Nomadin des Sommers - Ike Sprenger - E-Book

Nomadin des Sommers E-Book

Ike Sprenger

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Beschreibung

Die Nomadin des Sommers lässt fließen. Sie ist minimalistisch und heiter. Jeder Tag ist Leben. Jeder Tag ist Reisen. Mit diesem Buch lädt Ike Sprenger zu einer Reise in innere und äußere Welten ein. Begleiten Sie Anna, die Nomadin des Sommers, bei ihrer Entdeckung von Meeresheimaten und der Heimat im eigenen Sein. Abenteuer an unterschiedlichsten Meeren und Begegnungen mit interessanten und teils skurrilen Menschen erwarten Sie. Dabei blitzt hinter der Oberfläche immer wieder das auf, was wirklich wichtig ist auf unserer Lebensreise, die für alle individuell und doch so gleich ist.

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Seitenzahl: 260

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Inhalt

Nomadin des Sommers

Der Anfang

Domburg

Cornwall

Jugoslawien

Schweden

Miami

Bahamas

Mexiko

Dodekanes Inseln

Allein unterwegs

Portugal

Italien

Kos

Symi

Frankreich

Kreta

Paris

Pyla

Intermezzo

Lanzarote

Fuerteventura

Gran Canaria

Paleochora

Ortasee

Formentera

Fuerteventura for ever

Reisende

Grenzland

Ausklang

NOMADIN DES SOMMERS

Die Nomadin des Sommers

lässt fließen.

Sie ist minimalistisch

und heiter.

Jeder Tag ist Leben.

Jeder Tag ist Reisen.

Anna ist eine Spätberufene in Sachen Reisen. Als sie mit vierzehn Jahren das Meer entdeckt, ist es um sie geschehen. Unaufhörlich ruft es nach ihr und führt sie von Holland und der Nordsee, Jugoslawien und dem Adriatischen Meer nach Schweden mit seinen Fjorden.

Die weiteste Reise geht nach Mexiko, an den Golf von Mexiko, das karibische Meer und den Pazifik.

Und weiter geht‘s nach Griechenland auf die Dodekanes-Inseln Rhodos, Kos und Symi in der Ägäis, später nach Kreta, ans Libysche Meer.

Es folgt Frankreich, erst das Mittelmeer, dann der Atlantik.

Als ihre Freundin Hanne sie auf die Kanaren bringt, zuerst nach Lanzarote, anschließend nach Fuerteventura, ahnt Anna noch nicht, dass sich ihr Leben einmal komplett verändern wird.

Aber ich will den Geschehnissen nicht vorgreifen: Dies ist die Geschichte von Meeren und wie diese rollt sie mal vorwärts, mal rückwärts, mal sanft, mal stürmisch, immer weiter im Gezeitenstrom. Und es ist die Geschichte von Anna, einer Suchenden nach Meeresheimaten, Anna, der Nomadin des Sommers.

DER ANFANG

Im aufstrebenden Nachkriegsdeutschland wird es für einen Teil der Bevölkerung immer selbstverständlicher zu verreisen. Nicht so für Annas Familie. Die Eltern sind voll und ganz auf den Aufbau ihres Bauunternehmens konzentriert, dessen Basis die 100 DM bilden, die der Vater als Entschädigung und Starthilfe nach sechsjähriger russischer Gefangenschaft erhalten hat.

Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben, würde man später sagen. Nicht so in den späten 1950er Jahren. Es gibt keine Alternative, die Trümmer müssen weg, Neues muss aufgebaut werden.

Umso tragischer ist es , dass der Vater 1966 plötzlich ins Krankenhaus eingeliefert wird, das er nicht mehr verlässt: Magen-Darm-Krebs als Folge von Unter- und Fehlernährung im Krieg, Stress und Qualen in russischen Gefängnissen, dazu die seelische Not, nach dem Zusammenbruch all dessen, an das er geglaubt hat.

Nach nur einer Woche ist er verstorben. Die Mutter verbietet den Ärzten eine Obduktion, die die genaue Todesursache herausfinden möchten. Sie will gar nicht wissen, woran ihr Mann gestorben ist.

Sie will nach vorne schauen, die Firma mit dem Kompagnon ihres Mannes weiterführen, denn die Alternative wäre eine Arbeit als angelernte Schuhverkäuferin, kriegsbedingt ohne Abschluss.

Das kommt für sie nicht infrage, dafür hat sie schon zu viel Kraft und Zeit in das Bauunternehmen investiert und als heimliche Chefin die Fäden gezogen hinter den beiden Männern, deren Hauptaufgabe darin bestand, mit den Herren der Stadtverwaltung zu trinken, um sie für die nächste Auftragsvergabe günstig zu stimmen.

Doch zunächst muss die Beerdigung organisiert werden. Und Anna mit ihren 14 Jahren ist ihr im Weg. So wird diese kurzerhand zu ihren „Ersatzeltern“ nach Holland geschickt, genauer gesagt nach Domburg, wo die Reidicks1 seit zehn Jahren regelmäßig Urlaub machen.

Herr Gerdelbracht, der jetzt Mutters Kompagnon ist, bringt Anna nach Holland. Kaum ist er wieder abgereist, besteht Fritz Reidick darauf, dass Anna die schwarze Trauerkleidung ablegt und ihren ersten Urlaub am Meer genießt.

Annas Verbindung zum Vater war nie sehr eng. Er konnte nichts mit kleinen Kindern anfangen und war nicht glücklich über die Geburt der Nachzüglerin. Ein ruhiges Leben mit seiner Frau allein hätte ihm besser gefallen.

1 Die Geschichte von Anna und den Reidicks ist ausführlich geschildert in meinem Episodenroman: Ike Sprenger: Ein Dutzend Orte und ihre Zeitgeister, BoD 2022

DOMBURG

Die Reidicks bringen Anna ans Meer. Die Nordsee ist gewaltig an diesem Tag. Hohe Wellen donnern auf den Strand. Anna wird von dem Schauspiel völlig in den Bann gezogen. Die Wellen brechen in ihr Innerstes ein, nehmen sie gefangen und einen Teil ihres Wesens mit hinaus ins Meer, um es anschließend zurückzuspülen. Als Meergeborene wird sie ab jetzt immer sehnsüchtig sein nach Meer und Brandung.

Für die Sommermonate haben die Reidicks das Haus der Familie Maranus gemietet. Die Familie selbst ist in das dahinterliegende Gartenhäuschen gezogen. Dieses Arrangement ist weit verbreitet in den Küstenorten in Zeeland.

Außer ihrem Wohn- und Gartenhaus haben die meisten Familien noch eine Strandhütte. Diese ist ausgestattet mit Luftmatratzen und großen schwarzen Schwimmreifen samt Paddeln sowie einem Windschutz für mehrere Personen nebst Hammer und Spaten, um ein windgeschütztes Lager zu bauen, denn windig ist es fast immer. An den Wänden der Hütte sind Haken für die Kleidung angebracht. Sie dient als Umkleidekabine, denn auch in Holland geht es in den 1960er Jahren noch züchtig zu.

Anna liebt diese Hütte. Sie würde gerne die Nächte am Strand verbringen, aber das erlauben die Reidicks nicht. Im Gegenteil, alles unterliegt deren Ferienrhythmus, der sich mit den Jahren immer stärker zementiert hat: Tagsüber Strand, Lotte Reidick muss bräunen, damit die Nachbarn in Deutschland schön neidisch werden. Mittags wird gekocht, danach steht ein Mittagsschläfchen an. Abends geht es dann zu Mogrés in die Kneipe, wo sie gerne gesehene Gäste sind, denn Lotte verträgt eine ganze Menge. Fritz muss leider passen, denn er hat seit zwei Jahren Leberzirrhose und muss komplett auf Alkohol verzichten. Aber in die Kneipe muss er mit, denn Lotte kann unmöglich als Frau alleine dorthin gehen, selbst im ansonsten eher aufgeschlossenen Holland nicht. Dafür wird ein Auge zugedrückt, wenn die Kinder auch noch nach Mitternacht herumspringen.

Anna lernt in diesem Sommer alles, was man zum Leben braucht: Billard spielen, pokern, Würfelspiele aller Art - mit und ohne schummeln. Anfangs springt sie nur als Vertretung für Fritz ein, wenn dieser zur Toilette muss, aber relativ schnell darf sie mitspielen und das Geld setzen, das Fritz an Schnaps einspart.

Piet

Die Mogrés haben einen Sohn, Piet, und als Anna ihn kennenlernt, verknallt sie sich zum ersten Mal richtig. Okay, sie hat in Essen, wo sie mit ihrer Familie lebt, einen Freund, Hans. Aber was ist der im Gegensatz zu diesem braungebrannten Holländer mit seinem großen langhaarigen Hund? Ein unbedeutender Verehrer mit Dackel.

Dieser erste Sommer am Meer soll auch der Sommer der ersten Liebe werden.

Erste Liebe - dies unsichere Tasten nach dem, was sein könnte. Die Sinne sind geöffnet, noch ohne zu wissen, wonach sie suchen. Sie kennen sie nicht, die salzige Sinnlichkeit fremder Haut, den unverwechselbaren Geruch des Geliebten, dieses Parfum, das belebt, erregt und beglückt.

Erste Liebe sucht einen Spiegel, der ihr bestätigt, liebenswert und interessant zu sein. Sie hat eine Ahnung, wie es sein könnte, mit jemandem im Gleichklang zu schwingen. Sie ist zart und pastellig, es fehlen die prallen Volltonfarben satten Erlebens, die gierigen Hände, die Bereitschaft sich aufzulösen, alles zu geben.

Erste Liebe tastet sich langsam vorwärts, mit vorsichtigen Blicken, immer bereit zur Flucht, zu verschwinden, unsichtbar zu werden.

Anna himmelt Piet an, doch dieser bleibt ungerührt. Im Gegenteil, als es ihm zu viel wird mit ihrer Suche nach seiner Nähe, äußert er unmissverständlich, er wolle keine Brillenschlange zur Freundin.

Nicht genug, dass sie seit einem Jahr eine Brille tragen muss und es hasst, jetzt ist ihr dieses Nasenrad auch noch zum Verhängnis geworden. Sie wird nie einen Freund bekommen, so hässlich, wie sie aussieht.

Und dann taucht Wim Maranus auf, der Sohn der Sommerhausvermieter, ein Jüngelchen in ihren Augen und auch eine Brillenschlange. Er ist in sie verliebt, so wie sie in Piet. Doch das tröstet sie nicht. Im Gegenteil, es stößt sie noch tiefer in ihr Elend. Für hässliche Mädchen gibt es eben nur hässliche Jungen, zumindest in diesem Jahr.

Im folgenden Jahr darf sie noch einmal mit nach Domburg. Ihre Sehnsucht nach Piet wird abgelöst durch ihr Interesse an älteren Jungen, die sie in Mogrés Kneipe beim Billardspielen kennenlernt. Es wird ein Sommer des Flirts, des Ausprobierens.

Fritz Reidick spürt das Erwachen der Frau in seinem „Stümmelchen“ wie er Anna immer genannt hat, Anna, sein Sonnenschein und Lebenselixier.

Und er fühlt die Eintönigkeit seines Lebens mit Lotte, den Zwangsverzicht auf Kulinarisches – er darf weder Gebratenes, Süßes noch Alkoholisches zu sich nehmen. Ihn langweilen die immer gleichen Abläufe: bei der Arbeit in der Stadtverwaltung, im Urlaub, im Alltag. Anna und ihre Förderung sind stets das Highlight seiner Woche gewesen und sie entgleitet ihm jetzt. Als er Anna am Ende der Ferien zum Zug bringt, bestellt er ein Bier für sich. Anna ist entsetzt: „Du darfst doch keinen Alkohol trinken. Ich brauche dich doch!“

Fritz nimmt schweigend ihre Cola und schiebt ihr das Bier hin. Sie hat noch nie Bier getrunken. Es schmeckt scheußlich, aber es wirkt sofort. Sein Satz „Das glaube ich nicht“ geht in ihrem Alkoholnebel unter.

Vier Tage später berichtet ihr die Mutter: „Fritz Reidick ist tot. Er hat nach deiner Abreise zwei Abende lang in Mogrés Kneipe getrunken, dann ist seine Leber geplatzt!“

Anna fühlt sich schuldig. Wäre sie nicht nach Hause gefahren, würde Fritz noch leben. Sie hätte auf ihn aufgepasst. Und mit der Schuld wächst ihr Hass auf Lotte, die ihrem Mann täglich vorgefressen und gesoffen hat. Sie wird sie nie mehr sehen.

Das Schuldgefühl bleibt viele Jahre, bevor es sich endlich auflöst, doch bis heute ist die Erinnerung wach an einen Menschen und Mann, der ihr alles gegeben hat, mit dem sie sich völlig verbunden fühlte. Er prägt ihr Männerbild, formt ihr unterschwelliges Raster für zukünftige Beziehungen.

CORNWALL

Anna besucht die BMV-Schule, das katholische Mädchengymnasium der Augustiner Chorfrauen in Essen. Die Schulzeit ist grauenvoll, aber einige Lichtblicke gibt es auch in diesem Gruselkabinett.

Für die Schülerinnen des neusprachlichen Zweiges wird ein Schülerausaustausch mit England organisiert.

Anna und ihre beste Freundin Lore werden zusammen in die Familie Brown vermittelt. Die Familie wohnt in einem kleinen Dorf in Cornwall in der Nähe von Lands End. Und so ist er auch dieser Ort - das Ende des Landes, für die Freundinnen das Ende der Welt. Hier sollen sie nun ihre erworbenen Englischkenntnisse erproben. Das ist gar nicht so leicht. Ms. Brown, sie möchte Mom genannt werden, ist völlig überfordert mit ihrem Neugeborenen und hat wohl gehofft, dass die beiden deutschen Mädchen sie tatkräftig bei der Betreuung unterstützen würden.

Doch was liegt 16-jährigen Mädchen ferner als unbezahltes Babysitten auf Englisch? Sie möchten lieber Jungen kennenlernen, was auch nicht einfach ist in diesem verschlafenen Nest, insbesondere da Anna und Lore kein Geld haben, um irgendwo einzukehren. Also setzen sie sich auf eine Bank in Hafennähe und warten darauf, angesprochen zu werden.

Das werden sie auch relativ flott von zwei jungen Männern, die sie zu einem Spaziergang einladen.

An ihnen wollen die Mädchen nun ihr Englisch testen. Der Start geht noch gut.

„What is your name and what are you doing?“

Sie sind Fishermen. Mit der nächsten Frage wird es schon schwieriger.

„What are your interests?“

Die Antwort lautet „Girls“ und wird von einem breiten Grinsen begleitet.

Anna und Lore haben gelernt, über Shakespeare zu diskutieren, für eine normale Konversation fehlt ihnen das Vokabular und darüber hinaus ist ihr Interesse für die Fischerei mäßig.

Die beiden Fishermen haben die Freundinnen mittlerweile in eine abgelegene Straße geführt und kümmern sich um ihre „Interessen“, indem sie beginnen, die Mädchen zu umarmen. Deren Instinkt reagiert mit Flucht. Beide drehen sich gleichzeitig um und rennen zurück auf belebtere Wege. Das ist noch einmal gut gegangen und die nächsten zwei Tage sind sie bereit, das Baby zu sitten.

Der vierte Tag in Cornwall ist sonnig, Strandwetter. Anna und Lore packen ihre Badesachen und wandern zum nahe gelegenen Strand. Der Sand ist grob, das Wasser eisig, aber geschwommen werden muss. Als sie sich anschließend in der Sonne trocknen, hören sie von weitem Gitarrenklang und Gelächter.

Gitarrenmusik hat Anna schon immer angezogen, obwohl ihr Versuch, Gitarre spielen zu lernen, gescheitert ist. Fritz Reidick hatte ihr eine Schlaggitarre aus dem Pfandhaus besorgt und ihr einen Gitarrenkurs in der Volkshochschule gesponsert. Dort wurden 14 Anfänger*innen gleichzeitig unterrichtet und allein das grobe Abstimmen der einzelnen Gitarren aufeinander dauerte die Hälfte der Kurszeit. Alle hatten Konzertgitarren mit Nylonseiten, nur Anna hatte die stahlseitenbespannte Schlaggitarre, die an Lautstärke alle übertönte. Sie wurde damit zur Weltmeisterin der hörbaren Fehlgriffe und ihre Fingerkuppen rissen beim Üben zu Hause auf. Nach nur fünf Unterrichtsstunden war ihre Karriere als Gitarristin beendet, nicht aber ihr Interesse an Gitarrenmusik.

Anna und Lore machen sich auf, um dem Klang der Gitarre zu folgen. Zwei Buchten weiter ist der Strand etwas breiter und windgeschützt. Dort aalen sich zwei junge Männer im Sand, während ein dritter in die Seiten greift und einen flotten Blues zupft. Den dazu gesungenen Text verstehen die Mädchen nicht, doch einige Worte erkennen sie wieder und ahnen so, dass es um love, peace and drugs geht. Ted, Barry und Dave laden die beiden ein, sich zu ihnen zu gesellen und teilen mit ihnen den Wein und die Chips.

Anna ist noch nicht trinkfest, Lore etwas mehr. Während Anna einschläft, nutzen Barry und Lore die Gelegenheit, miteinander zu schmusen.

Ted und Barry sind anders als die Fishermen. Sie bezeichnen sich selbst als Freizeitgammler. Sie kommen aus London und leben zweimal im Jahr für eine Woche in Cornwall am Strand. Dave lebt die meiste Zeit dort, erbettelt Geld für Essen und Drogen und sieht etwas heruntergekommen aus. Gelegentlich verdient er Geld mit seiner Musik in Pubs, denn er ist wirklich begabt.

Die nächsten zwei Tage verbringen Anna und Lore so viel Zeit wie möglich am Strand. Dann erfährt Ms. Brown von ihrem Zusammensein mit dem „Gesindel aus der Hauptstadt“, wie sie es nennt und verbietet den Mädchen ein erneutes Zusammentreffen. Doch diese haben die für sie richtigen Freunde gefunden, das Englisch fließt locker, die Tage sind leicht, aber gezählt. Ted und Barry müssen zurück nach London und Anna und Lore auch bald nach Deutschland. Sie wollen das Zusammensein mit den Jungen bis zum Ende auskosten und schmieden einen Plan: Sie schleichen sich nachts aus dem Brownschen Haus, und fahren mit den beiden nach London. Dort angekommen wissen Ted und Barry nicht so recht, was sie mit den für sie eigentlich viel zu jungen Mädchen anfangen sollen. Sie müssen wieder arbeiten und wollen auch in ihren Alltag zurück. Ted bringt Anna und Lore zu seiner Mutter und überlässt es dieser, sich etwas auszudenken. Teds Mutter ist stinksauer. Sie stellt sich vor, welche Sorgen sich Ms. Brown und die Eltern der Mädchen machen werden und will sie schnellstmöglich nach Hause schicken. Da sich Anna und Lore weigern, die Telefonnummern ihrer Eltern mitzuteilen, stellt sie ihnen ein Ultimatum: entweder melden sich die Eltern in den nächsten drei Tagen bei ihr oder sie werde die Polizei benachrichtigen.

Am Morgen des dritten Tages verlassen die Mädchen das Haus, als Teds Mutter gerade unterwegs ist. Sie haben kein Geld und nur noch eine Tafel Schokolade im Gepäck. So ausgerüstet stellen sie sich an die Straße, um nach Deutschland zu trampen. Dass die Fähre Geld kostet, haben sie nicht im Blick.

Es dauert lange, bis ein Auto hält. Doch dann stoppt ein LKW, ausgerechnet aus Mülheim, der Nachbarstadt ihres Heimatorts. Ein aufgebrachter Mann mittleren Alters steigt aus und als ihn die Mädchen fragen, ob er sie mitnehmen kann, brüllt er sie an, was sie hier am Straßenrand treiben. Auf der einen Seite sind die Freundinnen erschreckt, auf der anderen erleichtert über die heimatlichen Klänge. Herr Wegener, so heißt der LKW-Fahrer, ist auf dem Weg nach Hause. Er hat eine Tochter im gleichen Alter wie Anna und Lore, die er windelweich prügeln würde, wenn sie auf die Idee käme, zu trampen. Er lädt die beiden ins Auto und lässt sie nicht mehr aus den Augen, bis er sie wohlbehalten bei ihren Familien abgeliefert hat.

In beiden Familien setzt es Schläge. Ms. Brown hat die Eltern vor vier Tagen informiert, dass ihre Töchter spurlos verschwunden sind. Sorge und Erleichterung schlagen um in Wut und Hiebe.

Als Anna drei Jahre später mit Jochen, ihrem Verlobten, durch England trampt, setzt es keine Hiebe mehr. Es ist eben alles anders mit einem Mann - oder?

JUGOSLAWIEN

Anna heiratet, doch die Ehe ist kurz. Nach nur einem Jahr zieht sie aus der gemeinsamen Wohnung nach Bochum ins Studentenwohnheim, dem Papageienhaus, wo sie auf ihre große Liebe Anders trifft. 2 Er ist Teil einer Clique von Medizinstudenten, die bald entscheiden muss, wo sie den klinischen Teil ihrer Ausbildung absolvieren will. Was liegt näher als Annas Heimatstadt Essen mit ihrem Universitätsklinikum.

Anna, Anders und ihre Freunde Pi und Svenja beschließen eine Wohngemeinschaft zu gründen, was nicht so einfach ist, denn es gibt noch wenig Erfahrungen von Vermietern mit Wohngemeinschaften. Annas Mutter ist bereit, für „die Kinder zu bürgen“ und so werden sie in Essen - Frintrop fündig.

Ihren ersten Sommerurlaub beschließen die WG-Bewohner*innen in Jugoslawien zu verbringen. Pi hat zum Studienbeginn von seinen Eltern einen alten VW-Käfer geschenkt bekommen und mit diesem soll es nun auf Reisen gehen. Knappe 2.000 Kilometer für eine Strecke sind veranschlagt, drei Wochen Zeit stehen zur Verfügung und nur wenig Geld. Da heißt es genau zu überlegen, was an Vorräten aus Deutschland mitgenommen werden soll und wie alles verstaut werden kann.

Der Käfer hat den Kofferraum vorne. Da müssen die schweren Sachen hinein, damit sie beladen mit vier Personen, zwei Zelten und der sonstigen Campingausrüstung gut vorwärtskommen. Die persönlichen Sachen der Reisenden kommen auf einen Dachgepäckträger - je ein kleiner Koffer pro Person, damit es nicht zu viel Windwiderstand auf dem Dach gibt.

Es ist ihre erste Reise mit dem Auto. Noch sind sie ungeübt im Packen, dafür aber bestens gelaunt. Sie machen sich wenig Gedanken über das, was kommen wird.

Eine Karte von Jugoslawien wird erworben und die Entscheidung getroffen, wir fahren jeden Tag soweit, wie wir Lust haben und bleiben, wo es uns gefällt.

Anfang September geht es los. Ihr Weg führt sie von Essen über Belgien nach Luxemburg. Die Autobahn in Luxemburg lässt zu wünschen übrig, sie stammt noch „aus Adolfs Zeiten“, der Belag ist zig Mal geflickt und entsprechend holpert der Käfer über den Beton. Heute sitzt Pi am Steuer und bemüht sich die richtige Geschwindigkeit zu finden, die den Rücken am wenigsten strapaziert, die Reisenden aber dennoch vorwärtsbringt.

Die anderen dämmern vor sich hin, als die Vorderhaube mit einem großen Knall aufspringt. Die Zelte fliegen auf die Fahrbahn hinter ihnen, ein paar Vorratsdosen donnern über den Dachgepäckträger auf die linke Fahrspur und nehmen dabei Svenjas Koffer mit. Pi kann nichts mehr erkennen, da ihm die Klappe des Kofferraums vor der Frontschreibe jede Sicht nimmt. Anna auf der Beifahrerseite gibt Anweisungen. Langsam abbremsen, etwas mehr nach rechts, noch mehr verlangsamen und jetzt auf dem Seitenstreifen anhalten. Das ist typisch für Anna. Wenn es wirklich brenzlig wird, wird sie ruhig und schaltet ihre Gefühle ab.

Wie durch ein Wunder können alle Autos hinter ihnen noch abbremsen, ohne über die herunter gefallenen Gepäckstücke zu fahren. Schwieriger ist es, diese einzusammeln, da der nachrückende Verkehr wieder Fahrt aufnimmt. Endlich ist es vollbracht und ab sofort wird der Halt des Gepäcks dreimal kontrolliert, bevor die Reise weitergeht.

Als die Vier in Österreich ankommen, regnet es in Strömen. Kein Gedanke an Camping und so darf Anders die erste Nachfahrt übernehmen.

Endlich passieren sie die Landesgrenze nach Kroatien und landen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Rijeka.

Über Nacht ist das Wetter umgeschlagen und es weht eine warme Brise am frühen Nachmittag. Die Reisenden haben Hunger auf richtiges Essen, keine Ravioli aus der Dose oder sonstiges Billigessen. Sie beschließen, ihre Ankunft in Jugoslawien mit einem Festessen zu feiern. Womit sie nicht gerechnet haben, ist, dass die Saison bereits beendet ist und dass am Nachmittag um 16.00 Uhr kein Mensch zum Essen geht.

In den Restaurants – es gibt drei vor Ort – werden gerade die Reste vom Mittagessen abgeräumt. Die Küchen werden geschlossen, denn für die wenigen Touristen lohnt es sich nicht, diese abends noch einmal zu öffnen. Dann ist lediglich Kneipenbetrieb für die Einheimischen. Anna und ihre Mitreisenden sind total frustriert – und das sieht man ihren regelrecht an.

Eine Frau mit breiten Hüften und einem freundlichen Lächeln fragt nach, woher die vier Deutschen denn kämen. Sie hat als Kind in Deutschland gelebt und gute Erinnerungen an ihre Kindheit.

Pi erzählt, dass sie aus Essen kommen, beinahe ihr Gepäck verloren haben, die letzten drei Tage durch schlechtes Wetter hierhin gereist seien, um endlich einmal blauen Himmel zu sehen und Wärme zu spüren.

Danica kann das sofort verstehen, denn die Kälte und Feuchtigkeit hat ihr damals in Bochum auch nicht gefallen.

„Wir sind ja quasi Nachbarn gewesen“, sagt sie mit einladender Geste. „Setzt euch, ich schaue mal, was die Küche noch zu bieten hat.“

Und das ist viel: Cevapcici mit Djuvec-Reis, Rasnici mit Zwiebeln, geschmortes Gemüse und alles mit viel Knoblauch zubereitet. Dazu gibt es kroatischen Rotwein und zum Abschluss einen Slibowitz, der auch den letzten Hauch von Unmut vertreiben würde.

Die Reisenden sind mehr als zufrieden und können ihr Glück kaum fassen, als Danica ihnen noch einen Platz am Meer zeigt, wo sie ihre Zelte aufbauen können.

Der Platz liegt auf einer Klippe, von der ein paar Naturstufen an den winzigen Sandstrand gehen. Keine Menschenseele ist da. Hier wird für die nächsten drei Tage ihr Strand sein.

Anna ist erfüllt vom Geruch der warmen Meeresluft, die die Nüstern weitet und die Nasenflügel beben lässt. Sie schnuppert den Salzgeruch und schmeckt die dünne Salzschicht auf ihren Lippen, als sie mit der Zunge darüberstreicht. Am intensivsten empfindet sie das Streicheln des warmen Windes auf ihrer nackten Haut, diese unglaubliche Sinnlichkeit des Sommers, die ihr in der Liebe bislang noch nicht begegnet ist.

Sie lässt sich von Wind, Wasser und Sonne massieren, bis alles Negative aus ihr herausgeschwemmt ist und nur noch reines Wohlgefühl bleibt.

Und es hört nicht auf. Der Tag geht in einen lauen Abend über, der es erlaubt, auch in der Dunkelheit am Meer zu liegen und in den sternenübersäten Himmel zu schauen.

Zum ersten Mal erahnt Anna, was es bedeutet, eins mit dem Universum zu sein.

Am nächsten Morgen jedoch kommt das böse Erwachen. Anna ist übersät von Mückenstichen! Sie beschließt, in Zukunft lieber im Zelt zu schlafen.

Doch so leicht ist das mit den Zelten nicht.

Pi hatte sich vor Reisebeginn gewünscht, dass es im Urlaub keine zu starke Paarbindung gäbe. Anna und Anders sollten nicht täglich das Zelt teilen, sondern die Besetzung der beiden Minizelte sollte alle drei Tage wechseln.

Anna gefällt das gar nicht, besonders jetzt nicht in der Atmosphäre der lauen Sommernächte. Die möchte sie lieber mit ihrem Liebsten genießen. Dennoch: Die Verabredung ist getroffen, in drei Tagen soll der Wechsel stattfinden.

In der dritten Nacht an ihrem Traumplatz erwacht Anna von einem Schrei aus dem Nachbarzelt. Ihm folgen ein heftiges Klopfen und lautes Brüllen. Als Anna ihr Zelt öffnet, sieht sie das Nachbarzelt bedenklich schwanken. Noch ist dessen Reißverschluss zu, aber Pis und Svenjas Stimmen verheißen nichts Gutes.

„Hau drauf, feste, bevor er sticht. Ich will hier nicht sterben.“

„Ich kann nichts sehen, wo ist er denn jetzt?“

„Oh mein Gott, doch nicht zwischen den Decken?“

„Da, Achtung! Vorsicht!“

Ein erneuter heftiger Schlag lässt das Zelt erzittern, dann ist Stille, nur unterbrochen durch Svenjas Weinen.

Pi öffnet das ramponierte Zelt. Er ist hochrot im Gesicht von der Jagd, während Svenja eher bleich aussieht. Pi befördert auf einem Schlappen einen plattgehauenen Skorpion aus dem Zelt.

Ihr Traumplatz ist damit „verbrannt“, Svenja will sofort weg und in Zukunft nur noch auf ausgewiesenen Zeltplätzen übernachten.

Für Anna hat die Geschichte unerwartet positive Folgen. Pi ist nun Svenjas Held und Retter. Den Rest des Urlaubs wird sie das Zelt mit ihm teilen und Anna muss nicht um den Schlafplatz bei ihrem Liebsten kämpfen.

Der erste Campingplatz, den die Vier ansteuern, liegt auf der Insel Cres. Es ist ein FKK-Gelände und Pi, der in der Tradition der Freikörperkultur aufgewachsen ist, schwärmt davon, wieviel angenehmer ein nacktes Leben bei den paradiesischen Temperaturen in Kroatien ist. Die drei anderen lassen sich überreden und so wird die Überfahrt auf die Insel gebucht.

2 Das Leben im Papageienhaus und in den nachfolgenden Wohngemeinschaften wird ebenfalls in meinem Episodenroman: Ein Dutzend Orte und ihre Zeitgeister, BoD 2022, ausführlich beschrieben.

Camp Baldrian

Das Nudisten-Camp Baldrian wirbt mit Ruhe und Naturverbundenheit. Dort können Erholungssuchende wählen zwischen Plätzen an kleineren und größeren Stränden, von denen aus der Tag mit Schwimmen im kristallklaren Wasser beginnen oder auch enden kann. Wer es lieber schattig hat, kann einen Platz im Wald wählen. Der Weg zum Meer ist auch von hier nicht weit. Ansonsten bietet Camp Baldrian alles, was ein Mensch braucht, um die Seele baumeln zu lassen: Spielplatz, Sportplatz, Strandbar und einen Einkaufsladen.

Anna ist skeptisch. Für sie hört sich das Ganze nach mittelalten Spießern an, die es im Urlaub exzentrisch haben wollen und demonstrieren, wie frei sie in Wirklichkeit sind.

Es ist früher Nachmittag, als sie den Platz erreichen. Der Platzwärter hat heute seinen großzügigen Tag. Die Ankommenden dürfen über den Platz streifen und sich eine Parzelle aussuchen, auf die sie ihre beiden Minizelte stellen wollen.

Das ist schnell getan. Eine Lichtung soll es sein, damit Svenja kontrollieren kann, dass ihr keine Skorpione auflauern und möglichst nah zum Meer, denn Anna ist ganz vernarrt in die Idee, ihr Leben am Strand zu verbringen. Mit wenigen Handgriffen stehen die Zelte und die weitere Ortsbesichtigung kann beginnen.

Der nächstliegende Strandabschnitt ist über einen Holzsteg zu erreichen, an dessen Ende die Neuankömmlinge über die wesentlichen Regeln des Camps unterrichtet werden. Ein großes Schild zeigt einen durchgestrichenen Fotoapparat, ein Bikinioberteil und eine Badehose. Das alles ist am Strand verboten. Das passt. Die Vier wollen einfach schwimmen und sich anschließend im warmen Sand wieder aufladen.

Sie genießen ihr unbekümmertes Zusammensein bis eine leichte Abendkühle sie zu ihren Zelten zurückkehren lässt.

Mittlerweile hat sich auch ein Hungergefühl eingestellt und damit die Notwendigkeit, sich etwas zum Abendessen zu organisieren.

Im Einkaufsladen treffen sie auf ihre Mitnudisten, die mit leichtem Oberteil, aber nacktem Po zum Einkaufen kommen. Anna, Pi, Anders und Svenja werden rügend angeschaut, denn sie haben inzwischen Unterhosen angezogen. Das wird nicht gerne gesehen im Nudistencamp. Stattdessen ist es wichtig zu zeigen, wer man und frau ist: Goldkettchen am Fußgelenk, der richtige Brilli im Ohr, die Kette auf der Männerbrust zeugen von Status und Reichtum.

Nach dem Einkauf beschließen die Freund*innen einen Drink auf diesen Abschnitt ihrer Reise zu nehmen. Die Strandbar Paraiso lädt zum Willkommenstrunk ein - allerdings nur für Menschen ohne Unterhose, die ein winziges Handtuch mitgebracht haben, um sich mit ihm auf dem Barhocker niederzulassen. Das ist selbst für Pi mit seiner langjährigen FKK-Erfahrung zu viel. Er reißt seine Unterhose vom Po, wedelt damit durch die Luft und schmettert dazu einen Tango. Und so gibt es schon am ersten Abend Lokalverbot.

Am nächsten Morgen reisen die Vier ab und finden bald einen „halbwilden“ Campingplatz in der Nähe von Split, wo sie im Kreis von Gleichgesinnten einen entspannten Urlaub verbringen.

Hatten Holland und England Appetit auf Meer gemacht, erzeugt Kroatien mit seiner Kombination von Wärme, lauen Nächten und azurblauem Wasser in Anna Hunger nach Meer.

SCHWEDEN

Im nächsten Jahr ist keine Zeit zum gemeinsamen Verreisen. Pi muss für eine Prüfung lernen, Anders unbedingt Geld verdienen. Das kann er am besten in Schweden, denn die Gehälter - den Lebenshaltungskosten entsprechend - sind dort erheblich höher als in Deutschland.

Der Ferienjob soll sechs Wochen dauern, für Anna eine unvorstellbar lange Trennungszeit. Die ersten zwei Wochen geht es noch gut, doch dann häufen sich die Abende, an denen Anna mit einem Cognac in die Badewanne geht und ihren Trennungsschmerz pflegt.

Ihre Mitbewohner*innen bringen nur mäßig Mitleid auf. Svenja ist zwischenzeitlich ausgezogen und dafür Annas Exmann Jochen eingezogen. Ihm geht das Gejammer besonders auf die Nerven. Zudem ist er der einzige und stolze Besitzer einer erlesenen Hausbar, aus der der kostbare Cognac stammt. Nach drei Wochen empfiehlt er Anna, endlich nach Schweden zu reisen, anstatt sich weiterhin demonstrativ zu grämen.

Anna hat kein Geld für die Reise. Jochen schenkt ihr die Überfahrt mit der Fähre plus 20 DM für etwas zu essen unterwegs. Außerdem erinnert er sie an ihre guten Erfahrungen mit dem Trampen in England.

Und so entscheidet sich Anna, von Essen-Frintrop nach Stockholm zu trampen. Sie schaut sich die Strecke auf ihrem Shell Atlas an: Fahrstrecke 1.334 km, geschätzte Fahrtzeit 14 Stunden. Um nicht in einem Hotel übernachten zu müssen, entscheidet sie sich für die Nachtfähre Kiel - Göteborg, wo sie sicherlich ein Plätzchen zum Schlafen finden wird.

Der Plan steht: Am ersten Tag muss sie von Essen nach Kiel kommen, am zweiten von Göteborg nach Stockholm.

Ausgestattet mit einem alten Wanderrucksack von Pis Eltern macht sich Anna auf den Weg nach Kiel. Die 487 km sind bis zum Abend zu schaffen, die Fähre startet um 18.45 Uhr.

Der Anfang der Reise ist ihr vertraut. Das erste Etappenziel ist Dortmund, ein Ziel, das sie dreimal wöchentlich ansteuert, denn dort studiert sie Heilpädagogik.

Sie fragt Hans, einen Kommilitonen, ob er sie am Montag um 8.00 Uhr mit nach Dortmund nehmen und hinter dem Autobahnkreuz Dortmund-West Richtung Hannover absetzen kann. Hans findet Annas Plan schwachsinnig - zehn Stunden sind zu kurz kalkuliert für die möglichen Hindernisse wie B1-Stau, Fahrbahnverengungen auf der Strecke nach Hannover, Bauarbeiten im Elbtunnel und dann noch Raustrampen zur Fähre. Anna, wie immer optimistisch, lässt sich nicht beirren und so willigt er ein, sie am gewünschten Platz abzusetzen.

Hans bringt sie zum ersten Rastplatz hinter dem Autobahnkreuz. Anna hat ein Pappschild gemalt mit der Aufschrift:

Kiel ist in großen Lettern geschrieben und eingebettet in zwei-Sonnen. Mit diesem Schild durchstreift sie den Gasthof in der Hoffnung, dass jemand bereit ist, sie mitzunehmen.

Erstaunlicherweise wird sie relativ schnell von einem Mann mit zwei Zwillingstöchtern angesprochen.

„Ich fahre nach Kiel. Wenn du bereit bist, meine beiden Mäuse bis dahin gut zu unterhalten, nehme ich dich mit.“

Das lässt Anna sich nicht zweimal sagen und schon bald sind sie auf der Piste Richtung Kiel.

Anna ist ungeübt mit Kindern und philosophiert über Möglichkeiten der Unterhaltung: Singen, Autokennzeichen raten, „Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist …“, Berufe raten, „Wer wäre ich, wenn ich ein Tier wäre, eine Blume, ein Gegenstand?“

Mit dem Singen soll es losgehen. Anna weiß, sie kann nicht singen, schon als Kind hat sich ihre Schwester geschämt, wenn Anna laut und falsch in der Kirche gesungen hat. Bei ihrer Nichte jedoch konnte sie damit punkten. Da hieß das Spiel „Falsch singen um die Wette.“

Annas Repertoire an Kinderliedern ist durch Lotte Reidick geprägt, die als BDM-Mädel3 alle Kinder- und Volkslieder schmettern konnte. Auch Anna ist textsicher bei den Top-Ten des Liederbuchs „Sang und Klang fürs Kinderherz“, dessen Bebilderung ihr Lotte immer wieder beim gemeinsamen Singen gezeigt hatte.

In Dreifarbdruck gab es Noten und Bilder zu Liedern wie:

Alle Vögel sind schon da …

Alle meine Entchen …

Hänschen klein …

Auf der Mauer, auf der Lauer …

Die Lieder kommen am besten an in der Variante von Annas Vater:

„Hänschen klein, ging allein, in den Essener Turnverein. Turnt am Reck, fällt in Dreck und die Nas ist weg. Kommt der Doktor Hampelmann, klebt die Nas mit Spucke an. Da besinnt sich das Kind, läuft nach Haus geschwind.“

Und so singen Anna und die Zwillinge laut und fröhlich neue Texte und falsche Töne bis Zwillingsvater Volker „Ruhe“ brüllt. Er hat Anna schließlich mitgenommen, damit er entspannt Auto fahren kann, ohne von Unruhe und Lärm genervt zu werden.