Nordkap - Neuseeland - Tilmann Waldthaler - E-Book

Nordkap - Neuseeland E-Book

Tilmann Waldthaler

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Beschreibung

In einem Alter, in dem sich andere zur Ruhe setzen, schwingt sich Tilmann Waldthaler zur großen Entdeckungsreise auf sein Fahrrad: 15000 Kilometer vom Nordkap in Norwegen bis nach Invercargill, der südlichsten Stadt der Südinsel Neuseelands. Das Radfahren ist − wie immer, wenn er unterwegs ist − Mittel zum Zweck. Seine Leidenschaft und Neugierde gilt überraschenden Begegnungen am Wegesrand, dem bunten Alltag in der Fremde. Er bereist Finnland, den Balkan, Indien, Südostasien, Australien und Neuseeland, das Land, von dem er 1977 zu seiner ersten Tour von der Antarktis bis in die Arktis aufgebrochen ist. Mit »Nordkap – Neuseeland« schließt sich der Kreis eines Radreiselebens, das weltweit einzigartig ist und nicht nur Radbegeisterte vom großen Abenteuer träumen lässt.

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Mit 38 Fotos und einer Karte

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95820-2

© 2012 Piper Verlag GmbH, München Text: Tilmann Waldthaler mit Carlson Reinhard Fotos: Tilmann Waldthaler Karte: Marlise Kunkel, München Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling Umschlagabbildungen und Autorenfoto: Tilmann Waldthaler

Sie finden es womöglich exotisch, wie ich lebe? Außergewöhnlich, abenteuerlich, abgehoben, elitär? Dass ich seit 35 Jahren mit dem Fahrrad um die Welt fahre, dass ich in meinem Leben 143 der rund 200 Staaten auf diesem Planeten pedalierend durchstreift habe? Dass ich in all den Jahren fast eine halbe Million Kilometer zusammengekurbelt habe – und mir mit diesem nomadischen Lebenswandel auch noch das an Euro und Dollar verdiene, was ich auf meinen Touren so brauche?

Gut, zugegeben, mir ging es lange Zeit ja selbst so. Wenn ich irgendwo ankam, wenn ich ein Gasthaus betrat, ein Museum, einen Markt, dann fühlte ich mich ausgegrenzt – als einer, der froh sein konnte, im jeweiligen Umfeld überhaupt akzeptiert zu werden. Die Alternativen sind ja bekanntlich ziemlich unerfreulich: Man könnte verhaftet, ausgewiesen, im Extremfall sogar gelyncht werden – alles, was Menschen einander antun, wenn sie sich zu fremdartig vorkommen.

Dazu erschien ich den Leuten aber stets zu harmlos. Zu fröhlich. Zu sehr in mir ruhend und zufrieden, denn ich hatte ja gefunden, was mein Dasein glücklich machte: das bescheidene Reisen in größter Freiheit, mit maximalem Kontakt zu Mensch und Natur – und das obendrein mit Mitteln, die meinen persönlichen ökologischen Fußabdruck einigermaßen vertretbar halten, trotz der oft nötigen Flüge.

Gut, ich lebe anders als die meisten. Konsequenter wahrscheinlich in vielerlei Hinsicht, weniger ängstlich. Ich brauche keine Reichtümer, ich glaube nicht an Luxus. Versicherungen suche ich zu vermeiden, wo immer es möglich ist; schließlich bin ich für mich selbst verantwortlich, im Guten wie im Bösen. Orte, die ich habe kennenlernen dürfen, verlasse ich am liebsten so, wie ich sie vorgefunden habe – im Idealfall sogar schöner, gesünder, freundlicher, weil aufgetankt mit meinen Energien.

Bin ich also ein Vorbild?! Bin ich so verblendet, mich als Vorkurbler einer künftigen Masse kleiner bärtiger Tilmanns zu fühlen, die auf edlen Rädern um die Welt rotieren, um sie dadurch zu einem besseren Platz zu machen?! Um Gottes willen! Schon die Vorstellung ist absurd – und doch spiegelt sich darin unser vermaledeites, so überaus schablonenmäßiges westliches Denken wider, das auf so vielfältige Weise verantwortlich gemacht werden kann für den Schlamassel, in dem sich die Menschheit befindet.

Um es klar zu sagen: So wie keine Radtour je wiederholt werden könnte, weil sie in jeder Hinsicht einzigartig ist, so wird auch kein Zweiter je mein Leben führen können. Wenn ich so etwas wie eine Botschaft habe, dann die: Erkennt eure Einzigartigkeit! Lebt sie aus, erfüllt euch eure Träume! Und denkt immer daran, dabei den anderen Lebewesen nach Möglichkeit nicht das zu verbauen, was ihr selbst gerade so leidenschaftlich nutzt: die persönliche Freiheit.

Mehr ist da eigentlich nicht. Ich habe für mich realisiert, dass das Radfahren ein exzellenter »way of drive« ist, um die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen, ohne den anderen allzu schmerzhaft über die Füße zu rumpeln. Das propagiere ich aus meiner ureigenen Überzeugung heraus. Und ihr, ihr anderen, seid frei genug, um entweder ebenfalls aufs Rad zu steigen und die Welt zu erleben oder euch ein anderes passendes Konzept zum Glück zu basteln.

So viel zur Exotik, zur Exzentrik, zur abgehoben elitären Lebensweise.

Und doch, da draußen im Irgendwo, da kann man sie schon treffen, die Exoten. Manchmal, bei Vollmond – und vorzugsweise in der Wüste. Ich glaube, ich habe schon irgendwo einmal erzählt, warum ich nachts so gerne durch die Wüste fahre, wenn unser gelber Trabant das Licht der Sonne auf seine ganz eigene Weise zur Erde reflektiert.

Es ist dann weniger heiß, die Kräfte reichen länger. Ebenso das Wasser, das beim herrschenden Bedarf in heißer Umgebung maßgeblich zum Transportgewicht beiträgt. Der Verkehr ebbt nachts noch mehr ab als ohnehin schon in den unbelebten Regionen dieser Welt, und die Stille … die Stille ist schlicht überwältigend.

Manchmal meine ich die Sandkörner zu hören, wie sie unter dem Einfluss von Schwerkraft, Erddrehung und Temperaturanpassung aneinanderpoltern. Wie sie rollen und rumoren, als seien auch sie unterwegs zu irgendwelchen unaussprechlichen Zielen. Es schabt und zischt dann hier und dort, als wechselten geheime Botschaften hin und her. Und über allem gleitet der unendliche klare Himmel hinweg – auch er in Drehung begriffen, im Prozess seiner kosmischen Dehnung. Und mittendrin als fahle Lampe, die das Szenario gespenstisch-schattenreich erhellt, der Mond, der pockennarbige, von dem man sagt, er bringe nicht nur das Seelenleben der Menschen in Bewegung, sondern auch all unsere Ozeane.

Nein, meine Kette quietscht nicht. Natürlich macht auch sie mit leichtem Gleiten über die Ritzel Geräusch, aber dieses Wispern ist längst so vertraut, dass ich es mühelos ausblende bei nächtlichen Fahrten durch die Wüste.

Es war in einer dieser Nächte gegen drei Uhr morgens, als ich – mitten in der australischen Wüste, mindestens 50 Kilometer entfernt von der nächsten menschlichen Ansiedlung – auf John Butler treffe. Er macht »sein Ding« zu Fuß, legt sich einen breiten Riemen über die Stirn und »hängt sich rein«, wie man so schön sagt. Was dann kommt, rollt auf vier Rädern und ist bei näherem Hinsehen ein ausgewachsener Sarg! »He, ich bin unterwegs zu den Aboriginees«, erzählt er, »die leben ja mitten im Nirgendwo. Da habe ich eben mein eigenes Hotel dabei.«

Nachts klappt er den Deckel hoch und bettet sich zur Ruhe – wahrscheinlich mit über der Brust gefalteten Händen, wie ich vermute. Unter dem Sarg hat er ein paar Fächer und Schubladen für den Krimskrams installiert, und am Ende seines Gefährts erlaubt eine kleine Anbauküche die Zubereitung einfacher Speisen. Von Reiseruhe, wie ich sie genieße, kann aber hier keine Rede sein; die Pfannen und Töpfe scheppern im Wind.

»Du solltest die Leute erleben«, amüsiert sich John. »Die meisten erschrecken, wenn sie mein schwarzes Mobil sehen. Und wenn die Kinder endlich all ihren Mut zusammennehmen und morgens durch das kleine Fenster am Kopfende schauen, dann schneide ich denen eine entsetzliche Grimasse – was meinst du, wie schnell die über alle Berge sind.«

Ich persönlich lege es nie darauf an, die Menschen unterwegs zu erschrecken, eher im Gegenteil. Ich bringe sie lieber zum Lachen. Einmal aber musste es sein. Es war auf Sumatra, weitab von dem, was wir normalerweise Zivilisation nennen. Ich war lange durch dichten Urwald gefahren und kam plötzlich auf eine große Lichtung, einen Platz, um den herum sich Eingeborene angesiedelt hatten in ihren typischen, einfach gebauten Hütten. Ich weiß nicht, auf wessen Seite das Erstaunen größer war: Ich hatte nicht erwartet, hier auf Menschen zu treffen, und sie hatten wohl noch nie jemanden gesehen, der so viel Haar auf einem Fahrrad spazierenfuhr.

Jedenfalls kamen sie alle angelaufen. Sie bildeten einen dichten Kreis um mich, kleine braune Typen, Frauen, Kinder. Sie drängelten und schubsten, rückten mir immer näher auf die Pelle. Ich spürte, wie einige von weiter hinten versuchten, mich zu berühren, einen Zipfel meines Trikots zu fassen zu bekommen. Wie einige an meinen Packtaschen zerrten.

Die Sache wurde bedrohlich. Menschen brauchen einen gewissen Sicherheitsabstand zueinander, der je nach Kultur recht unterschiedlich sein kann; den größten brauchen die aus den reichen Ländern des Westens. Hier aber, das war mir klar, war dieser Abstand eindeutig unterschritten, egal welche Maßstäbe man anlegte. Es hätte tatsächlich alles mögliche passieren können – und keine dieser Möglichkeiten hätte mir sonderlich gefallen.

Was ich dann tat, entsprang keiner Überlegung, sondern purer Eingebung. Instinkt, wenn Sie so wollen. Ich reckte meine Arme in den Himmel, begann zu tanzen und stieß zugleich einen langen, spitzen Schrei aus, so laut und so hoch ich nur konnte. Meine Augen kniff ich dabei fest zusammen.

Als ich sie endlich wieder öffnete, war ich allein auf dem Platz. Ich weiß nicht, wohin die Leute so schnell alle geflüchtet waren. Sie müssen mich für einen Dämonen gehalten haben. »I freaked them out«, wie wir in Australien sagen. Ich habe sie zum Ausflippen gebracht.

Den nachhaltigsten Eindruck auf mich machte ein Mann, den ich 1977 in der Wüste zwischen Cairns und Darwin zu Gesicht bekam. Ich fuhr damals gerade in einem uralten VW-Bus rund um Australien, und dies war, nach 22000 Kilometern, die letzte Etappe. Ich weiß noch, es war Tag, und doch waren die Sichtverhältnisse stark eingeschränkt. Ein kleiner Sandsturm verteilte die rote Wüste flächendeckend über alles, man sah im wahren Wortsinn »rot«.

Plötzlich aber war da noch etwas. Eine Gestalt, die schemenhaft nur zu erkennen war, während ich von hinten schnell auffuhr. Was ist das? Es bewegte sich, schwankte ein bisschen – ein Esel, hätte ich gedacht, wäre ich in Asien unterwegs gewesen. Aber nein, doch nicht hier auf einem australischen Highway! Jemand auf einem kleinen Motorrad vielleicht?

Als ich langsam vorbeifuhr, erkannte ich: ein Radfahrer! Genauer: ein Reise-Radler, auf einer eleganten schlanken Maschine, die nicht nur ihn, sondern auch große Packtaschen beförderte. Mein erster Reise-Radler! Den Kopf hatte er sich zum Schutz gegen den allgegenwärtigen Sand mit Handtüchern umwickelt, und so stampfte er unbeirrt, mit rhythmischen Tritten durch den Sturm.

Ich war wie elektrisiert. Welche Freiheit! Welche Möglichkeit, das Leben bis ins Detail selbst zu bestimmen! Wie ein Vogel kann ja ein Radfahrer fliegen, wohin er mag – und wenn er dann abends nicht mehr mag, schlägt er sein Zelt auf und kocht sich eine Suppe!

Ich zog den Bulli auf den Randstreifen. Ich sprang heraus und wedelte mit den Armen, als die Gestalt näher kam. Ich rief, er solle anhalten, ich müsse mit ihm sprechen. »No talk, please«, kam unter dem Handtuch-Turban hervor. Komischer Akzent. Ein Ausländer! Und dann stampfte dieser Radfahrer einfach weiter.

Ich überholte ihn abermals, wedelte wieder mit den Armen, aber diesmal sprach ich ihn auf Französisch an. Und da hielt er, wickelte sich aus den sandigen Tüchern heraus, kam zu mir in den Bus, und geschützt vom Sturm ergab sich ein langes Gespräch.

Jean-Pierre war Belgier, war Postbote und ein Verfechter des anspruchsvollen Tourenfahrens. Hohe Schule sozusagen. Sein Bruder fuhr als Radprofi, weswegen er viel Ahnung von Fahrradtechnik und -training hatte und auch die Fachbegriffe alle kannte. Ich war vollkommen fasziniert. Ich hatte ja keinerlei Vorstellungen davon gehabt, wie vielseitig etwas so Simples wie ein Fahrrad sein konnte!

Später lebte Jean-Pierre einige Zeit in Darwin, so wie ich. Wir freundeten uns an. Ich brachte ihm das Autofahren bei, weil er vorhatte, in Australien ein wenig Geld zu verdienen – und das ist kaum möglich ohne Führerschein. Er wies mich dafür in die Kunst des Radfahrens ein, erlaubte mir sogar, auf seiner Maschine zu fahren, einem von Hand auf Maß gebauten Randonneur mit edler Campagnolo-Ausstattung.

Und als er ein paar Monate später zurück nach Belgien flog, um seine Braut abzuholen, durfte ich solange sein Allerheiligstes zum Trainieren benutzen. Jean-Pierre hatte meine ganzen Ersparnisse im Gepäck, um beim Rahmenbauer Monsieur Crahay ein Rad nach meinen Maßen anfertigen zu lassen. 800 Dollar! Dafür hätte man seinerzeit auch einen durchaus passablen Gebrauchtwagen bekommen.

Ich nahm mir Zeit mit dem Üben. Ich ertrug die Höllenqualen eines malträtierten Gesäßes, lernte, dass man ohne die richtige Bekleidung kaum gut radeln kann. Als Jean-Pierre zurück war – mit meinem eigenen Rad! –, ging alles erst richtig los. Mir war klar, ich wollte nun selbst auf die Piste, sogar Packtaschen hatte ich mir schon selbst genäht. Ich wurde Trauzeuge, als Jean-Pierre und seine Chantalle heirateten, und als ich dann startete zu meiner Premierentour von Darwin nach Sydney, begleitete mein Freund mich auf der ersten Etappe.

Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern gewesen: 90 Kilometer. Ich bin euphorisch. Und erst als ich mein Zelt aufbauen möchte, merke ich, dass Jean-Pierre seine Ausrüstung nicht dabei hat. »Egal«, sage ich, »da schläfst du heute nacht eben bei mir.« Doch er winkt ab. Noch einmal liegen wir uns in den Armen, er wünscht mir Glück. Dann steigt er leichtfüßig auf und fährt die ganze Strecke, für die wir einen guten Teil des Tages gebraucht haben, wieder zurück. Ein letzter Beweis für mich, was auf dem Fahrrad alles möglich ist …

Der Rest ist Geschichte, sind Geschichten über Geschichten, sind Begegnungen und Erfahrungen, die mein Leben unendlich reich gemacht haben. Doch jetzt, nachdem ich am 24. März 2012 am südlichen Zipfel von Neuseeland inmitten einer Schar von Freunden Champagner getrunken und meinen 70. Geburtstag gefeiert habe, ist der Abschnitt der großen Radreisen in meinem Leben wohl zu Ende. Doch jene erste grandiose Tour, die mich von der Antarktis in die Arktis führte, habe ich zuvor in umgekehrter Richtung noch einmal unter die Räder genommen. Und hier stehen wir, euphorisch wie vor 35 Jahren, angefüllt mit den Wundern dieser Welt – und laden Sie ein, mit uns zu teilen, mitzufeiern. Gebt uns noch einmal die Welt!

Wie Finger einer Hand strecken sich die skandinavischen Länder in den äußersten Norden. Norwegen gehört der schmale Küstenstreifen bis ganz nach oben, Schweden macht sich breit bis zum Bottnischen Meerbusen, auf dessen östlicher Seite Finnland sich reckt bis fast zum Kap – um seinerseits an Russland zu grenzen, jenen Nachbarn mit der kalten Schulter, der in Murmansk, nicht mehr als etwa 700 Kilometer entfernt vom Kap, seine gigantische Nordmeerflotte unterhält.

Wenn wir uns nur ein bisschen verfahren, schießt mir durchs Hirn, könnten wir in ein paar Tagen vielleicht jene abgewrackten sowjetischen Atom-U-Boote betrachten, von denen es heißt, dass ihre Reaktoren sich langsam, aber sicher durch den Schrott schmelzen und eines Tages ein besonderes Nordlicht entzünden werden, ein »ewiges Licht«, gespeist von Kräften, die der Mensch nicht kontrollieren kann. Im Stadtwappen von Murmansk schwimmt oben das Schiff und unten der Wal, ganz wie sich’s gehört. Wie allerdings der Wal und seine Freunde auf eine atomverseuchte Barentssee reagieren würden, bleibt abzuwarten.

Na, so weit werden wir uns schon nicht verfliegen, der Klaus und ich. Gerade kommt er mit staunenden Augen hinaus an die frische Luft. »Mensch«, sagt er, »ist ja irre, was es hier alles gibt.« Als jemand, der seine Kindheit im Osten verbracht hat, steht er dem Rummel, der Fülle, dem hemmungslosen Kommerz ganz anders gegenüber als ich. Er genießt ihn! Er ist tatsächlich neugierig darauf, zu erfahren, was sich die Einheimischen hier im Norden ausgedacht haben, um dem Besuch aus dem Süden das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Sein Counterpart wäre wohl jener coole Wessie, der jederzeit so tut, als hätte er wirklich schon alles gesehen und erlebt. »Kenn-ick, kenn-ick, kenn-ick«, wäre sein Lebensmotto. Ihm würde die Gleichgültigkeit ins Gesicht geschrieben stehen; wirklich begeistern ließe er sich kaum. Klaus ist mir da wesentlich sympathischer; man kann mit ihm ins pralle Leben tauchen, lachen, Unsinn machen. Er ist ein guter Radfahrer, besser noch, ein überaus vertrauenswürdiger Kumpel – und am allerbesten: ein echter Freund.

Die Derers kommen meist nicht allein, sondern als Clan. Die drei Brüder Klaus, Frank und Rüdiger sind lokale Größen im Erfurter Fahrradmarkt – mit ihrem Ladengeschäft, einer Servicestation am Bahnhof und einem Center für die neuen elektrischen Bikes. Groß geworden sind sie noch alle in diesem anderen politischen System, in dem es nichts gab, am allerwenigsten persönliche Freiheit. Als die Mauer fiel, bedeutete das für sie das Wegfallen vieler Fesseln. Endlich leben! Endlich das tun können, wonach ihnen der Sinn stand!

Ich weiß noch, es war eine einzigartige Atmosphäre des Aufbruchs. In Westdeutschland fragen sie bei meinen Vorträgen immer nach der Technik. »Wie viele Gänge braucht ein Reiserad?« – »Wie schwer sollte der Rahmen sein und aus welchem Material?« – »Zweifach oder dreifach gekreuzte Speichen – was ist für Namibia besser!«

Im Osten hingegen interessierte viel mehr das Tun. »Wie komme ich in einem fremden Land zurecht, wenn ich die Sprache nicht spreche? Wenn ich vielleicht nicht einmal die Schrift lesen kann?« – »Wie plane ich ein solches Abenteuer?« – »Wie viel Geld brauche ich, und kann ich unterwegs vielleicht noch was dazuverdienen?«

Zurück nach Norwegen. Wir sind ja nun schon einige Tage zusammen unterwegs. Gleich als er von meinem aktuellen Projekt hörte, hatte Klaus mir klargemacht, er müsse den Start mit mir gemeinsam erleben. Alternativlos. Und das Finale in Neuseeland auch! Nun ist es ein ziemlicher Akt für einen Fahrradhändler, mitten in der Hochsaison für ein paar Wochen Rad fahren zu gehen. Ich kenne eigentlich keinen anderen, der das übers Herz brächte. Aber Klaus ist da eigen, Klaus ist halt Klaus.

Ankunft in Oslo. Es ist der 20. Mai 2011, und uns empfängt herrliches, fast schon sommerliches Wetter, nachdem es in Deutschland noch so ausgesehen hatte, als wolle der Winter niemals weichen. Wir bauen die Räder zusammen. Wir verteilen unser Gepäck in die Taschen und starten einen ersten kleinen Test-Run vom Hafen Richtung Campingplatz. Als die Zelte stehen, fahren wir völlig entspannt durch die Stadt, schauen uns den Vigilands-Park mit seinen Skulpturen an und trinken Kaffee in der Sonne. Wir betrachten die Norweger, wie sie so sind bei sich zu Hause, und fühlen uns frei wie zwei Spatzen, die nichts als den Himmel über sich haben.

Weil wir Spaß haben in Oslo, weil uns niemand treibt, hängen wir den nächsten Tag einfach noch dran an unser improvisiertes Sightseeingprogramm. Dann aber geht es entschlossen zum Flughafen. Wir schieben die Bikes in die dafür vorgesehenen Boxen, zahlen einen Haufen Geld fürs Übergewicht unseres Gepäcks – und fliegen schon kurz darauf rund 2000 Kilometer weit nach Norden über ein Land, das immer leerer zu werden scheint, je weiter wir uns von der Hauptstadt entfernen. Zu Anfang sehen wir aus der Luft noch kleinere Orte, ab und zu eine Stadt. Unter uns Wälder, Felder, Fjorde, Berge. Aber all das nimmt zusehends ab – außer den Fjorden –, und als wir in Hammerfest landen, empfängt uns eine Landschaft aus riesigen braunen runden Felsen. Darüber spannt sich strahlend blau der Himmel, so klar, dass man die Sauerstoffmoleküle wohl einzeln betrachten könnte, wenn man nur gezielt nach ihnen suchte.

Faszinierend aber sind diese Felsen. Über weite Strecken wächst nicht einmal Moos auf ihnen, abgesehen von einzelnen, runzeligen Abschnitten, die dem Wetter abgewandt sind. Es ist, als hätte eine Herde gigantisch dicker Walrösser sich niedergelassen, um das Ende der Zeit zu erwarten und sich bis dahin am kalt flackernden Feuer des Nordlichts zu ergötzen. Diese Burschen mit ihrer von tausend Eiszeiten geglätteten Haut begleiten uns die nächsten Tage – und was sie umso faszinierender macht, ist die Tatsache, dass sie bei jedem Wetter und je nach Sonnenstand ihre Farbe verändern. Ich habe sie hellgrau und dunkelgrau erlebt, braun in allen Schattierungen und sogar blau, wenn ihnen der Sinn danach stand!

Jetzt sind wir also schon in Hammerfest – und immer noch gut 200 Kilometer vom eigentlichen Start der großen Welttour entfernt. Wir könnten das mit dem Rad erledigen, kein Thema. Andererseits … müssten wir kurz darauf die gleiche Strecke ja wieder zurückfahren; so groß ist die Routenauswahl hier am Ende Europas eben nicht. Das wäre langweilig, beschließen wir. Na, und weil wir ja noch Touristen sind sozusagen, ein bisschen verwöhnt und unbedingt neugierig, buchen wir eine Passage auf einem dieser unverwechselbaren norwegischen Postschiffe der Hurtigruten.

Dazu muss man sagen, dass »unser« Schiff noch ein gutes Stück unverwechselbarer ist als die anderen. Will heißen, es ist nicht einfach nur weiß, rot, schwarz und fährt Fjord-rein, Fjord-raus – es zählt zu den ältesten, die überhaupt noch Dienst tun! Ein wunderbarer alter Dampfer, in dessen Salon schon Cary Grant mit abgespreiztem kleinem Finger seinen Tee hätte getrunken haben können. Und als wir unterwegs einen Vertreter der neuen Hurtigruten-Generation treffen, stellen wir fest: »Unserer« ist im Vergleich dazu nicht mehr als eine hurtige kleine Nussschale!

Wir reiten also auf einer echt nostalgischen Welle Richtung Honningsvag; von dort sind es noch 39 Kilometer bis zum Felsen mit dem Nordkap; kurz davor liegt ein respektabler Campingplatz, auf dem schon bald unsere Zelte stehen.

Am nächsten Tag ist es dann so weit: Uns steht gleich ein elf Kilometer langer Anstieg vor dem Lenker. Hinauf, hinauf, hinauf auf den Hügel, auf dieses Biest von steinernem Walross. Ich bin doch noch nicht so trainiert, dies ist doch die erste Etappe! Aber es hilft alles nichts, und als wir endlich oben sind, einen Überblick über die Leiber der anderen Walrösser haben, die sich um unseres scharen … als wir um eine Ecke biegen, heraus aus dem Schutz unseres Anstiegs – da reißt mich der Wind vom Rad.

Ich rappele mich hoch, steige auf, und schon erwischt mich die nächste Böe, treibt mich vor sich her wie ein Stück zusammengeknülltes Papier. Es ist Verkehr auf der Straße. Die ersten Touristen haben ihre Camper nach Norden bugsiert – denen möchte ich nicht am Kühlergrill kleben, nur weil die plötzliche Laune eines Sturmpeitschers mich auf die Gegenfahrbahn schleudert.

Nein, das will ich nicht. So soll meine Reise bitte nicht beginnen – und vor allem nicht so schnell enden. Ich rede mit Klaus. Wir unternehmen zwei, drei weitere Versuche, bevor wir die Bikes wieder abwärtsrollen lassen, zurück zum Campingplatz von Honningsvag. Dort haben wir unsere Taschen gelassen; der Ausflug zum Nordkap sollte ohnehin nicht mehr als ein Anstandsbesuch werden. Nun bleiben wir halt einen Tag länger.

Vielleicht sollte ich grundsätzlich einmal erwähnen, dass ich so um die 60 Kilo wiege – das meiste davon Bart, wie ich Leute schon habe reden hören, wenn sie dachten, ich schliefe. Dazu kommen rund 20 Kilo Fahrrad, das sich zum Glück mit wenig Widerstand bewegen lässt. Die Taschen bringen normalerweise noch einmal 40 Kilo auf die Waage, sodass da in voller Montur so um die 120 Kilo Tilmann durch die Welt radeln. Der Sturm auf dem steinernen Walross spielte hingegen mit nur 80 Kilo; gefährlich war er durch die Unvorhersehbarkeit seiner gewaltigen Böen. Sie ließen mich tanzen, dass ich kaum reagieren konnte.

So hat uns der Campingplatz bald schon wieder. Ich verziehe mich samt Laptop für ein paar Stunden ins Internet, wo ich die Wettervorschau studiere, E-Mails beantworte und meine Homepage aktualisiere. Über Skype telefoniere ich zum Nulltarif mit Renate, wie ich es fast täglich mache, sofern eine Verbindung möglich ist. Ich liebe diese moderne Technik. Sie lässt mich die Verbundenheit von allem mit allem nicht nur spirituell erahnen, sie macht sie mir hautnah greifbar, erlebbar! Ich werde zum Herrn über Raum und Zeit, wenn ich die neun Stunden Differenz zwischen Australien und Europa überbrücke und aus dem Mittagsland in Regionen telefoniere, wo sich die Menschen gerade aufs Zubettgehen vorbereiten!

Da sitze ich und habe freie Wahl. Rufe ich meinen Fahrradsponsor in Holland an oder meinen japanischen Freund Tatsuja, der in den USA lebt – der aber, weil er selbst Radreisender ist, den Anruf auch in Feuerland entgegennehmen könnte oder in Asien. Oder der auf meine Frage, wo er denn gerade sei, womöglich antwortet: »Ich möchte morgen zum Nordkap fahren. Momentan bin ich auf einem Campingplatz elf Kilometer entfernt davon, in diesem kleinen grünen Zelt von VauDe, das du mir damals besorgt hast …« Und dann schaue ich hinaus aus meinem gelben Zelt und sehe ihn in 50 Meter Entfernung, wie er da hockt und per Skype mit mir telefoniert!

Hört sich konstruiert an? Ich glaube fest daran, dass so etwas möglich ist. Wer immer da draußen an den Reglern unseres Universums sitzt, hat eine Menge Humor. Auch. Er hat auch Humor. Meistens aber lacht er allein, weil die Menschen zu verstrickt in ihr kleines Leben sind und daher die göttlichen Witze nicht kapieren. Schlimmer noch, sie glauben gar nicht, dass es das geben könnte, einen göttlichen Witz. Na, und wenn sie dann einem begegnen, bei dem ich mich wegschmeißen könnte vor Lachen – dann trauen sie sich nicht, denn in ihrer Vorstellung passt das nicht zusammen, das Göttliche und der Witz. Vielleicht glauben sie sogar, sie kämen in die Hölle, wenn sie lachten.

Tags darauf schaffen wir den Anstieg ohne Probleme, und da ist es, das schroffe Ende des Kontinents, das sich massiv verändert hat in den vergangenen Jahrzehnten. Als ich das letzte Mal hier stand, war sein Wahrzeichen, der große Globus, fast neu. Es gibt ihn seit 1978. Die meterhohe Skulptur steht auf einem soliden Stativ und besteht im Grunde nur aus Längen- und Breitengraden. Stahlbänder, übereinandergelegt. Der Raum, den unsere Welt einnehmen sollte – das eigentlich Wichtige also –, ist leer. Da pfeifen die Stürme des Nordens.

Man könnte das als Sinnbild für die ganze Inszenierung dieses Nordkaps verstehen, als Selbstentlarvung eines Schwindels. Denn das, was wir als Nordkap kennen, ist gar nicht der nördlichste Punkt Europas. Immerhin, der sollte auf dem Festland liegen, das Kap aber befindet sich aus unerfindlichen Gründen noch ein Stückchen weiter nördlich, auf der dem Kontinent vorgelagerten Insel Magerøya. Damals, 1981, bin ich mit einer kleinen Fähre übergesetzt, ich und mein Fahrrad mit den selbst genähten Packtaschen. Inzwischen hat man dort einen Tunnel gebaut – nur damit die Leute sich den leeren Globus anschauen und das Gefühl haben können, an einem ganz besonderen Ort zu sein.

Es scheint so, als brauchten wir Menschen solche Inszenierungen: Hier oder dort, auf dem Mond oder neuerdings auch unterm Nordpol auf dem Meeresgrund wird eine Fahnenstange in den Boden geklopft, wodurch die daran befestigte Fahne eine enorme, übers Alltägliche hinausweisende, bestenfalls sogar geschichtsträchtige Symbolkraft erhält. Zum Vergleich: Dem treuesten Freund des Menschen reicht es, in solchen Fällen ein Bein zu heben.

Ein leerer Globus. Der nördlichste Punkt Europas. Dieser Ankerpunkt der Vorstellungskraft zieht Jahr für Jahr rund 200000 Menschen an. Kaum einer von ihnen wird dort an dieser windigen Kante des Kontinents ein Aha-Erlebnis haben, das ihn und sein Leben zu verändern in der Lage wäre. Aber alle werden später sagen: »Ich war am Nordkap«. Und dann sagen die anderen: »Aha«.

Daher ist dieses Nordkap der perfekte Ausgangspunkt für meine große Reise, der wahrscheinlich letzten mit dem Anspruch, per Fahrrad eine mehr oder weniger gerade Linie über die Weltkugel zu ziehen. Um dann darüber zu berichten. Da braucht es Symbolkraft, sonst verlieren sich die unglaublichen mehr als 16000 abzukurbelnden Kilometer im Ungreifbaren, im Unbegreiflichen. Wenn man aber sagt, man führe vom nördlichsten Punkt Europas bis zum südlichsten Neuseelands, wo man der Antarktis so nahe ist, wie man ihr auf Asphalt eben kommen kann, dann können die Leute sich in etwa eine Vorstellung von den Dimensionen eines solchen Projekts machen.

Der Clou ist: Vor einem halben Leben habe ich diese Reise schon einmal gemacht – in Gegenrichtung. Ich war damals 35 Jahre jung und in meiner Begeisterung nicht zu bremsen. Und so geschah es, dass ich zu Beginn der Reise Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um von Neuseeland aus tatsächlich noch ein Stück weiter Richtung Süden, bis in die Antarktis zu kommen. Wahrscheinlich wäre ich damals am liebsten noch ganz bis zum Südpol gefahren. Immerhin, vier Monate arbeitete ich seinerzeit als Service-Hilfskraft in der amerikanischen Polarstation McMurdoch, sozusagen »undercover« in einer Crew von Anonymen Alkoholikern. Wir füllten die Salzstreuer in der Kantine nach, die Pfefferstreuer und die Ketchupflaschen. Wir wischten die Tische und sammelten das Geschirr ein. Ich schaffte es damals mit allen möglichen Tricks, auf einigen Flügen ins Landesinnere mitgenommen zu werden, um diesen weißen Kontinent wirklich auch hautnah zu erleben, außerhalb des lärmenden Gewusels von McMurdoch, wo es wegen der Mitternachtssonne im Sommer nie dunkel wurde und wegen der vielen Menschen nie ruhig. Ich war dann von Herzen froh, als ich in Neuseeland wieder auf mein Fahrrad stieg.

Ja, und am anderen Ende meines Trips gab ich mich auch nicht mit dem Nordkap zufrieden. Ich buchte eine Schiffspassage und fuhr noch rund 1000 Kilometer weiter Richtung Nordpol – bis nach Spitzbergen –, wo ich mich kurzerhand als Koch für ein 25-köpfiges Filmteam anheuern ließ, das dort inmitten der weißen Einsamkeit den Film »Der Flug des Adlers« drehte. Es ging dabei um den ebenso historischen wie dramatisch gescheiterten Versuch, in einem Ballon den Nordpol zu erreichen. Der große Max von Sydow spielte die Hauptrolle, und wir sahen Eisbären auf freier Wildbahn.

Seit dieser Zeit gehöre ich dem Fahrrad – besser vielleicht: ist das Fahrrad untrennbar mit meinem Leben verbunden. War es zu Anfang noch so, dass ich zwischen den einzelnen Etappen Auszeiten nehmen musste, um wieder ein wenig Geld zu verdienen, so erschlossen sich bald Möglichkeiten, auch wirtschaftlich Teil der Fahrradszene zu werden – als Entwickler und Tester von Produkten, als Reisejournalist und Fotograf, als Repräsentant auf Messen und als Vortragsreisender in eigener Sache.

Und so stehe ich jetzt hier zum zweiten Mal am leeren Globus von Magerøya, und ich frage mich, ob das Kreieren von Symbolen, die Verbreitung exotischer Duftmarken der Sorten »Freiheit«, »Abenteuer« oder »Radromantik« womöglich längst zum eigentlichen Sinn meines Lebens geworden ist.

Nein, weiß ich sogleich, das ist’s wohl nicht. Im Äußeren mag das vielleicht so scheinen, vergleichbar mit den Längen- und den Breitengraden dieses Globus hier. Das wirklich Wichtige, der Inhalt meines Lebens aber ist leer, unnennbar, nicht zu kommunizieren. So steht es bereits im so überaus geheimnisvollen Tao te King, dem uralten chinesischen Weisheitsbuch:

Dreißig Speichen treffen sich in der Nabe.

Der freie Raum gibt dem Rad seinen Sinn.

Und weiter:

In allem entsteht ein Sinn

durch das, was ausgespart bleibt.

Im freien Raum liegt der Gewinn.

Im Leeren, das soll es wohl bedeuten, ruht alles Potenzial. Im Greifbaren, Materiellen hingegen das, was man sich zunutze machen kann, was auch geteilt werden kann zwischen den Menschen.

Um Himmels willen, denken jetzt sicher viele, da muss ein starker Wind gegangen sein am Nordkap. Jetzt hebt er ab, der Til. Aber keine Sorge, normalerweise bin ich ein überaus praktischer Mensch, und auch ein kräftiger Wind bläst mich so schnell nicht fort mit meinen 1,63 Meter Größe und dem dazu passenden Gewicht.

Es ist nur so, dass man auf all den Reisen einen eigenen Blick für die Dinge entwickelt, für die besonderen Zusammenhänge zwischen ihnen, für die ganz andere Bedeutung, die sie erlangen, je nachdem, wer sie wann wie betrachtet. In jeder Ehe kann man das erleben – und die besteht im Regelfall aus nur zwei Menschen. Wenn man sich aber unter die Völker der Welt mischt, wie ich es gerne mache, dann multiplizieren sich die Ansichten. Dann wird es richtig spannend.

Mit der »Leere« unserer Möglichkeiten schaffen wir unsere Welt, gestalten unser Leben. Und so haben touristische Strategen aus dem Nichts eines Inselchens namens Magerøya eine weltweit anerkannte Attraktion kreiert. Über Tausende von Kilometern reisen sie mehr oder weniger beschwerlich an, die Touristen, um über die Inhaltslosigkeit des Globus zu sinnieren.

Na, und weil den meisten der Sinn dann doch nicht nach Sinnieren steht, hat man einen riesigen Saal aus dem Fels gesprengt. Dort kann der Besucher im Trockenen sitzen, kann essen, trinken, eine Fülle wunderbarer Souvenirs einkaufen – oder sich sogar verheiraten! Ja, es gibt, sauber integriert in die gesprengte Klippe, eine ökumenische Kapelle mit 250 Sitzplätzen, spezialisiert auf Jaworte in allen Sprachen. Wie in Las Vegas, nur ohne Stretchlimousinen.

Ich gehe an die frische Luft, die hier am Nordkap wirklich ungemein frisch und noch dazu in großen Mengen kostenlos zu genießen ist. Ein Glück, ich bin bereits verheiratet, und das ist gut so. Während die Mitternachtssonne den Himmel in ein spektakuläres Fest aus feierlichen Farben kleidet, denke ich an Renate. Sie ist jetzt zu Hause bei uns im australischen Gordonvale. Vor dem inneren Auge sehe ich, wie sie sich nach Feierabend eine Kleinigkeit zu essen macht, wie sie dann ein Buch zur Hand nimmt oder mit Piglett, unserem Hund, noch mal Gassi geht.

Renate ist so ganz anders als ich, viel ruhiger, bedachter, in sich ruhend. Mir kann die Welt oft kaum genug sein. Wenn ich auf Messen mitten im Trubel stehe und mit Hunderten von Leuten simultan Kontakt habe, dann fühle ich den Puls des Lebens. Oder wenn ich durch die Länder dieser Erde fahre, die Tiere erlebe, sehe, wie die Menschen ihren Träumen hinterherlaufen – wenn ich für mich die nächste Mahlzeit, den nächsten Schlafplatz organisiere: Dann stehe ich mit beiden Füßen auf den Kraftlinien meiner Existenz!

Anders Renate. Sie braucht die Sicherheit eines Jobs, eines Zuhauses, einer Partnerschaft – um dann aus vollem Herzen geben, pflegen, sorgen und heilen zu können. Als Krankenschwester mit großem Verantwortungsgefühl geht sie auf in ihrem Beruf. In Afrika arbeitete sie jahrelang in einer Krankenstation, jetzt in Australien nimmt sie sich der Aborigines an, die zu einem großen Teil recht verloren zwischen den Kulturen leben.

Sie weiß, was sie will. Sie kann mindestens so stur sein wie ich, wenn es um das Erreichen ihrer Ziele geht, vielleicht sogar sturer. Denn ich brause mit meinem Feuertemperament oft wie ein wilder Widder durchs Leben – mein Sternzeichen – und verschieße dabei meine Energie. Sie hingegen entwickelt ihre Pläne bedachtsam, wirkt eher kompromissbereit und lässt die Zeit für sich arbeiten.

Eigentlich unglaublich, dass wir ein Paar geworden sind. Unglaublich, dass wir es jetzt schon so lange miteinander aushalten. Am unglaublichsten aber ist sicher, dass ich mich heute mindestens einmal am Tag nach zu Hause sehne. Diese Frau hat mich tatsächlich mit einer milden Form von Heimweh infiziert! Hat mich umgekrempelt – vom absoluten Fernwehcrack zu jemandem, der sich darauf freut, in Gordonvale die Beine hochzulegen (zumindest mal für ein paar Wochen oder Monate, versuchsweise …).

Ich habe die Mitternachtssonne immer wieder erlebt auf meinen Reisen. Es ist seltsam, was sie mit uns macht. Sie hebelt uns aus unserer Normalität heraus – was immer wohl das wieder sein soll. Sie bringt den Tag- und Nachtrhythmus durcheinander, beeinflusst unsere Epiphyse und die Ausschüttung von Melatonin. Sie wirkt direkt auf unser Gehirn – wie eigentlich alles, von dem wir überhaupt so etwas wie eine »Wirkung« wahrnehmen. Man schläft kaum, ist todmüde-aufgekratzt zugleich. In Verbindung mit Alkoholgenuss kann einen eine ordentliche Dosis Mitternachtssonne ziemlich aus der Bahn werfen. Es gibt Leute, die im Hotel alle Vorhänge zuziehen, die Fensterläden schließen und die Rolläden herunterlassen – und dann versuchen, mit einer Wollsocke überm Gesicht etwas vom gewohnten Schlaf zu finden. Wenn ihnen das nicht gelingt, kann das unter anderem daran liegen, dass die Zimmernachbarn in helllichter Nacht gerade eine Riesenparty feiern.

Mitternachtssonne bringt auch die Gedanken etwas durcheinander, sehr interessant dies für Zeitgenossen, die sich selbst gern beim Grübeln zusehen. Bei einem Weltumradler wie mir ist das sicher der Fall. Ich liebe die Etappen, auf denen man den ganzen Tag keine Menschenseele trifft – in der Wüste etwa oder tief in den tropischen Wäldern. Ich bin dann nicht allein, o nein, denn ich habe ja mich! Ich denke mir einen Mahlstrom von Bildern und logischen Puzzleteilchen zusammen, lasse sie sich zu gewaltigen Gebirgen auftürmen und erfreue mich an ihnen. Aus ein paar Nachrichtenschnippseln, inhaliert beim letzten langen Blick ins Internet, aus jeder Menge Erinnerungen und dem, was man als Mann mit knapp 70 »Lebensweisheit« zu nennen geneigt ist, generiere ich Ihnen auf einer Etappe von 100 Kilometern mit Leichtigkeit ein modernes Gilgamesch-Epos. Oder ein Szenario zum Kalenderwechsel des Maya-Tzolkin (Stichwort »2012«), bei Bedarf sogar ein persönliches Statement zur Steuergesetzgebung des australischen Bundesstaates Queensland, in dem wir leben. Oder ich denke über mich selber nach, meinen Weg, meine Herkunft, über Renate.

Sie hat mich »gezähmt«, wie es Saint-Exupéry so wunderschön in der Geschichte Der kleine Prinz mit dem Fuchs erzählt. Dieser Fuchs möchte sich mit dem kleinen Prinzen gern anfreunden, aber der, weil von außerhalb, weiß nicht, wie das geht. »Du musst mich zähmen«, sagt der Fuchs. »Du musst dich mir vertraut machen, sodass du für mich aus der riesigen Zahl der anderen Menschen heraustrittst, unverwechselbar und unverzichtbar wirst.« Dann, so der Fuchs, werde er sich dem Prinzen öffnen in seiner ganzen Besonderheit, woraufhin der ihn dann studieren, ihn lieb gewinnen könne in seiner ganz besonderen Nähe. Dies zuzulassen bedeutet Zähmung. »Du wirst für mich einzig sein in der Welt«, sagt der Fuchs, »und ich werde für dich einzig sein in der Welt.« – Dem Prinzen wird das Ganze offenbar etwas unheimlich. Er versucht sich aus der Affäre zu ziehen. Er habe nicht so viel Zeit, es gebe so viel, das er noch kennenlernen müsse. Daraufhin der Fuchs: »Man kennt nur die Dinge, die man zähmt.«

So war es bei Renate und mir. Wir beide dachten an alles andere als an eine Romanze, als wir uns 1982 in der Sahara trafen. Ich war damals ganz und gar eingenommen von meinem zweiten großen Fahrradprojekt, der Durchquerung Afrikas mit dem Rad. Renate hingegen hatte ihre Radtour von Bremen nach Ruanda nur deshalb unterbrochen, weil es ihr als Frau in den islamisch geprägten Ländern Nordafrikas unmöglich war, allein zu reisen. Zwischen Steinigung und Vergewaltigung auf offener Straße hätte ihr dort alles Mögliche widerfahren können. Da hatte sie ihr Rad kurzerhand auf dem Dach eines VW-Busses verzurrt, dessen Besitzer eine Saharareise unternahm. So trafen wir uns im Oasenstädtchen Tamanrasset auf dem Campingplatz. Ich weiß noch, sie war es, die mich ansprach. Auf Englisch. Ob ich der Italiener sei, der mit dem Fahrrad durch die Sahara fahre; von so einem habe sie unterwegs gehört. Ich antwortete, ich sei darüber hinaus auch noch Australier, geboren jedoch in München, weshalb wir ja eigentlich auch Deutsch reden könnten.

So lernten wir uns kennen. Sie war es dann wieder, die mich fragte, ob sie sich mir anschließen könnte. Sie sei hier, um Rad zu fahren, ein VW-Bus sei im Vergleich dazu eine allzu bequeme Alternative. Sie wolle Afrika ohne störende Windschutzscheibe erleben.

Es waren solche Sätze, die mich aufhorchen ließen. Es war die Art, wie sie sich und ihr voll bepacktes Rad ein paar Tage später mit stiller Entschlossenheit den 2726 Meter hohen Assekrem-Pass hinaufwuchtete, wie sie mir oben die wunden Füße versorgte, während mir zum Fluchen war in der grässlichen Hitze und ich meinen schönen Randonneur sicher mehr als einmal in den rutschenden Schotter geschmissen hätte, wäre ich allein dort gewesen.

Wir blieben damals bis Togo zusammen, teilten auch jenen Abend, als wir auf dem sauber gestutzten Rasen einer kleinen Polizeistation zelten durften – und uns dann anhören mussten, wie drinnen ein armer Häftling zu Tode geprügelt wurde. Ein paar Helfer luden später das, was von ihm übrig war, auf einen Pick-up und starteten durch in die Nacht. Der Peiniger selbst, ein riesiger Schwarzer, dem die Anstrengung den Schweiß aus allen Poren getrieben hatte, kam nun zu uns auf die Wiese, steckte sich eine Zigarette an und lud uns mit breitem Lächeln zum Abendessen ein. Als wäre nie etwas gewesen, als hätte er nicht vor ein paar Minuten einen Menschen umgebracht.

Dennoch, ich wollte in Togo bleiben, wollte, in sicherer Distanz zu dieser Polizei, das Strandleben genießen. Und während ich über kurz oder lang in die dortige Gesellschaft integriert wurde – aus drei Palmen errichtete man mir schon bald meine eigene Tilmann-Waldthaler-Palmwedelhütte –, während ich später Mustapha Tettey Addy, den Meistertrommler von Ghana, und seine wilde Schar von Eleven kennenlernte, war Renate in der ihr eigenen Konsequenz allein unterwegs Richtung Ruanda, zu ihrer Krankenstation. Wir trennten uns mit Bedauern, doch ohne dass es uns das Herz zerriss.

Das hätte es eigentlich gewesen sein können. Jeder lebte sein Leben, gravierte seine eigene kleine Furche auf die Epidermis des Planeten – und doch blieben wir verbunden über die Jahre und die Kontinente. Wir schrieben uns ab und zu, schickten uns die ständig wechselnden Adressen hinterher. Und als Renate 1986 endlich zurückkam aus Ruanda, ergab es sich, dass sie mich in Südtirol besuchte.

Na ja, im Jahr darauf bezogen wir einen uralten Bauernhof im Sarntal, auf halber Höhe des Penser Jochs gelegen. Im Sommer lebten wir idyllisch inmitten blühender Wiesen, im Winter – und der war lang – unter schweren Lagen von Schnee. Renate arbeitete als Krankenschwester, ich versuchte mich als Wanderfotograf, als Journalist und als Berater in einem Spezialgeschäft für die damals brandneuen Mountainbikes; später schrieb ich eine kleine, aber recht erfolgreiche Reihe von Tourenbüchern, die ein Bozener Verlag herausbrachte.

Auch mit dem Fahrrad waren wir immer wieder unterwegs. Ich kostete die Touren bis zur Neige aus, Renate begleitete mich, so weit es ihr eigener Lebensplan erlaubte. Vier Monate etwa verfolgten wir gemeinsam den Nil bis zu seinen Quellen, statteten dabei den Berggorillas in Ruanda einen Besuch ab, wurden bestohlen, erlebten herrliche Landschaften und eine große Freiheit von all jenen Zwängen, die die Zivilisation für den modernen Menschen so in petto hat.

Auf der Niltour erkrankte sie an einer schweren Lungenentzündung. Später, auf einer spektakulären Etappe meiner Reise durch die Amerikas, wäre sie eines Nachts in den Anden fast gestorben. Wir bezwangen in elendem Dauerregen, inmitten schweren Lkw-Verkehrs auf unsicheren Straßen einen fast 4000 Meter hohen Pass, als sie, unterkühlt, auch noch von der Höhenkrankheit befallen wurde. Von Höhenkrankheit spricht man, wenn die Lunge den Körper in dünner Höhenluft nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgen kann. Im Extremfall bilden sich Ödeme – mit möglicherweise tödlichen Folgen für den Betroffenen. Unsere einzige Chance: Wir mussten schauen, so schnell wie möglich aus der großen Höhe herauszukommen in Schichten mit höherem Sauerstoffanteil in der Luft.

Es war apokalyptisch. Tropischer Dauerregen, eine Straße, die, bei Licht besehen – hätte es das nur gegeben! –, nicht mehr als ein matschiges Felsband war und manchmal so schmal, dass es höchster Rangierkunst bedurfte, wenn Autos einander passierten. Nicht selten sahen und hörten wir die dicken Lkw, deren wichtigstes Extra das am Innenspiegel baumelnde Kreuz ist, erst im letzten Augenblick. Oft gab es dann keine Ausweichmöglichkeit zwischen Felswand und Abgrund; irgendwie quetschten wir uns aneinander vorbei.

An einem Rastpunkt beschwor uns ein freundlicher Chilene, zumindest für die Nacht von der Strecke zu bleiben. Hier spielten wir mit unserem Leben. Wir erklärten ihm mit Händen und Füßen, warum wir das Risiko auf uns nehmen müssten, und er verstand. Er habe jetzt nicht genug Platz in seinem Auto für uns und die Bikes, aber er wolle von zu Hause den größeren Pick-up holen und uns dann noch einmal entgegenfahren, um uns zu helfen.

Wir fuhren weiter, und tatsächlich: Gegen Mittag des nächsten Tages – wir hatten Fedo Parra fast schon vergessen – kam dieser Mensch uns in einem riesigen Auto entgegen, sammelte uns ein und fuhr uns weit, weit bis zu sich nach Hause in Santiago de Chile, wo wir uns ein paar Tage erholen konnten. Fast 600 Kilometer hatte er zurückgelegt, um uns zu retten – eines der eindrucksvollsten Beispiele von Hilfsbereitschaft, die ich in all den Jahren unterwegs erlebt habe.

Die meisten Menschen, die ich kenne, hätten nach einem solchen Abenteuer die Nase voll gehabt vom Radreisen. Nicht so Renate. Ihr diente es dazu, ihre Grenzen zu erkennen. Diese Form von Abgeklärtheit, der völlige Verzicht auf Besitzansprüche an mich und mein Leben, die Toleranz meinen verrückten Plänen und Aktionen gegenüber – all das war ausschlaggebend dafür, mich von ihr »zähmen« zu lassen.

So kam es 14 Jahre nach unserer ersten Begegnung – genau: am 29. Oktober 1996 – im Standesamt Innsbruck schließlich zu einer lustigen Veranstaltung.

Im zivilisierten Österreich ist man an Brautleute in bunter Tracht gewöhnt oder an welche, die eingewickelt in einen halben Gardinenladen auftauchen, dessen Restposten sie dann noch als Schleppe hinter sich herziehen. Wir aber hatten uns fein gemacht. Renate trug einen wunderschönen, farbenprächtigen indischen Sari, trug ein paar allerliebste Sandalen an den nackten Füßen und eine Menge Schmuck mit großen funkelnden Steinen um den Hals. Ich mit meinem hennaroten Wuschelkopf samt passendem Bart ging ebenfalls als Inder, wenngleich etwas dezenter als Renate.

Ja, und weil ich mich mit dem Heiraten so überhaupt nicht auskannte, öffnete ich im großen Amtsgebäude einfach eine Tür, um nach dem Weg zu fragen. Der Beamte hinter seinem imposanten Schreibtisch herrschte mich an: »Bitte jetzt nicht stören, hier findet gleich eine besondere Zeremonie statt.« – »Ja, welche denn«, wagte ich zu fragen. – »Hier heiraten gleich eine gewisse Frau Traemann und ein Herr Waldthaler«, kam die unwirsche Antwort. – »Jo mei«, hab ich da ausgerufen, »des san ja mir!«

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