Numbers - Den Tod im Griff (Numbers 3) - Rachel Ward - E-Book

Numbers - Den Tod im Griff (Numbers 3) E-Book

Rachel Ward

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Beschreibung

Das Finale der Bestseller-Reihe von Rachel Ward 2030 -  Adam ist kein Unbekannter mehr. Seit er versucht hat, die Menschen vor der bevorstehenden Katastrophe zu warnen, weiß jeder von seiner Gabe. Denn wenn Adam in fremde Augen schaut, kann er das Todesdatum seines Gegenübers sehen. Und genau das macht ihn zum Objekt der Begierde von Saul und seinen Männern. Um Adam unter Druck zu setzen, entführen sie Sarahs Tochter Mia. Adam bleibt nur eins: Er muss so tun, als wäre er zur Zusammenarbeit bereit. Denn noch ahnt niemand, dass auch Mia eine unheimliche Gabe besitzt. Und die kann zu ewigem Leben verhelfen ...

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Von Rachel Ward bereits erschienen: Numbers – Den Tod im Blick Numbers – Den Tod vor Augen CARLSEN-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.Ein Chicken House-Buch im Carlsen Verlag © der deutschen Erstausgabe by CARLSEN Verlag, Hamburg, 2012 © der englischen Originalausgabe by The Chicken House, 2 Palmer Street, Frome, Somerset, BA11 1DS, 2011 Text © Rachel Ward, 2011 The author has asserted her moral rights. All rights reserved. Originaltitel: Numbers 3, Infinity Umschlaggestaltung: Gundula Hißmann und Andreas Heilmann, Hamburg Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn Layout und Herstellung: Steffen Meier Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg ISBN 978-3-646-92300-1 Alle Bücher im Internet:www.carlsen.dewww.chickenhouse.de

Dieses Buch ist meinen Eltern Shirley und David gewidmet, meinen Großeltern und denen, die vor ihnen starben … sowie Ali und Pete und wer immer ihnen nachkommen wird. Und natürlich Ozzy.

FEBRUAR 2030

Das kleine Mädchen sitzt auf der Erde. Es hat den Wald erkundet, doch jetzt sind die Beine müde und sie will nicht mehr weiterlaufen. Auf jeden Fall ist es schön hier. Mit all den Steinen, Blättern und Zweigen um sie herum könnte sie ein Vogelnest bauen oder eine Wohnung für Mäuse. Ihre Finger sind beschäftigt – heben Dinge auf, legen sie wieder weg, setzen sie zusammen –, auch ihr Kopf ist beschäftigt. Sie malt mit einem Stöckchen Zeichen in die Erde – Linien und Kreise – und der Mund bewegt sich dazu, sie singt ein Lied vor sich hin, das ihre Zeichnungen begleitet.

Sie hört die Motorräder, bevor sie sie sehen kann, ein Heulen im Hintergrund, das zu einem Dröhnen wird und sich zu einem Donnern steigert. Sie hält sich die Hände auf die Ohren. Noch nie hat sie ein Motorrad gesehen, jetzt sind es drei, groß, schwarz und schnell, die dunkle Rauchfahnen ausstoßen. Das Mädchen erhascht zwischen den Bäumen einen Blick auf Blech, Gummi und Leder.

»Drachen«, flüstert sie und die Pupillen in ihren blauen Augen weiten sich.

Die Motorräder werden langsamer. Sie bleiben stehen. Jetzt knurren sie leise, donnern nicht mehr, doch sie sind zu nah. Das Mädchen sitzt ganz still da. Sie kann sie sehen. Ob auch die Drachen sie sehen? Der vordere nimmt einen Teil seines Kopfs ab. Darunter steckt ein Mann. Er lässt seinen Blick über die Straße schweifen, die durch den Wald läuft. Einen Moment lang begegnen sich ihre Blicke.

Das Gesicht des Mannes ist blass, doch die Farben, die ihn umgeben, sind dunkel, so wie seine Kleidung und sein Drache. Ein Mischmasch aus Grau, Violett und Schwarz. Sie mag diese Farben nicht. Solche Menschenfarben hat sie noch nie gesehen. Und sie mag nicht, wie er sie ansieht. Seine Augen sind fast schwarz, sie tun ihr weh.

Sie schließt schnell ihre Augen und vergräbt das Gesicht zwischen den Knien.

»Irgendwas gesehen, Chef?«

»Bloß ein Kind. Fahren wir weiter.« Seine Stimme klingt rau und tief.

Das Knurren der Drachen verwandelt sich wieder in ein Donnern und dann sind sie weg.

Das Mädchen blinzelt zwischen den Wimpern hindurch. Es ist nichts mehr davon zu sehen, dass die Drachen da waren, bis auf eine Staubwolke, die in der Luft hängt und schließlich herabsinkt. Langsam streckt sich das Mädchen, sammelt einen Armvoll Zweige zusammen, zerstört ihre Bodenzeichnungen und geht. Wenn es hier Drachen gibt, wird sie ein Nest bauen müssen, um die Vögel und Mäuse zu schützen. Und es am besten so groß machen, dass es auch sie schützt. Sie häuft immer mehr um sich herum, duckt sich hinein und schließt die Augen. Dann wartet sie, dass die Träume anfangen – die Farben und Bilder, die sie einschlafen lassen.

Sie wacht erst wieder auf, als sie hört, wie jemand ihren Namen ruft.

»Mia! Mii-aa! Wo bist du? Mii-aa!«

Sie rührt sich nicht. Sie will sehen, ob das Nest gut ist oder ob man sie findet. Sie spielt gern Verstecken.

»Mia! Mii-aa! Wo bist du? Wo steckst du?«

Die Stimme kommt näher. Das Mädchen rollt sich ganz fest zusammen und vergräbt sein Gesicht wieder zwischen den Knien. Es macht Spaß, dieses Spiel.

Sie hört Schritte durchs Unterholz knacken. Sie kommen näher und näher und näher …

»Mia! Hier bist du!«

Plötzlich stehen zwei Füße direkt vor ihrem Nest. Mia dreht den Kopf ein wenig und schielt nach oben. Die Frau wirkt sauer. Die Haut zwischen ihren blauen Augen ist gerunzelt. Mia mag das nicht. Sie will, dass das Gesicht der Frau lächelt oder lacht. Doch die Farben in ihrem Gesicht sind wie immer – ein Hauch von Blau und Lila umgibt sie, Farben, die nur eines bedeuten – Mummy.

Mia schiebt den Kopf wieder zwischen die Knie. Sie will nicht, dass Mummy sie ausschimpft.

Sarah beugt sich zu ihr herunter und packt ihre Tochter unter den Achseln. Sie hebt sie hoch, so wie sie ist – noch immer zu einer Kugel zusammengerollt –, und hält sie dicht an sich.

»Mia«, sagt sie. »Du musst da bleiben, wo ich dich sehen kann. Hörst du?«

Mia steckt den Daumen in den Mund.

»Ich hab einfach Angst gehabt, ich dachte … ich dachte, du wärst verschwunden. Ich bin nicht sauer.«

Mia nimmt den Daumen aus dem Mund und schaut zu ihr hoch. Dann streckt sie die Arme vor und schlingt sie um ihre Mummy. Alles ist in Ordnung – diesmal wird es kein Schimpfen und keine Tränen geben.

»Drachen«, sagt sie. »Mia sehn Drachen.«

Sarah schaut zur Straße. Vor ein paar Minuten hat sie Motorräder gehört. »Meinst du die Motorräder?«, fragt sie und drückt ihre Tochter fest an sich. Langsam entfernt sie sich von der Straße zurück in den Wald.

»Drachen«, sagt Mia. »Laut.«

»Hast du auch Wölfe und Bären gesehen?«, fragt Sarah mit einem Lächeln.

Mia schüttelt den Kopf.

»Drachen«, wiederholt sie noch einmal.

»Dann lass uns lieber zurückgehen ins Lager. An unser Feuer werden die Drachen nicht kommen. Dort sind wir sicher.«

Aber Mia fühlt sich nicht sicher, auch jetzt nicht, wo sie sich an ihre Mummy klammert.

Die Drachen, die sie gesehen hat, haben selbst Rauch gemacht. Ein Feuer würde sie bestimmt nicht erschrecken, denkt sie. Bestimmt lieben sie Feuer.

Es ist besser, sich zu verstecken. Besser, ein Nest zu bauen und sich vor dem Mann mit den dunklen Farben, die ihn umgeben, zu verstecken.

ADAM

»Ich kenn dich.«

Ich habe beobachtet, wie der Typ näher kam, sich durch die Gruppe zerschlissener Zelte und Hütten seinen Weg bahnte.

Es ist also wieder so weit, denke ich. Es ist überall dasselbe. Genau deshalb versuche ich mich von anderen Menschen fernzuhalten. Aber das ist auch gefährlich, denn allein bist du schutzlos. Wir besitzen nichts Wertvolles, trotzdem bestehlen einen die Menschen, nehmen einem das wenige, was man hat – Essen, Kleidung, sogar Feuerholz. Es ist inzwischen zu oft vorgekommen. Wir müssen bei anderen bleiben. Menge schafft Sicherheit, sagt Sarah.

Ignorier ihn einfach, vielleicht geht er dann wieder.

Ich halte den Kopf gesenkt und schlage den Hering mit einem Stein in den harten Boden.

Weniger als einen Meter entfernt geht er neben mir in die Hocke und beugt sich vor, um mein Gesicht zu sehen.

»Ich kenn dich«, sagt er wieder. »Du bist Adam Dawson.«

Ich drehe mich weg. Meine Finger krampfen sich fest um den Stein.

Er streckt den Arm aus und berührt meinen Ärmel. Er ist zu nah. Ich sehe den Schmutz unter seinen Fingernägeln, die Reste von Sägespänen in seinem Bart.

»Adam«, sagt er lächelnd. Er tippt sich an die Nase und versucht mich dazu zu bringen, ihm in die Augen zu sehen. »Adam, du hast mein Leben gerettet.«

»Nein, Kumpel«, antworte ich und meine Stimme wird ganz krächzig. »Ich bin der Falsche.«

»Nein, ich habe dich gesehen. Ich werde dich nie vergessen, dein … Gesicht.«

Er meint meine Narben, mein verbranntes Gesicht.

»Du hast mich gerettet, Adam. Ich war in London. Meine Wohnung lag im Untergeschoss, direkt am Fluss. Ich habe dich im Fernsehen gesehen und es rechtzeitig aus der Stadt geschafft. Wie Millionen andere. Du bist ein Held.«

Die gleiche Geschichte. Ich hab sie so oft gehört.

Ich war nur ein Mal im Fernsehen, aber es war die letzte Sendung, die die meisten Menschen gesehen haben. Seitdem gibt es in England keine Fernseher oder Computer, keine Bildschirmwände und keine Telefone mehr. Die Netze und Sender wurden nach dem Beben am Anfang der großen Katastrophe nicht wieder aufgebaut. Deshalb bleibe ich allen im Gedächtnis als dieser Junge mit den irren Augen und dem vernarbten Gesicht, der in die Kamera schaut und die Warnung vor dem Ende der Welt herausschreit. Und sie erinnern sich an mich, weil ich Recht hatte. Die Welt ist zusammengebrochen – zumindest die Welt, die wir kannten.

Inzwischen behandelt mich jeder, mit dem ich rede, wie eine Berühmtheit, eine Art Retter. Das will ich nicht.

»Wir haben Fleisch«, fährt der Mann fort, als ihm klar wird, dass ich nicht reden werde. »Wild. Jemand hat einen Hirsch geschossen, ein kräftiges Tier. Komm rüber zu uns. Komm und iss mit uns.«

Ich höre auf, den Hering in den Boden zu hämmern. Fleisch … Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal Fleisch gegessen haben. Fleisch klingt besser als die Nesselsuppe, die es bei uns geben wird. Ich schaue hinüber zu Sarah, Mia und Sarahs Brüdern. Marty und Luke schieben mit dem Fuß die Blätter am Boden zur Seite und suchen nach trockenen Zweigen, irgendwas, das sich zum Anzünden eignet. Mia sitzt in unserem Handkarren und schaut zu, wie Sarah die Matten ausrollt, die wir als Betten benutzen. Sie ist klein für ein zweijähriges Mädchen. Ihre Arme und Beine sind so dünn und braun wie die Zweige, nach denen die Jungs suchen. Sie wirkt fast wie eine Puppe, mit den vielen kleinen blonden Locken, den vollen Lippen und diesen Augen, denen nichts entgeht.

Sarah tut so, als ob sie beschäftigt wäre, aber ich sehe, wie sie uns aus dem Augenwinkel beobachtet und auf meine Reaktion wartet. Ich weiß, dass sie jedes Wort gehört hat. Sie sagt nichts. Das muss sie auch gar nicht. Sie hat Hunger, wir alle haben Hunger. Bei dem Gedanken an eine richtige Mahlzeit läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Aber ich weiß, was der Preis dafür sein wird – das ganze Getue, das Schulterklopfen, die Fragen.

Ich ertrage es nicht, wenn mich die Leute anschauen, genauso wenig ertrage ich es, sie anzuschauen, ihre Zahlen zu sehen …

Wo immer ich bin, jeder hat eine Zahl – die Zahl, die den Tag seines Todes verrät. Ich hasse es, dass ich die Zahlen sehe. Ich hasse die Gefühle, die damit einhergehen. Manchmal möchte ich ein brennendes Stück Holz aus dem Feuer schnappen und es mir in die Augen stechen, damit ich sie nicht mehr sehen muss. Das Leiden, den Schmerz nicht mehr fühle, der jeden Einzelnen erwartet, dem ich begegne. Ich bin von Brandnarben übersät, zweimal hat mich das Feuer beinahe getötet, aber vielleicht könnte es mir ja das nehmen, was mich am meisten schmerzt.

Das Einzige, was mich dran hindert, ist Sarah. Ich kann ihr das nicht antun. Es ist schon so schwer genug für sie, so launisch und rastlos, wie ich bin. Ich kann nicht von ihr erwarten, dass sie bei mir bleibt, wenn ich auch noch blind wär.

Schließlich schaut sie mich mit ihren blauen Augen direkt an und ihre Zahl spricht zu mir, schenkt mir Trost und Wärme wie immer – ein Ende voller Liebe und Licht. 25072076. Das Versprechen, dass wir noch zusammen sein werden, sie und ich, in knapp fünfzig Jahren, wenn sie aus dem Leben tritt, ganz leicht, als ob sie in ein warmes Bad glitte.

Sarah.

Ich drehe mich wieder zu dem Fremden um, der neben mir kauert, und zwinge mich, ihm zuzunicken und zu lächeln.

»Wir werden kommen. Danke«, sage ich. Die Worte klingen nicht wie meine.

Sein Gesicht hellt sich auf. »Großartig. Cool. Komm rüber, wann immer du willst. Wir sind unter dem Bogen, der am weitesten vom Weg entfernt steht.« Er zeigt auf ein tunnelförmiges Zelt, das zwischen drei Baumstämmen aufgeschlagen wurde. »Ich heiße übrigens Daniel. Schön, dich kennenzulernen, Adam. Ich habe so lange darauf gewartet.« Als er fortgeht, höre ich, wie er ruft: »Carrie, er ist hier. Er ist wirklich hier …«

In mir steigt die Angst hoch. Es war ein Fehler, Ja zu sagen. Ich bereue es schon. Ich hebe den Arm und schlage mit dem Stein so fest auf den Haken ein, dass sich der ganze Hering verbiegt und ich mir die Knöchel am Boden aufschramme.

»Autsch! Sch… puh!« Ich versuche nicht vor den Kindern zu fluchen. Was manchmal verdammt schwer ist. Ich lasse den Stein fallen, reibe mir den gröbsten Dreck von den Fingern, stecke sie in den Mund und sauge heftig, um den Schmerz zu lindern. Es hilft nicht. Und es nimmt mir weder die Angst noch die Wut. Nichts hilft dagegen.

Sarah kommt näher. »Danke«, sagt sie.

Ich zucke die Schultern und sauge weiter an den Knöcheln. Ich bin froh, dass ich etwas im Mund habe. Es hindert mich daran, zu sagen, was ich sagen möchte. Ich will nicht unter Menschen sein, Sarah. Sie sind alle gleich. Ich ertrage das nicht.

»Hat wehgetan, was?«, sagt sie.

Ich nehme die Hand aus dem Mund und untersuche sie.

»Geht schon. Hab mir nur die Haut aufgeschürft.«

Sie wühlt in einer ihrer Taschen auf dem Karren und zieht eine Tube mit Desinfektionssalbe heraus. Das Ende der Tube ist ganz fest eingerollt, um auch das letzte bisschen herauszuquetschen. Viel ist nicht mehr drin.

»Vergeude sie nicht für mich.«

»Psst.«

Sie drückt ein winziges Stück Salbe auf ihre Fingerkuppe und streicht sie auf die Schrammen, dann reibt sie sie vorsichtig ein. Es ist so innig – ihre leichte Berührung der Haut mit den Fingerspitzen, so, dass nur einige Zellen Kontakt haben. Ich spüre, wie sich mein Körper entspannt, die Wut abebbt.

Sarah und ich. Das ist alles, was ich je wollte. Trotz allem, was wir durchgemacht haben – das Erdbeben, das ganze Chaos, das Feuer, das Zigeunerleben, das Sichkümmern um Mia und Marty und Luke –, wir sind noch immer zusammen. Ich starre auf ihren Finger. Und in diesem Moment würde ich alles geben, damit der Rest der Welt um uns herum verschwände. Ich möchte mit ihr allein sein, die Arme um sie legen und unsere Gesichter ganz dicht beieinander.

Ich halte ihre Hände in meinen. »Sarah, lass uns verschwinden«, flehe ich. »Lass uns woanders hingehen.« Ich hasse mich dafür, dass ich so verzweifelt klinge.

Sie presst ihre Lippen zusammen und zieht die Hände weg. Der Moment ist vorbei.

»Wir sind doch gerade erst angekommen, Adam. Wir bleiben.«

Und so bleiben wir.

Wir sitzen auf Holzklötzen um Daniels Feuer. Sein Wildeintopf ist ziemlich dünn, doch wir haben so lange nichts Vergleichbares gegessen, dass es uns fast überwältigt.

Marty und Luke schlingen den Eintopf runter, dass ihnen die Soße übers Kinn läuft. Sie wischen sie weg und lecken sich lachend die Finger. Niemand sagt ihnen, sie sollen aufhören. Es tut gut, zu sehen, wie sie sich den Bauch vollschlagen und ihre Gesichter von der Wärme glühen. Es sind wunderbare Jungs. Das Feuer, das meine Großmutter tötete, hat auch ihre Mum und ihren Dad genommen. Anfangs waren sie so still und hatten ständig diesen gequälten Blick in den Augen. Sie hassten es, draußen zu leben, wussten nicht, was sie mit sich anfangen sollten, ohne ihre Xbox und Flachbildfernseher. Aber manche Dinge haben wir inzwischen gemeinsam gelernt: wie man Kaninchenfallen aufstellt, wie man Feuer macht. Ich hatte nie Brüder oder Schwestern.

Mia sitzt auf Sarahs Schoß und betrachtet mit ihren großen Augen die vom Feuer erhellten Gesichter: Daniel, seine Lebensgefährtin Carrie und ihre Nachbarn. Es ist, als ob sie versuchen würde, sich an die Menschen zu erinnern.

Ich esse langsam, genieße jeden Löffel und versuche mich auf das Essen zu konzentrieren, nicht auf die Unterhaltung. Das Schulterklopfen und das Getue sind vorbei und ich warte auf ihre Fragen. Die andern reden über das, worüber die Menschen in diesen Tagen immer reden – über Essen, Wasser, Benzin, Kälte, Hunger, Kranksein. Vor allem übers Kranksein. Es beschäftigt auch mich, das kann ich nicht leugnen. Wir mühen uns ab, etwas zu essen zu finden, uns warm zu halten, und es gelingt uns. Doch wenn einer von uns krank wird, was dann?

Die Jungs haben beide gute Zahlen – 21112089 und 03092093 –, aber Zahlen können sich ändern. Mia hat mir das in der Feuernacht, der Erdbebennacht deutlich gemacht. Sie hat jetzt die Zahl meiner Oma. Es macht mich wahnsinnig, wenn ich sie in Mias Augen sehe. Sie wird einen Rauchertod sterben, nach Luft röcheln. Dieser Tod passte perfekt zu meiner Oma – aber jetzt, bei Mia, wirkt er grausam.

Ich kenne die Regeln nicht mehr. Und nicht mal die guten Zahlen trösten mich.

»So schlimm ist es hier nicht«, sagt jemand. »Dan ist Arzt.«

Ich sehe Daniel an. Verdreckter Bart, lange Haare, zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, gelbe Fingernägel. Er sieht nicht aus wie ein Arzt.

»War ich mal«, sagt er und zuckt die Schultern. »Ich hab in einem Krankenhaus in London gearbeitet, bis es von Plünderern überfallen wurde.« Er schüttelt den Kopf. »Man hätte doch gedacht, dass die Menschen vor einem Krankenhaus Respekt zeigen. Aber wir wurden zur Zielscheibe, durchsucht nach Drogen, Vorräten und Metall, das sich einschmelzen ließ. Nach der Schlacht von St Thomas im März 2029 bin ich gegangen. Vierhundert Tote und die meisten meiner Freunde fort. Die Polizei, die Armee, die Regierung – alle haben uns im Stich gelassen. Wo waren sie? Wo, verdammt noch mal, waren sie?« Er unterbricht sich einen Moment. Seine Hände im Schoß zusammengeballt, die Sehnen zwischen Fingern und Handgelenk gespannt wie Draht. Dann holt er tief Luft. »Und, was führt dich hierher?«, fragt er und wendet sich wieder zu mir.

Erste Frage. Alle schweigen und warten auf meine Antwort.

»Wir halten uns bloß bedeckt und ziehen herum«, antworte ich und schaue zu Boden.

»Habt ihr ein bestimmtes Ziel?«

»Nur fort. Fort aus London, fort von den großen Städten. Sind zu viele Menschen dort, ist zu gefährlich.«

»Es gibt Leute, die nach dir suchen, weißt du das? Sie waren hier und haben nach dir gefragt.«

Ich höre auf zu kauen und schaue hoch. »Leute? Was denn für Leute?«

Daniel schüttelt den Kopf. »Sie haben uns keine Namen genannt. Drei Männer auf Motorrädern. Leute, denen man besser nichts verrät.«

Er legt eine Hand auf meine Schulter. Er versucht mich zu beruhigen, aber Berührungen machen mich nervös. Außerdem gehören die Einzigen, die noch Benzin bekommen, zur sogenannten Regierung oder zu den Gangs, die jetzt die Städte kontrollieren.

Ich wurde verhaftet, als das Beben zuschlug, angeklagt für einen Mord, den ich nicht begangen habe. Die Regierung hatte mich auf dem Kieker, sie versuchte mich zum Schweigen zu bringen. Ich hatte gehofft, dass mein Strafregister in dem Chaos gelöscht worden wäre. Aber vielleicht war das doch nicht passiert. Der Gedanke lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.

Wenn es die Regierung ist, die nach mir sucht, will ich auf keinen Fall entdeckt werden. Ich habe ihnen und ihren Spionen nichts zu sagen und ich lasse mich nie mehr in eine Zelle einsperren. Ich halte das nicht aus. Und mit den Gangs will ich auch nichts zu tun haben, diesen bewaffneten Gangstern, denen jetzt die Städte gehören. Noch ein Grund, zu verschwinden und auf dem Land zu bleiben.

»Wann?« Meine Kehle ist plötzlich ganz trocken. Ich muss mich räuspern, um das Wort rauszubekommen.

»Heute Morgen. Wir hatten auch eine Drohne am Himmel.« Er grinst. »Haben wir aber abgeschossen.«

»Ich hab heute Nachmittag Motorräder gehört, als ich auf der Suche nach Mia war«, sagt Sarah leise zu mir.

Ich springe auf. »Scheiße, wir müssen weg.«

Sarah zieht die Augenbrauen zusammen. »Nicht jetzt, Adam. Nicht im Dunkeln.«

»Hast du denn nicht gehört, was er gerade gesagt hat?«

Sie schüttelt den Kopf. »Es ist dunkel. Und wir sind alle erschöpft.«

»Dann gehen wir eben morgen früh«, sage ich. »Sobald die Sonne aufgeht.« Ich setze mich langsam wieder hin, aber ich kann nichts mehr essen. Der Eintopf liegt mir im Magen wie ein Stein. Ich kann nicht stillsitzen. Die Beine zucken und warten nur darauf, loszulaufen.

Das Stimmengewirr geht wieder los. »Wir können nicht ewig so weiterziehen«, sagt Sarah leise. »Wir sind jetzt seit zwei Jahren unterwegs, Adam. Ich kann nicht mehr.«

Ich schaue auf ihren gewölbten Bauch. Wir wissen nicht genau, wie weit sie ist, aber sie muss wohl im siebten oder achten Monat sein.

»Denk an meine Brüder«, sagt sie. »Und Mia. Sie müssen irgendwo leben. Sie brauchen ein Zuhause. Wir alle brauchen ein Zuhause.«

Zuhause. Ich hatte mal ein Zuhause. Kommt mir so vor, als ob es Jahre her ist. Und es hörte auf, mein Zuhause zu sein, als Mum starb. Dann hatte ich noch mal eins, bei Oma, nur dass ich das erst begriff, als es zu spät war.

»Ein Zuhause ist kein Ort, Sarah, ein Zuhause sind Menschen. Mit uns haben wir doch alles, was wir brauchen.«

»Wir brauchen mehr Menschen«, antwortet sie. »Ich bekomme ein Kind, falls du es noch nicht bemerkt hast. Ich habe Mia allein zur Welt gebracht, auf einem schäbigen Badezimmer-Fußboden in dem besetzten Haus. Diesmal möchte ich, dass es anders ist. Daniel ist Arzt. Wir müssen hier bleiben. Und schneller als Motorräder können wir sowieso niemals sein. Wenn sie drauf aus sind, uns zu finden, dann finden sie uns auch.«

Sie kapiert es nicht. Selbst nach all der Zeit versteht sie nicht, wie schrecklich es ist, in Handschellen abgeführt, in eine Zelle geworfen zu werden und völlig machtlos zu sein.

»Ich werde nicht zulassen, dass man mich findet, Sarah. Niemand wird mich von dir wegholen und wieder einsperren. Niemand.«

»Okay«, sagt sie mit noch immer gesenkter Stimme. »Wir reden später drüber.«

Ich beachte sie nicht und rede weiter. »Denk mal darüber nach, was Hierbleiben heißt. Ich bin nicht paranoid. Irgendwelche Leute sind hinter mir her.«

»Ja, hinter dir.«

Das ist es also. Ihre Worte brennen wie eine Ohrfeige.

Die Leute sammeln ihre Schüsseln ein und gehen auseinander.

»Kommt, Jungs«, sagt Daniel zu Marty und Luke. »Ich bring euch zurück in euer Zelt.«

Die Jungs trotten davon. Das Lachen und die Wärme sind aus ihren Gesichtern verschwunden. Marty schaut besorgt.

Schließlich sitzen nur noch Sarah, Mia und ich am Feuer. »Willst du, dass ich gehe?«, frage ich.

Ihr Blick springt zu mir hoch und dann von mir weg. »Wir können nicht weiter so durch die Gegend rennen, Adam.«

»Willst du, dass ich euch hier zurücklasse?«, frage ich.

»Mummy Daddy böse?«, sagt Mia mit leiser Stimme. Ihre Augen sind auf uns fixiert. Nichts entgeht ihnen.

»Ich bin nicht böse«, sagt Sarah schnell. Ich zwinge mich zu einem Lächeln für Mia, doch ich weiß, dass sie es mir nicht abkauft.

»Ich trage einen Chip«, sage ich und versuche den Streit fortzuführen. »Mia trägt einen Chip. Die Drohne könnte uns aufgespürt und die Ortung dorthin gesendet haben, von wo sie geschickt wurde. Und selbst wenn nicht, bin ich ganz leicht zu identifizieren.« Fast ohne drüber nachzudenken, hebe ich die Hand an mein vernarbtes Gesicht. »Wenn wir bleiben, wird es nur Tage dauern, bis sie uns finden. Vielleicht auch nur Stunden. Und was dann?«

»Wir wissen noch nicht mal, was sie wollen, Adam. Vielleicht wollen sie dir einfach nur die Hand schütteln und sich bedanken. Vielleicht hast du auch sie gerettet.«

Irgendetwas ist an der Art, wie sie es sagt, eine gewisse Schärfe. Als ob sie sich über mich lustig macht. Ich kann es nicht ertragen. Meine Hand findet ein Stück Holz und ich schleudere es mit solcher Kraft ins Feuer, dass Funken fliegen. Sarah zuckt zusammen und Mia springt zurück, doch das hält mich nicht auf. Ich nehme ein zweites Stück und werfe noch einmal.

»Ich hab nicht darum gebeten, Sarah. Um nichts von alldem hab ich gebeten. Ich wollte nie Zahlen sehen, ich wollte nie dieses ganze Todeszeug in meinem Kopf, diesen ganzen Schmerz.«

Mias Augen füllen sich mit Tränen und Sarah sieht mich nicht an. Ich weiß, dass ich wirres Zeug rede, aber ich kann nicht aufhören.

»Ich bin achtzehn, hab eine Freundin und drei Kinder, auf die ich aufpassen soll, ein Kind, das bald auf die Welt kommt, aber kein Zuhause und nichts zu essen, und es wird nie besser werden. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es eines Tages vorbei sein wird, denn ich sehe das Ende überall um mich rum, in jedem Einzelnen, und ich wünschte, es wäre anders. Aber selbst das Ende ist nicht sicher, denn es könnte sich alles ändern. Es könnte schon morgen zu Ende sein oder übermorgen. Glaubst du, das ist das Leben, das ich will?«

»Glaubst du, einer von uns will es?«, fragt sie.

Und plötzlich rumort mein Magen. Wenn Sarah nicht mehr an meiner Seite ist, dann habe ich gar nichts mehr.

Aber wir müssen fort. Es ist nicht sicher hier.

SARAH

Adam rüttelt an meiner Schulter, noch ehe es überhaupt hell ist. Er ist nur ein dunkler Schatten an meiner Seite. Ich kann seine Gesichtszüge nicht erkennen. Selbst im Innern des Zelts zwickt die Kälte in meinem Gesicht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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