Commissaire Marquanteur
und die Morde in der Metro: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Wer tötet Obdachlose, um ihre Organe zu verkaufen? Diese Frage
führt Marquanteur und Leroc in den Untergrund von Marseille.
Stillgelegte Metroschächte, Kanalisation, regelrechte Siedlungen –
eine ganze Stadt unter der Stadt, und noch viel gefährlicher als
die oberirdischen Straßen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Jack Raymond, Jonas Herlin, Dave Branford, Chris Heller, Henry
Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Jeder kann aus dem Gleis geraten und aus der Spur fliegen. Da
sollte niemand sagen, dass ihm das nicht passieren könnte.
Fatal ist es, wenn jemand in so einem Augenblick auf einen
skrupellosen Geist trifft, der die momentane Schwäche dann auch
noch hemmungslos ausnutzt.
Kommt leider vor.
Mein Name ist Pierre Marquanteur. Ich bin Commissaire und Teil
einer in Marseille angesiedelten Sonderabteilung, die den etwas
umständlichen Namen Force spéciale de la police criminelle, kurz
FoPoCri, trägt und sich vor allem mit organisierter Kriminalität,
Terrorismus und Serientätern befasst.
Die schweren Fälle eben.
Fälle, die zusätzliche Ressourcen und Fähigkeiten verlangen.
Zusammen mit meinem Kollegen François Leroc tue ich mein
Bestes, um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu
zerschlagen. »Man kann nicht immer gewinnen«, pflegt Monsieur
Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police, oft zu sagen.
Er ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat er mit
diesem Statement Recht.
*
Der Tod kam lautlos.
Und blitzschnell.
MPis knatterten los. Die Schussgeräusche dröhnten
ohrenbetäubend durch den stillgelegten Metrotunnel.
Todesschreie gellten.
Binnen Sekunden lagen zwei blutüberströmte Leichen neben dem
Lagerfeuer. Die Projektile fetzten durch die stockigen Matratzen,
auf denen die beiden Obdachlosen gelagert hatten.
Blitzartig riss ich die Pistole hervor, feuerte zweimal und
warf mich dann zur Seite. Hart kam ich auf den Boden, rollte mich
herum, während die Maskierten einen wahren Bleihagel in meine
Richtung prasseln ließen. Projektile peitschten neben den
Schienenstrang auf den Boden und streiften die Stahlgleise.
Funken sprühten.
Ich riss die SIG Sauer P 226 empor. Dreimal schoss ich kurz
hintereinander in die Dunkelheit hinein. Dann rappelte ich mich
auf, sprang über die Gleise und feuerte erneut. Sekunden später
hatte ich die Tunnelwand erreicht. In einer Nische fand ich
Deckung. Ich presste mich gegen den Beton.
Das Feuer verebbte.
Schritte waren zu hören.
Und knappe Befehle.
Ich steckte in der Falle.
Ich tauchte aus meiner Deckung hervor. Im Schein des
Lagerfeuers sah ich einige Maskierte. Es waren mindestens ein
Dutzend Männer. Sie trugen Sturmhauben und Nachtsichtgeräte.
Ein Schuss zischte an mir vorbei, ritzte den Beton des
Tunnels. Ich feuerte zurück, erwischte einen der Kerle am Arm und
hechtete hinter eine ausgediente Schrankwand, die von den
Obdachlosen hier hinunter geschafft worden war.
Eine MPi-Salve ließ die Spanplatten zersplittern.
Ich schnellte hoch.
Vor mir lag der lange dunkle Metro-Tunnel, zwei, drei
Stockwerke unterhalb der Stadt Marseille gelegen. Die Dunkelheit
machte meinen Verfolgern nichts aus. Sie waren dafür ausgerüstet.
Ich nicht – und das hatte einen ganz einfachen Grund. Ich war im
Undercover-Einsatz. Die Männer, mit denen ich am Lagerfeuer
gesessen hatte, hatten nicht gewusst, dass ich bei der FoPoCri war.
In dem Fall hätten sie auch kaum ein Wort mit mir geredet. Wenn ich
ein Nachtsichtgerät getragen hätte, wären sie misstrauisch
geworden.
Ich hatte auch keinen Dienstausweis dabei. Nur die
Dienstpistole vom Typ SIG Sauer P 226. Aber die war so verbreitet,
dass nicht jeder, der das Ding zu Gesicht bekam, gleich auf einen
Polizisten schloss. Oder einen Commissaire wie mich.
Ich rannte um mein Leben, denn die Mörder würden kein Erbarmen
kennen. Und gleichzeitig arbeitete es in meinem Hirn
fieberhaft.
Wer hatte diese Mörder ausgesandt?
Ich lief in geduckter Haltung, dann erreichte ich endlich die
Abzweigung. Das war meine Rettung.
Die Kerle folgten mir. Ich hörte ihre Schritte und ihre
Stimmen. Sie waren davon überzeugt, mich zur Strecke bringen zu
können. Und sie hatten allen Grund für ihre Zuversicht. Sie waren
in der Überzahl und hatten die bessere Ausrüstung. Und sie kannten
sich hervorragend in dem unterirdischen Labyrinth aus Tunneln und
Abwasserkanälen aus, das man im Verlauf der letzten Jahre in den
Boden hineingegraben hatte.
Wie die Gänge eines Maulwurfbaus durchzogen diese Katakomben
den Erdboden unter der Stadt Marseille. Und ein Teil dieses
Maulwurfbaus war mehr oder minder vergessen. Stillgelegte
Metro-schächte, Abflusskanäle, deren Funktion längst und lange von
anderen Leitungen übernommen worden waren. Manche von ihnen wurden
zu reißenden Flüssen, wenn es regnete.
Obdachlose oder auch Maulwurfmenschen – nannte man die
Menschen, die in diesen Gewölben zwischen verrußtem Beton, morschen
Schwellen von Metrogleisen und Ratten ihr Dasein fristeten.
Auf etwa 500 schätzte die Stadtverwaltung ihre Zahl – was
eigentlich nur bedeuten konnte, dass sie weitaus größer sein
musste. Ausgestoßene, Obdachlose und Gescheiterte waren hier zu
finden. Manchmal auch psychisch Kranke, die die Welt da oben
ausgespuckt hatte.
Welche Gründe es im Einzelfall auch immer dafür geben mochte,
in diesen unterirdischen Betongewölben zu hausen, nichtsdestotrotz
waren sie Menschen.
Und es hatte niemand das Recht, sie einfach über den Haufen zu
schießen, so wie es vor wenigen Augenblicken mit Armand und Cédric
geschehen war – den beiden Männern, mit denen ich am Feuer gesessen
hatte.
Ich holte Atem, drehte mich vorsichtig um. Die Luft war
feucht. Von irgendwoher war ein kratzender Laut zu hören.
Ratten.
Ich drehte mich kurz herum. Jeden Augenblick mussten meine
Verfolger auftauchen.
Vor mir lag tiefschwarze Dunkelheit, in der man nicht einmal
die Hand vor Augen sehen konnte. Ich holte die Taschenlampe aus der
Parka-Tasche. Kein Modell, das hier unten irgendjemanden neidisch
gemacht hätte. Das konnte nämlich lebensgefährlich sein.
Ich lief weiter und stolperte über die dicken Schwellen
zwischen den Gleisen.
An der Betonwand versuchte ich mich zu orientieren, denn ich
wusste, dass hier irgendwo das zu finden war, wonach ich suchte.
Etwas, das mein Leben retten konnte.
Ich tastete die Wand entlang. Die P 226 hatte ich wieder in
die Tasche des fleckigen Parkas gesteckt, den ich für meine
Untergrund-Mission trug. Mit der Waffe konnte ich jetzt ohnehin
kaum etwas ausrichten.
Und dann hatte ich es gefunden!
In einer Nische befand sich der Zugang zu einem Abflusskanal,
der dafür sorgen sollte, dass die Metro nicht unter Wasser stand,
wenn es über der Erde schüttete.
Ich rollte den Betondeckel zur Seite, stieg hinunter. Die
Röhre, in der ich mich befand, war gerade groß genug für mich.
Vorsichtig zog ich den Deckel wieder an seinen Ort. Dann stieg ich
an den rostigen Sprossen hinab.
Von oben hörte ich die Schritte der Verfolger.
Einer schien zu glauben, mich gesehen zu haben und ballerte im
Tunnel herum.
Ich stieg weiter hinab.
Armand und Cédric hatten mir diesen Fluchtweg gezeigt. Für sie
war ich einer der ihren gewesen, und so hatten sie mich und meinen
Kollegen François Leroc in dieses Geheimnis eingeweiht.
Oft genug durchstreiften Jugendbanden die Katakomben
Marseilles. Die waren dann für gewöhnlich einfach nur auf
Konfrontation aus und machten Jagd auf die Obdachlosen. Und da
konnte so ein Fluchtweg sehr wichtig sein.
Ich hatte keine Ahnung, wo François jetzt war.
Zusammen mit Tourbe-Jean, einem anderen Bewohner dieser
Untergrund-Stadt, war er aufgebrochen, um einen Mann zu finden, den
hier alle den Roi-des-Tunnels, den Tunnel-König, nannten und der
uns möglicherweise wichtige Informationen liefern konnte. Ich
hoffte nur, dass François und Tourbe-Jean der Mörder-Bande nicht
geradewegs in die Arme gelaufen waren.
Ich erreichte das Ende des röhrenförmigen Abflusses. Er
mündete in einen großen Kanal. Ich stand bis zu den Knien im
schlammigem Wasser. Aus der Dunkelheit heraus kam ein
heimtückischer Schlag. Ich sah ihn erst im letzten Moment,
versuchte noch auszuweichen, aber es war zu spät. Ein Gewehrkolben
erwischte mich in der Seite. Hart kam ich gegen die Betonwand.
Während der Lichtkegel meiner Taschenlampe herumwirbelte, sah ich
schlaglichtartig ein halbes Dutzend Waffenmündungen, die direkt auf
mich zeigten.
Und die maskierten Gesichter …
Mit den Nachtsichtgeräten wirkten sie wie Aliens.
Ritsch! Ratsch!
Jemand hatte eine Pumpgun durchgeladen und rammte mir die
Mündung in den Bauch.
»Wenn du auch nur zu atmen wagst, du Bastard, bist du nur noch
‘n blutiger Fleck an der Wand!«, zischte mir einer entgegen. Seine
Stimme war leise und sehr heiser. Er kicherte und fuhr fort: »DEN
Fluchtweg kannten wir auch.«
»Worauf wartest du?«, meinte ein anderer. »Mach das Schwein
alle!«
2
Einige Wochen waren François und ich schon im
Undercover-Einsatz bei den Obdachlosen. Es dauerte eine Weile, bis
man das Vertrauen dieser Leute gewinnen konnte. Sobald einer von
ihnen auch nur ahnte, dass wir bei der FoPoCri waren, hätten wir
keinen von ihnen je wiedergesehen. Sie misstrauten jedem, auch
denen, die ihnen helfen wollten. Und ihre Erfahrungen mit
Polizisten und Behörden waren nicht gerade so, dass sie jedem
Polizisten oder Sozialarbeiter gleich ihr Herz ausschütteten. Das
Problem der Obdachlosen war erst in letzter Zeit etwas stärker ins
Bewusstsein der Behörden gerückt.
Wir von der FoPoCri kümmerten uns um die Obdachlosen, seit
eine mysteriöse Mordserie unter diesen Menschen die
Mordkommissionen mehrerer Marseiller Polizeireviere zum Rotieren
gebracht hatte.
Das Leben für sie war außerordentlich hart. Neben der Kälte im
Winter sowie unbehandelten und daher meist tödlichen
Infektionskrankheiten forderten auch immer wieder gewaltsame
Auseinandersetzungen ihre Opfer.
Aber das, womit wir uns hier auseinanderzusetzen hatten, ging
weit über alles hinaus, was bisher bekanntgeworden war. Dutzende
von Obdachlosen waren im Verlauf von Monaten zunächst verschwunden
und später tot aufgefunden worden. Das Besondere war, dass
irgendjemand ihnen alle lebenswichtigen Organe entnommen hatte. Den
meisten fehlten die Nieren, die Leber, das Herz. Bei manchen auch
die Hornhaut der Augen. Die Obduktionen hatten ergeben, dass die
Toten nach allen Regeln der Kunst anästhesiert und operiert worden
waren. Aus ihrer Betäubung hatte es für die Opfer kein Erwachen
mehr gegeben.
Todesursache: Das Fehlen lebenswichtiger Organe.
Andere waren mit Genickschüssen getötet worden, bevor man
ihren Leichen einige Organe entnommen hatte.
Die Umstände dieser Morde ließen eigentlich nur einen einzigen
Schluss zu. Wer immer auch hier unten auf Menschenjagd ging – die
Mörder hatten es auf die Organe abgesehen. Und die Vorgehensweise
richtete sich offenbar jeweils danach, welches Organ benötigt wurde
und ob es möglich war, die Transplantation auch noch einige Zeit
nach dem Ableben durchzuführen oder nicht.
Es war grauenvoll, was diese Unbekannten mit den Obdachlosen
taten. Die Mörder schienen zu glauben, dass der Tod eines dieser
Obdachlosen an der Oberfläche niemanden interessierte. Auch die
Polizei nicht.
Aber da hatten sie ihre Rechnung ohne die Polizei
gemacht!
Illegaler Handel mit menschlichen Organen zur Transplantation
war längst ein eigenständiger Zweig des organisierten Verbrechens,
genauso profitabel wie der Drogenhandel oder die
Schutzgelderpressung. Manche dieser Organe stammten von
chinesischen Todeskandidaten, deren Hinrichtungstermine in
eigenartigem Zusammenhang mit den Operationstagen gewisser
Privatkliniken standen. Anderes Material, wie die Händler das
nannten, wurde Verzweifelten in der Dritten Welt für ein paar
Dollar oder Euros abgekauft. Und es schien offenbar in diesem
dreckigen Gewerbe auch Leute zu geben, die in den Obdachlosen
nichts weiter als ein menschliches Ersatzteillager sahen.
Gerüchte über diese grausamen Jäger kursierten in den
Katakomben. Aber keiner, der ihnen begegnet war, hatte das
überlebt.
Wochenlang hatten wir uns auf die Lauer gelegt. Wir waren
dabei auf uns allein gestellt gewesen. Eine groß angelegte Aktion
hätte nichts bewirkt. Die Täter hätten sich einfach zurückgezogen –
und die möglichen Opfer auch.
Ein risikoreicher Einsatz.
Und jetzt stand ich einigen Männern gegenüber, die mit hoher
Wahrscheinlichkeit an diesen bestialischen Menschenjagden beteiligt
waren. Und wie es schien, würde es mir nicht sehr viel besser
ergehen als all denen, die zuvor schon ihre Wege gekreuzt
hatten.
Ich überlegte fieberhaft.
Sinnlos, jetzt die Pistole aus dem Parka herauszureißen.
Mit Glück hätte ich einen oder zwei der Maskierten ausschalten
können. Spätestens dann wäre ich von einer Bleigarbe so durchsiebt
worden, dass es den Kollegen der Gerichtsmedizin später
schwergefallen wäre, mich zu identifizieren.
Sie packten mich, drückten mich gegen Beton. Ihre Hände
wanderten durch meine Taschen. Sie nahmen die P 226, meine
Taschenlampe und was ich sonst noch so an Kleinigkeiten in den
Taschen hatte.
»Hey, ist er nun ein Bulle oder nicht?«, krächzte der
Heisere.
Diese Stimme …
Ich schwor mir, sie nicht zu vergessen.
Jemand versetzte mir einen furchtbaren Fausthieb, der mich
ächzen ließ. Ich bekam einen Augenblick keine Luft mehr. Einer der
Kerle packte mich. Ich wurde zu Boden geschleudert und fiel in die
stinkende Brühe.
»Hey, immer vorsichtig!«, zischte der Heisere. »Wenn wir ihn
töten, dann machen wir das auf die saubere Weise. So dass nichts
beschädigt wird, was man noch verwenden kann.«
»Er hat nichts bei sich«, meldete sich der andere.
»Kein Ausweis, kein Führerschein.«
»Genau wie die beiden, die wir an dem Lagerfeuer erledigt
haben.«
»Könnte sein, dass uns da jemand zum Narren halten
wollte.«
»Die Pistole ist jedenfalls eine Polizei-Waffe!«
»Die kann jeder im Laden kaufen!«
Der Heisere trat auf mich zu. Er leuchtete mir mit meiner
eigenen Taschenlampe direkt ins Gesicht, so dass ich völlig
geblendet war.
»Wer bist du?«, zischte er.
»Ich heiße Bernie«, log ich.
»Wie lange lebst du schon hier unten bei den Ratten?«
»Ein halbes Jahr.«
Der Schlag kam ohne Vorwarnung und traf mich mitten im
Gesicht. Das Blut schoss mir aus der Nase, während ich zu Boden
ging.
»Du bist ein gottverdammter Lügner«, knurrte es mir entgegen.
Ich erhob mich wieder. Mein Parka war tropfnass von dem
schlammigen Abwasser.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte ich.
Wieder strahlte mich eine Lampe an.
»Er ist der Richtige«, stellte der Heisere dann fest.
»Marquanteur von den Bullen. Der Drei-Tage-Bart täuscht
etwas.«
Diese Männer waren von Anfang an davon ausgegangen, einen
Polizisten zu fangen, und ich zermarterte mir das Hirn darüber, wie
sie überhaupt auf diesen Gedanken kommen konnten. François und ich
waren bei dieser Undercover-Mission extrem vorsichtig
gewesen.
Die Tatsache, dass sie sogar meinen Namen wussten, machte mich
völlig perplex.
In was für eine verdammte Todesfalle war ich hier nur
hineingeraten?
Und wer hatte sie aufgestellt?
Einer der Kerle setzte mir den Lauf einer MP an den
Kopf.
»Wo ist dein Partner, du Ratte?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Ich dachte, du wärst vernünftig, du Flic!«
»Ihr werdet mich doch so oder so umbringen. Ganz gleich, was
ich sage.«
»Man kann auf sehr unterschiedliche Weise sterben.«
3
François hielt die P 226 in beiden Händen, während er durch
das kniehohe Wasser watete. Es stank erbärmlich. Die Abwasserkanäle
Marseilles waren nichts für Menschen mit empfindlichen
Sinnen.
François Leroc hörte die Stimmen in dem dunkle Betongewölbe
widerhallen. Im Schein einer Taschenlampe sah er für den Bruchteil
eines Augenblicks das Gesicht seines Kollegen Pierre
Marquanteur.
Vorsichtig schlich François voran.
Seine eigene Lampe musste er ausgeschaltet lassen, um nicht
sofort eine Zielscheibe abzugeben. Das bedeutete, dass er fast wie
ein Blinder agierte.
François hatte die Schüsse gehört. Natürlich kannte er den
Fluchtweg in die Kanäle, und inzwischen wusste er auch gut genug
hier unten Bescheid, um über Schleichwege möglichst schnell dorthin
zu gelangen, wo er mich höchstwahrscheinlich treffen würde.
Unglücklicherweise kannten sich die Maskierten hier unten
mindestens ebenso gut aus.
François hörte die Stimmen der Unbekannten.
Die Lichtkegel mehrerer Taschenlampen waren zu sehen.
Ganz ohne Licht funktionierten auch Nachtsichtgeräte nicht.
Und hier unten herrschte ansonsten das, was man als absolute
Finsternis bezeichnen konnte.
François arbeitete sich vorsichtig weiter voran. Er konnte im
Augenblick nichts tun, das war ihm klar. Es wäre reiner Selbstmord
gewesen, jetzt einzugreifen.
Er musste auf seine Chance warten.
Vorsichtig pirschte er sich näher.
Ein dumpfes Geräusch drang herüber. Und ein unterdrücktes
Stöhnen.
»Lassen wir das Theater«, knurrte einer der Männer. »Machen
wir den Kerl kalt, ob er nun ein Bulle ist oder nicht!«
»Genickschuss?«
»Ja, aber halt die Waffe gerade, sonst gibt es wieder ‘ne
Sauerei, und wir bekommen nichts mehr für die Netzhäute seiner
Augen.«
François packte die P 226 mit beiden Händen.
Er war zu allem entschlossen.
Sekunden blieben ihm …
Und dann hallte seine heisere Stimme durch das
Kanalgewölbe.
»Hier spricht die FoPoCri! Sie sind umstellt! Waffen fallen
lassen!«
4
Durch den Halleffekt klang François‘ Stimme sehr verfremdet.
Ich erkannte sie dennoch sofort wieder. François klang so gewaltig,
als hätte er durch ein Megafon gesprochen.
Die Lichtkegel der Maskierten wanderten suchend an den
Betonwänden entlang. Einen Augenblick lang herrschte komplette
Verwirrung. Und zweifellos war das François‘ Absicht gewesen.
Zwei Kerle hielten mich an den Armen. Ich befreite den linken
Arm mit einem Ruck und ließ die Faust zur Seite schnellen. Sie
landete einen Sekundenbruchteil später mitten in einem Gesicht. Ich
hörte den schmerzerfüllten Aufschrei, während ich gleichzeitig mit
dem zweiten Bewacher niederstürzte. Ich versetzte ihm dabei einen
schnellen Hieb.
Wir fielen zusammen in die schlammige, stinkende Brühe.
Über uns hinweg pfiffen die Kugeln durch die Dunkelheit. Immer
wieder blitzte es auf. Die Maskierten waren von Panik erfüllt. Sie
schossen wild umher. Irgendwo in der Ferne, von der anderen Seite
des Kanals her, blitzte eine einzelne Waffe mehrfach auf. Eine
schwache Antwort auf die gebündelte Feuerkraft der Maskierten. Aber
immerhin reichte es, um sie durcheinanderzubringen. Und außerdem
wurden sie so dazu gezwungen, sich in Deckung zu begeben.
Mein Gegner und ich stürzten in die schlammige Brühe und
wälzten uns darin. Ich versuchte, ihm die Waffe zu entreißen – eine
kurzläufige Maschinenpistole. Er trug sie an einem Riemen um die
Schulter. Seine Rechte hielt den Griff umklammert.
Er war stark. Er packte mich am Hals, hielt mich unter Wasser,
bis ich glaubte, nicht mehr atmen zu können. Dann gelang es mir,
mich aus seiner Umklammerung zu befreien. Ich drückte ihn zur
Seite, schnellte empor und vollführte einen Hechtsprung, der mich
wieder im Wasser landen ließ. Mein Bewacher riss die Waffe hoch,
richtete sie dorthin, wo ich im dunklen Wasser untergetaucht
war.
Er drückte ab.
Eigentlich hätte im nächsten Moment eine ganze Bleisalve in
das Wasser über mir einschlagen müssen. Aber das geschah nicht. Die
MP blockierte. Vielleicht, weil zu viel Wasser eingedrungen war.
Dann erwischte es den Kerl an der Schulter. Er schrie auf, taumelte
zurück.
Ich blieb unter Wasser, bewegte mich kriechend vorwärts.
Das Wasser wurde jetzt tiefer. Für mich bedeutete das
zusätzlichen Schutz. Kurz tauchte ich an die Oberfläche. Die
Schüsse blitzten noch immer durch den Kanaltunnel. Die Situation
war verworren. An mehreren Stellen zuckten die Mündungsfeuer
blutrot aus den Läufen heraus. Ich tauchte erneut und als ich dann
wieder an die Oberfläche kam, war es stockdunkel. Selbst die Hand
vor Augen war nicht zu sehen.
Kein Lichtkegel irgendeiner Lampe mehr. Nicht einmal die
Kontrollleuchte einer Digitaluhr.
Ich lauschte.
Das Wasser plätscherte.
Aber ansonsten war sekundenlang nichts zu hören. Kein Schritt,
kein Laut, kein Atmen.
Ich bewegte mich vorsichtig weiter. Wenn die Maskierten sich
noch hier im Tunnel befanden, dann waren sie genau so blind wie
ich. Denn ihre Nachtsichtgeräte funktionierten wie die Augen einer
Katze. Das Restlicht wird gebündelt. Aber hier gab es kein
Restlicht.
Wie blind ging ich weiter. Irgendwann würde ich die Betonwand
erreichen, und an der konnte ich mich dann orientieren. Das Wasser
reichte mir nur noch bis zu den Knien. Das bedeutete, dass es bald
soweit war. Die Vertiefung in der Mitte des Kanals hatte ich hinter
mir.
Ich erreichte die Wand. Meine Hände glitten über den kalten,
glitschigen Beton.
Ein Geräusch ließ mich erstarren.
Ratsch!
Ein Laut, so als ob jemand ein Magazin in eine Waffe
hineinschob.
Ich hielt den Atem an. In absoluter Dunkelheit kann man selbst
auf eine Distanz von wenigen Metern seine Orientierung verlieren,
wenn man nicht als Blinder daran gewöhnt ist, nichts zu sehen. Ich
hatte geglaubt, mich von den Maskierten wegbewegt zu haben.
Dorthin, wo ich François vermutete.
Aber es war auch möglich, dass ich mich irrte.
Ich hielt inne, rührte mich nicht.
Meine Taschenlampe funktionierte vermutlich nicht mehr, weil
sie zu feucht geworden war. Und selbst wenn doch, dann hätten mich
vermutlich eine Sekunde nach dem Aufleuchten ihres Lichtkegels ein
Dutzend Projektile zersiebt.
Ich wusste nicht, ob François überhaupt noch lebte. Und es gab
auch keine Möglichkeit, das zu erfahren. Keine Möglichkeit, ohne
ihn dabei in Gefahr zu bringen. Denn wenn ich einfach seinen Namen
rief, konnte das bedeuten, dass die Jagd auf ihn eröffnet wurde.
Und nebenbei hatten die Maskierten dann auch einen akustischen
Anhaltspunkt, wo ich mich befand.
Toter Mann spielen, durchfuhr es mich. Das war im Moment
alles, was ich tun konnte.
François schien das genauso zu sehen.
Und unsere Gegner ebenso.
Wer sich als Erster bewegte, einen Laut von sich gab oder für
Licht sorgte, war geliefert.
Jemand bewegte sich auf mich zu. Ich hörte ganz leise die
Bewegungen. Der andere orientierte sich genau wie ich an der
Betonwand. Sehr vorsichtig schritt er durch das knietiefe Wasser.
Ich spürte die kleinen Wellen, die das verursachte. Der andere
hatte sich bis auf wenige Meter genähert.
In meinem Hirn arbeitete es fieberhaft.
Die meisten Menschen sind Rechtshänder. Also nahm ich das auch
von meinem Gegenüber an. Wenn der Kerl mich erreichte, musste ich
seinen Waffenarm zu fassen kriegen – und zwar sehr schnell. Sonst
war es vorbei. Ich verhielt mich absolut ruhig. Die Wellen, die
gegen meine Knie schlugen, wurden heftiger.
Ich hörte ein Atmen.
Und dann schnellte ich vor.
Ich spürte eine menschliche Gestalt, etwa ebenso groß wie ich
selbst. Ich drückte mein Gegenüber gegen die Wand und bekam
tatsächlich den rechten Arm zu fassen. Ich bog ihn zur Seite. Grell
blitzte es auf, als sich ein Schuss löste.
Eine Sekunde später brach die Hölle los.
Aus mindestens einem Dutzend Rohren wurde geschossen.
Mündungsfeuer zuckten gelbrot aus den Mündungen heraus. Der Mann,
mit dem ich gerungen hatte, duckte sich, genau wie ich selbst. Und
mir war plötzlich klar, wen ich vor mir hatte.
»Runter, Pierre!«, brüllte François.
Er feuerte nicht. Stattdessen schob er mich vor sich her, die
glitschige Wand entlang.
Unsere Gegner ballerten einfach drauflos, in der Hoffnung,
dass irgendeine ihrer zahlreichen Kugeln uns schon erwischen würde.
Sie waren zwar in der Überzahl und hatten eine überlegene
Ausrüstung. Trotzdem hatten sie Angst. Sie wussten nicht, mit wie
vielen Gegnern sie es zu tun hatten. Und diese Ungewissheit war
unser Verbündeter.
François hatte die Maskierten erfolgreich geblufft. Blieb nur
die Frage, wann ihnen das auffiel.
Wir pressten uns in eine Nische hinein. Auf der anderen Seite
wurde das Feuer eingestellt. Hier und da waren Stimmen zu hören.
Ärgerliche Stimmen. Taschenlampen wurden eingeschaltet. Die
Lichtkegel suchten die Kanalwände systematisch ab. Wir verhielten
uns ruhig, atmeten kaum.
»Noch ein paar Meter, Pierre«, flüsterte François. »Da muss
ein Aufgang sein.«
Die Stimmen der Maskierten wurden lauter. Ihre Angst war
gewichen.
Wir bewegten uns vorsichtig weiter.
Ein Lichtkegel erfasste uns. Für den Bruchteil einer Sekunde
waren wir deutlich zu sehen. Eine Maschinenpistole knatterte los,
eine zweite folgte kurz darauf. Die Kugeln schlugen rechts und
links von uns in den Beton, rissen kleine Löcher hinein und brachen
hier und da ein ganzes Stück aus dem Mauerwerk.
Geduckt und halb im Schlammwasser kriechend schnellten wir
voran. François schoss ein paar Mal in Richtung der Lichter. Dann
erreichte ich eine rostige Metallsprosse und umfasste sie.
Darüber waren weitere Sprossen, an denen man hinaufsteigen
konnte.
»Hier ist es!«, rief ich heiser.
»Los, rauf, Pierre!«, erwiderte François und feuerte.
Ich zählte in Gedanken immer mit. Sein Magazin musste bald
leer sein.
Ich kletterte hinauf, François folgte mir und schoss dabei. Um
Haaresbreite verfehlten uns die Kugeln. Immer höher ging es hinauf,
bis wir in einen röhrenartigen Aufgang gelangt, der von dem großen
Kanal, den wir gerade verlassen hatten, senkrecht nach oben
abzweigte.
Das rostige Metall schnitt in die Hände. Die Luft war
stickig.
Ich blickte hinauf und sah …
… Licht!
Nur ein paar kleine Punkte. Ich zögerte.
»Weiter!«, drängte François.
»Hast du eine Ahnung, wo wir da rauskommen?«
»Ich weiß, wo wir herkommen«, erwiderte François.
Augenblicke später hob ich einen schweren Gullydeckel aus
Beton zur Seite, in dem sich kleine Abflusslöcher befanden.
Wir kletterten an die Oberfläche und befanden uns an dem
unterirdischen U-Bahnhof St. Pierre, wie die Anzeigen verrieten.
Hunderte von Passanten drängte sich auf dem Bahnsteig, zwängten
sich in die Triebwagen oder strebten aus den Zügen heraus.
Nachdem François auch herausgestiegen war, schloss ich den
Gully wieder.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich über diesen
Anblick freue«, meinte François.
»Das da unten war ganz schön knapp«, sagte ich. »Die wollten
mich umbringen. Du hast mir in letzter Sekunde das Leben gerettet.
Armand und Cédric hatten leider nicht so viel Glück.«
»Was ist mit ihnen?«
»Die Maskierten haben sie einfach über den Haufen
geschossen.«
»Verdammt!« François ballte unwillkürlich die Hände zu
Fäusten. »Die beiden waren vielleicht – gemessen an der großen
Masse der Marseiller – so etwas wie abgedrehte Freaks, aber sie
waren auch nette Kerle. Ich will, das wir diejenigen zur
Rechenschaft ziehen, die so etwas tun. Die in den Menschen da unten
nichts anderes als Tiere sehen. Ein Ersatzteillager für menschliche
Organe bestenfalls.«
Ich nickte.
»Das werden wir«, sagte ich.
Wir sahen uns kurz an. Wir wussten beide, dass das nicht
einfach so dahingesagt war. Es war ein Versprechen.
»He, verschwindet hier!«, fuhr uns ein breitschultriger
Beamter der Polizei an, der zusammen mit einem Kollegen gerade hier
unten auf Streife war. »Wollt ihr die Fahrgäste erschrecken?«
François und ich sahen wirklich nicht besonders gut aus.
Unsere Sachen waren ohnehin abgetragen. Jetzt troffen sie von
stinkendem Abwasser. Meine Haare klebten mir im Kopf, und ich
starrte vor Dreck.
»Ich bin Pierre Marquanteur, FoPoCri. Dies ist mein Kollege
Leroc«, sagte ich meinen Spruch auf und wollte schon reflexartig
unter meinen Parka greifen, als mir einfiel, dass ich meinen
Dienstausweis ja ausnahmsweise mal nicht dabei hatte.
Die beiden Beamten waren sehr nervös.
Sie griffen zu den Dienstpistolen. Nur eine Sekunde später
blickten François und ich in die blanken Mündungen ihrer
SIGs.
»Schön ruhig ihr beiden, ja?«, meinte der
Breitschultrige.
Sein Kollege war etwas schmächtiger und mindestens zehn Jahre
jünger. Er musste noch ziemlich neu bei der Polizei sein.
Jedenfalls wirkte er sehr nervös.
»Hören Sie, das ist ein Missverständnis«, sagte ich. »Bitte
benachrichtigen Sie umgehend das Polizeipräsidium Marseille. Eine
Etage unter uns befindet sich eine Meute gefährlicher und
schwerbewaffneter Mörder. Das Gebiet muss weiträumig abgeriegelt
werden und …«
»Zeigen Sie erst mal Ihren Ausweis!«, zischte der Dürre.
»Haben wir im Moment nicht dabei«, erwiderte ich
kleinlaut.
Die folgende Prozedur konnte ich mir gut genug ausmalen, um zu
wissen, wie zeitraubend das Ganze werden würde. Bis dahin waren die
Maskierten längst verschwunden. Es blieb ein schwacher Trost, dass
sie uns bis hierher nicht verfolgen konnten, geschweige denn an
einem belebten U-Bahnhof über den Haufen schießen. Die
Polizeibewachung, die wir jetzt genossen, trug dazu natürlich ein
Übriges bei.
»An die Wand stellen, Beine auseinander.«
»Sprechen Sie mit Monsieur Marteau, dem Chef unserer
Abteilung«, meinte ich. »Sie gefährden eine
Undercover-Mission.«
»Ja, und der letzte Freak, der hier den Bahnhof unsicher
machte, war Napoleon oder Jesus Christus.«
Es war nichts zu machen.
François und ich waren so überzeugend in unseren
Undercover-Rollen, dass die beiden Polizisten uns für Obdachlose
hielten. Und als einer der beiden wenig später noch die SIG Sauer P
226 aus François‘ Kleidern herausholte, war die Sache sowieso
gelaufen.
5
Es war später Nachmittag, als François und ich im Büro unseres
Chefs saßen. Natürlich hatten wir uns in der Zwischenzeit geduscht
und umgezogen. Monsieur Jean-Claude Marteau, unser Chef setzte sich
uns gegenüber. Auf dem Tisch dampfte der vorzügliche Kaffee seiner
Sekretärin Melanie. Ein Kaffee, der im gesamten Präsidium berühmt
war und einfach seinesgleichen suchte.
Während wir hier saßen, befanden sich unsere Kollegen Caron
und Ndonga mit mehreren Dutzend weiterer Beamten der FoPoCri,
Polizei und des Erkennungsdienstes im Einsatz.
Natürlich fahndeten sie nach den Maskierten – ohne dass wir
uns in der Hinsicht viel Hoffnung machten. Aber sie suchten auch
dort nach Spuren, wo diese Unbekannten Armand und Cédric einfach
niedergeschossen hatten.
Die beiden hatten schließlich das Recht darauf, dass man ihren
Mord genauso akribisch untersuchte wie den eines reichen Managers.
Auch wenn Armand und Cédric davon jetzt nicht mehr allzu viel
hatten.
Wir hatten am Tatort nichts zu suchen. Schließlich gab es da
immer noch die Legende, die wir uns aufgebaut hatten. Es gab da
unter den Obdachlosen Leute, die uns einigermaßen vertrauten, weil
sie uns eben nicht für Polizisten hielten. Und das durften wir
nicht aufs Spiel setzen. Also mussten andere jetzt da unten an die
Arbeit. Obwohl sich nun die Frage stellte, wie löchrig unsere
Legende war. Trotz all der Vorsichtsmaßnahmen, die wir getroffen
hatten.
Monsieur Marteau hörte sich unseren Bericht an. Seine Stirn
zog sich in Falten.
»Diese Leute wussten, dass Sie ein Criminal-Commissaire sind,
Pierre?«
»Sie vermuteten es. Da ich keinen Ausweis bei mir hatte, waren
sie sich nicht hundertprozentig sicher. Aber wenn ich zwei und zwei
zusammenzähle, dann war es der Sinn ihrer Aktion, François und mich
auszuschalten.«
»Woher hätten sie wissen können, dass die FoPoCri unter den
Obdachlosen mit verdeckten Ermittlern arbeitet?«
»Eine gute Frage, Monsieur Marteau. Tatsache ist aber, dass
sie es gewusst haben.«
Monsieur Marteau fragte: »Ist es möglich, dass die Leute, mit
denen Sie beide Kontakt hatten, vielleicht doch etwas
herausgefunden haben?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Halte ich für ausgeschlossen.«
»Pierre, diese Obdachlosen sind sehr misstrauisch. Die dürften
eine Art sechsten Sinn entwickelt haben, um offizielle Vertreter zu
erkennen. Vielleicht auf Grund der Fragen, die Sie und François
gestellt haben.«
Ich zuckte die Achseln, lehnte mich im Sessel zurück.
»Wir sind wirklich verdammt vorsichtig gewesen«, murmelte
ich.
»Es macht Ihnen auch niemand einen Vorwurf, Pierre.«
»Ich mache mir selbst einen«, erklärte ich. »Armand und Cédric
sind tot. Sie starben, weil die Mörder es auf François und mich
abgesehen hatten. So sehe ich das. Dass die beiden Obdachlosen ums
Leben kamen, das war für diese Leute einfach nur eine
Begleiterscheinung. Nicht der Rede wert … So denken die!«
Monsieur Marteau nickte mit ernstem Gesicht.
»Trotzdem! Denken Sie an die Möglichkeit, dass die beiden Sie
verraten haben! Vielleicht haben sie auch nur einen Verdacht
geäußert. Pierre, Sie haben mir selbst gesagt, wie schnell
Neuigkeiten da unten die Runde machen.«
»Ich denke die ganze Zeit über nichts anderes nach, als wie
das passieren konnte«, sagte ich. »Und natürlich auch darüber, wo
wir uns vielleicht eine Blöße gegeben haben – aber ich finde
nichts!«
»Glauben Sie, dass es wirklich Sinn hat, wenn Sie noch mal da
hinuntergehen – zu den Obdachlosen?«
»Natürlich! Unsere Mission war noch nicht beendet!«
Und François ergänzte: »Ich glaube, dass wir kurz vor einem
Erfolg gestanden haben.«
Monsieur Marteau hob die Augenbrauen. »Sie sprechen von diesem
Roi-des-Tunnels?«
François nickte.
»Ja.«
»Haben Sie eine Ahnung, um wen es sich da handelt?«
»Nein, aber Tourbe-Jean meint, dass diese Mörder dort unten
niemals operieren könnten, ohne dass der Roi-des-Tunnels davon
zumindest weiß. Tourbe-Jean meint sogar, dass er mit den Mördern
zusammenarbeitet.«
»Dieser Tourbe-Jean sollte Sie doch mit dem Tunnel-König
zusammenbringen«, sagte Monsieur Marteau.
François zuckte die Achseln und nahm einen Schluck Kaffee.
»Der Roi-des-Tunnels hat uns leider versetzt. Auf dem Rückweg
zum Lager hörte ich dann die Schüsse.«
»Wo war dieser Tourbe-Jean, als Sie versucht haben, Pierres
Leben zu retten?«
»Plötzlich verschwunden.«
»Könnte er der Verräter sein, François?«
François wirkte sehr nachdenklich. Dann schüttelte er
energisch den Kopf.
»Ich traue diesem Kerl alles Mögliche zu – nur wüsste ich
einfach nicht, wie er an diese Information gelangt sein
sollte.«
Monsieur Marteaus Blick wanderte zwischen mir und François hin
und her.
»Sie wissen, dass es lebensgefährlich ist, wenn Sie noch
einmal dort hinuntergehen.«
»Wir passen schon auf uns auf«, versprach ich.
»Ich gebe nur sehr ungern meine Zustimmung dazu. Schließlich
bin ich dafür verantwortlich, dass meine Beamten nur den Risiken
ausgesetzt werden, die nicht zu umgehen sind. Andererseits …«
»… ist dieser Roi-des-Tunnels eine der wenigen Spuren, die es
in dem Fall gibt«, vollendete ich.
»Ja.«
»Also haben wir Ihr Okay!«
Monsieur Marteau nickte. »Das haben Sie.«
Wir erhoben uns, tranken unsere Kaffeebecher leer und wandten
uns in Richtung Tür. Wir hatten die schlichte Sitzecke gerade
hinter uns gelassen, da fiel mein Blick auf Monsieur Marteaus
Schreibtisch. Mehrere Telefone gab es dort. Aber mein Blick wurde
durch etwas anderes gefesselt. Ein Blatt Papier, das mit Buchstaben
vollgeklebt war, die jemand aus einer Zeitschrift herausgeschnitten
hatte.
Monsieur Marteau bemerkte meinen Blick. Er ging zum
Schreibtisch und drehte das Blatt zu mir herum.
»Dann brauchen Sie nicht auf dem Kopf zu lesen, Pierre.«
JEAN-CLAUDE MARTEAU, DU RATTE!, stand dort. BALD BIST DU
TOT!
»Wissen Sie, wer dahintersteckt?«, fragte François
besorgt.
Monsieur Marteau machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Wir wissen nur, dass es sich um einen Leser des Marseiller
Abendblatts handelt. Daraus sind nämlich die Buchstaben, wie unsere
Innendienstler meinen. Fingerabdrücke gibt es leider nicht. Und es
ist leider nicht der erste Brief dieser Art, den ich
erhalte.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Scheint, als hätte ich in letzter Zeit einiges nicht
mitgekriegt.«
»Sie waren selten hier, Pierre.« Monsieur Marteaus Lächeln
wirkte etwas gezwungen. Er versuchte, die Sache mit dem Brief an
sich abprallen zu lassen, aber das gelang ihm nicht völlig.
Ich kannte ihn einfach zu gut, als dass er mir etwas vormachen
konnte. Monsieur Marteau nahm die Sache sehr ernst. Und wenn sich
Monsieur Marteau über etwas Sorgen machte, dann war das nicht die
Lappalie, als die er es darzustellen versuchte. »Kein Grund sich
aufzuregen«, meinte Monsieur Marteau leichthin. »Sie kennen das
doch! Jeder von uns, der mehr als drei Dienstjahre hat, hat doch
schon mal derartige Verehrer-Post von Leuten bekommen, denen er
irgendwann mal auf die Füße getreten ist.«
6
François und ich saßen wenig später in unserem Dienstzimmer,
das wir uns seit ewigen Zeiten teilten. Der Computerschirm
flimmerte, und wir stöberten etwas in den Datenbänken herum, die
uns über EDV-Verbund zur Verfügung standen.
»Wir müssen diesen Roi-des-Tunnels sprechen«, meinte François
plötzlich, »es führt kein Weg daran vorbei.«
»Warum hat er dich versetzt, François?«
»Er muss auf seine Weise ziemlich eingebildet sein,
Pierre.«
»Du meinst, er empfindet sich als eine Art Herr der Marseiller
Unterwelt … Trotzdem, Tourbe-Jean hat versprochen, dich zu ihm zu
führen.«
»Vielleicht wollte Tourbe-Jean sich einfach nur wichtig
machen«, meinte François.
»Wir knöpfen ihn uns morgen vor«, schlug ich vor.
Inzwischen kannten wir uns gut genug dort unten aus, um ihn
auftreiben zu können. Wir wussten, wen man fragen musste und wo
Tourbe-Jean für gewöhnlich unterkroch. Kein Mensch konnte allein
und auf sich gestellt da unten in den Kanälen überleben. Das hatten
wir schnell gelernt. Man war auf andere angewiesen. Und wer
niemanden hatte, für den war es schnell zu Ende.
Maxime Valois, einer unserer Innendienstler, schneite
herein.
»Gibt es schon was von den Ärzten und Krankenhäusern?«, fragte
ich. Schließlich war ich mir sicher, dass einer der Gangster eine
Schusswunde abbekommen hatte. Und selbst, wenn es nur ein
Streifschuss war, so musste sie ärztlich behandelt werden.
»Alle medizinischen Einrichtungen und Privat-Praxen der Stadt
sind unterrichtet und gewarnt«, sagte Valois. »Allerdings würde ich
mir in dieser Hinsicht kaum Hoffnungen machen, Pierre. Wenn es sich
wirklich um Leute handelt, die mit illegalen Organhändlern in
irgendeiner Weise zusammenarbeiten, könnte ich mir denken, dass die
genügend medizinische Kapazitäten haben, um eine Schusswunde
behandeln zu lassen.«
»Ja, das steht leider zu befürchten«, gab ich zu.
»Unsere Ermittlungen, was Krankenhäuser und Arzt-Praxen
angeht, die vielleicht dafür infrage kommen könnten, in den Fall
verwickelt zu sein, laufen natürlich weiter. Aber wir stehen da vor
einem riesigen Datenberg. Transplantationen waren mal was
Besonderes. Heute sind sie in manchen Bereichen schon so sehr
Routine wie vor dreißig Jahren eine Blinddarmoperation.«
»Mal was anderes, Maxime«, unterbrach ich Valois. »Der Chef
bekommt eigenartige Briefe.«
»Ja, ja.« Valois nickte. »Das geht schon eine ganze Weile so.
Täglich kommt etwas für ihn.«
»Schon irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Wir arbeiten dran. Und das Labor auch.« Valois zuckte die
Achseln. »Der Chef hat schon Schlimmeres durchgemacht. Ich
persönlich denke, es spricht einiges dafür, dass sich da nur jemand
sehr wichtig machen will.«
»Hoffentlich hast du recht«, sagte ich.
7
Der bärtige Mann mit den wachen blauen Augen saß am Feuer und
rieb sich die Hände. Sein Lager befand sich im toten Ende eines
stillgelegten U-Bahnhofs, irgendwo unter den tristen Straßen von
Marseille.
Die Betonwände waren mit Graffiti übersät. Aber inzwischen
interessierten sich nicht einmal mehr die Sprayer für diesen Ort.
Hier hielt kein Zug mehr. Sie brausten einfach vorbei und hielten
einen halben Kilometer weiter.
Manche der Fahrgäste erblickten dann für Sekunden den
Bärtigen, der in sich gekauert dasaß und leicht zitterte.
Er hatte Angst. Jeder Laut ließ ihn zusammenfahren.
Der Bärtige hatte ein paar fette Ratten aufgespießt und drehte
sie über dem Feuer. Ratten waren sehr nahrhaft und vor allem gab es
hier unten genug davon. Und der Bärtige wusste, wie man sie
fing.
Jede Viertelstunde raste ein Triebwagen der Metro am Lager des
Bärtigen vorbei. Der Luftzug, der dann entstand, ließ das Feuer
hoch auflodern.
Der Bärtige hörte Schritte. Er schreckte auf. Seine Augen
suchten nervös die Umgebung ab.
»Hey, Mann! Hier hast du dich also verkrochen, Tourbe-Jean«,
sagte eine sonore Stimme. Drei Gestalten traten aus dem Dunkel
heraus. Tourbe-Jean fragte sich, wo sie plötzlich herkamen.
Vermutlich hatten sie ihn schon länger beobachtet.
Die drei trugen Strickmützen, die bis zum Kinn hinuntergezogen
hatten. Für die Augen waren kleine Löcher hineingeschnitten worden.
Der Rest ihrer Sachen bestand aus abgetragener Straßenkleidung. Der
Mittlere der drei trug einen abgeschabten Wollmantel. In den Händen
hielt er eine Pumpgun. Mit einem harten Geräusch lud er das Gewehr
durch.
Tourbe-Jean erbleichte.
»Du hast dich ziemlich rar gemacht, Jean«, sagte der Kerl im
Mantel. »Der Roi-des-Tunnels ist ziemlich beunruhigt.«
»Hört mal, Leute, ich …«
Tourbe-Jean brach ab. Er wusste, dass jedes weitere Wort
verschwendet war.
»Du wirst zum Risiko, Tourbe-Jean.«
»Was soll das heißen?«
»Nimm‘s nicht persönlich! Aber wir haben vom Roi-des-Tunnels
einen klaren Auftrag.«
Der Mann mit dem Mantel hob die Pumpgun.
Jean wich ein Stück zurück. Er hatte beinahe die Gleise
erreicht, die etwa einen halben Meter tiefer lagen als der
ehemalige Bahnsteig. Jeans Hand riss etwas aus der Tasche seiner
fleckigen Jacke heraus. Es geschah blitzschnell. Etwas wirbelte
durch die Luft.
Ein Messer.
Der Kerl im Mantel ließ die Pumpgun loskrachen. Einen
Sekundenbruchteil später griff er sich an den Hals. Er taumelte
zurück, ließ die Pumpgun sinken. Eine Hand umfasste den
Messergriff, der aus seinem Hals herausragte. Blut schoss unter der
Strickmütze hervor. Der Mann im Mantel schlug der Länge nach
hin.
Die beiden anderen standen für einen Moment wie erstarrt da.
Damit hatten sie nicht gerechnet.
Tourbe-Jean machte einen Satz hinunter zu den Gleisen. Er
rannte.
Er rannte in den dunklen Tunnel hinein.
Einer der beiden Maskierten griff zur Pumpgun, hob sie auf und
lud sie durch. Dann feuerte er.
Die Kugel erwischte Tourbe-Jean mitten zwischen den
Schulterblättern. Er sank zu Boden und lag dann mitten über den
Gleisen.
»Wenn der Zug kommt, wird nicht viel von ihm übrig bleiben«,
stellte einer der beiden Männer fest.
8
Am nächsten Morgen saßen wir bei Monsieur Marteau im Büro.
Außer François und mir waren noch die Kollegen Stéphane Caron und
Boubou Ndonga anwesend. Maxime Valois, ein Innendienstler aus der
Fahndungsabteilung, kam etwas später, zusammen mit einem gewissen
Leon Pêcheur, den der Erkennungsdienst geschickt hatte.
Die Untersuchungen am Tatort hatten einige interessante
Neuigkeiten erbracht. Die Kollegen des Erkennungsdienstes hatten
reichlich Projektile eingesammelt, mit denen die unbekannten Mörder
ja sehr verschwenderisch gewesen waren. Außerdem gab es dann ja
auch noch die Kugeln, die Armand und Cédric getötet hatten.
»Eine der benutzten Waffen ist schon einmal aktenkundig
geworden«, erläuterte Leon Pêcheur. »Unsere ballistischen Tests
sind da ganz eindeutig.«
»Benutzt?«, hakte Monsieur Marteau nach. »Wann und wo?«
»Bei einer Schießerei in Pointe-Rouge vor zwei Jahren, als
dort ein Drogenkrieg zwischen verfeindeten Clans tobte«, erklärte
der Kollege Pêcheur. »Vor dem Kaufhaus am Boulevard des Dames haben
sich die Mörder-Armeen beider Seiten eine regelrechte Schlacht
geliefert. Wem die Waffe gehörte, konnte nie genauer bestimmt
werden. Aber da die betreffenden Kugeln in den Körpern einiger
Männer steckten, von denen wir wissen, dass sie zum Syndikat der
Tschetschenen gehörten, muss es sich um jemanden gehandelt haben,
der für die Gegenseite gemordet hat.«
»Da dürfte die Auswahl reichlich sein«, kommentierte unser
Kollege Ndonga etwas gallig und lockerte dabei seine Seidenkrawatte
ein Stück.
»Es gab damals Dutzende von Verhaftungen«, sagte Maxime
Valois. »Ich habe all diejenigen in einem Dossier zusammengestellt,
die in irgendeiner Weise mit der Schießerei in Zusammenhang
gebracht werden. Viele mussten wieder auf freien Fuß gesetzt
werden, einige sitzen noch im Gefängnis.«
»Soweit ich ich das in Erinnerung habe, wurden damals beide
Clans zerschlagen«, sagte Monsieur Marteau.
Valois zuckte die Schultern.
»Wäre ein Wunder, wenn sich die Überreste nicht inzwischen neu
gruppiert hätten und irgendwie wieder aktiv geworden wären.«
»Glauben Sie an eine Verbindung zwischen der Todesserie in den
Tunneln und dem Drogenmilieu?«, fragte ich an Valois gewandt.
Valois schüttelte den Kopf.
»Nein, das eigentlich nicht. Obwohl man es auf der anderen
Seite natürlich nicht ausschließen kann, schließlich sind die
Drogenbarone immer bestrebt, ihr schmutziges Geld in anderen
Branchen anzulegen.«
»Aber das sind doch üblicherweise möglichst legale Branchen,
damit aus dem Schmutzgeld blütenweiße Euros werden«, wandte Boubou
ein.
»Andererseits ist das Betreiben einer Transplantationsklinik
eine Branche, die sich ebenso für die Geldwäsche eignet wie zum
Beispiel das Glücksspiel«, wandte François Leroc ein.
»Wie auch immer«, ergriff Maxime Valois wieder das Wort. »Ich
glaube eher an eine andere Möglichkeit. Und die besteht einfach
darin, dass die Mörder von damals sich einen neuen Arbeitgeber
gesucht haben, sofern sie durch die Maschen der Justiz schlüpfen
konnten.« Valois legte sein Dossier auf den Tisch. Er wandte sich
an unseren Chef. »Ich schlage vor, dass wir uns jeden einzelnen
dieser Leute noch einmal vorknöpfen, gleichgültig, ob sie nun in
der JVA sitzen oder sonst wo zu finden sind. Vielleicht bekommen
wir so entscheidende Hinweise auf die Drahtzieher im
Hintergrund.«
»Oder der Roi-des-Tunnels sagt uns, was er weiß«, meinte
ich.
»Vorausgesetzt, er will mit Ihnen sprechen, Pierre«, gab
Monsieur Marteau zu bedenken.
»Wer da unten über längere Zeit lebt, ist wohl zwangsläufig
nicht sehr kommunikativ«, erwiderte ich.
»Ach, Pierre«, wandte sich jetzt der Kollege Valois in meine
Richtung. »Ich habe vielleicht etwas über den Mann, der sich dir
gegenüber Tourbe-Jean nannte.« Ich hob die Augenbrauen. Valois
holte aus einem Aktenkoffer eine Mappe hervor, die mit
Computerausdrucken gefüllt war. Er öffnete sie. Ich blickte auf ein
Foto, das ein bärtiges Gesicht zeigte.
»Ist er das, Pierre?«
Ich nickte. »Ja.«
»Er heißt Joseph Dormier, wurde in Amiens geboren und mit
Mitte dreißig in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Er litt
unter Verfolgungswahn. Vor fünf Jahren brach er aus einem
Sanatorium in Marseille aus. Seitdem fehlt jede Spur von ihm.« Ich
nahm das Dossier an mich, warf einen Blick hinein. »Ich will dir
damit nur sagen, dass dieser Roi-des-Tunnels vielleicht nur die
Fantasie eines seelisch Kranken ist«, fuhr Valois indessen
fort.
Ich mochte an diese Möglichkeit einfach nicht glauben.
Schließlich war Tourbe-Jean nicht der einzige, der vom
Roi-des-Tunnels erzählt hatte. Andererseits konnte es natürlich gut
sein, dass auch diese Berichte nur auf dem basierten, was Jean in
den Jahren, die er bereits bei den Obdachlosen lebte, an
Geschichten ausgestreut hatte. Geschichten, die sich längst
verselbständigt hatten.
Ich hatte keine Gelegenheit, länger darüber nachzudenken. In
diesem Augenblick kam Melanie, die Sekretärin unseres Chefs, in den
Raum. Auf dem Tablett standen dampfende Kaffeebecher, daneben lagen
einige geöffnete Kuverts. Die Post für Monsieur Marteau. Zweifellos
hatte sich erst unsere Sicherheitsabteilung damit beschäftigt, um
zu verhindern, dass Monsieur Marteau zusammen mit einem dieser
Hassbriefe eines Tages auch eine Ladung Sprengstoff auf den
Schreibtisch bekam.
»Diesmal war nichts dabei, Monsieur Marteau«, sagte Melanie
mit sichtlicher Erleichterung. Sie brauchte das nicht näher zu
erläutern. Jedem im Raum war klar, wovon sie sprach.
Monsieur Marteau war das Schweigen, das sich plötzlich im Raum
ausgebreitet hatte, offenbar unangenehm.
»Was ist los?«, fragte er. »Unsere Aufgabe ist es, die
Schwachen zu schützen – und dabei machen wir uns eben nicht nur
Freunde.«
9
Es war Nachmittag. Tourbe-Jean konnten wir nirgends finden. An
keinem der Orte, von dem wir wussten, dass der sympathische
Sonderling sich dort ab und zu aufhielt. Er schien wie vom Erdboden
verschluckt zu sein.
Wir suchten den sogenannten Professor auf, einen Bücherwurm
und ehemaligen Bibliothekar, der nach dem tragischen Krebstod
seiner Frau mehr oder weniger durchgedreht war. Er wohnte in einer
ehemaligen Rangier-Nische, hatte dort sein Feuer und sogar
elektrisches Licht. Einer seiner Freunde hatte eine Leitung
abgezweigt und hierher verlegt. Es war relativ trocken hier,
trotzdem hatte er seine mindestens 3000 Bücher sorgfältig einzeln
in Plastik verpackt.
Der Professor hieß eigentlich Simon Moreau. Er gehörte zu
denjenigen Obdachlosen, die ihre Flucht in diese Art der Existenz
als eine Art Lebensphilosophie ansahen und die nichts auf der Welt
dazu hätte bringen können, sich wieder an ein Leben in der
bürgerlichen Welt zu gewöhnen. Hier war der Professor eine bekannte
Persönlichkeit. Wir kannten ihn durch eine Sozialarbeiterin.
Und über Moreau hatte wir Tourbe-Jean kennengelernt.
»Toll«, murrte François, als wir die Rangier-Nische
erreichten. »Wir sind wieder am Ausgangspunkt, Pierre.«
»Meinst du, mir gefällt das?«
»Was mir noch weniger gefällt, ist mein Gefühl in Bezug auf
Tourbe-Jean.«
»Was meinst du damit?«
»Dass wir ihn vielleicht vergeblich suchen, Pierre.«
»Und wenn er sich versteckt hält?«
»Warum sollte er das tun? Niemand würde versuchen, ihn hier
unten aufzustöbern, um ihn wieder in eine Anstalt zu
bringen.«
»Es muss ja nicht alles vernünftig sein, was er tut«,
erinnerte ich ihn.
Der Professor sah uns kommen. Wir gingen den Schienenstrang
entlang und mussten dabei auf der Hut sein, um nicht von einer
vorbeirasenden Metro erfasst zu werden. Immer wieder kamen
Obdachlose durch Züge um.