Fußball – »Erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu« (zusammen mit Alexandra Ihrig und Bernd Maier).
© 2010 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des
Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Claudia Rüthschilling
Umschlag: Tom van Endert unter Verwendung eines Photos von photocase/complize
Photo auf der Umschlagrückseite: Jürgen Roth
Herstellung: Monsenstein und Vannerdat
ISBN 978-3-941895-00-3
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Vorbemerkungen
Gerechtigkeit für Nürnberg
Allerschlimmste Irreführung
Wie der 1. FCN Pokalsieger wurde
Leere Köpfe
Kein Pardon bei Chips
Mein Bein weinte
Lachmund oder: Das Zaudern der Radiorecken
Edmund Stoibers Welt des Fußballs
Beckenbauers Berufung
Kein Davonkommen mehr
Was denn noch?
Kulturkwatsch oder: Der Straßenkehrer in mir
Bertholds Blutwurstgrätsche
Hinfort mit Hitzfeld!
Der Elfmeterpunkt
Eschatologische Epiphanie
Der Himmel weinte
Zum Lobe des Deutschen Meisters FC Bayern München
Auftakt
Entscheidung
Unfugsballung
Chapeau!
Steinerweicher
Bleisatzgewitter
Prüfung
Ewiges Córdoba
Der Vierfünftelgeniale
Orwellsch
Wortentwürdiger
Ghostdenker
Was hilft
Meckern
Die Sonne
Eine Bitte
Riesiger Regen
Der ungläubige Demagoge
Kargheit und Grandezza
Das Sportjahr 2008 – Eine Dummheitsbilanz
Rauschhafte Ruhe
Bayern basht Buddhababbler
Unter Rappelköpfen
Danke, Fußball!
Party mit Prügelprinz
Da lachen die Hähne
Totale Verschiedsrichterung
Über die Beliebtheit von Lobesreden bei zwei Künstlern
Dumm gelaufen
Ein Mann weint, bettelt, fleht und spinnt
Aristotelischer Fußball und Luftgelddepots
Der babylonische Blödheitsturm und die Meise des Herrn Lehmann
Zehen im Schnee
Unsere Angstgruppengegner
Fußball im Sozialgewürge
Die besten Traineranekdoten
Eine Liebesgeschichte
Epiphanie und Form
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Anhang
Kakao-TV
Total angekickte Gesäße – Eine olympische Zwischenbilanz
Nach dem Gesetz
Monsterfröhlich
Schreien, brüllen, stecken
Schwer verhauen, wa?
Der neue Zimmermann
Rote Sonne im Herzen
Fortsetzung des Nichtberichts
There is Beachvolleyball
Offener Brief an Mr. Formel 1, Bernie Ecclestone, England
Der Sportkasper des Jahres 2002
Schleim oder Seim
Nagelneue Epik – Heute: Der Beachvolleyballroman
Formel Fernsehen
Doping, ach ja und na und
Von Athen in die Ardennen
Mentaler Kolbenfresser
Der Sturz des Zorbonauten
Im heißen Herzen des Saubuschs
Franzis Finale
Wonne
Umgehender Geist
Boxerbux
Ultraheißes Einsteinjahr
Tja
Fetter Fisch
Gratulationskur
Alles abstrahieren
Die Hausener Handballhausse
Physiognomie des Wagemuts
Entsorgte Emotionen
Ein sanftes Schauspiel
Wie man einen Ausflug macht
Mit Gottes Hilfe durch die Hölle
Revolution und Ringelpiez
Rückkehr eines Genies
Jesus reborn
Idioten und Idiotien
Höhere Gefühle niederster Art
Nachweise
Immer diese Vorbemerkungen … Na ja, sie müssen halt sein.
Am 2. Oktober 2009 fand in der Nürnberger Tafelhalle zum vierten Mal die Gala zur Verleihung des von der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur, vom kicker und von einem Geldinstitut gestifteten Deutschen Fußball-Kulturpreises statt. In der Kategorie »Fußballbuch des Jahres« wurde Péter Esterházy für seinen Roman Keine Kunst (Berlin 2009) ausgezeichnet, sehr zu Recht und natürlich nicht allein deshalb, weil in ebendiesem Buch auf Seite 149 zu lesen ist: »Die Spitze der Literatur erreichte ich in ihren Augen, als die deutsche Fußballakademie ein Lob zweiten Grades für mein Buch aussprach und ich bei dieser Gelegenheit am Nürnberger Galaabend die Hand des großen Franz Beckenbauer schütteln durfte. Mein Sohn hat Beckenbauer die Hand geschüttelt, sie lotete die Situation aus, dann bin ich also die Mutter dessen, der Beckenbauer die Hand geschüttelt hat. […] Der Franz und mein Sohn, seufzte sie glücklich, mein Held! […]«
Einer meiner Fußballhelden, ja der von mir vielleicht am meisten verehrte Fußballheld ist César Luis Menotti. »El Flaco«, »der Dürre«, ist ein großer, großer Mann – nicht nur des Sports. Er ist ein aufrechter Humanist und Sozialist, auch dafür adoriere ich ihn, und manchmal bin ich sogar geneigt, Diego Maradona beizupflichten, der sagte: »Der Dürre ist Gott.«
Menotti erhielt an diesem Abend im Oktober 2009 den »Walther-Bensemann-Sonderpreis«, eine Auszeichnung »für außergewöhnliches Engagement mit Mut und Pioniergeist, für gesellschaftliche Verantwortung, Fair play und interkulturelle Verständigung im Umfeld des Fußballs«.
Eine bessere Wahl hätte die Jury kaum treffen können, vor allem deshalb, weil ich mich an diesem 2. Oktober 2009 zwei Stunden oder länger im selben Raum aufhalten durfte, in dem Menotti war – ein schüchtern wirkender, taktvoller Mann, dem bei seinen Dankesworten Tränen in den Augen standen. Es waren unbeschreiblich würdevolle Momente.
Péter Esterházy, dem ich später die Hand schütteln durfte, offenbarte gegenüber der Nürnberger Zeitung: »Mit César Luis Menotti auf einer Bühne zu stehen, da habe ich eine kindliche Freude. 2006 war ich auch bei der Gala, da traf ich Franz Beckenbauer. Mir bedeuten diese Namen viel mehr, als es normal ist. Ich erinnere mich, als ich das erstemal Ferenc Puskás getroffen habe. Das war, als ob ich mich mit Goethe treffen würde.«
Spät am Abend, als wir in kleinem Kreis im Hotel Le Méridien zusammensaßen, lugte Menotti noch einmal in die Bar hinein. Ich wollte aufstehen, um ihm kurz die Hand zu schütteln, aber ich traute mich nicht, und dennoch maße ich mir an, diesen Vorbemerkungen den inoffiziellen Titel »Wie ich einmal César Luis Menotti traf« zu geben.
*
Zu den hier in der Reihenfolge ihres Ersterscheinens zusammengestellten Texten sind nähere Hinweise nicht vonnöten, finde ich – vielleicht außer jenen, daß sie hie und da überarbeitet und daß kleinere Fehler korrigiert und Doppelungen, soweit mir das angebracht schien, gestrichen wurden.
Manch ein Leser mag sich aber fragen, wieso er in einem Fußballbuch über Vorfälle aus dem Zeitraum zwischen 2007 und 2010 einen recht umfänglichen Anhang zu sonstigen Sportgeschehnissen findet, einen Anhang, in dem zum Teil »olle Kamellen«, wie der Verleger meint, herumgammeln. Ich sag’ mal so: Derjenige, der sich ausschließlich für Fußball interessiert, kann dieses Buch vor dem Anhang problemlos für abgeschlossen oder abgeschossen erklären, die Seiten des Anhangs herausrupfen und irgendeiner Verwertung zuführen. Derjenige, der den »Fußballbetrieb, diese große, laute Entertainmentmaschine« (Spiegel 53/2009), verzahnt wähnt oder weiß mit der noch größeren Entertainment- und Kapitalmaschine des allgemeinen Sport- und Medienbetriebs, mag eventuell doch einen Blick in jene Texte werfen, die sich mit winter- und sommersportlichen Absurditäten, mit der Formel 1 und mit dem generellen Wahnsinn auf dem Felde der Leibesübungen beschäftigen (und die partiell aus den Jahren vor 2007 stammen, was ihre mögliche Relevanz allerdings nicht oder nicht sonderlich berührt). Ich zumindest kenne nicht wenige Zeitgenossen, die den modernen Sport als Gesamtheit verstehen und über die Ränder der Fußballplätze hinausschauen.
Man kann es freilich mit dem Linguisten und Politaktivisten Noam Chomsky halten und bündig behaupten: »Sport ist dazu da, dumme Menschen aus der Politik fernzuhalten.« Da er aber nun einmal da ist (wie die dumme Religion und die eine oder andere systemische oder anthropologisch bedingte Verblendung mehr), darf man sich auch mit ihm befassen.
Ich widerspreche in diesem Punkt vorsichtig den klugen Anmerkungen von Andreas Rüttenauer in der taz vom 28. Dezember 2009. Unter der Überschrift »Kick, kick, hurra« legt Rüttenauer dar, daß der Fußball, der »von einer Sportart zum großen Gesellschaftsspiel mutiert« sei und dem Publikum »beinahe Tag für Tag als Superprodukt präsentiert wird«, auf Grund seiner medialen Vorrangstellung und anderweitiger Vorgänge sämtliche konkurrierenden Sportarten niedergewalzt oder verdrängt habe: »Tennis lag schon im Sterben, als das Jahrzehnt begann. Handball war nur kurz lebendig, eine Weltmeisterschaft lang. Der Radsport ist in Blutbeuteln ertrunken. Die Leichtathletik wurde in einem kalifornischen Chemielabor abgewickelt. Vor kurzem ist der Eisschnellauf an erhöhten Retikulozytenwerten eingegangen. Und wenn Magdalena Neuner bei den Olympischen Spielen genauso schlecht schießt wie im vergangenen Jahr, dann wird auch der Biathlonsport nicht mehr lange leben. Zum Ende der nuller Jahre steht fest: Deutschland ist keine Sportnation mehr. Es gibt nur noch Fußball.« Kurzum: »Das ist das sportliche Ergebnis des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend: Fußball, Fußball über alles, über alles in der Welt!«
Ich schätze die Lage etwas anders ein. Die Tour de France wird weiterhin ebenso weggeglotzt wie die komplette Palette der Wintersportdisziplinen, unvermindert weggeguckt werden Boxkämpfe, Michael Schumachers Renneinsätze, Leichtathletikveranstaltungen und meinetwegen Pokerrunden. Sollte Rüttenauer trotzdem richtigliegen, begreife ich den Anhang dann eben als kurze Chronik der Spätphase einer untergegangenen Sportepoche.
Wohlan, widmen wir uns also dem Fußball. Fürs erste.
Wünschen würd’ ich den Marsch in die Verdammnis der zweiten Liga ja mindestens all diesen unleidlichen Berliner, Dortmunder, Hannoveraner und Wolfsburger Vereinen, aus vielerlei schwerwiegendsten Gründen und zumal der Tatsache wegen, daß sie allesamt schon allzulang unsere Augen beleidigen. Aber treffen wird es ja leider wieder die zugegebenermaßen dummen und doch braven Gladbacher, die Aachener und den FSV Mainz 05. Ein Großteil des Aachener Kaders ist halt eher dem Biertrinken als dem Training zugeneigt, und Kloppo vom Bruchweg freut sich bereits jetzt so sehr über ein ruhiges Fußballeben zwischen Augsburg und Jena, daß ihm sein Wunsch erfüllt werden möge. Würde aber allen Prognosen zum Trotz doch noch die Frankfurter Eintracht den »schweren Gang« (Sabine Töpperwien) ins Unterhaus antreten müssen, wäre das acht Jahre nach dem skandalösesten Abstieg der Fußballgeschichte, als der 1. FC Nürnberg am letzten Spieltag von Platz zwölf ins Bodenlose stürzte und die Eintracht die Klasse hielt, immerhin gerecht – würde meine Gewährsfrau in Fußballfachfragen, die Frankfurt-Fanatikerin Katja Thorwarth, dann auch wehklagen, daß einem das Herz erweicht.
»Ich glaube, wenn man den Fußball zur Professorenarbeit macht, verliert man seine Wurzeln.« Diesen Satz von Lothar Matthäus stellen Jürgen Mittag und Jörg-Uwe Nieland dem Vorwort des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes Das Spiel mit dem Fußball – Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen (Essen 2007) als Motto voran – sei es gewissermaßen entschuldigend gemeint, sei es, um zu signalisieren, sich der gängigen Reserviertheit gegenüber einer unterdessen umfänglichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Fußball bewußt zu sein.
Die insgesamt empfehlenswerte sechshundertseitige Anthologie, die den einzigen ubiquitären Massensport unter historischen, politischen, medien- und kulturtheoretischen sowie ökonomischen Aspekten in seiner Ganzheit darzustellen versucht, bestätigt mitunter die Bedenken des größten Mittelfranken aller Zeiten – etwa wenn das »ästhetische Potential des Fußballs« allzu uninspiriert synoptisch verhandelt und dann auch noch ein ahnungsloser Allschwätzer wie Peter Sloterdijk zustimmend zitiert wird. In solchen Momenten wird deutlich, daß die Fußballwissenschaft in eine Phase eingetreten ist, in der sich die Geisteswissenschaften seit Jahren befinden: in jene der Redundanz, in der nicht selten Scheinprobleme gewälzt werden, die längst hinreichend beschrieben und diskutiert sind.
Gleichwohl, Das Spiel mit dem Fußball ist weitenteils beachtlich sorgfältig gearbeitet und besticht nicht nur dort, wo es etwa um die »Talkshowisierung des Fußballs« geht und treffend heißt: »Tatsächlich hat der Sportjournalismus durch die kommerziellen Veranstalter und ihre flotten Sprücheklopfer ohne erkennbare fachliche Kompetenz die bundesdeutsche Medienlandschaft kräftig aufgemischt.« Vor allem die Aufsätze zur Geschichte des deutschen Fußballs sind äußerst lesenswert. Lutz Budraß weist zu Recht darauf hin, »daß sich die nationalsozialistische Politik im Fußball – wie in anderen Teilen der deutschen Gesellschaft auch – am stärksten in der Unterdrückung, im Ausschluß und schließlich der Vernichtung der jüdischen Vereine und der jüdischen Fußballspieler niederschlug«. Und Rudolf Oswald beleuchtet in seinem Essay zum »Ursprung der deutschen Fußball-Tugenden im Volksgemeinschaftsideal« jene »Gemeinschaftsmetaphorik«, die schon die Fußballpublizistik der zwanziger Jahre dominiert und einen antiindividualistischen, militärisch konnotierten Gruppenmythos propagiert hat, der den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstand. »Weshalb Nils Havemann in seiner vom DFB in Auftrag gegebenen Studie vom ›Untergang des deutschen Fußballsports im Dritten Reich‹ spricht, bleibt wohl das Geheimnis des Autors«, schreibt Oswald. »Wahr ist vielmehr, daß ebendieser Fußball bereits Ende der 1940er Jahre mit nahezu gleichem Personal wieder auf der Bühne des deutschen Sports präsent war. Nicht zuletzt für den Sektor der Presse läßt sich dieser Befund bestätigen. Auch die Karrieren der meisten Fachjournalisten wurden durch die Zäsur des Jahres 1945 lediglich unterbrochen, nicht aber beendet. Und mit den Köpfen überlebte die Gesinnung.«
Vermißt habe ich in Das Spiel mit dem Fußball trotz der beeindruckenden Faktenfülle zwar die Erkenntnis von Ludwig Wittgenstein: »Fußball hat Tore, Völkerball nicht.« Dafür wurde ich jedoch durch ein Thomas-Bernhard-Zitat entschädigt: »Wer für den Sport ist, hat die Massen auf seiner Seite, wer für die Kultur ist, hat sie gegen sich, hat mein Großvater gesagt, deshalb sind immer alle Regierungen für den Sport und gegen die Kultur.«
Das hat sich neuerlich durch die Vergabe der Fußballeuropameisterschaft 2012 an Polen und die Ukraine bestätigt. »Wieder einmal ist der Fußball der Politik voraus«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (22. April 2007) und lobte die Entscheidung der UEFA als eine »von seltener Hellsicht«, denn die weiten Ebenen zwischen Oder und Don würden nun durch den Fußball erst so recht zu einem Teil eines friedlichen, geeinten Europas.
Was das für die kulturellen oder gar die sozialen und politischen Verhältnisse in Polen und der Ukraine bedeuten wird, erfuhr man nicht. Immerhin präsentierte die FAS aber »abschreckende Zahlen« in anderer Hinsicht: »Wenn bei der Fußballeuropameisterschaft 2012 die Fans durch die polnisch-ukrainischen Steppen von Stadion zu Stadion fahren, werden sie im Durchschnitt 12,5 Stunden unterwegs sein. Wer lieber auf die wildromantischen Züge der Staatsbahnen setzt, muß gar [mit] 17,5 Stunden kalkulieren.«
Ja, man hätte vorher nur öfter mal Thomas Bernhard lesen sollen. Dann hätte man gewußt, daß die landschaftliche Weite in Polen und der Ukraine vom Abscheulichsten ist. Die erschreckende Weite, die geistferne, ja geistlose Leere der Steppen der Ukraine und Polens ist vom Fürchterlichsten, ist eine ungeheuerliche und durch nichts aufzuwiegende Zumutung, ist ein Ausdruck lebensfeindlichster, entsetzlichster Verwirrung.
Von »Direktflügen« zu reden, gab die FAS zu, käme der allerschlimmsten Irreführung gleich. Direktflüge, so die FAS, gebe es »kaum«. Und selbstverständlich könne in einer solchen Gegend, in einer derart verlassenen – und das heißt verkommenen – Gegend von Hotels, die den Namen Hotel verdienten, keine Rede sein, »die Hotels stellen die Ansprüche der UEFA ›nicht zufrieden‹«, hieß es.
In dieser durch und durch ausweglosen, lähmenden, infamen Situation ist jedoch auch Positives zu vermelden: »Der polnische Fußball droht nämlich in einer Korruptionsaffäre zu versinken, seit ein Schiedsrichter der ersten Liga gutgläubig genug war, aus dem Kofferraum einer Limousine ein Handgeld von etwa 25.000 Euro entgegenzunehmen, ohne zu merken, daß der Bote ein Polizist war.«
Der Fußball also ist, das dürfen wir abschließend erleichtert sagen, in ganz Europa in guten Händen.
Einer recht geläufigen These zufolge ist der »Widerspruch zwischen Fußball und Kultur«, wie der Publizist Helmut Böttiger wiederholt behauptete, in Deutschland derart eklatant, daß das »Unbehagen in der Fußballkultur«, das Leiden an der Diskrepanz zwischen künstlerischem Ausdruck und körperlicher Ertüchtigung, nicht zu beheben und nicht zu kurieren sei.
Zweifellos haftet allein dem Begriff der Fußballkultur, der die alte Dichotomie von Geist und Soma aufheben will, etwas Halbseidenes, hybrid Schwiemeliges an. Um das Mantra mancher Feuilletonisten, der Fußball sei unvereinbar mit den ziselierten Anstrengungen der Hochkulturleister, quasi offiziell zu widerlegen, wurde im Oktober 2004 von der Stadt Nürnberg in Kooperation mit dem kicker die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur gegründet, die »dem Phänomen Fußball ein einzigartiges Forum bieten« möchte, »umfassend im Ansatz, mit durchgängigem ›Spielplan‹, einzelnen ›Spitzenspielen‹ und deutschlandweiter Vernetzung« – eine Art Fortsetzung des WM-Kulturprogramms mit ähnlichen Mitteln also.
Daß im Beirat Spitzenspieler wie Edmund Stoiber und die Goethe-Instituts-Präsidentin Jutta Limbach sitzen, mag ein wenig verwundern, und auch die Akademiemitgliedschaften der ausgewiesenen Bolzkapazitäten Guido Knopp und Renate Künast – von Fedor Radmann zu schweigen – können durchaus geringfügig befremdlich dünken. Aber dem Ziel der Unternehmung, den Fußball »mit Kulturprogrammen, Diskussionen, Lesungen, Promi-Talks und ballorientierten Events« vom Ruch schierer Intellektfeindlichkeit zu befreien, darf man uneingeschränkt Sympathie entgegenbringen – vor allem wenn, wie am Samstag, die 2005 von Thomas Brussig (Leben bis Männer) ins Leben gerufene Deutsche Nationalmannschaft der Schriftsteller auf dem Trainingsgelände des 1. FC Nürnberg in Vorbereitung auf die Autoren-WM in Malmö gegen eine Auswahl der Akademie antritt und – komplett verdient 3:1 gewinnt.
Daß Dichter dem Fußball frönen, ist gleichwohl nicht neu. Es gibt Photos, auf denen Mitglieder der Gruppe 47 das Leder über den Rasen scheuchen, und Ror Wolf hat mir mal erzählt, wie er sich als Torwart am Strand von Marathon die Knochen brach. Albert Ostermaier (»Ode an Kahn«), der Keeper des Teams rund um Stürmer Moritz Rinke, die Mittelfeldcracks Jan Böttcher und Klaus Döring sowie Neuzugang Sönke Wortmann (kicker-Note: 2 minus), »will für jedes reingelassene Tor hundert Euro in die Mannschaftskasse zahlen«, verrät mir derweil der multipel verletzte Wolfgang Herrndorf. Der zwischenzeitliche Ausgleich durch einen Schlenzer von Jochen Wagner (Evangelische Akademie Tutzing) ist allerdings nicht der vorabendlichen Kneipentour geschuldet, und insbesondere der Dramatiker Christoph Nußbaumeder, der »letzte Nacht schwer gesoffen« habe, setzt die Vorgaben von Coach Hans Meyer knüppelhart um und rackert an der Seite des vorbildlichen Kettenrauchers Jörg Schieke wie ein Wahnsinniger.
Dagegen sieht die Akademieelf mit Günther Koch (auch auf dem Platz rhetorisch nicht zu bremsen), Rainer Holzschuh, der seinem Namen Ehre macht, Ex-HSV-Profi Manfred Wasner und Jürgen Kaube nicht allzu jung aus. Denn »die Schiedsrichter sind auf unserer Seite«, hatte Hans Meyer vor dem Anpfiff zudem erläutert und die Devise ausgegeben: »Wenn wir zurückliegen, lassen wir endlos weiterspielen.«
Wie der Club DFB-Pokalsieger wurde, ist somit geklärt. Daß auf einem Spruchband der Akademie-Aficionados zu lesen war: »Nicht denken – versenken« – das gibt einem hinsichtlich der fragilen Beziehung zwischen Fußball und Literatur jedoch abermals äußerst, ja arg: zu denken.
Huhu, Herr Hartmann! Waldemar Hartmann! Hallo! Wir sind’s! Ja, genau. Seit Jahren schau’n wir Ihrem Treiben ja sehr gerne intensiv zu, und vorgestern abend, nach dem wenig erquicklichen »Zufallsfußball« (R. Beckmann) und Qualifikationsgeacker gegen die Slowakei, haben wir uns zusammen mit Ihnen ab 23.30 Uhr wieder mal eine halbe Stunde lang amüsiert wie Bolle. Königlich! Köstlich!
Oder anders gesagt: Weil Waldis WM-Club, jener herausragende Tiefpunkt in der Geschichte des deutschen Fernsehens, den wir vor exakt einem Jahr bewundern konnten, laut ARD angeblich bis zu 5,5 Millionen Zuschauer vor den Schirm gelockt hat, darf uns der unerreicht gackerfidele Quatschimoderator mit der Neuauflage Waldis EM-Club dieses Jahr nun fünfmal auf den Geist, den Senkel und den Keks gehen.
»Ich freue mich, daß es wieder losgeht. Damit können wir die Fußballabende für die Zuschauer perfekt abrunden«, hatte Hartmann im Vorfeld mitgeteilt, und diesen einzigartigen Perfektibilitätsgedanken des ehemaligen Augsburger Kneipiers fanden am Mittwoch Senderangaben zufolge 1,7 Millionen Menschen derart plausibel, daß sie einschalteten.
Geändert hat sich erfreulicherweise nichts. Waldis »Vereinsheim« (ARD) ist nach wie vor mit vielen bunten Wimpeln und Fußbällen ausstaffiert, und neben dem sagenhaft ironieresistenten »VfBäh-Fan« (Waldi) Hartmut Engler (Pur) und Atze Schröder, der auf Grund einer getönten Brille und einer bekloppten Dauerwelle immer noch als Komiker durchgewinkt wird, sitzt schon wieder Paul Breitner da und zerbricht sich den Schädel über »sehr viele leere Köpfe« in der deutschen Fußballnationalmannschaft.
»Schräge Gespräche und überraschende Erkenntnisse« hatte uns der BR versprochen, und das Gewiehergewitzel des Protagonisten, dieses verquallt-rumpeligen Stammtischdirigenten, zog sich erwartungsgemäß hin, zäh wie Zungenbelag, ranzig wie Friteusenfett.
Hirn rausschrauben und dann einschalten – so werden wir auch die nächsten vier Folgen überstehen.
Achim Greser und Heribert Lenz leben in Aschaffenburg-Leider. In ihrer Zeichnerwerkstatt produzieren sie unablässig »Witze für Deutschland«. Nebenher beobachten die unbeugsamen Anhänger des 1. FC Nürnberg, des Clubs, akribisch den deutschen und den Weltfußball.
Wie habt ihr die Sommerpause überstanden? Mit Waldläufen? Curling?
Heribert Lenz: Welche Sommerpause? Die Biathlonsommerpause?
Es gibt Menschen, die die Fußballsommerpause schwer verfluchen.
Achim Greser: Geht mir auch so. Ich hab’ mir alles angeguckt und alle Informationen reingezogen über die Mannschaftsneubildungen und Zugänge und Abgänge und Formkurven. Hier fand ja auch die Aschaffenburger Stadtmeisterschaft statt, die einem über ein paar Tage hinweggeholfen hat, und Andy Möller ist jetzt unser Trainer bei der Viktoria. Das hat für eine interessante Nachrichtenlage wenigstens im Lokalen gesorgt.
Wurde Möller als Frankfurter willkommen geheißen?
Greser: Mittlerweile hat er sich schon den Nimbus eines Heilsbringers erworben.
Ein neuer Christoph Daum?
Greser: Nee. Möller ist charakterlich anders disponiert. Wichtig für die Aschaffenburger ist, daß er wohl bereits erhebliche Sponsorengelder rangeschafft hat. In dieser Hinsicht hat Möller bis dato offenbar mehr erwirkt als bei der Mannschaftskonstruktion. Aber gegen Schalke haben sie nur 1:3 verloren.
Lenz: Sie hätten auch ein Unentschieden rausholen können.
Greser: Ein Tor aberkannt, einen Elfmeter versiebt. Und gegen den SC Freiburg haben sie in der letzten Minute 1:2 verloren.
Schalke ist doch kein Maßstab.
Greser: Weiß ich nicht. Es gibt ja immer die Ausreden, daß sie aus dem Trainingslager kommen und müde sind vom Konditionsbolzen. Aber das haben die anderen ja auch gemacht, denk’ ich mal. Die werden ja nicht blöd sein und nicht trainieren.
Bei der Eintracht geht es seit Wochen drunter und drüber. Wie schätzt ihr das ein?
Greser: Das ist eine Folge der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Fußball allgemein erfährt. Jede Regung wird aufgeplustert, gerade in Zeiten, in denen keine Ergebnisse zu vermelden sind.
Also hat Friedhelm Funkel recht, wenn er sich in Rudi-Völler-Manier echauffiert über die Bild, die eine ganze Seite mit Lesermeinungen gebracht hat, und zwar des Tenors, es sei eine Frechheit, welche Spieler Bruchhagen und Funkel verpflichtet hätten, früher sei die Eintracht eine Diva gewesen, heute sei sie eine graue Maus und so weiter?
Greser: Ich bin nicht sehr vertraut mit den Vorgängen rund um die Eintracht. Die hat in den vergangenen Jahren zu meinem Leidwesen gegen den Club immer sehr gut abgeschnitten. Allerdings ist sie seit dem letzten DFB-Pokalhalbfinale ein verläßlicher Punktelieferant für unser Konto.
Lenz: Ähem. Laß mal die ersten zwei Spiele vorbeigehen. Wenn die Eintracht dann zwei Punkte hat, wird wieder vom Europacup geträumt. Dann ist das ganze Geschwätz Makulatur.
Eine typische Frankfurter Nörgelei – in dieser Stadt der Aufschneiderei und Hybris?
Lenz: Klar.
Greser: So haben wir das immer wahrgenommen. Die Erwartungshaltung ist leicht hochzutreiben.
Woher die Unzufriedenheit? Die haben doch in der vergangenen Saison gut gespielt, waren im UEFA-Cup, im DFB-Pokalhalbfinale, haben vierzig Punkte geholt …
Greser: Das ist halt nichts mehr. Ich fand am Frankfurter Publikum früher immer beeindruckend, daß es einen enormen kollektiven Sachverstand besaß und den Wunsch nach schönem Fußball nicht preisgab. Die rein defensive Ausrichtung des Saisonziels ist dagegen zuwenig – die Verhinderung aller möglichen Übel. Das ist nicht im Sinne eines gestandenen Eintracht-Fans, zumindest nicht aus unserer Generation.
Lenz: Das ist wie in Nürnberg. Man träumt dauernd von den goldenen Zeiten. Hölzenbein, Grabowski …
Greser: Hölzenbein und Grabowski, die Nürnberger Meistermacher von ’68! Nein, man verkennt in Frankfurt einfach, daß die Hochkapitalisierung des Fußballs von einigen Vereinen früher ernstgenommen wurde. Die Bayern haben durch jahrelange Erfolgsserien Geld aufgetürmt und hatten plötzlich einen Riesenkonkurrenzvorsprung.
Aber Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war die Eintracht doch eine Topmannschaft. Man hat den UEFA-Pokal gewonnen …Greser: Aber es gab keine garantierten Einnahmen von zehn oder wie vielen Millionen Euro wie heute in der Champions League.
Also seht ihr langfristig keine Chance für die Eintracht, zu den oberen vier, fünf Bundesligisten aufzuschließen?
Greser: Die Wahl des Spielerpersonals ist auch eine große Glückssache. Einen aus dem internationalen Niemandsland zu holen, der zum Brecher wird, wie diesen Gekas zum Beispiel, das ist Zufall. Hertha BSC war ja auch lange Zeit ein Verein, der nur von seiner Vergangenheit gelebt hat, und dann haben sie den Sprung unter die ersten fünf geschafft.
Mit der Hertha ist es allerdings heute nicht mehr weit her. Das ist ja ein Pfeifenverein sondergleichen – über fünfzig Millionen Euro Schulden, was die Mitglieder nicht daran hindert, den genialen Manager Dieter Hoeneß im Amt zu bestätigen.
Greser: Zu Dieter Hoeneß kann ich eine Geschichte erzählen. Wir haben gute Freunde bei Hertha, die sich als arme Studenten aus Fanleidenschaft VIP-Dauerkarten vom Maul abgespart haben, um dem Getriebe ihres Herzensvereins näher zu sein – mit dem Erfolg, daß einer von denen jetzt im Präsidium hockt, was für uns schon mehrfach von Vorteil war. Wir haben Karten gekriegt für das WM-Spiel gegen Ecuador und das Pokalfinale.
Ihr seid ja gnadenlos korrupt!
Greser: Für Leidenschaften gibt man doch alles!
Lenz: Eben.
Greser: Und über diesen Kontakt haben wir versucht, einen alten Traum zu verwirklichen, nämlich daß einmal eine Zeichnung von uns auf der Stadionanzeigetafel gezeigt wird. Deshalb haben wir angeboten, für das Stadionheft zu jedem Heimspiel einen Witz zu zeichnen – durchaus auch zu aktuellen Problematiken der Hertha –, verbunden mit der Hoffnung, daß er dann auf der Anzeigetafel landet. Wir haben zwei Probewitze abgeliefert, die sind an den Pressesprecher weitergeleitet worden. Ein Witz hat den Alleinherrschaftsanspruch von Dieter Hoeneß thematisiert – nicht nur den Anspruch, der ist ja verwirklicht, Hoeneß mischt sich offenbar in alles ein und läßt sich über jeden Kleinstvorgang unterrichten. Wir hatten die Wäschefrau gezeichnet, die bei Hoeneß vorstellig wird und ihn fragt: »Herr Hoeneß, werden die Heimtrikots bei dreißig oder sechzig Grad gewaschen?« Es ist dann nicht zu unserem Engagement gekommen. Der Pressereferent hat sich nicht getraut, dem Dieter Hoeneß diesen Witzvorschlag vorzulegen. Na ja, der Wunsch, in dieser sagenhaften Wunderwelt Fußball mal an so prominenter Stelle plaziert zu werden, der war eigentlich auch korrupt, weil wir mit der Hertha, was die fußballerische Herzensseite anbelangt, absolut nichts am Hut haben.
Eckhard Henscheids »Hymne auf Bum Kun Cha« flimmerte Anfang der Achtziger mal über die Anzeigetafel des Waldstadions.
Greser: Das war in gewisser Weise Vorbild. Es waren allerdings andere Zeiten. Denn ein Bedenken des Pressemannes war zudem, daß man das durchschnittliche Hertha-Publikum mit Witzen, wie wir sie üblicherweise machen, überfordert.
Da dürfte er nicht falschgelegen haben.
Greser: Ja. Vielleicht war das damals bei der Eintracht aber auch ein einmaliger Fall, daß der Universitätspräsident Achaz von Thümen gleichzeitig Vereinspräsident war und die Intellektuellen der Stadt an den Klub gebunden oder wenigstens dafür gesorgt hat, daß der schöne Auftritt der schönen Henscheid-Hymne zustande gekommen ist. Was findet heute im Fußball an Kultur statt? Es gibt die vereinsindividuellen Fangesänge. Das ist aber alles von unglaublicher Nichtigkeit und auf dem Niveau von Lustigen Musikanten und Schlagerparade.
Geht ihr noch zur Eintracht?
Lenz: Ich war vor einem halben Jahr im Stadion und mußte eine von diesen unsäglichen Zahlkarten lösen, um eine Bratwurst kaufen zu können. Ich hab’ auf dem Kartenkonto immer noch zwischen 1,50 und zwei Euro liegen. Es würde mich schon interessieren, was die mit dem Geld angefangen haben.
Die haben davon den Mahdavikia gekauft.
Lenz: Dann müßte immer noch was übrig sein. Funkel hat betont, man habe mit Mahdavikia und Inamoto zwei »Knaller« geholt. Findet mit der starken asiatischen Fraktion – Takahara gehört ja noch dazu – jetzt eine Anknüpfung an die Zeiten mit dem holden Bum Kun Cha statt?
Greser: Meine Leidenschaft für die Eintracht ist ziemlich abgekühlt, zumal weil in unserer Familie der Graben zwischen Nürnberg- und Eintracht-Fans tief ist. Die Tochter ist erfolgreich auf Nürnberg umgepolt worden, aber der Bub’ hält, vielleicht auch aus purer Opposition zu mir, zur Eintracht. Zu meinem Verdruß.
Lenz: Bei mir liegt der Fall etwas anders. Ich hätte mir gewünscht, daß die Eintracht mehr schwarze Spieler holt. Man erinnere sich an die Saison ’91/’92 mit Yeboah und Okocha. Davon hätte ich mir mehr versprochen …
Greser: … als von den asiatischen Batteln, auf die sie sich jetzt kaprizieren.
Warum bringt der Asiate keine gescheiten Fußballmannschaften her? Die Asienmeisterschaften waren dem Hörensagen nach unterirdisch.
Lenz: Richtig.
Woran liegt das? Daran, daß etwa die Iraner um Mahdavikia kein Bier trinken dürfen?
Greser: Der Iran ist halt nach wie vor ein Schwellenland, zivilisatorisch.
Und Fußball hat was mit zivilisatorischer Entwicklung zu tun?
Greser: Es gibt ja permanente Verfeinerungen in der Spielerbetreuung, Spielerausbildung, taktische Veränderungen – das kommt immer aus Europa oder Südamerika. Wissenschaftlich betrachtet ist die Fußballspitzenforschung dort beheimatet.
Hans Meyer, der unbezweifelbar ein Genie ist, hat die zunehmende Verwissenschaftlichung des Fußballs dergestalt kommentiert, das sei ein grober Unfug. Das einzige, was man mit wissenschaftlichen Verfahren verbessern könne, sei die Athletik, das mache zehn Prozent der Arbeit aus. Der Rest müsse wie vor achtzig Jahren angegangen werden.
Greser: Meyer hat ja auch fast dogmatische Vorstellungen vom Spielsystem – drei Stürmer, davon ein klassischer Strafraumstürmer. Deshalb hat er so viel Wert darauf gelegt, mit Charisteas einen adäquaten Ersatz für Markus Schroth zu bekommen, so einen langgewachsenen Knaller in der Mitte. Zum anderen sind die Spieler, wie man hört, sehr angetan von der Individualisierung der Trainingsmethoden, von der gezielten Bekämpfung individueller Defizite. Mit dem Waldlauf in der Lemmingherde oder dem Hin-und-her-Schmeißen von Medizinbällen hat das nichts mehr zu tun. Klinsmanns Konzept war ja von Erfolg gekrönt.
Meyer behauptet, Übungen mit Gummibändern et cetera seien bei Carl Zeiss Jena schon 1969 gemacht worden. Und im gleichen Atemzug hat er gesagt: »Ich habe mal ein Lehrbuch von Reichstrainer Otto Nerz gelesen, Jahrgang 1936. Fast alles, was da drin stand, stimmt heute noch.« Was sagt ihr jetzt?
Greser: Vielleicht ist Hans Meyer auch überschätzt.
Lenz: Zumindest hat er zur Attraktivität der Pressekonferenzen beigetragen. Er ist einigen Reportern intellektuell und verbal weit überlegen. Es macht einfach Spaß, dem Mann zuzuhören.
Greser: Es ist Teil seines Images, daß er sich als Fundamentaloppositionist gegen irgendwelche Zeitgeistreden stellt.
Lenz: Er bestätigt nicht gern, was ihm die Reporter in den Mund legen wollen.
Greser: Er ist ein Grunddialektiker, der sich sträubt, Vorgaben zu erfüllen, und erst mal die Antithese formuliert.
Ein Hegelianer des Fußballs?
Greser: Das macht ihn so sympathisch.
Er hat des öfteren geäußert, daß er die grauenhafte Fußballphraseologie verabscheut und deshalb Sprüche klopft, die, wie er selber sagt, mitunter noch dämlicher sind als die Fragen, die ihm gestellt werden.
Lenz: Das stimmt.
Greser: Das Gerede ist ja oft unerträglich. Es wird sich aber nicht ändern.
Es wird immer schlimmer. In dem Maße, in dem der Fußball verwissenschaftlicht wird, wird die Fußballsprache immer dusseliger.
Lenz: Es gibt wirklich dumme Leut’ mit unglaublich dummen Fragen, auch bei Premiere. »Wie fühlen Sie sich?« – direkt nach dem Sieg im Pokalfinale!
Miserabel.
Greser: Obwohl ich zu Premiere anmerken muß, daß da einige jüngere Leute agieren, die mit Sachverstand brillieren, die bei der Sache bleiben und nicht das, was sie sich in Homestorys an nichtigen Boulevardinformationen angelesen haben, loswerden wollen. Die sind fix genug, eine Spielentwicklung zu erkennen und zu beschreiben. Da besteht also doch Anlaß zur Hoffnung. Und vor fünfundzwanzig Jahren, muß man sagen, war es auch nicht viel besser. Einen Eberhard Stanjek würde man heute auch nicht mehr ertragen.
Ich erlaube mir einen Schwenk zum Weltfußball. Bernd Schuster, der neue Trainer von Real Madrid, verbietet den Spielern jetzt auf Reisen das Tragen von Kopfhörern und das Hantieren mit Chipstüten.
Lenz: Aus welchem Grund?
Er will die Disziplin verbessern. Ist das der richtige Weg, um Real Madrid wieder an die europäische Spitze zu führen – keine Chips und keine Kopfhörer?
Greser: Tja. Wenn sie nach der Saison zwei, drei Pokale in Händen halten …
Lenz: So erfolglos waren die doch gar nicht. Real ist Meister geworden.
Greser: Es ist wahrscheinlich in jedem mittelständischen Betrieb so. Wenn ein neuer Produktionsleiter kommt, dann …
Lenz: … wechselt der erst mal die Biermarke aus.
Greser: Dann werden die Eisenspäne ordentlich weggefegt. So macht’s auch der Schuster, um sich als zurechnungsfähiger neuer Mann zu präsentieren. Er muß ja hochselbstbewußte Menschen führen, die alle mehr verdienen als er. Das größte Problem ist wohl, den Sauhaufen beieinanderzuhalten. Hat sich nicht sein Vorgänger, der Capello, zum Grundsatz gemacht, einen Euro mehr verdienen zu müssen als der teuerste Spieler? Fand ich gut.
Dann wird Bernd Schuster ordentlich verdienen, denn Real will Kaká für hundertvier Millionen Euro vom AC Mailand holen und ihm ein Jahresgehalt von dreizehn Millionen zahlen. Über solche Summen muß man nicht den Kopf schütteln, oder?
Greser: Wer weigert sich, ins Kino zu gehen, wenn er erfährt, daß …
Lenz: … Tom Cruise …
Greser: … genau, daß mittelmäßige Kameraden wie Tom Cruise für einen Film zwanzig Millionen kriegen? Was soll denn das?! Der Gladiator, der den Löwen erwürgt hat, hat auch mehr gekriegt als derjenige, der einen nicht satisfaktionsfähigen Gegner, einen halbverhungerten Christen niedergerungen hat. Das ist doch eigentlich gerecht – in gewisser Weise.
In gewisser Weise gewiß. Warum aber ist Sepp Blatter für euch nicht satisfaktionsfähig? Er taucht auf keinem eurer vielen Fußballblätter auf.
Greser: Weil es bloß so ein Geraune um ihn herum gibt, er leite eine hochkorrupte Organisation, die sich zum Geldscheffelbetrieb umfunktioniert hat und öffentlich nur in Erscheinung tritt bei karitativen Angelegenheiten, mit deren Hilfe auch jeder Altölstinkebetrieb sein Image zu retten versucht. Inwieweit bei der FIFA wirklich der Wurm drin ist, weiß man aber eigentlich nicht. Hier beim TuS Leider, einem Bezirksligisten, hat der Schiri mal eine fragwürdige Entscheidung getroffen, und da ist einer der Vorstandskollegen auf den Platz gerannt und hat den Schiedsrichter von hinten so gestumpt, daß er umgefallen ist. Da mußte ich so lachen! Das hat mich so gefreut, daß da einer jede mittlerweile auf dem Fußballplatz geforderte Korrektheit hat fahrenlassen und sich im Dienste und Sinne des Vereins sehr weit aus dem Fenster gelehnt hat. Das Spiel wurde abgebrochen und für den Gegner gewertet, samt saftiger Geldstrafe, aber der Mann ist vom Verein geschützt worden, und das fand ich eine gute Art von Verhalten für einen Fußballverwaltungsverantwortlichen.
Fußball wird dann komisch, wenn sich die Leute inkorrekt verhalten?
Greser: Ja. Aber es wird den Leuten sukzessive ausgetrieben. In England ist das schon sehr weit vorangeschritten. Die Geldsummen, die in England für Spieler eingesetzt werden, haben zur Folge, daß die Ticketpreise zwecks Refinanzierung bizarr hoch sind, mit dem Nebeneffekt, daß ein einfacher Kuttenträger, der sein Leben über Jahrzehnte dem Verein geopfert hat, sich das nicht mehr leisten kann. Und tendenziell merkt man das auch in den neuen Super-WM-Arenen. Im Eintracht-Stadion saß vor mir ein Pärchen, das eher den unteren gesellschaftlichen Schichten anzugehören schien. Die haben so verloren gewirkt in diesem Rund. Solche Fans sind beim Bau der neuen Stadien nicht mehr berücksichtigt worden. Wie sollen die sich wehren gegen diese Entwicklung?
Lenz: Die dienen noch als Geräuschkulisse. Dafür braucht man sie noch. Sonst wären die längst rausgekickt und weitere VIP-Lounges gebaut worden. Übrigens fällt mir auf, daß sich der Fußball unheimlich ernst nimmt. Wir haben mal ein lustiges Fernsehinterview gegeben, nach dem hat sich Uli Hoeneß wahnsinnig aufgeregt. Die haben regelrecht Angst, daß ihr riesiger Wirtschaftsbetrieb nicht richtig ernst genommen wird. Das ist alles ein unglaublicher Quatsch. Diese furchtbar ernsten sonntäglichen Fernsehdiskussionsrunden zum Beispiel – was für ein Blödsinn!
Greser: Aber es ist auch ein Abbild der Gesellschaft, insofern alles unter so einer Korrektheitsdunstglocke gehalten wird. Die Geschäfte müssen halt laufen. Die Menschen sind ja mittlerweile auch bereit, dieses Argument zu fressen und sich hochflexibel zu zeigen, wenn es darum geht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden und so weiter. Die nehmen ja jede Last auf sich, um an dem Betrieb des großen Geldflusses teilzuhaben. Witz und Ironie – Hoeneß ist diesbezüglich uns gegenüber mehrfach aufgefallen – stören die Ruhe, das Image muß sauber und rein bleiben.
Der Verlust der Ironiefähigkeit auf allen Ebenen – bei den Spielern, den Funktionären und so fort – ist ein Zeichen dafür, wie weit die Ökonomisierung des Fußballs fortgeschritten ist?
Lenz: Ganz sicher.
Greser: Jede Form von Ironie stellt eine anarchische Gefahr dar, die einen Geist mobilisieren kann, der den Geschäftsinteressen zuwiderläuft.
Lenz: Unfreiwillig komische Momente entdeckt man allerdings, wenn man zum Beispiel Jugendmannschaften zuschaut. Wie die jungen Kerle jubeln – das haben die alles aus dem Fernsehen. Neulich habe ich hier beim TuS Leider einen Schiedsrichter gesehen – ein ganz junger Kerl –, der hat Gesten gemacht haargenau wie der Collina! Der hat Collina gespielt! Unglaublich komisch.
Greser: Nur noch Klone. Individualität ist nicht mehr gefragt. Jetzt verbieten sie sogar den Trainern das Rauchen – unter freiem Himmel!
Lenz: Ist doch irre!
Greser: Bei dem erwähnten Vorbereitungsspiel von Viktoria Aschaffenburg saß ich auf der Tribüne und hab’ mir eine Zigarette angesteckt. Mein Nebenmann war empört. Er hat nichts gesagt, aber aus jeder Pore ausgeschwitzt, wie widerlich er das fand. Da bist du heute sofort als Schwein klassifiziert. Eine Katastrophe. Wohingegen von Felix Magath, der ja hier aus der Nachbarschaft stammt, an den Stammtischen schöne Geschichten überliefert werden. Der hat’s sehr bunt getrieben. Der war mit einem überragenden Talent ausgestattet, das es ihm erlaubt hat, in seiner Zeit bei Viktoria Aschaffenburg gern auch mal besoffen aufzulaufen. In der Halbzeit hat er in die Kabine gekotzt, ist dann wieder raus und hat schnell das Spiel entschieden. Und geraucht hat er auch. Jetzt ist er Konvertit – und wie viele Konvertiten ein hundertfünfzigprozentiger Verweigerer dieser Genüsse.
Ich muß noch mal auf Sepp Blatter zurückkommen. Neulich hat er am Rande der Copa América vorgeschlagen, die Verlängerung abzuschaffen. Seit es kein Golden Goal mehr gebe, sei es sinnlos, eine Verlängerung zu spielen. Man solle gleich zum Elfmeterschießen schreiten. Das laut dem Magazin 11 Freunde größte Fußballspiel aller Zeiten, das WM-Halbfinale 1982 gegen Frankreich, wäre ohne Verlängerung niemals das gewesen, was es war. Spinnt der Blatter?
Greser: Ja. Eindeutig.
Lenz: Deutschland – Italien 1970. Wahnsinn!
Greser: Da hab’ ich ein Fußballfantrauma erlitten. Ich war neun Jahre alt, und nachdem Schnellinger kurz vor Schluß durch eine lange Grätsche den Ausgleich erzielt hatte, haben mich meine Eltern ins Bett geschickt, so daß mir die Verlängerung des Jahrhunderts entgangen ist.
Lenz: Das ist dramatisch. Da muß man doch rebellieren!
Greser: Mit neun?
Andererseits hat Blatter der aktuellen Ausgabe von 11 Freunde zufolge mitgeteilt, er wolle in Zukunft auf das Elfmeterschießen verzichten und statt dessen die Anzahl der Spieler während der Verlängerung nach und nach reduzieren, früher oder später fiele dann schon ein Tor.
Greser: Wäre es nicht eher umgekehrt logisch, daß die Anzahl der Spieler erhöht werden müßte?
Lenz: Auch gut.
Greser: Dreiundsiebzig gegen dreiundsiebzig in der 117. Minute.
Lenz: Was will der Blatter denn? Soll der Fußball attraktiver werden? Wird er doch nicht! Warum soll man denn daran was ändern? Ich versteh’ das nicht.
Greser: Vielleicht gibt’s Beschwerden seitens der geldgebenden TV-Anstalten, daß sie mit ihren Programmschemata durcheinandergeraten, wenn pausenlos diese endlosen Verlängerungen gespielt werden. Und wer weiß, was in Familien passiert, in denen die Interessenlage so disparat ist, daß sich die Frau für Fußball absolut nicht interessiert. Wenn es dann noch zur Verlängerung kommt … Ich verstehe Blatters Vision als Maßnahme zur Befriedung der Gesellschaft.
Lenz: Die Scheidungsrate schnellt hoch, wenn die Verlängerung bleibt?
Die Deutsche Meisterschaft 2008 jedenfalls ist entschieden, auch ohne Befehl von Blatter.
Greser: Man muß es fast befürchten.
Lenz: Ach was! Ich würd’ gerne mal wissen, wieviel Prozent Glück eigentlich dabei ist.
Greser: Glück kann man kaufen. Tore kann man kaufen.
Ottmar Hitzfeld hat Franck Ribéry als »Glücksfall« bezeichnet.
Greser: Hm. Er wird jetzt hochgelobt. Mal gucken. Muß sich halt einer hergeben und ihm in den ersten Spielen ein paar auf die Socken hauen.
Beim Club würdet ihr den auch mit offenen Armen …
Greser: Ich muß mal grundsätzlich sagen, daß ich’s nicht verstehe, wie man als Mensch, der Fußballfreundschaft mit Herzenswärme verbindet, Fan des FC Bayern sein kann.
Das ist aber starker Tobak.
Lenz: Damit ist das Gespräch beendet.
Greser: Zu einer gesunden Ausstattung als freier Bürger gehört doch, den Verdacht hochzuhalten und zu schüren gegen jede Form von Monopolismus.
Aber ist der FC Bayern nicht auch ein Verein der Herzenswärme? Man denke nur daran, wie Uli Hoeneß den größten Fußballer aller Zeiten, Gerd Müller, vor dem Untergang bewahrt hat.
Greser: Ja, ja. Und er organisiert auch Benefizspiele. Die russischen Oligarchen werden auch aufgefordert, Brosamen ihrer Milliardenverdienste in den russischen Sozialbetrieb zu stecken, sonst werden sie eingesperrt. Jeder vernünftig operierende Vorstandsvorsitzende einer deutschen Firma, die Verdächtiges oder Übles produziert, wird sich einlassen auf die öffentlich mit Pomp vorgetragene karitative Zahlung. Das ist kein Zeichen von Herzenswärme, sondern von geschäftstüchtiger Heuchelei.
Lenz: Wenn ich der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank wäre, würde ich mir doch nicht einen Mann durch die Lappen gehen lassen, der bei der Dresdner Bank ist und gut ist. Den kauf’ ich weg! Ist doch klar! Mit der Herzenswärme ist es doch seit dreißig Jahren vorbei.
Greser: In deiner Argumentation treffen sich Mitglieder der kriminellen Organisation Bankwesen und der kriminellen Organisation monopolistischer Fußballvereine.
Lenz: So seh’ ich’s.
Dagegen ist kein Kraut gewachsen?
Lenz: Herzenswärme im Fußball ist seit vierzig Jahren passé.
Greser: Ja, sicher. Ich sprech’ ja auch von den Menschen, die sich als Fans zeigen, und unterstelle den Bayern-Fans einfach puren Opportunismus.
Die sind seelisch verkrüppelt?
Greser: Ja. Das sind diese auftrumpfenden Winnertypen, die panzerartig durch diese Gesellschaft fuhrwerken und Spuren hinterlassen, von denen sie nicht ahnen, wie breit sie sind – wie unangenehm und wie trostlos und wie blutig.
Ihr habt beim Club mit Michael A. Roth auch einen Spitzenmoralisten an der Spitze.
Greser: Uli Hoeneß hat den Club mal auseinandergekauft, als er eine junge, aufstrebende Mannschaft hatte, die sogar völlig überraschend den Einzug ins UEFA-Pokalgeschäft gepackt hatte. So weit reicht mein Fangedächtnis noch, daß ich ihm das nicht durchgehen lasse. Die Bayern haben sich bei Leverkusen bedient, bei Bremen, Gladbach haben sie auseinandergekauft.
Klose wollte weg aus Bremen. Bescheinigt man dem SV Werder nicht zu Unrecht immer wieder, er sei ein vernünftiger, sympathischer Klub? Gegen Klose muß es erhebliche Sticheleien und Rempeleien gegeben haben. Die Bayern macht man systematisch als den Gangsterverein schlechthin schlecht, die Bremer werden systematisch als das Gegenmodell in den Fußballolymp gehoben. Das kann’s nicht sein.
Lenz: Das ist wie im Kasperletheater. Uli Hoeneß ist das Krokodil.
Und der Kasper ist Klaus Allofs?
Greser: Der Kasper ist Franz Beckenbauer.
Oder ein anderer Mann mit B – David Beckham. Habt ihr den Zirkus rund um seinen Dienstantritt in L. A. verfolgt? Oder ignoriert ihr das, weil da der Fußball als gesamtgesellschaftlicher Unfug endgültig auf den Begriff gebracht ist?
Greser: Vermutlich ist damit ein Zeichen gesetzt worden für die Perspektive des Fußballs. Es gilt jetzt möglicherweise noch als britische, exzentrische Spinnerei, aber daß das nichtige Promiboulevardgetue den Fußball komplett beherrscht, dazu wird es bei uns schon auch noch kommen. Die Verwahrlosung der Sitten und der Verfall einer, wenn man davon überhaupt sprechen kann: Kultur, der Bedeutung, die Fußball als gesellschaftlich bindende Angelegenheit hat, das alles wird dann durch sein. Beckham hat ein Zeichen gesetzt, indem er zu einem Verein gewechselt ist, der fußballerisch weniger hergibt als der TuS Leider, und sich in der Sphäre der übersportlichen, weltweiten Topschluriprominenz niedergelassen hat. Hat der eigentlich schon Silikon an sich? Silikonwaden?
Bei Ludwig Wittgenstein hab’ ich kürzlich zufällig gelesen: »Fußball hat Tore, Völkerball nicht.« Stimmt das?
Greser: Ich versteh’ den Satz nicht.
Ich auch nicht.
Greser: Ach, Tore im Sinne von Idioten? Völkerball ist doch das viel diskriminierendere Spiel! Da wird man zum Abschuß freigegeben und ist dann weg vom Spielfeld – ein archaisches Ausleseprinzip aus der Neandertaler- oder Raubritterzeit. Dagegen ist Fußball demokratisch, zivilisiert.
Dann bleiben wir bei Gerd Müller und dem Titel seiner Autobiographie: »Tore entscheiden«.
Greser: Der hat mir, als ich ein Bub’ war, mal ein Autogramm verweigert. Seitdem ist mein Verhältnis zu ihm auch gestört.
Lenz: Das tut ihm heute sicher sehr leid.
Ihr habt gemeinsam auch mal ein entscheidendes Tor erzielt, aus hundertzwanzig Metern.
Greser: Es waren nur achtzig. Abwurf Heribert, es war ein sehr kurzer, verunglückter Abwurf, aber ich stand als Verteidiger an der eigenen Strafraumgrenze und hab’ ein Achtzig-Meter-Kopfballtor erzielt, zum Jubel unserer Würzburger studentischen Fußballfreunde. Das war das entscheidende Tor, das uns die Prämie eines Kastens Bier eingebracht hat – mehr wert als jeder Goldcup.
Lenz: So war’s. Prima.
Es war Horst Martin, der Propagandachef des Deutschen Filmmuseums, der die beknackte, die fürwahr unglaublich knorke Idee hatte.
Wir standen, wie immer vollkommen sinnlos, am Tresen des Kyklamino, meiner Stammkneipe im Frankfurter Gallusviertel, als Horst ein Gedanke durchfuhr und er ihn umgehend unserem Lieblingswirt Apollo vor den Latz ballerte.
»Apollo, wir organisieren ein Fußballspiel!« – »Was soll der Scheiß?« knurrte Apollo. Horst ließ sich nicht beirren. »Du bildest ein Team, und Jürgen und ich stellen eins zusammen. Dann werden wir sehen, wer die Hosen anhat. Das wird das größte Ereignis im Gallus seit 1985!«
»Meinetwegen. Aber ich bin Spielertrainer«, sagte Apollo, »damit ich Jürgen die Schienbeine polieren kann.« Ich nahm einen Schluck Bier und schwieg aus taktischen Gründen.
Die folgenden Wochen verbrachten wir mit endlosen technischen Vorbesprechungen über Grill- und Auswechselmodalitäten. Apollo warb für seine Truppe »Apollo 11« unterdessen allerhand Granaten aus dem engeren Tresenumfeld an, während Horst und ich wild durch die Gegend rekrutierten, um »Hermann United« zu komplettieren.
Unser Coach Hermann, der Happel vom Main, verordnete uns vorsorglich ein striktes Catenaccio-Konzept, sagte jedoch wegen einer »Familienfeier« eine Woche vor dem »Spiel des Jahres um den leeren Gallus-Pokal« ab. »Verflucht, was nun?« fragte mich Horst. Ich schwieg und engagierte am nächsten Tag Katja als Ersatztrainerin. Sie ist Eintracht-Fan, aber was soll man machen. Dafür legte sie uns einen detaillierten Ernährungsplan vor: »Pommes rot! Wir haben ja wohl auch rote Trikots.«
Horst wollte T-Shirts mit zwei Säulensätzen des Fußballs bedrucken lassen: auf der Brust »Fußball hat Tore, Völkerball nicht« von Ludwig Wittgenstein, auf dem Rücken »Tore entscheiden« von Gerd Müller. Damit wäre uns der Sieg nicht mehr zu nehmen, auch wenn Apollo versuchte, uns mit allerlei miesen Psychotricks aus der Bahn zu werfen: Sprechverbot am Tresen, großspurige Erzählungen über seine angeblichen »biologischen Begegnungen« mit unseren Frauen.
Die Sonne knüppelte auf den Kleinfeldplatz gegenüber den Redaktionsgebäuden der FAZ. Ich zog mich um und war groggy. »Wieso fehlt der Name Wittgenstein auf den Trikots?« fragte ich Horst. »Wittgenstein hätte noch mal sechzehn Euro gekostet«, sagte er.
Fipps und Joachim am Grill reichten Apollos Mannen regelwidrig frische Bratwürste. Apollo stolzierte mit einem albernen Klemmbord herum und erteilte Anweisungen auf türkokroatisch. Berry, mein Erzfeind in Apollos Lumpenelf, rief derweil unverbrauchte Kräfte an. »Transferschluß ist um 13.30 Uhr«, intervenierte Horst.