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Wohngemeinschaft mit Herausforderungen. Nachdem ihr Mann ausgezogen und alle Kinder das Nest verlassen haben, beschließt Marietta, in ihrem Haus eine Wohngemeinschaft für Menschen in Not zu gründen. Marietta sieht sich mit verschiedensten Schicksalen, Überreaktionen der Betroffenen und deren Sorgen konfrontiert. Diese erfordern ihr ganzes Einfühlungsvermögen, wenn sie ihren Mitbewohnern helfen will. Sie reift an den Erfahrungen und findet unerwartetes Glück und eine große Liebe.
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Seitenzahl: 431
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Liebe Leserin, lieber Leser,
Im eigenen Zuhause fremde Menschen aufzunehmen, die schräge Biographien haben und die verzweifelt eine Bleibe suchen, ist nicht jedermanns Sache. Marietta, die Hauptperson des Romans, und ich, die Autorin, haben es gewagt.
Ich habe in meiner WG viele Menschen näher kennengelernt und bin mit ihnen auch durch Abgründe gegangen. Meine Erfahrungen haben mich inspiriert, Marietta, eine Art Alter Ego von mir, zu kreieren und sie ebenfalls eine Wohngemeinschaft unter gleichen Vorzeichen gründen zu lassen. Die Figuren sind erfunden. Ihre Verhaltensweisen spiegeln jedoch Begebenheiten wider, die ich teilweise wie Marietta erlebt habe. Die Gedanken und Handlungen dieser Menschen sind gar nicht so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Ich habe diese in unterschiedlichen Ausprägungen in der sogenannten normalen Gesellschaft und auch bei mir gefunden.
Die Räumlichkeiten und deren Nutzung stimmen mit denen in meinem Zuhause überein. Die erwähnten Zimmer vermiete ich nach wie vor. Mit dem Roman lade ich auch Dich ein, mein Haus zu betreten und Teil der Geschichte zu werden.
Fühle mit den Figuren, denke mit, fiebere mit. Tauche ein in die Fantasien, Hoffnungen, Spinnereien und Nöte – aber auch in die Liebe – von Marietta und den Menschen, denen sie begegnet. Manchmal wird am Ende alles gut, auf jeden Fall aber bleiben immer die Hoffnung und der Glaube an das Glück.
Sofia Velin
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Albert
Bedingungslos zu lieben, was war das nun genau?
Das fragte sie sich regelmäßig, nachdem sie das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatte. Marietta lag noch im Bett und erwartete, dass der ungeliebte Duft von Marihuana ihr in die Nase stieg von Albert, der, wie so oft, an die Wand des Hauses gelehnt frühmorgens seinen ersten Joint rauchte. Sie fühlte sich lausig und hätte am liebsten ihre Verzweiflung laut aus dem Fenster geschrien, aber sie lebte in einem kleinen Haus in einer Wohnsiedlung, Haus an Haus mit anderen Nachbarn. Die Nachbarin, die gerne zu jeder Tageszeit im Garten etwas arbeitete oder inspizierte, könnte sie hören und für übergeschnappt halten.
Laut schreien – das ging schlecht. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen, krallte die Hände in die Bettdecke und stand nach einer Weile seufzend auf. Erleichtert, dass sie immer noch nichts Ungewöhnliches roch, öffnete sie das Fenster jetzt weiter auf und atmete ein paar Mal tief durch. Sie sah den Wolken nach, die vorbeizogen, und schaute sich deren Formen an. Das tat sie sehr gerne, denn dann sah sie Herzen, Gesichter, Tiere. Heute waren es zu ihrer Freude unzählige Wellen aus kleinen Wolken, die an die Tapete ihres Schlafzimmers erinnerten, denn sie liebte Wasser und den bewegten Himmel.
Auf welcher Welle schwamm sie? War es eine Welle der echten Besorgnis? Oder war es eine Welle, die etwas davontrug? Hatte sie etwa Angst? Davor, dass ihr Leben jetzt, wo die Kinder ausgezogen waren, öde würde? Davor, dass die Zeit für eine neue Partnerschaft nun endgültig vorbei war? Sie wusste, dass niemand ihr Alter auf 50 Jahre schätzte. Alle sagten, sie sähe jünger aus. Sie fühlte sich noch nicht reif für die Insel. Marietta fand sich selbst nicht sonderlich schön, aber mit den Jahren hatte sie ihr Aussehen akzeptiert, bedingungslos lieben konnte sie sich selbst aber nicht.
Sie war keine großgewachsene Frau mit schönen langen Beinen, keine Blondine, welche die Blicke auf sich zog, doch ihre Freundlichkeit sprach Menschen an und ihre Energie drückte eine Präsenz aus, die viele Menschen dazu brachte, ihr zu vertrauen. Sie hatte einen gewissen Charme, das war nicht zu leugnen, und er diente ihr oft in ihren Kursen. Mariettas Gesicht war ebenmäßig, ihre Lippen voll und das braune Haar fiel ihr bis auf die Schultern und umrahmte ein Gesicht, das mütterlich-weiche Züge hatte. Ihre ausdrucksvollen grünen-braunen Augen, die manchmal hell blitzen konnten, wenn sie lachte, dann wieder, je nach Lichteinfall, dunkler bis fast nur braun schienen, waren offen in die Welt gerichtet.
Nicht nur die Wolken, auch Landschaften, Menschen und Bilder, die sie ansah, verwandelten sich in ihr in ein Gefühl, und so konnten heute die vorbeiziehenden Wolken ihre Gefühle besänftigen. Marietta nahm vieles über die Sinne auf. Wenn sie wütend war, erwachte ihr Temperament, das jedoch mit den Jahren und ihrer Arbeit als Therapeutin und Meditationslehrerin milder geworden war. Manchmal konnten die Augen streng blicken, und man musste sich fragen, ob man etwas angestellt hatte. Es gab aber auch Momente, da wirkte sie abwesend. Das war immer dann, wenn sie in ihr Innerstes hineinhorchte. Das verunsicherte andere oft, weil sie weit weg zu sein schien. Die Scheidung nach so vielen Jahren Ehe und danach dieses Zusammenleben mit Albert hatten den Versuch, bedingungslos zu lieben, schwer gemacht. Bisweilen tauchte deswegen auch eine Traurigkeit in ihren Augen auf. Und ihre Kinder? Liebte sie diese bedingungslos? Sie hatte sich oft durchsetzen müssen, weil deren Vater sich wenig bis gar nicht um sie kümmerte. Wenn sie ihre Kinder beschützte und versuchte, auf deren Eigenheiten einzugehen, war das Liebe, aber nicht gänzlich bedingungslos, nur nahe dran. Die Drei waren inzwischen flügge und hatten ihr eigenes Leben. Und Marietta? Sie wollte ihre Fähigkeit zu lieben ausdehnen.
Marietta hatte Albert in einem Forum für spirituelles Leben kennengelernt. Sie staunte, wie tief er sich mit spirituellen Themen auskannte und fragte, ob man sich auch privat austauschen könne. Sofort sandte er ihr seine E-Mail-Adresse. Seine Zeilen zeigten Interesse an ihrem Leben und er erzählte gerne, wie und wo er zu seinem Wissen gelangt war; das faszinierte sie. Er hatte sich intensiv mit der Kultur der Länder befasst, in denen er sich aus beruflichen Gründen als Ingenieur aufgehalten hatte. Sie erfuhr viel über seine Herkunftsfamilie, aber von seinem derzeitigen Leben schrieb er wenig. Nebenbei erwähnte er, dass er alleine lebte, geschieden war und sich eine Veränderung wünschte. Manchmal klangen seine Zeilen sehr liebevoll und das berührte sie. Nach Monaten des Austausches per Mail beschlossen sie, sich zu treffen.
Als sie Albert zum ersten Mal sah, war sie angenehm überrascht. Seine Erscheinung war athletisch und er maß bestimmt 1 Meter 90. Seine Bewegungen waren fließend und leicht, als er auf sie zuschritt.
In dem Gartenrestaurant an der Reuss waren zu dieser Zeit wenige Gäste. Es war ruhig und friedlich, bis auf einige vorbeifahrende Autos, die störten, wenn ein Fahrer seiner Power im Fuß nachgab. Der Fluss war breit an dieser Stelle und floss dunkelgrün dahin, umsäumt von wunderschönen Bäumen. Unter den Bäumen, nah am Wasser, befand sich das Restaurant. Etwas weiter unten wurde der Fluss zu einem reißenden Gewässer, das Richtung Aare zog. Am Ufer lagen drei Kanus, mit denen man im Sommer, leider nur an schönen Wochenenden, ohne Motor oder Ruder auf die andere Seite gelangen konnte. Das Kanu wurde jeweils an einem Seil angedockt, das zum anderen Ufer führte, und wurde durch die Strömung hinüber transportiert. Jetzt lagen die Boote still und gaben ein malerisches Bild ab.
Marietta fühlte sich beschwingt in dieser leicht pulsierenden Natur mit dem Geruch von Fluss und Sommerflor. Um den Lavendel, die Rosen und Margeriten flatterten Schmetterlinge. Es war warm, aber nicht zu heiß, also ideal, um für ein längeres Gespräch draußen zu sitzen, fast ein wenig romantisch. Marietta passte in diese Landschaft. Sie sah zum Verlieben aus in ihrem schönen Sommerkleid, dessen zartes Blumenmuster aus Spitze mit einem pinkfarbenen Stoff unterlegt war. Ihr Hals wirkte zart und war gemeinsam mit dem Ausschnitt, der ihren Busenansatz zeigte, eine kleine Augenweide. Er, ebenfalls sommerlich gekleidet, trug ein Hemd mit kurzen Ärmeln, blau-orange gemustert, und dazu khakifarbene Bermudas.
Er kam lächelnd auf sie zu:
»Hallo Marietta, wie schön, dich endlich live zu sehen.« Sie stand auf, ließ sich umarmen und blieb noch einen Moment stehen, um ihn besser mustern zu können. Seine Augen schimmerten in einem unergründlichen graublau. Ihr schien, als spiegelten sie die Tiefe des Meeres, die Weite des Himmels wider. Etwas verträumt wirkten sie. Dann gab sie sich einen Ruck und setzte sich wieder.
»Grüß dich, Albert. Ich war sehr gespannt, dich endlich zu sehen.«
Er nahm ihr gegenüber Platz und holte seine Sonnenbrille hervor. Nachdem Marietta eine Schorle und er einen Kaffee bestellt hatten, den er tatsächlich mit fünf Stückchen Zucker süßte, wollte er wissen, ob sie weit weg von hier wohne.
»Ich wohne fast um die Ecke. Aber von Ravensburg hierher ist es doch ein ganzes Stück Weg für dich gewesen. Ich fühle mich fast ein wenig geehrt, dass du die lange Fahrt auf dich genommen hast«, meinte sie lächelnd.
»Oh, ich bin es gewohnt, weite Strecken zu fahren. Das ist doch ein Klacks. Und um dich zu sehen, ist es das wert, das weiß ich jetzt erst recht.«
Charmant war er also auch noch.
»Und wie geht es dir?«, wollte er wissen.
»Übers Ganze gesehen geht es mir gut, aber man findet ja immer etwas, wenn man sich Sorgen machen will.«
Er lehnte sich lässig zurück und schien ganz Ohr zu sein. Marietta wartete einen Augenblick. Sie hatte nicht unbedingt Lust, über ihr emotionales Befinden zu sprechen. Also sagte sie eher unverbindlich: »Na ja, ich finde mein Leben sehr gewöhnlich, und was meine drei Kinder machen, weißt du ja. Aber du bist viel in der Welt herumgekommen. Erzähl mir mehr davon.«
»Wie du weißt, bin ich Ingenieur im Brückenbau und war weltweit unterwegs. Ob Afrika oder im Fernen Osten, auch in Europa, es gab immer viel zu tun, wenn es um neue Technologien für Bauten oder Sanierungen ging. Ich liebte diese Herausforderung und vor allem die Schönheit von Stahlbrücken. Ich will dich nicht mit technischen Details langweilen, aber, wenn du magst, zeige ich dir gerne irgendwann ein paar Fotos.«
Marietta nickte und stellte sich vor, wie es wäre, an so vielen unterschiedlichen Orten zu leben. Ihr wäre das bestimmt schwergefallen. Albert hatte seine Sonnenbrille wieder abgenommen, die ihn ein wenig wie 007 hatte aussehen lassen. Allerdings hatte er einen Millimeterschnitt und keine Frisur, die nach jeder Bewegung immer noch saß, als wäre sie eingefroren.
Er fuhr fort: »Ich habe meist in Hotels gewohnt, manchmal bin ich privat untergekommen. Wenn ein Auftrag beendet war, fuhr ich nach Hause oder gleich zum nächsten Auftraggeber. Ich war im Grunde genommen ständig auf Achse. Es blieb mir selten viel freie Zeit, auch nicht, wenn ich zuhause war, denn dann musste ich weiter planen und viele Besprechungen führen.«
Da wäre er wohl besser Junggeselle geblieben, schoss ihr durch den Kopf.
Bisher hatte sie noch nicht viel Privates von ihm erfahren und freute sich, mehr zu hören. Er fuhr auch schon fort:
»Mein Einkommen erlaubte meiner Frau und den Kindern ein gut situiertes Leben. Wegen meiner ständigen Abwesenheit ist jedoch in meiner Ehe viel schiefgelaufen, was ich zu spät erkannt habe. Ich weiß nicht, ob und was ich geändert hätte, wäre es mir früher klar geworden.«
Er seufzte, schien immer noch darunter zu leiden und machte eine längere Pause, ehe er fortfuhr:
»Die Scheidung ging ruck, zuck über die Bühne und hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Seltsam, nicht wahr? – Obwohl ich ständig unterwegs war, fühlte sich das Daheim wie eine Art Anker an, und ich liebe meine Kinder. Stell dir vor, ich habe sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen.« Er spielte jetzt nervös mit seiner Kaffeetasse.
»Meine Exfrau ist in die Nähe ihrer Eltern gezogen und wenn ich dorthin fuhr, tat sie alles, damit mir und den Kindern sehr wenig gemeinsame Zeit blieb. Ich hatte nach dem Hausverkauf einige Zeit keinen festen Wohnsitz mehr, was das Ganze erschwerte. Irgendwann war ich emotional so am Ende, dass ich den Kontakt abgebrochen habe.«
Marietta nickte voller Mitgefühl. Zum ersten Mal hatte er sich ihr gegenüber geöffnet.
»Ich denke nicht gerne an die Zeit nach der Scheidung zurück. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen, war nicht mehr kontaktfähig und musste in psychiatrische Behandlung und konnte deswegen auch nicht mehr reisen. Die Firma hat mir einen Bürojob angeboten, aber das liegt mir wirklich nicht. In gegenseitigem Einvernehmen habe ich die Firma verlassen und erhielt eine Abfindung.«
Er trank den letzten Schluck und verzog etwas das Gesicht. Der Kaffee war wohl schon kalt geworden:
»Der Arzt hatte mir Arbeitsunfähigkeit attestiert, doch das ändert sich jetzt langsam wieder.«
Er stellte die Tasse bedächtig wieder vor sich auf den Tisch. Überhaupt liefen gewisse Bewegungen wie im Zeitlupentempo vor ihr ab.
»Aber erzähl doch mal von dir, was hast du für Pläne?«
Marietta war beeindruckt von seiner Geschichte. Sie schluckte und wusste nicht, womit sie beginnen sollte. Sie zögerte auch, damit herauszurücken, dass sie gerne jemanden im Haus hätte, um nicht nur finanzielle, sondern auch etwas praktische Hilfe zu haben. In seinen Mails klang er stark, aber jetzt wirkte er fast ein wenig zerbrechlich, wenn er von seiner persönlichen Geschichte sprach.
Letztendlich gestand sie ihm ihr Dilemma: »Im Großen und Ganzen geht es mir gut, nur ist mein Haus sehr leer. Seit ich alleine wohne und keine Alimente mehr bekomme, wird das Geld knapp, und ich bin nicht sicher, ob ich da wohnen bleiben kann. Ich würde gerne mehr arbeiten, doch auf meinem Gebiet als Energietherapeutin und Kursleiterin für Meditation fehlt mir das richtige Marketing und die Konkurrenz wird immer größer. Es reicht gerade so, um den Alltag zu finanzieren. Also bin ich auf der Suche nach anderen Lösungen.«
Albert schien sofort interessiert zu sein:
»Oh, das könnten wir doch gemeinsam hinkriegen, wenn du willst. Ich könnte dir helfen.« Er setzte er sich kerzengerade auf. »Ich kann mir gut vorstellen, zusammen mit dir dein Kurswesen auf Vordermann zu bringen. Während einiger Kurse könnte ich von meinen Reiseerlebnissen berichten, deine Meditationen würden die Menschen dann auf die Orte einstimmen. Für die Werbung müssten wir deine Homepage umgestalten und neue Texte redigieren.« Er hatte natürlich jeweils im Anhang der Mails die Adresse ihrer Website gesehen und, wie es schien, auch reingeschaut.
Er hielt kurz inne.
»Ich bin auf Jobsuche, also habe ich jede Menge Zeit. Bald hören nämlich die Überbrückungszahlungen auf, dann müsste ich mich arbeitslos melden. Bis dahin kann ja noch viel geschehen.«
Der Nachmittag ging in den Abend über und sie plauderten nun noch über alltägliche Dinge. Was Marietta interessierte, waren seine Freizeitbeschäftigungen. Sie erzählte von ihrem Garten und er davon, dass er früher Leguane in einem Terrarium gehalten hatte und später Schlangen. Und er erzählte, dass er das Trommeln gelernt habe. Sie fand das interessant und er wurde ihr immer sympathischer.
»Lass uns bezahlen und noch ein paar Schritte gehen«, schlug sie vor. »Wenn du Lust hast, können wir danach zu mir nach Hause fahren, und ich mache uns ein kleines Nachtessen.«
Er fand die Idee gut, und nachdem sie bezahlt hatten, spazierten sie am Ufer entlang. Bevor sie fuhren, bat er darum, dass sie sich am Flussufer hinsetzen sollten. Sie fanden einen großen Stein, auf den Marietta sich setzte, während er sich anlehnte. Zu ihrem Erstaunen rollte er sich einen Joint. Der ihr damals noch fremde Geruch von Marihuana erfüllte die Luft, umgab ihn und stieg zu ihr auf, dass sie am liebsten von ihm abgerückt wäre. Als er fragte: »Stört es dich, wenn ich rauche?«, schüttelte sie jedoch den Kopf. Hätte sie damals gewusst, was für ein starker Kiffer er war, wäre sie wohl innerlich wieder auf Distanz gegangen.
Daheim
Sie fuhren mit ihren beiden Autos los, sie in ihrem R5 und er mit seinem alten Mercedes hinterher. Die Heimfahrt durch die ländliche Gegend dauerte keine 20 Minuten. Sie näherten sich ihrem Dorf, fuhren am Friedhof vorbei bis zu ihrem bescheidenen Haus, das von außen wie angeklebt an das Nachbarhaus wirkte. Schön daran waren das Rosenportal und der hochstehende grüne Farn, der sich sanft in der lauen Luft wiegte. Den Garten hatte Marietta nicht verändert. Das Haus aber hatte sie nach der Scheidung innen vollkommen neu gestaltet und so war es immer mehr zu ihrem Reich geworden. Eine Freundin hatte dazu bemerkt: »Der Unterschied zu vorher ist umwerfend. Jedes Objekt hat jetzt seinen Platz und dadurch wird eine Harmonie fühlbar! Das Haus drückt deine Wärme und Seele aus!« Ähnlich äußerten sich auch andere Freunde.
Als sie eintraten, nickte Albert anerkennend, während er die Schuhe auszog. Begrüßt wurde er vom Kater des Hauses, der seine Beine umschmeichelte und gestreichelt werden wollte. Er war immer neugierig auf Besucher und entschied sofort, ob ihm jemand sympathisch war oder nicht.
»Das ist Sirius, denn er fiel vom Himmel direkt in meine Arme«, erklärte sie schmunzelnd.
»Hallo Sirius, du bist ja ein wunderschöner Kater.«
Ja, Mariettas Chocolate-Kater mit seinem schönen dunkelbraunen Fell war wirklich ein speziell schöner Perser, brauchte aber viel Pflege, doch das machte sie gerne. Mit Albert schien er sich auf Anhieb gut zu verstehen und ließ sich schnurrend streicheln.
Danach folgten beide ihr durch den Wohnraum. Sie war vorausgegangen und öffnete die Schiebetüre in den Garten, wo die Abendsonne alles in ein sanftes Licht tauchte. Er trat hinter sie und genoss den Ausblick. Sie wartete, was wohl folgen würde. Er zog sie sanft am Ellbogen zu sich heran und legte einen Arm um sie, indem er sagte: »Das ist wirklich ein kleines Paradies, das du hier hast und ich finde es sehr schön, dass der Garten nicht herausgeputzt, sondern natürlich wirkt. Dieser große Buddha passt perfekt hierher! Schön, wie er den Garten bereichert!« Was sie gerne bestätigte, denn diese Figur schien einen Ruhepol zu bilden, bei all dem Herumgeflatter der Schmetterlinge, Libellen, Vögel und was sonst noch so alles brummte und summte. Albert so nahe zu fühlen, jagte einen kurzen Schauer durch Mariettas Körper, der sich in eine wärmende Zärtlichkeit verwandelte und sie beglückte. Sie wagte nicht, sich diesem Gefühl hinzugeben und sich noch mehr an ihn zu lehnen, sagte daher fast ein wenig atemlos:
»Jetzt verstehst du, warum ich nicht wegziehen will.« Nun ließ er sie los und drehte sich langsam wieder Richtung Innenraum.
»Und dieses Zimmer ist eine Erweiterung von dir? Hell, freundlich und vermutlich fühlt sich jedermann hier sofort wohl!« Das klang fast wie eine kleine Liebeserklärung. Er schaute sich um und was er sah, gefiel ihm, das merkte man. An den Wänden hingen Aquarelle, die in ihren fließenden, mal satten, mal sanften Farben schöne Farbtupfer gaben. Die Bilder zeugten vom New Age, das sich dadurch auszeichnet, dass eine Gegenständlichkeit nur noch in einem Gesicht, einer Treppe oder durch Umrisse gegeben war. Vieles musste man selbst darin erahnen. Der gesamte Raum wirkte modern und luftig durch den hellen Laminatboden, der kaum mit Teppichen bedeckt war. Das große Ecksofa war bequem genug, um darauf zu liegen. Wegen der Katzen – es gab noch zwei andere, die sich jedoch nicht sehen ließen – war es aus pflegeleichtem grauen Alcantara. Außerdem gab es noch einen Schaukelstuhl, der erstaunlich oft von den Katzen belegt wurde, da sie ihn offensichtlich dem Katzenbaum vorzogen. Marietta hatte viele Stunden darin verbracht, als sie die Kinder stillte. Später folgten viele gemütliche Lesestunden alleine, bis die Katzen ihr den Sessel streitig machten.
Im Wohnzimmer waren kleine und große Buddhas, Kristalle und schöne Halbedelsteine verteilt. Albert betrachtete alles aufmerksam und schaute sich besonders die Buddhas ziemlich genau an. Er wusste sogar, woher sie stammen. »Ah, der ist aus Burma, dem heutigen Myanmar, das merke ich an seiner Kopfform, und dieser wunderschöne schlanke ist ein Bodhisattwa, oh, wie edel.«
Ja, er war gebildet, das gefiel Marietta.
»Komm, ich zeig dir den Rest des Hauses.«
Marietta führte ihn die Treppe hoch in den oberen Stock, wo die Schlafzimmer, ein Badezimmer und ein Büro lagen. Früher hatten ihre zwei Töchter Sabine und Mirjam sich das eine Zimmer geteilt, während ihr Sohn Nick das kleinere für sich hatte.
»Siehst du, die sind jetzt ziemlich unbenutzt. Eines dient als Gästezimmer, das andere von Nick betrete ich kaum.«
Marietta zeigte in Richtung einer geschlossenen Türe: »Dort ist mein Schlafzimmer«, und steuerte aber direkt auf den Raum daneben und ließ ihn dort eintreten.
»Hier arbeite ich, darum die vielen Bücher, der große Schreibtisch und der Computer.«
Fragend schaute Albert zuerst ihre Bücher und dann sie an. »Darf ich?« Sie nickte. »Oh, das eine oder andere kenne ich, das I Ging habe ich aus meiner Zeit in Asien. Und du hast ein Lexikon der magischen Künste, das ist ja spannend.«
Sie bemerkte, dass er Bücher liebte. »Ich leihe es dir gerne mal aus, wenn du willst«, bot sie ihm an. »Hier am iMac habe ich dir jeweils die Mails geschrieben. Ich verbringe viel Zeit in diesem kleinen Zimmer. Man hat hier einen herrlichen Weitblick in die Berge. Komm, ich zeige dir noch das Untergeschoss.« Sie gingen wieder hinunter, durch das Wohnzimmer, und nahmen die Treppe in das Kellergeschoss. Der Raum war groß und diente früher als Bastelraum. Da er mit Holz isoliert war, wirkte er gemütlich.
»In diesem Zimmer hat Sabine, die ältere der beiden Töchter, als sie mit 16 Jahren mehr Freiraum wollte, gewohnt. Hier war sie ungestört, wenn sie Freunde einlud. Wir haben den Raum wohnlicher gestaltet, den Betonboden mit Laminat ausgelegt und die Wände mit einer Holztäfelung verkleidet, weil dieser Raum, eingebettet ins Erdreich, sonst zu kühl gewesen wäre. Hier unten haben wir ebenfalls eine Dusche eingebaut. Wenn fünf Personen in einem Haushalt wohnen und es alle gleichzeitig eilig haben, ist diese Dusche Gold wert.«
Albert sah sich um: »Das könnte als Kursraum dienen, dann hättest du keine Extraausgaben und kannst auch Steuern sparen.«
Das klang doch sehr vernünftig.
Später saßen sie gemeinsam am runden Esstisch. Marietta hatte ein einfaches Nachtessen mit Curryreis und gebratener Banane gezaubert. Sie ließen es sich schmecken und genossen das Zusammensein. Jeder hing seinen Gedanken nach. Gegen 22 Uhr bedankte er sich für den schönen Nachmittag und Abend und verließ sie mit einer leichten, unaufdringlichen Umarmung. Sie fand das sehr angenehm und liebevoll.
Sie begab sich nach oben in ihr Schlafzimmer. Müde und gleichzeitig ein wenig aufgekratzt setzte sie sich auf ihr Meditationskissen mit Blick auf ihren kleinen Altar und ließ die Erlebnisse mit ihm Revue passieren.
Fast eine WG
Nach zwei Monaten regelmäßigen E-Mail-Austausches und Telefonaten sowie zwei weiteren Treffen schlug Marietta vor, dass Albert zu ihr ziehen solle. Er könne schließlich, anstatt die Miete einer fremden Person zu zahlen, diese auch ihr geben, sagte er mal so nebenbei. Das Argument hatte sie sofort überzeugt. Sie mochten sich und verstanden sich gut, mehr war da nicht. Für ein gemeinsames Wohnen genügte es und genügend Platz hatte sie ja
Marietta bereitete das Mädchenzimmer im Obergeschoss für ihn vor und war gespannt, was er alles mitbringen würde. Es waren so wenige Sachen, dass sie ihn später fragen wollte, warum. Er hatte sie nie zu sich eingeladen, so dass sie nicht genau wusste, wie er vorher gelebt hatte. Musste sie sich eine Ein-Zimmer-Bude vorstellen oder hatte er gar in einem Hotel gewohnt? Es schien für ihn irrelevant zu sein. Was er mitbrachte, waren hauptsächlich Bücher, seine Trommel, zwei Koffer mit Kleidern und ein großer Teppich. Einiges war an diesem Mann geheimnisvoll.
Kaum hatte er sich etwas eingelebt, wurde er lethargischer, zog sich oft zurück, um am PC zu arbeiten, wie er sagte. Natürlich wollte sie ihm mehr Zeit geben, um sich einzugewöhnen. Die Gespräche während der gemeinsamen Essen waren angenehm, denn er hatte viel erlebt und wenn er davon erzählte, taute er richtiggehend auf. Marietta lauschte solchen Erzählungen immer sehr aufmerksam und lernte ihn dadurch besser kennen. Es gab Augenblicke, da hätte sie sich ihm gerne angenähert, doch etwas, was sie nicht benennen konnte, hinderte sie daran und sie beschloss, abzuwarten. Meistens kochte sie für beide. Manchmal war Albert heißhungrig, an anderen Tagen aß er fast nichts. Er schrieb tatsächlich Texte für ihre Flyer und optimierte ihre Homepage. Das sah überzeugend aus und sie fragte, ob er sich nicht auch einbringen wolle. »Vielleicht, wenn ich einige Zeit an deinen Kursen teilgenommen habe«, war seine hinhaltende Antwort.
Er verbrachte aber viel Zeit damit, ihr seine Visionen für gemeinsame Projekte zu erklären: »Wir könnten zusammen Reisen an die Orte planen, an denen ich gearbeitet habe, dort meditieren und die feinstofflichen Informationen auf uns wirken lassen.«
Er gefiel ihr nach wie vor, wenn er begeistert seine Ideen darlegte.
»Wir müssen ein gewisses Werbebudget einplanen, denn unter sechs Personen lohnt sich eine Reise nicht. Sie sollte sich selbst finanzieren und für uns muss ja auch etwas rausspringen.«
Sobald es aber um die konkrete Finanzierung ging, wurde er ausweichend. Er hätte ja auch Reiserouten und Hotels suchen und anschreiben müssen, das tat er aber nicht. Marietta begann zu zweifeln. Vielleicht prahlte er ja nur. Sie wusste inzwischen nicht mehr, was sie ihm alles glauben konnte.
Und immer wieder wirkte er so unnahbar. Ihr Sofa war bequem, doch selten saßen sie dort zusammen. Er half ihr in der Küche und dann verschwand er nach draußen, um zu rauchen oder ging in sein Zimmer. Er machte kaum Anstalten, sich ihr zu nähern, was sie irgendwie bedauerte. Manchmal umarmte er sie kurz freundschaftlich, das war's dann leider schon. Marietta fand Albert als Mann immer noch sehr anziehend und dachte, dass er bestimmt auch im Bett ein sehr zärtlicher Mann wäre, da er nichts Draufgängerisches an sich hatte. Er wirkte oft so verletzlich. Kam er ihr nahe, prickelte es in ihr. Sie wünschte sich immer öfter körperliche Nähe zu ihm, vielleicht sogar Sex.
An einem Tag bot sie ihm an, gemeinsam in ihrem Schlafzimmer zu meditieren. Sie saßen einander gegenüber auf der Yogamatte, neben ihnen der kleine Altar, und tatsächlich baute sich eine Energie auf, die sie in der Herzgegend spürte. Am Ende der Meditation umfasste er ihre Schultern mit den Händen, zog sie jedoch nicht zu sich heran, sondern schloss wieder die Augen. Danach sagte er, es habe sich sehr gut angefühlt und so zog sie ihn bei einer der nächsten Gelegenheiten, nachdem sie meditiert hatten, auf ihr Bett. Er schien darauf anzusprechen, legte sich neben sie und berührte sie überall zärtlich, doch es war keine Leidenschaft dabei. Marietta schien es, als sei es für ihn eher die Pflicht, ihr eine Freude zu bereiten. Doch sie wollte nicht so schnell aufgeben, begann ihn zu streicheln und aktivierte seine Männlichkeit, die dann doch reagierte. Sie wollte wissen, wie es sich anfühlte, mit ihm zu schlafen. Er ging darauf ein. Sie gab sich ihm hin und fand es sehr schön und erlebte es fast so, wie sie es erwartet hatte und realisierte dann, dass doch irgendetwas fehlte. Bei ihm war auch während des Aktes kaum Intensität zu spüren, so als sei er nur auf ihre Bedürfnisse eingestimmt und seine wären außen vor. Seltsam war es schon und erst später verstand sie, warum.
Pläne
Als Partner, der bei ihr wohnte, war er hilfsbereit und liebevoll. Mal half er im Haushalt etwas mit, dann im Garten, kaufte mit ihr ein, aber er schien sich nicht allzu stark um seine eigene Zukunft zu kümmern. Da er viel Zeit in seinem Zimmer verbrachte, klopfte sie eines Morgens an seine Türe und trat ein. Er saß vor seinem PC und war, wie es schien, damit beschäftigt, Mails zu beantworten.
»Und, hast du dich beworben?«, fragte sie ihn, denn immerhin wohnte er bereits einen Monat bei ihr. Er nahm aus der Schublade ein Mäppchen und zeigte ihr sein Bewerbungsdossier. Fein säuberlich eingeordnet waren auch einige Briefe. Das waren wohl die Absagen.
»Es ist alles bereit, ich muss Geduld haben. Vielleicht tut sich etwas Anderes auf.«
Mit so wenig Elan, wie er das äußerte, war es fast klar, dass seine Jobsuche erfolglos bleiben musste. Marietta nahm auch wahr, dass er ein wenig schuldbewusst wirkte, doch das wollte sie nicht einfach so durchgehen lassen.
»Vielleicht? Was denn?«
»Ich bin mit Freunden im Gespräch, wart's ab.«
Sie gab sich damit zufrieden, begann jedoch sein Verhalten noch genauer zu beobachten und bemerkte, dass er oftmals in seine Zigaretten, die er selbst drehte, auch Haschisch hineingab. Sie wusste ja, dass er kiffte, doch bisher dachte sie, es sei mal ein Joint zwischendurch, so wie sie auch gerne mal ein Schnäpschen nach einem Essen trank.
Sie bot ihm an, seine Freunde einzuladen, damit sie diese kennenlernen konnte. Das befreundete Paar wohnte einige Dörfer weiter und kam ein paar Tage später zu Besuch. Bisher war Albert, um sie zu sehen, zu ihnen gefahren. Es war ein freundlicher Tag, als die beiden aufkreuzten. Der Mann war mager, doch nicht ausgemergelt, eher klein, in seinem Gesicht prangte zwischen zwei klugen Augen eine klar geformte Nase, wohingegen seine Freundin unauffällig wirkte: eine Frau mit aschblondem, halblangem Haar und einem etwas unschuldigen Gesicht. Beide machten einen netten Eindruck. Wie sie kurz vorher von Albert erfahren hatte, war die inoffizielle Hauptbeschäftigung dieses Mannes, Hanf anzubauen und zu verkaufen. Noch ahnte sie nicht, worauf das Ganze hinauslief und war gespannt, wie Albert die beiden kennengelernt hatte. Sie begrüßte diese herzlich und bat sie herein. Nachdem sich die Gäste an den Tisch gesetzt hatten, bot Albert Getränke an und Roman, so hieß der Freund, begann auf ihre Frage hin zu erzählen.
»Wir haben uns auf einem Festival kennengelernt. Albert gehörte dort zum Organisationsteam und Carol hat Getränke an einem Stand ausgeschenkt. Es war eine tolle Zeit im Norden Deutschlands, ist aber schon eine gute Weile her. Wir haben den Kontakt aufrechterhalten und uns bei Partys wiedergetroffen. Als Albert uns erzählte, er wolle umziehen, haben wir uns für ihn umgeschaut, doch dann war er dir begegnet. Wie wir anschließend vernahmen, durfte er bei dir einziehen und wie man sehen kann, hat er es gut getroffen.«
Nun begann auch Albert zu erzählen und sie erfuhr, dass er zwischenzeitlich in ganz anderen Kreisen verkehrt hatte. Carol saß schweigend daneben. Marietta wollte sie ins Gespräch einbeziehen und da sie wusste, dass die beiden Vegetarier waren, wurde dieses Thema ausgiebig erörtert.
Sie hatte einen Nudelauflauf mit Gemüse gekocht und es gab dazu Blattsalat. Es schien allen zu schmecken. Nach dem Essen drehte sich Carol einen Joint, der dann zwischen Albert und ihr hin- und herging. Roman fasste den Joint nicht an und rauchte auch nicht, was Marietta verwunderte: »Du bist Nichtraucher?«
Er nickte. »Erst seit einigen Jahren, früher habe ich viel gepafft.«
»Das verstehe ich nicht ganz, du hörst auf und deine Freundin kifft?« Marietta hatte beschlossen, das Thema offen auf den Tisch zu bringen, denn sie hatte in ihrem bisherigen Leben niemanden gekannt, der Hasch rauchte. Roman erklärte ihr, dass er für den Handel mit dem Hanf sehr vorsichtig sein musste, weil sowohl Anbau als auch Verkauf verboten seien. Um sich oder seine Freundin nicht in Gefahr zu bringen, rauche er deshalb überhaupt nicht mehr. Es sei einfacher gewesen, ganz aufzuhören, als noch zu rauchen und nicht zu kiffen. Er müsse einen klaren Kopf behalten, denn das Geschäft garantiere ihm ein supergutes Einkommen. Als Albert sich einmal außer Hörweite befand, berichtete das Pärchen nur Gutes von ihm und lobte seine Hilfsbereitschaft an diversen Anlässen und dass er dort sogar einmal ein tolles Trommelsolo hingelegt habe. »Er ist ein Künstler und ganz Lieber und hilft wirklich, wo er kann. Wenn es für euch finanziell eng wird, was es ja für Albert schon ist, helfen wir euch.«
Nun ahnte Marietta, worauf das hinauslaufen könnte, sagte jedoch nichts dazu. Das Thema wurde danach auch nicht weiter erörtert. Bald verabschiedeten sich die beiden von ihr. Vor der Haustüre unterhielten sie sich noch länger mit Albert, während Marietta schon damit beschäftigt war, die Küche aufzuräumen. Sie dachte darüber nach, was sie erfahren hatte. Mit Roman und Carol war sie nicht warm geworden. Immerhin, sie hatte sich bemüht, Alberts Freundeskreis kennenzulernen.
Da Marietta sich finanzielle Unterstützung durch ihn nicht nur erhofft, sondern er das ursprünglich auch angeboten hatte, sprach sie ihn darauf an, als er wieder hereinkam und drängte auf eine Lösung. Wenn sie schon nicht zusammen etwas verändern konnten, dann eben jeder für sich.
Sie setzte ihn in der Folge ein wenig unter Druck und dachte, dass das vielleicht etwas bringen würde. Das Resultat war nicht unbedingt nach ihrem Geschmack. Sie hatte gehofft, dass er auf dem Gebiet als Planer oder Begutachter von Bauten etwas suchte und dann erfuhr Marietta eine Woche später, dass seine Freunde ihm besten Stoff in Kommission gegeben hatten, den er gewinnbringend verkaufen sollte.
Er strahlte über das ganze Gesicht: »Du wirst sehen, jetzt werde ich so richtig gut Geld verdienen.«
Hätte er sie vorher gefragt, wäre sie strikt dagegen gewesen. Sie wollte nicht als Mitläuferin gelten, wenn das herauskäme. Außerdem behagte ihr der Gedanke nicht, dass von nun an Deals in ihrem Haus stattfinden würden. War das schon länger so geplant gewesen? Fast schien es so. Marietta war auch sehr skeptisch, ob er erfolgreich sein würde, denn er wirkte oft unkonzentriert und war vielleicht ein guter Planer, aber kein Kaufmann. Es fehlte nur noch, dass er in ihrem Haus Marihuana anbauen wollte und dann kämen sie in Teufels Küche. So hatte sie sich eine Veränderung wirklich nicht vorgestellt. Für sie selbst waren Drogen tabu. Dass er rauchte, darüber hätte sie großzügig hinwegsehen können, wäre sie nicht die Leidtragende gewesen, die das Wohnen und Essen finanzieren musste. Da er nun im Besitz einer größeren Menge Marihuanas war, stellte sie fest, dass er noch öfter haschte. Marietta wusste nicht, ob und wie dieser Teufelskreis zu durchbrechen wäre und so versuchte sie ihn an seine Versprechen zu erinnern, dass er den Stoff bekommen hatte, um ihn zu verkaufen.
Eines Tages läutete Carlos, ein junger Bursche von 19 Jahren, Sohn ihrer Kollegin Petra, die ebenfalls Kurse gab, an der Tür und verlangte nach Albert. Sie kannte ihn flüchtig, hatte ihn nur einmal gesehen. Er wirkte auf sie gepflegt und wie so mancher junge Mann unauffällig, sodass Marietta sich wunderte, dass er kiffte. Wie die beiden in Kontakt gekommen waren, wusste sie nicht, doch unter Kiffern schien man sich zu kennen.
Ob seine Mutter das weiß, fragte sie sich, bevor sie ihn einließ.
Albert lud ihn auf die Gartenseite des Hauses ein. Der Junge setzte sich wichtigtuerisch an den Gartentisch und sie sah, wie Albert ein Päckchen hervorholte und Carlos daran schnüffelte. Marietta ging ins Wohnzimmer und wollte nicht Teil der Unterhaltung sein. Sie tat so, als würde sie Staub wischen und fühlte sich sehr unwohl, wenn sie aus dem Fenster zu den beiden hinüberschaute. Als der Jüngling nach einer halben Stunde wieder weg war, ließ es ihr keine Ruhe und sie fragte Albert, wie es abgelaufen war. Er erklärte ihr, er habe eine Anzahlung erhalten, den Rest des geschuldeten Betrages bekäme er in einer Woche.
»Hast du dir per Unterschrift bestätigen lassen, dass er die Ware bekommen hat?«, fragte sie.
»Er ist ein netter Kerl und das Geld kommt dann schon. Sei doch nicht so misstrauisch.«
»Und, hast du ihm eine Quittung für seine Anzahlung gegeben?«
»Nein, warum auch? Das klappt schon.«
Auch wenn es illegale Geschäfte waren, man hätte sich untereinander gegenseitig verpflichtet, bis das Geschäft erledigt war. So zumindest sah es Marietta, auch wenn sie sich eingestand, nichts davon zu verstehen. Sie fand soviel Gutmütigkeit nachlässig, denn sie glaubte nicht, dass Carlos zuverlässig war. Sie sollte recht behalten, denn der Junge behauptete später, dass er alles bezahlt habe. So unverfroren und frech, wirklich schamlos, fand sie dieses Verhalten. Weil das alles ohne Quittung geschehen war, konnte Albert ihm nicht nachweisen, dass seine Aussage nicht stimmte. So war das also ein erstes Verlustgeschäft.
Bei einer zufälligen Begegnung sprach Marietta Petra darauf an, ob sie wisse, dass ihr Sohn kiffe? Sie bestätigte, dass er rauchte und dass sie vermutete, dass er auch ab und zu kiffte.
»Jetzt weiß ich, warum er mir hundert Franken aus meinem Portmonee gestohlen hat. Leider macht er das öfters. Er verdient ja als Auszubildender noch nicht so viel und Kiffen kostet.«
Marietta war schockiert. Deshalb sagte sie nur beiläufig: »Er kam mal vorbei und hat etwas mit Albert verhandelt. Vielleicht solltest du ihn mal darauf ansprechen? Dass er dich beklaut, kannst du doch nicht einfach akzeptieren?«
»Ich weiß, aber vielleicht ist er ja schon so süchtig, dass es ihm nicht einmal mehr etwas ausmacht, zu stehlen?«
»Dann wäre es höchste Zeit, es zu deinem und seinem Wohl mal zu thematisieren. Das geht doch nicht, dass er die eigene Mutter beklaut, ganz abgesehen davon, dass es auch sonst nicht in Ordnung ist, zu stehlen.«
»Ich habe deswegen nie mehr viel Bargeld im Portmonee, aber wenn gerade jemand einen Kurs bar bezahlt hat, ist es halt da. Ich werde mit ihm reden, denn Geld für seinen Stoff bekäme er von mir nicht. Da er volljährig ist, kann ich ihm das Kiffen natürlich nicht verbieten.«
Marietta wollte ihre Bekannte nicht noch mehr belasten und beließ es dabei. Es ging sie im Grunde nichts an, das war eine Sache zwischen Albert und Carlos.
Alberts Freund Roman, das wusste sie inzwischen, hatte ihm diese größere Ration ohne viele Bedingungen übergeben. Er sollte dafür erst bezahlen, wenn alles verkauft sei. Für jemanden wie Albert war das einfacher, aber vielleicht auch ein falscher Ansatz. Das nahm ihn nicht sonderlich in die Pflicht, was vielleicht schon ein Fehler war. Denn, was machte der Mann? Weil die Geschäfte nicht liefen, rauchte er das Zeug weiterhin selber und war deswegen dauerbekifft und somit oft nicht ansprechbar. Kaum war die Wirkung eines Joints etwas verpufft, folgte der nächste. Es gab Tage, da rauchte Albert andauernd und wenn er mit ihr sprach, lallte er fast, als wäre er betrunken. Jede zweite Stunde stand er vor der Haustür oder im Garten und rauchte wie ein Schlot. Hätte er im Haus rauchen dürfen, wären die Aschenbecher dort schnell übergelaufen. So füllten sie sich vor und hinter dem Haus, doch dafür war Marietta nicht zuständig.
Wer so außerhalb seines Körpers und nur im Kopf und in seinen Delirien lebt, verliert den Bezug zu dieser Realität und sieht alles in bunten, herrlichen Farben, die er ihr beschrieben hatte. Diese Gehirnorgasmen schienen ihm Freude zu machen. Das erklärte ihr nun auch, warum er kein Interesse oder Bedürfnis nach körperlicher Nähe oder Sex hatte. Es hätte ihm genügt, neben ihr zu liegen und seinen Joint zu rauchen. Vieles passte nicht in ihr Leben und es gab immer weniger Gemeinsamkeiten.
Ganz unbuddhistisch, voller Emotionen, packte Marietta mehrfach die Wut. Manchmal schmiss sie Kissen, die schönen bunten, herum oder knallte Türen, als könnte sie ihn endlich aufwecken oder sich damit beruhigen. Sie hätte ihn schütteln mögen. Je länger er bei ihr war, desto weniger Dynamik entfaltete er und kam ihr mit immer mehr Ausreden. Sie erkannte, dass sie zu langmütig, auch zu gutmütig war, und das begann sich zu rächen. Ihre Mittel schwanden. Da er nichts mehr zum Haushalt beisteuerte, wurde sie immer frustrierter. Ein Jahr dauerte das nun schon. Sie fand, es sei genug des Wartens und Hoffens, dass etwas sich veränderte. Und so entschied sie, ihren Ärger nicht einfach vorbeiziehen zu lassen, sondern mit ihm Tacheles zu reden. Sie wusste, dass sie jetzt und möglichst schnell etwas ändern wollte. Sie hatte Albert zu lange vertraut, damit war jetzt Schluss. Mit diesem Gedanken schlief sie an jenem Abend ein.
Am nächsten Morgen ging sie in die Küche, bereitete sich ihr Frühstück und als er hereinkam, um sich seinen Nescafé mit löffelweise Zucker zu brauen, begrüßte sie ihn nur mit einem kurzen schweizerischen »Hoi«, sonst nichts. Als ahnte er, dass etwas im Busch war, schlich er sich wortlos aus der Küche wie ein geschlagener Hund. Marietta musste sich ihre Worte noch zurechtlegen, bevor sie Klartext sprechen wollte. Am Nachmittag, als Albert wieder einmal unterwegs zu seinem nächsten Joint war, hielt sie ihn auf.
»Albert, ich muss mit dir reden, komm, setz dich.« Er setzte sich zu ihr und schaute sie an. »So geht das nicht weiter. Gemeinsam kommen wir auf keinen grünen Zweig und ich finde das Leben sehr anstrengend, wenn ich zuschauen muss, wie du immer mehr abdriftest.« Da er wieder einmal nicht reagierte, begann es in ihr zu kochen. Sie erhob sich, baute sich vor ihm auf und zischte: »Echt, mir reicht‘s jetzt! Ich habe lange zugesehen und so geht das nicht weiter. Ich muss dich bitten, zu gehen, je schneller, desto besser.«
Als ob er es vorausgeahnt hätte, dass das mal kommen musste, erhob er sich wortlos. Er schaute sie an und sah, wie ihr Mund zu einem harten Strich geworden war und die Augen ihn wütend anfunkelten. »Vielleicht hätte ich es ja doch noch geschafft, aber wenn du keine Geduld mehr hast, verstehe ich das.« Damit ging er in sein Zimmer, leichtfüßig wie bei der ersten Begegnung, wo ihr das noch gefallen hatte. Heute würde sie es als total ungeerdet bezeichnen.
Das Abhauen hat er schon intus, dachte sie und Es ist ja nicht das erste Mal. Das wusste sie nun fast mit Bestimmtheit. Im Laufe der Zeit hatte sie von ihm erfahren, dass seine letzte Freundin ihn verklagt hatte. Er habe sie geschlagen, was Marietta sich nicht vorstellen konnte. Albert erklärte ihr, er habe gegen sie die Hand erhoben, aber nicht zugeschlagen. Warum er ausgerastet war, erklärte er ihr nicht. Nach diesem Vorfall bekam er Hausverbot und musste ausziehen. Deswegen war er zu Freunden geflüchtet. Als sie ihre Anzeige später zurückgezogen hatte, war natürlich das Vertrauen in der Beziehung dahin und er hatte sich später nur noch seine eigenen Sachen geholt. Sie bestand darauf, die Wohnungseinrichtung zu behalten. Er wollte sich nicht mit der Situation auseinandersetzen und blieb bei seinen Freunden wohnen, bis er zu ihr kam. Während der Zeit, als er bei Marietta wohnte, hatte er diese Frau noch einmal besucht und sie hatten sich ausgesöhnt. Immerhin etwas, das gelungen war.
Nun musste er also wieder gehen, aus einem anderen Grund, oder etwa doch aus demselben? Sie wusste nicht mehr, was sie ihm glauben konnte und was nicht, aber das war jetzt eh egal. Sie hatte sich in der Zwischenzeit aufs Sofa gesetzt, die Knie angezogen und wartete wie erstarrt. Sie hörte, wie Albert seinen Rucksack packte. Als er die Treppe herunterkam, stand er einen Moment lang schuldbewusst herum.
»Das ist wohl das Ende«, sagte er mehr zu sich selbst und zu ihr gewandt: »Die restlichen Sachen hole ich, wenn ich weiß, wo ich bleiben kann.» Er schob hinterher: »Es tut mir leid.« Denn er wusste genau, was er alles verbockt hatte, und dass sie keine Kraft mehr hatte, es zu ertragen und ihn weiterhin durchzufüttern. Langsam erwachte sie aus ihrer Erstarrung, blieb aber sitzen und sagte nur:
»Ja, melde dich, tschüss.«
Er legte beim Hinausgehen den Hausschlüssel auf den Tisch und sie hörte, wie die Türe hinter ihm ins Schloss fiel.
Irgendwann richtete sich das bedingungslos lieben zu wollen zu sehr gegen einen selbst und dem hatte sie Einhalt geboten.
Neue Wege
Seit drei Wochen lebte Marietta wieder alleine und konnte endlich die Fenster offen lassen, ohne dass Rauch oder der Duft von Marihuana sich zu ihr schlich. Vor allem kein Kifferdrama mehr. Doch all das wirkte in ihr nach. Es war ein ungutes Gefühl, das es zu verdauen galt, nicht weil er weg war, sondern weil sie sich fragte, wie es weitergehen konnte und was als nächstes kommen würde.
Selbst schuld, sagte sie sich zum x-ten Mal beim Aufwachen, beim Frühstück und jeden Tag warf sie sich vor, dass sie nicht aufmerksamer gewesen war. Gleichzeitig war es ein Aufatmen: Tempi passati. – Es war vorbei.
Sie fühlte manchmal im Bauch ein Kribbeln und eine Art Loch, eine Angst, die sich ausbreitete und den Körper hochkroch. Die Angst pulsierte in ihr, Herz und Kreislauf beschleunigten sich, doch der Körper fühlte sich gleichzeitig an wie gelähmt. Da war eine Leere, weil sie überhaupt keinen Rückhalt fühlte und Marietta realisierte, dass sie nun wirklich alleine, sehr alleine war. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass sie schon ganz andere Sachen gemeistert hatte. Sie beschloss, das Ritual der morgendlichen Meditationen wieder aufzunehmen und wurde dadurch fühlbar ruhiger. Bis zum nächsten Morgen, dann begann beim Erwachen das Ganze von vorne.
Sie machte es zum Ritual und zog sich täglich, nachdem sie geduscht hatte, bequem an und setzte sich auf das schöne Sitzkissen, das handgenäht auf ihrer Yogamatte im Schlafzimmer lag und groß genug war, um sich bequem niederlassen zu können. In der nachfolgenden Stille, die an diesem Tag nur durch den prasselnden Regen begleitet war, wuchs Mariettas Überzeugung wieder, dass man an das Gute im Menschen glauben sollte, auch wenn es nicht offensichtlich war. Sie begann eines der komplexeren Mantren zu chanten. Die tiefen Atemzüge taten ihr gut. Wenn sie ihre Entspannungskurse gab, konnte sie sehr gut weitergeben, was hilfreich war, und nun halfen diese Techniken ihr, manches Panikgefühl aufzuweichen. In Beratungen hatte sie schon vielen Menschen geholfen, das Leben aus einer gewissen Distanz zu betrachten und neu anzupacken. Das übte sie jetzt intensiv und suchte mittels Meditation Antworten aus dem Inneren. Manchmal erlebte sie dabei ausgesprochene Hochgefühle. Die Betreuung von Haus und Garten erdete sie aber auch wieder und verband sie mit der Natur. Aus der Überzeugung heraus, dass Materie zweitrangig, ein mitfühlendes Wesen aber erstrangig für ein sinnerfülltes Leben war, begleitete sie der Wunsch weiterhin, möglichst bedingungslos lieben und handeln zu können. Den Weg der Güte wollte Marietta immer noch gehen, aber nicht mehr auf ihre Kosten. Nach einer weiteren Woche war sie schon fast wieder die Alte.
Telefonat mit Hamburg
Sie hatte länger nichts von Sabine gehört und rief ihre Tochter in Hamburg an: »Hallo, meine Große, wie geht es euch?«
»Danke, wir sind zufrieden und viel beschäftigt. Bei uns ist alles beim Alten. Im Geschäft helfe ich zusätzlich mit, die Online-Präsenz zu durchleuchten und zu optimieren und hoffe, den Absatz der Produkte dadurch zu verstärken. Das könnte ich später auch von zuhause aus machen und vielleicht nur noch Teilzeit arbeiten, d.h. andere Bereiche abgeben. Privates kommt gerade ein wenig zu kurz.«
»So wie ich das sehe, hast du zu viel Stress, manchmal habe ich mir Sorgen gemacht. Es wäre gut, wenn du das reduzierst.«
»Ja, ich hoffe, mein Chef hat Gehör dafür. – Aber du, was läuft bei dir? Wie geht's? Wohnt Albert noch bei dir?«
»Mir geht es wieder besser nach dieser eher bedrückenden Zeit mit Albert. Nein, er wohnt nicht mehr hier. Vor ein paar Wochen hatte ich die Nase voll. Ich brauchte dann etwas länger, um zu verdauen, dass ich mich so in einem Menschen getäuscht habe. Gleichzeitig habe ich verstanden, dass ich mich von seinem Auftreten habe blenden lassen und nicht wirklich auf mein Gefühl gehört habe. Hätte ich nicht jeden Morgen meditiert, wäre mein Ärger unerträglich gewesen. So kann ich mich immer wieder in meine Mitte bringen. Ich mache das jetzt noch intensiver, auch mein bewährtes Yogaprogramm habe ich wieder eingebaut. So hat doch alles sein Gutes.«
»Oh, das klingt gut und wie recht du hattest. Ich dachte schon länger, dass da was nicht rundläuft. Vielleicht wäre es auch gut, dir selbst mal wieder eine Behandlung zu gönnen und nicht immer nur anderen helfen zu wollen? Solltest du finanzielle Unterstützung benötigen, melde dich. Wir helfen dir gerne aus.«
»Das ist wirklich lieb, vielen Dank. Es entlastet mich ein wenig, das zu wissen.«
Nach einer kurzen, nachdenklichen Pause bestätigte sie: »Es wird mir wohl guttun, wieder einmal zu meiner früheren Supervisorin zu gehen und mir eine Behandlung und ein Gespräch zu gönnen.«
»Stimmt, die hat dir doch immer wieder Impulse geben können und dir gutgetan.«
Dann wollte sie hören, wie es den Geschwistern ginge. Nachdem sie noch über dieses und jenes geplaudert hatten, beendete Marietta mit einem sehr guten Gefühl das Telefonat.
Besuch
Es war an einem Sonntag, Anfang Oktober. Obwohl schon herbstlich, war es doch noch angenehm warm. Marietta erwartete ihre jüngere Tochter zu Besuch. Mirjam war eine aufgeweckte junge Frau, die die gleichen wunderbar ausdrucksstarken Augen wie ihre Mutter hatte. Sie war kein Modepüppchen, sondern vielmehr naturverbunden und daher meistens ungeschminkt, mit langen Haaren, die sie oft zu einem Pferdeschwanz band. Auch charakterlich hatte sie viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und war nach den üblichen Pubertätskrisen nun fast wie eine Freundin für sie.
»Hi, Mama, schön, mal wieder hier zu sein.«
Beide umarmten sich innig und gingen ins Esszimmer, wo der Tisch sonntäglich mit allerlei Leckereien gedeckt war: Saft, frisches Zopfbrot, hausgemachte Aprikosenkonfitüre, Käse, eine kleine Fleischplatte.
»Wir können gleich essen, außer du willst noch ein Ei.«
»Ja, gerne.« Mirjam machte es sich bequem.
»Drei Minuten?«
»Oh bitte. – Soll ich schon mal Kaffee einschenken?«
Kurz darauf wollten beide Frauen ihr ausgiebiges Frühstück genießen, d.h. sie wollten essen und wurden sogleich gestört. Der Kater schien mitbekommen zu haben, dass es auf dem Tisch leckeres Essen gab. Er setzte sich zwischen die beiden und schaute mit großen Augen Mirjam bittend an. Als sie zuerst nicht reagierte, miaute er mehrfach und sie musste lachen. »Du hast dich kein bisschen verändert und weißt genau, wie du es machen musst.« Er wollte wie üblich sein Butterstückchen, das Mirjam ihm dann auch bereitwillig gab: »Du bist und bleibst unser Schleckmäulchen«, sagte sie zu Sirius und streichelte ihm noch kurz über den Kopf. Das eine Stück schien ihm noch nicht zu genügen und er hatte – wie sie sich denken konnte – den Schinken gewittert. Auch da ließ sie sich erweichen und reichte ihm einen Schnipsel Schinken herunter.
»Jetzt ist es aber genug«. Er kapierte, denn er kannte den bestimmenden Klang ihrer Stimme sofort und verzog sich schmollend, legte sich aber in Reichweite wieder hin. Man konnte ja nie wissen.
Die beiden Frauen begannen nun in Ruhe zu essen und nachdem sie den ersten Hunger gestillt hatten, stellte Mirjam fest: »Du siehst besser aus als beim letzten Mal, als wir uns sahen. Ich glaube, dein Mitbewohner hat dir doch ziemlich zugesetzt.«
»Das siehst du richtig, ich war in einem großen Dilemma und mit der Zeit stieß mich der Geruch vom Hasch richtig ab, weil er fast dauernd durch die Ritzen zu schleichen schien.«
Marietta bestätigte, wie viel entspannter sie sich fühlte, nachdem sie wieder alleine wohnte und dass sie es richtig genoss, sie zu Besuch zu haben. Dann erzählte sie auch der jüngeren Tochter, wie gut ihr die intensiv aufgenommene Meditation tat und sie so endlich in Frieden mit dem Erlebten gekommen war, aber auch, dass sie sich Sorgen um ihre Zukunft mache.
»Ich habe das Gefühl, ich brauche mal dringend eine Abwechslung, um auch wieder eine neue Perspektive zu bekommen.«
Mirjam riet ihr, eine kleine Auszeit zu nehmen: »Fahr doch mal weg. Manchmal muss man einfach mal raus aus den eigenen vier Wänden.«
»Da hast du wohl recht. Ich habe nur noch keine Ahnung, wohin ich verreisen sollte. Ans Meer, in die Berge, mal schauen. Ich denke, ich kann dann auf dich zählen wegen den Katzen, jetzt wo hier kein anderer mehr wohnt.«
Ihre Tochter nickte. Dann erzählte sie von sich, dass sie sich überlege, eine Zusatzausbildung zu machen, um einen Vorschulkindergarten leiten zu können. Ihre Stirn legte sich in Falten, wenn sie intensiv nachdachte und sie schien noch nicht überzeugt. Ihrer Mutter gefiel die Idee.
»Das gibt doch neue Impulse und mehr Verantwortung, ich denke, das würde gut zu dir passen. Mach das.«
Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, beschlossen sie, einen kleinen Spaziergang durch das Quartier zu machen. Die adretten Gärten waren so typisch schweizerisch, sehr gepflegt, jeder Halm war an seinem Ort und Marietta hatte manchmal fast ein wenig Hemmungen, weil sie in vielem der Natur den Vorrang ließ. Sie zog etwas Natürlichkeit einem parkähnlichen Garten vor und sagte sich, dass sie eh aus der Reihe tanzte mit ihrem Job und ihren Ideen. Bei ihr