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Wie reagiert jemand, der erfährt, dass das eigene Leben frei erfunden ist? Der Wiener Privatdetektiv Johann Postpischil muss sich diese Frage nach einer Hypnosetherapie stellen. Das Ergebnis der Sitzung, in der er Ängste aufarbeiten hätte sollen, stellt die Existenz des Detektivs infrage. Während er um sein Leben bangt, übernimmt er den Auftrag, die Ehefrau eines reichen Textilunternehmers zu beschatten. Die Verfolgung führt ihn in den italienischen Ferienort Bibione. Dort verschwinden Frau und Auftraggeber spurlos. Handelt es sich um einen Kriminalfall, den Postpischil aufklären soll? Oder ist er der Spielball eines Schriftstellers, der Johanns Denken und Handlungen bestimmt? Es gibt nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden: Er muss den Fall lösen. "In NUR EIN ROMAN gelingt es Riccardo Rilli die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktionalität in perfekter Weise zu verwischen."
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Seitenzahl: 295
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www.tredition.de
Riccardo Rilli
Nur ein Roman
www.tredition.de
© 2015 Riccardo Rilli
Umschlag, Illustration: Richard Götz
Lektorat, Korrektorat: Richard Götz
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7323-6955-3
Hardcover
978-3-7323-6956-0
e-Book
978-3-7323-6957-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Mittwoch, 17. Juni 2015
Freitag, 19. Juni 2015
Sonntag, 21. Juni 2015
Montag, 22. Juni 2015
Dienstag, 23. Juni 2015
Mittwoch, 24. Juni 2015
Donnerstag, 25. Juni 2015
Freitag, 26. Juni 2015
Samstag, 27. Juni 2015
Epilog
Prolog
Hoffentlich hatte niemand beobachtet, wie er in das leer stehende Gebäude eingedrungen war. Er hatte die Hintertür aufgebrochen und das nach feuchter Hitze stinkende Haus betreten. Im Raum gab es weder Bodenbelag, noch gestrichene Wände. Das Sonnenlicht, das durch die schmalen Schlitze der abgedunkelten Fenster drang, beleuchtete kalten, grauen Beton. Es gab keine Einrichtung oder sonstige Gegenstände, die darauf hinwiesen, dass jemand das Gebäude benutzte. An der gegenüberliegenden Mauer führte eine Betontreppe ohne Geländer in den oberen Stock.
Johann Postpischil hatte ein flaues Gefühl im Magen. Was erwartete ihn am Ende der Treppe? Er zog den Smith & Wesson Revolver aus der hinten am Hosengurt montierten Ledertasche. Johann schluckte, um Speichel im trockenen Mund zu erzeugen, und wischte mit dem Handrücken Schweißtropfen von der Stirn. Er sog Luft ein, die abgestanden und modrig roch. Staubpartikel tanzten schwerelos durch das Zimmer.
‚Hier war schon lange niemand mehr‘, dachte Postpischil. Er nutzte die schmalen Lichtstreifen auf den Stufen als Orientierung, während er die Treppe nach oben schlich.
Er erreichte einen Gang, von dem aus zwei Holztüren in weitere Räume führten. Sein Herz raste und er versuchte, die aufkommende Angst zu unterdrücken. Johann öffnete langsam den ersten der beiden Eingänge. Die Tür knarrte unheimlich, als er sie mit der Hand aufschob. Dahinter bot sich ihm ein Anblick, der ihn alle bisherigen Erlebnisse vergessen ließ.
Die Leiche lag mitten im Raum. Nackt, eine klaffende Wunde in der Brust. Der Mund stand offen und die Augen schienen ihn anzustarren. Das Blut war am Torso entlang auf den Boden geronnen und hatte sich am Betonestrich verteilt, vermischt mit kleinen Steinen und Staub.
Johanns Blick blieb am Kadaver haften. Er hatte eine lebende Person gesucht, und den toten Körper gefunden. Wie ferngesteuert hob er das weite Poloshirt und verstaute den Revolver im Lederetui. Mit Daumen und Zeigefinger wischte er über die Mundwinkel.
‚Einen Schritt nach dem anderen‘, dachte er, ging auf den Leichnam zu und streckte den rechten Arm aus, um den Kadaver zu berühren. Er zuckte vor der Kälte und Steifheit des Körpers zurück. Sein Blick fiel auf die Handfläche voll Blut.
‚Wie unvorsichtig‘, schoss es Postpischil durch den Kopf. Man durfte die Leiche niemals anfassen. Das hinterließ Spuren. Warum hatte Riccardo das zugelassen?
Johann betrachtete das Rot an der Hand und konnte den Blick nicht wieder abwenden. Er sah das erste Mal ein Mordopfer. Postpischil schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Eindeutig Mord. Das Loch in der Brust wies darauf hin, dass das Opfer erstochen wurde. Wer war dazu fähig? Er ahnte es, hielt es aber für unmöglich. Wann? Wie?
Er sah von der Handfläche auf und betrachtete den umliegenden Raum, den er bisher kaum wahrgenommen hatte. Johann erstarrte. So etwas hatte er noch nie gesehen. Rote Schleifspuren am Boden. Blutlachen, die unter keinen Umständen nur von dieser einen Leiche stammen konnten.
Dann sah er, woher das viele Blut kam. Ihm wurde übel. Er wandte sich ab und entleerte seinen Magen in die Zimmerecke.
Mittwoch, 17. Juni 2015
Johann Postpischil betrachtete die Darstellungen von Soldatenköpfen an der Fassade des ehemaligen K.u.K. Kriegsministeriums. Sie hingen über den untersten Fenstern des von neunzehnhundertneun bis neunzehnhundertdreizehn unter der architektonischen Leitung Ludwig Baumanns errichteten Gebäudes in der Wiener Innenstadt. Ende des Zweiten Weltkrieges gaben die Verantwortlichen dem Kriegsministerialgebäude den politisch korrekter erscheinenden Namen Regierungsgebäude.
Johanns Blick schweifte über den römischen Krieger, der an der Fassade thronte, bis hin zum Reiterdenkmal des Feldmarschalls Radetzky, das dem Gastgarten, in dem er saß, gegenüberlag.
Die silberfarbenen Metallstühle und Tische des Gartens standen unter Sonnenschirmen, die jeweils zwei Sitzgruppen beschatteten. Sie gehörten zum Café Ministerium, das seinen Namen der Lage gegenüber dem gerade von Johann gemusterten Gebäude verdankte. Postpischil saß draußen, denn er wollte die angenehmen einundzwanzig Grad, bei strahlendem Sonnenschein, genießen, obwohl er die roten, plüschigen Bänke im Inneren des Lokals bevorzugte. Das neunzehnhundertfünfunddreißig in den Räumen einer ehemaligen Eisenwarenhandlung eingerichtete Kaffeehaus enthielt noch heute viele der originalen Einrichtungsgegenstände. Die Tische aus Marmor, die Lüster mit Kugellampen, sowie die alte Registrierkasse entführten den Besucher in eine andere Zeit. Johann liebte das, doch an diesem Tag wollte er die nach Wärme und Stadt duftende Luft einatmen. Den kommenden Sommer begrüßen.
Ein weiterer Vorteil des Kaffeehauses bestand in der Nähe zum Detektivbüro, welches er in einer Eigentumswohnung im Nebenhaus eingerichtet hatte.
Postpischil schlug sich als Privatdetektiv mühsam durchs Leben. Er beschattete untreue Ehepartner und sammelte Beweisfotos. Routinefälle, denn für aufregendere Abenteuer fehlten ihm Mut und Selbstvertrauen. Viele Detektive arbeiteten vor dem privaten Beruf als Polizeibeamte und bekamen im Zuge ihrer Laufbahn einiges zu Gesicht. Sie lernten, mit dem Schrecken umzugehen. Er, als unfertiger Jurist, hatte sich ohne Vorbildung auf der Straße für diesen Job entschieden. Johann glaubte nicht, in Fällen, in denen es um Mord und Totschlag ging, bestehen zu können. Außerdem war er zu schüchtern, um entsprechende Klientel zu akquirieren.
Die Ängstlichkeit schuf auch in anderen Lebensbereichen Probleme, wie bei fremden Frauen. Bei seiner bildhübschen Assistentin, die ihm gegenübersaß, stand sie ihm ebenfalls im Weg. Mehr, als der Altersunterschied von elf Jahren. Er zweiundvierzig, sie einunddreißig.
‚Ich hätte auch ohne schüchtern zu sein kaum Chancen‘, dachte er, als er ihre langen, blonden Locken betrachtete. Der Nordwestwind, der die milden Temperaturen kälter wirken lies, blies ihm den Rosenduft ihres Parfüms in die Nase. Es passte zu Rosa. Genauso, wie ihr Nachname. Beljajew war russisch und bedeutete blond. Sie sah bezaubernd aus, im geblümten Sommerkleid, der weißen Bolerojacke und den gleichfarbigen Highheels. Glitzernde Ringe und rote Fingernägel schmückten die langen, schlanken Finger. Dazu trug sie eine zum Handschmuck passende Halskette. Das Armband, welches aus mehreren, dünnen Reifen bestand, klimperte, wenn sie mit der Hand die Haarmähne aus dem Gesicht strich.
Warum sollte er bei Rosa, mit ihren Modelmaßen, eine Chance haben? Er war etwa einen Meter neunzig, aber die ehemals sportliche Figur war einem Bauchansatz gewichen und die dunklen, kurz geschorenen Haare zogen sich immer weiter aus der Stirn zurück. Als Ausgleich ließ er einen Dreitagebart stehen, der ihn jedoch nicht ins Beuteschema seiner Assistentin brachte. Selbst wenn sie über das Äußere hinwegsah, er war ein Versager.
Den einzigen Pluspunkt seiner Existenz stellte die Eigentumswohnung im Nebenhaus des Cafés dar. Er hatte sie von seinen Eltern geerbt. Sie beinhaltete Wohnstätte und Büro in einem. Die noble Adresse am Georg-Coch-Platz, nach einem nordhessischen Bankier aus Hesserode benannt, verschaffte ihm manchmal betuchte Kundschaft. Leider zu wenig, um davon reich zu werden. Der Vater wollte, dass er Rechtsanwalt wurde, wie er. Doch er blieb ewiger Student. Nicht wegen des Lernens, sondern aufgrund der Prüfungsangst, die alles Wissen, das er am Vortag noch hatte, aus dem Gehirn fegte.
Der Gedanke an Georg Coch ließ Johanns Blick von Rosa auf das am Platz errichtete Denkmal schweifen. Der von achtzehnzweiundvierzig bis achtzehnneunzig lebende Ökonom gründete die Österreichischen Postsparkassen. Daher hatte man hier, vor der Wiener Zweigstelle, eine Säule mit einer Plastik seines Kopfes aufgestellt. Am anderen Ende der Freifläche stand das berühmte Jugendstilgebäude der Sparkasse, erbaut zwischen neunzehnhundertvier und neunzehnhundertsechs nach den Plänen von Otto Wagner, in damals neuer Stahlbetonweise. Rosas Stimme riss ihn aus den Gedanken.
„Warum rufst Du mich hierher? Ich muss ausschlafen! Der gestrige Dienst im Lokal war lang und es stehen zurzeit keine Fälle an. Die Buchhaltung ist auch gemacht.“ Sie gähnte und hielt den Handrücken vor den Mund. Postpischil gefiel diese Geste ebenso, wie das rollende R, das dem russischen Akzent zu verdanken war.
Sie mochte Johann. Deswegen arbeitete sie für ihn, obwohl es wenig zu verdienen gab. Rosa machte die Buchhaltung und besetzte das Sekretariat, soweit es die Tätigkeit als Kellnerin zuließ. Sie brauchte den Zusatzjob im Bermudadreieck, dem Lokal und Szeneviertel der Stadt, um über die Runden zu kommen. Genau genommen stellte die Arbeit in der Detektei den Nebenjob dar.
An einsamen Abenden in ihrer kleinen Einzimmerwohnung im achten Wiener Gemeindebezirk hatte sie öfter darüber nachgedacht, warum sie ihm half. Im Zuge dieser Gedankenspiele hatte sie nie ausgeschlossen, mit Johann eine tiefer gehende Beziehung einzugehen.
Sie wunderte sich über die Erkenntnis. Er hatte ein großes Herz, das konnte man nicht abstreiten, obwohl er bei Gelegenheit den Harten gab. Aber er war ängstlich, hatte wenig Selbstvertrauen und neigte zu cholerischen Anfällen. Das Geschäft lief schlecht, was ihn als Versorger für die russischstämmige Wienerin ausschloss. Sie wünschte sich Familie und Kinder.
‚Ich bin Anfang dreißig. Bald ist es mit dem Kinderkriegen vorbei‘, dachte sie. Jetzt den falschen Lebenspartner zu wählen, bedeutete wahrscheinlich das Ende der Familienplanung. Im Lauf des Lebens waren die Ansprüche an einen potenziellen Partner gewachsen. Kaum mehr zu erfüllen. Er musste treu sein, verantwortungsvoll mit Geld wirtschaften, einem gut bezahlten Job mit regelmäßigem Einkommen nachgehen, sich Zeit für die Familie nehmen, Kinderliebe zeigen, die Ehefrau bei allem unterstützen und ihr Freiheit zubilligen. Häuslich und fürsorglich auftreten. Hübsch, und sportlich aussehen, und die gleichen Interessen teilen. Für sie da sein, wenn sie ihn brauchte. Es gab einige Punkte, die Postpischil nicht erfüllte. Und auch kein anderer entsprach bisher der Vorstellung eines Traumprinzen.
Trotzdem kam ihr der Gedanke an eine Beziehung immer wieder in den Sinn. Diese für sie unerklärliche Zuneigung brachte Rosa dazu, ihm manchen Gefallen zu tun, der über die im Dienstvertrag vorgesehenen Tätigkeiten hinausging. Sie agierte zum Beispiel als Lockvogel, sollte ein zu beschattender Mann weniger Untreue zeigen, wie seine Frau glaubte. Wenn Johann Ergebnisse brauchte, um die Erfolgsprämie zu kassieren, sprang Rosa ein. Sie ging nie bis zum Äußersten. Das wusste er und es gab darüber keinerlei Diskussion. In den Fällen, wo die Assistentin mit- und nachhalf, floss ein Anteil der Prämie in ihre Tasche. Wollte sie nicht mehr über die Beziehung zu Johann nachdenken, schob sie den finanziellen Anreiz als Grund für die Hilfsbereitschaft vor.
Postpischil erhob sich einen Moment, um das Sakko des khakifarbenen Anzuges zu richten. Am hinteren Hosenbund steckte das Lederetui mit seiner Smith & Wesson, die im Sitzen manchmal in den Rücken drückte. Er hatte das Revolvermodell 686 aus den Vereinigten Staaten importiert und einen österreichischen Waffenschein dafür. Als Detektiv musste man eine Waffe tragen. Das hatte Tradition. Man sah es im Fernsehen und auch die realen Kollegen besaßen eine. Obwohl die meisten, wie er, sie noch nie benutzt hatten. Sie half gegen die Angst. Er mochte die kleine Kanone mit dem hellbraunen Holzgriff und der glatten, silbernen Trommel, die sieben Patronen des Kalibers .38 fasste.
„Das stimmt. Zurzeit haben wir keine Aufträge. Und die Buchhaltung ist perfekt. Danke dafür. Aber deswegen habe ich Dich nicht zum Frühstück eingeladen“, begann er und zupfte den Kragen des weiten, weißen Hemdes zurecht. Er sah in ihre braunen Augen, in denen er sich nur allzu gern verlöre. „Es gibt andere Gründe, warum ich dringend mit Dir reden muss.“
Sie hatten einander über zwei Wochen weder gesehen noch gehört. Postpischil kehrte erst am Vortag von einer Reise zurück. Irgendein Fall in Kärnten, wie Rosa wusste. Sie kannte keine Details und hatte die diesbezüglichen Abrechnungen bisher nicht gemacht, aus denen sie manches herauslesen könnte. Unter Umständen erführe sie jetzt mehr darüber.
Johann hatte sie am Vorabend angerufen. Nervös und ungeduldig hatte er ein sofortiges Treffen vereinbaren wollen. Aber die Assistentin musste Dienst in der Bar im Bermudadreieck schieben. Sie hatten das Meeting auf den nächsten Morgen verschoben. Jetzt saßen sie hier, im Café Ministerium, hatten einen großen Braunen, eine Melange, sowie zwei Apfelstrudel bestellt, und warteten gemeinsam auf das Frühstück.
Postpischil wippte mit dem Bein. „Wo bleibt eigentlich der Kaffee?“
„Wir haben doch gerade erst bestellt“, versuchte ihn seine Assistentin zu beruhigen.
„Die sollte bald kommen. Sie muss nicht hören, was wir reden. Wenn sie da war, haben wir endlich Ruhe.“ Er reckte den Hals, um nach der Kellnerin Ausschau zu halten.
„Ich bin sicher, sie interessiert nicht die Bohne, was wir zu besprechen haben“, wirkte Rosa weiter auf ihn ein.
Plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf den Metalltisch, sodass die Menage, bestehend aus Salz, Pfeffer, Essig, Öl und Zahnstochern, schepperte. Johanns Begleitung zuckte zurück. „Das dauert zu lange!“ Die ansonsten leise, dunkle Stimme steigerte sich zu einem bedrohlichen Bass.
Gerade als die Assistentin ihn beruhigen wollte, tauchte die dunkelhaarige Kellnerin im Gastgarten auf und servierte mit verwundertem Blick die bestellten Sachen. Postpischil lehnte sich zurück, legte den Knöchel des rechten Beines auf das Knie des anderen und schaute sie hasserfüllt an. Stumm beobachtete er ihre Arbeit und strich mit den Fingerspitzen über die cognacfarbenen Schnürschuhe mit Flechtmuster.
Rosa verurteilte solche Ausbrüche. Sie dauerten meist kurz und taten Johann im Anschluss leid. Trotzdem ließen sie ihn unberechenbar und aggressiv wirken. Sie blieb auf der Hut, auch wenn sich der Ärger nicht gegen sie richtete. Die falschen Worte oder Handlungen zum falschen Zeitpunkt könnten das leicht ändern. Das wusste sie. Die junge Frau kannte es von einem ihrer Exfreunde, der sie leidenschaftlich geliebt und geschlagen hatte. Nur mithilfe der Polizei und einer Freundin, bei der sie vorübergehend hatte wohnen dürfen, war sie ihn losgeworden.
‚Solange er so ist, kommt nie eine Beziehung zwischen uns infrage‘, dachte sie, schlug die langen Beine übereinander und wartete ab. Johann sollte das Gespräch fortsetzen, sobald er sich beruhigt hatte.
Postpischil sah der Kellnerin nach, als sie ins Lokal ging. Dann beugte er sich vor und steckte einen Bissen Apfelstrudel in den Mund. Er genoss die Mischung aus der Süße des Zuckers und der Säure der Äpfel. Der Zimtgeschmack wirkte besänftigend. Kauend nahm er erneut die zurückgelehnte Position ein.
„Tut mir leid. Ich bin nervös und aufgeregt. Wenn Du das erfahren hättest, was ich vor zwei Wochen gehört habe, wärst Du auch wie von Sinnen“, kam die Entschuldigung mit ruhiger Stimme, als ob es den Vorfall nie gegeben hätte.
„Was ist passiert?“, fragte Rosa zaghaft, in der Hoffnung, keinen erneuten Wutanfall heraufzubeschwören. Sie beugte sich vor, stützte ihren Ellbogen am Knie ab und griff mit der anderen Hand zur Kuchengabel, die am Teller neben dem Strudel lag. Sie begann zu essen.
Johann legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und tippte mit den Zeigefingern gegen die Lippen. „Eigentlich glaube ich überhaupt nicht an solche Dinge. Sie interessieren mich nicht, aber eine reiche Klientin, die auf so esoterisches Zeugs steht, hat mich förmlich dazu gezwungen.“
„Zu was?“, fragte die Assistentin, nachdem sie das erste Stück Kuchen geschluckt hatte. Sie nippte an der Melange.
„Reinkarnationstherapie. Oder auch Rückführungscoaching.“
Rosa zog die Augenbrauen zusammen. „Reinkarnationstherapie? Was ist das?“
„Du wirst mich für verrückt halten, wenn ich‘s Dir erkläre. Umso mehr, weil Du weißt, dass ich‘s gemacht habe“, antwortete Postpischil und nahm einen weiteren Bissen vom Strudel. Kauend erklärte er: „Die Typen, die daran glauben, gehen davon aus, dass das heutige Leben durch das Verhalten in der Vergangenheit beeinflusst wird. Das klingt vorerst logisch. Was ich gestern getan habe, die Entscheidungen, die ich getroffen habe, beeinflussen mein zukünftiges Handeln.“ Er wischte mit einer Papierserviette den Mund ab und nahm einen Schluck Kaffee, um die gerösteten Brösel der Strudelfülle hinunterzuspülen. „Aber die denken, es geht noch weiter zurück, als in die Vergangenheit des jetzigen Seins. Viele Probleme, Verhaltensweisen und Störungen haben angeblich ihre Ursache in der Kindheit und dem Mutterleib. Ja sogar in früheren Leben. Die nennen das Karma.“ Postpischil schaute nachdenklich durch die Assistentin hindurch und schien einen Punkt in der Ferne zu fixieren. „Das Gesetz des Karmas. Karma schafft Ausgleich. Es geht darum, die Gegenwart durch Erforschen der Vergangenheit zu bewältigen, wenn Du verstehst, was ich meine.“
Rosa stellte die Kaffeetasse ab, die sie während Johanns Ausführungen in den Händen behalten hatte. „Nicht so ganz. In früheren Leben?“, fragte sie.
„Viele Religionen und Weltanschauungen gehen davon aus, dass es so etwas wie eine Seele gibt, die Lektionen zu lernen hat. Dafür braucht sie mehrere Inkarnationen, mehrere körperliche Leben. Die Seele kommt immer wieder auf die Welt. Und jedes Mal bekommt man die nicht verinnerlichten Lehren in den Rucksack, den alle zu tragen haben, bis man sie gelernt hat“, erklärte Postpischil.
Die Assistentin sah ihn misstrauisch an. Was erzählte er da? Kam er völlig aus der Spur? Er hatte sich nie mit solchen Dingen beschäftigt. Wer war die mysteriöse Klientin, die ihm das näher gebracht hatte? Aber zuerst interessierte sie die Behandlung, die Johann in Kärnten gemacht hatte. „Und was bewirkt die Reinkarna… Wie heißt das?“, fragte sie weiter.
„Reinkarnationstherapie“, sagte Postpischil. „Oder auch Rückführungscoaching. Das heißt, dass offene Lektionen aus vergangenen Inkarnationen in die jetzige, also in das momentane Dasein, hineinwirken. Beim Coaching wird man in diese früheren Leben geführt. Dort kann man die Aufgaben bearbeiten. Damit verbundene schlechte Gefühle verschwinden und der Mensch kann sich unbelastet seiner derzeitigen Existenz widmen. Das ist nicht von mir, sondern von Heini Kogelnig. Das ist der Mann, der die Rückführungen durchführt. Die Behandlung ist eine Art Hypnose.“
Postpischil frühstückte weiter. Auf Rosa wirkte die Geschichte derart unglaublich, dass sie nicht mehr an Apfelstrudel dachte. Sie lehnte sich zurück und starrte Johann an.
„Du hast Dich schlaugemacht. Aber daran glaubst Du doch nicht? Ich, für meinen Teil, halte das für verrückt.“ Sie hoffte, ihn mit den Worten nicht zu verärgern. Sie hatte schon von Leuten gehört, die sich von einem Tag auf den anderen ungeheuerlichen Ansichten verschrieben, und diese plötzlich fanatisch vertraten. Und Johann hatte zwei Wochen mit dem Thema verbracht. Welchen Einfluss hatten die Klientin und Kogelnig auf ihn?
Postpischil schluckte den letzten Bissen des Strudels hinunter und winkte mit der Kuchengabel ab: „Man muss nicht daran glauben. Es genügt, das Ganze als eine Art Gedankenspiel zu sehen.“
„Der Satz ist sicher auch von diesem Kogelnig“, sagte Rosa mit herablassendem Unterton.
„Ja, ist er. Aber da vermutlich sowieso kein Mensch weiß, ob es Reinkarnation wirklich gibt, reicht‘s, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Der Erfolg gibt der Therapie Recht, auch wenn man nicht weiß, wie‘s funktioniert.“
,Oje, ihn hat es schlimm erwischt‘, dachte Rosa. Sie beobachtete Johann. Er wischte den Mund ab und nahm einen Schluck Kaffee. Er wirkte normal. Ihr fiel das Frühstück wieder ein und sie aß vom Strudel. „Und Du hast das tatsächlich gemacht?“
„Ja“, sagte Postpischil. Er lehnte sich zurück und richtete erneut das Jackett. „In der Nähe von Klagenfurt. Heini ist ein Bekannter der Klientin und betreibt das professionell.“
‚Jetzt heißt er schon Heini. Sie sind per Du. Johann hat also bereits ein Vertrauensverhältnis mit dem Typen‘, dachte die Assistentin. Sie war wenig erfreut über diese Erkenntnis.
„Er macht auch Clearing. Das ist die Befreiung von Fremdenergien. Seelenrückholungen, wenn man einen Seelenanteil aufgrund eines Traumas verloren hat. Man ist dann unvollständig und deswegen unglücklich“, fuhr Johann fort.
‚Wenn das funktioniert, sollte ich das auch machen‘, dachte Rosa. Sie hatte mit ihrem Exfreund genug Traumata erlebt und existierte wahrscheinlich nur mehr in kleinen Bruchstücken. Aber jetzt war es an der Zeit, Details über die Kundin zu erfahren. Deshalb fragte sie: „Echt, so etwas gibt es? Was hat Dir die Klientin erzählt, dass Du Dich darauf eingelassen hast?“
„Berta von Bergweg. Sie hat mich auf die Rückführungen aufmerksam gemacht“, begann er. „Sie hat erzählt, dass man damit bis zu seiner Geburt und sogar in frühere Leben reisen kann. So baut man Ängste und Aggressionen ab und verarbeitet Traumata. Sie hielt es für notwendig, dass ich‘s mache. Es war ihr derart wichtig, dass sie eine Rückführung zur Bedingung gemacht hat, mir den Auftrag anzuvertrauen. Nur ein Detektiv mit reiner Seele könne den Fall übernehmen.“
Jetzt wurde Rosa einiges klar. Eine reiche Klientin hatte es ihm auferlegt. Johann hatte es nicht aufgrund des Glaubens an die Sache gemacht. Er brauchte das Geld. Und wenn er dafür ein paar Stunden Zeit für eine zweifelhafte Therapie aufwenden musste, machte er das. So kannte sie Postpischil. Ein beruhigender Gedanke.
„Und welchen Fall hast Du im Gegenzug zu dieser Rückführung bekommen?“, fragte Rosa. Sie aß den Rest des Kuchens und wandte sich dem letzten Schluck Kaffee zu.
Johann winkte ab. „Ach, nichts Besonderes. Ihr Mann hat sie mit der Haushaltshilfe betrogen. Aber das ist unwichtig. Wichtig war das Geld von dem Auftrag, weil schon lange keines in die Kasse gekommen ist, wie Du weißt.“ Er zuckte mit den Schultern und setzte ein erzwungenes Lächeln auf. „Was macht man nicht alles für Klienten! Sie hat die Sitzungen bezahlt und ich bin nach Kärnten gefahren. Habe mir eigentlich nichts erwartet.“ Sein Redefluss stockte und er sah nachdenklich auf den leeren Strudelteller.
Rosa beobachtete ihn besorgt. Schon das zweite Mal im Rahmen des Gesprächs wirkte er abwesend. Es musste mehr hinter der Rückführung stecken, als er bisher erzählt hatte.
„Und? Hast Du was herausgefunden? Warst Du der Kaiser von China oder Alexander der Große?“ Sie lachte zaghaft beim Versuch, ihn aufzuheitern.
„Wenn‘s nur so wäre“, murmelte er. Wie ferngesteuert griff er zum Kaffee und stürzte ihn hinunter. Er sah Rosa in die Augen. „Es ist viel schlimmer.“
Jetzt stutze die Assistentin. Das klang ernst. Sie hatte einen Scherz machen wollen, aber Johann war nicht darauf eingegangen. Im Gegenteil. Die Stimmung kippte. Sie lehnte sich zurück und zog die Augenbrauen zusammen. Was war in Kärnten passiert?
„Ich habe keine Vergangenheit. Die Rückführung hat kein Ergebnis gebracht“, sagte Postpischil mit starrer Miene.
„Was zu erwarten war“, antwortete Rosa. Johann schien enttäuscht über die Ausbeute der Behandlung. Hatte er so fest an frühere Leben geglaubt, dass er nicht damit zurechtkam, in keines versetzt worden zu sein? Das konnte er unmöglich ernst meinen.
Postpischil stützte sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab. Er deutete mit dem Zeigefinger, dass Rosa herankommen sollte.
„Du verstehst nicht. Keine Vergangenheit. Keine Kindheit. Kein Mutterleib. Keine früheren Leben. Alles, was ich über mich weiß ist, dass Vater Rechtsanwalt war und ich von meinen Eltern die Wohnung geerbt habe. Und die Prüfungsangst beim Studium. Sonst ist alles leer. Keine Erinnerung“, flüsterte er.
Rosa ergriff seine Hand. Sie fühlte sich kalt an. Er nahm die Geste kaum wahr, andernfalls hätte er sie genossen.
„Geht es Dir nicht gut? Ist alles in Ordnung? Manchmal erinnert man sich nicht an die Kindheit. Das kommt wieder“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Sie sah ihn an, doch er schaute durch sie hindurch.
„Du verstehst immer noch nicht. Es gibt keine Erinnerung. Ich existiere nicht. Zumindest noch nicht lange.“
„Du sprichst in Rätseln.“
„Es gibt keine früheren Leben. Weder als Mensch noch als Pflanze, Tier oder Stein. Kein geheimes Dasein in Atlantis.“
„Was bedeutet das?“ Johann machte ihr allmählich Angst.
„Heini und ich haben nachgeforscht. Er hat mich hypnotisiert, untersucht, hat Ahnenforschung betrieben. Er hat Dimensionsreisen unternommen, Geister befragt. Alles, was man sich vorstellen kann und auch Dinge, die man sich nicht vorzustellen vermag.“
„Und?“ Rosa hatte keine Idee, wie sie reagieren sollte. Was hatte Kogelnig mit ihm angestellt?
„Wir gelangten zu einem Ergebnis.“ Johann kam zum Kern der Geschichte. Dem Moment, an dem ihm die Assistentin entweder glaubte, oder für verrückt erklärte und die Zusammenarbeit für immer aufkündigte. Postpischil schluckte. „Meine Realität ist ein Buch. Alles rund um mich ist Illusion. Es sind die Gedanken des Autors, der diesen Roman schreibt.“
Rosa blieb der Mund offen stehen. ‚Das ist heftig‘, dachte sie, ließ Johanns Hand los und lehnte sich zurück. Was erzählte er? Ein Roman? Illusion? Gedanken eines Autors? „Ich auch?“, entfuhr es ihr, ohne dass sie es tatsächlich hatte fragen wollen.
Postpischil atmete tief ein, lehnte sich ebenfalls zurück und strich über die wenigen, dunklen Haarstoppeln. „So leid es mir tut. Du auch. Du existierst nur in den Gedanken des Schriftstellers und der Leser. Wie ich. Das ist der Grund, warum ich keine Vergangenheit habe. Sie muss erst geschrieben werden. Ich weiß nichts über mich. Nur der Verfasser weiß es.“
‚Es steht schlimmer um ihn, als ich zunächst dachte‘, schoss es Rosa durch den Kopf. ‚Er ist verrückt geworden. Irgendetwas ist in Kärnten passiert. Kogelnig und Bergweg haben ihm diesen Gedanken eingepflanzt. Aber was wollten sie damit erreichen?‘
„Und wer ist der Schriftsteller, der angeblich unser Leben schreibt?“, fragte sie mit provokantem Ton. Sie hatte vor, ihn aus der Reserve zu locken. Ihn aufzuwecken und aus seiner Vorstellungswelt herauszuholen.
Postpischil zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Noch nicht. Heini hat mir eine Meditationstechnik beigebracht, damit ich mit dem Autor Kontakt aufnehmen kann. Vielleicht gelingt‘s mir, mit ihm zu reden.“
‚Heini. Heini! Ich kann den Namen nicht mehr hören‘, dachte Rosa. Was haben sie mit ihm gemacht? Und welche Konsequenzen hatte das für ihn und für sie? Sie hatte eine Vergangenheit, das wusste sie.
Sie erinnerte sich, Nachkomme von so genannten Wolgadeutschen zu sein. Deutschen Einwanderern, die im russischen Reich unter der Regierung Katharinas der Großen an der Wolga ansässig geworden waren. Neunzehnhunderteinundvierzig deportierte man die Eltern nach Sibirien. Die Bundesrepublik Deutschland ermöglichte Wolgadeutschen aufgrund des Bundesvertriebenengesetzes ab neunzehnhundertsiebzig die Einreise. Sie selbst kam, im Alter von vier Jahren, neunzehnhundertachtundachtzig nach Deutschland, doch schon zehn Monate später trennten sich Mutter und Vater.
Sie folgte der Mama in die österreichische Bundeshauptstadt, wo sich die Geschiedene einen Neuanfang erhoffte. Sie wählte jedoch immer wieder beziehungsunfähige Männer, die sowohl sie, als auch ihre Tochter schlecht behandelten. Beruflich war ebenfalls kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Die Lebenssituation hatte sich mit der Übersiedelung nach Wien drastisch verschlechtert. Rosa wollte so bald wie möglich aus dem armen, grausamen Umfeld und zog, nachdem sie die Realschule beendet hatte, von der Mutter weg.
Das machte die Lage nicht einfacher. Sie brauchte einen Job, um ihre erste eigene Unterkunft zu bezahlen. Rosa fand in der Bar im Bermudadreieck Arbeit, wo sie heute noch servierte. Später traf sie dort auf Johann und so erhielt sie die Nebentätigkeit in der Detektei. Privat blieb die Situation dramatisch. Die Erinnerung an den Exfreund, den Auszug aus der Wohnung und die Freundin, die ihr hilfreich zur Seite stand, waren gegenwärtig. Sie erinnerte sich jedoch kaum an ihre Eltern, die nie für sie da gewesen waren. Aber das bedeutete wenig. Unangenehme Sachen verdrängte man. Das war ganz natürlich. Und nicht sie hatte Probleme, sondern Johann.
„Das ist verrückt. Das weißt Du“, sagte sie in ruhigem Ton. Sie musste ihn mit der Realität konfrontieren.
„Ich wünschte, es wäre so“, seufzte Postpischil. Er schaute auf seine Hände, die er im Schoß zusammengefaltet hatte. Rosa glaubte ihm nicht. Wie er vermutet hatte. Er wusste, dass es der Wahrheit entsprach. Er fühlte es. Was konnte er unternehmen, um seine Assistentin davon zu überzeugen? Damit sie bei ihm blieb. Ihm vertraute. Er hatte keine Idee. Vielleicht kannte der Schriftsteller die Antwort?
Ohne aufzusehen, fuhr er fort: „Ich will mithilfe der Meditation mit dem Autor Kontakt aufnehmen. Ihn einige Dinge fragen. Mir mein Leben erzählen lassen. Informationen sammeln. Über mich und die Welt.“ Er versank erneut in Gedanken.
Rosa schüttelte den Kopf. Was sollte sie tun? Wie könnte sie ihm helfen? Er war kein schlechter Mensch. Das änderte auch die Idee, er sei ein Romanheld, nicht. Wahrscheinlich. Die Vorstellung in Johanns Gehirn schien so stark zu sein, dass sie es keinesfalls schaffte, ihn davon zu befreien. Er brauchte professionelle Hilfe. Sie empfand Mitleid. Wie konnte ein solches Erlebnis derart dramatische Folgen bei einer rational denkenden Person haben? Ihr Armreifen klimperte, als sie sich die blonden Locken aus dem Gesicht strich. Sie sah Johann mit ernster Miene an.
„Du bist völlig durchgeknallt!“, begann sie. Postpischil sah auf und zog einen Mundwinkel nach oben. Rosa fuhr fort: „Aber solange es bei harmlosen Meditationen bleibt… Du solltest trotzdem über einen Besuch beim Psychiater nachdenken. Vielleicht ist der Druck zu groß. Der Druck, Geld zu verdienen, obwohl keine Aufträge hereinkommen. Der Druck, es Deinem verstorbenen Vater Recht zu machen. Erfolg zu haben.“
Postpischil streckte die Arme mit nach oben gerichteten Handflächen von sich. „Ich werde erfolgreich sein, wenn‘s der Autor will. Ich bin in seiner Hand. Nicht meines Glückes Schmied. Der Schriftsteller bestimmt, was im Roman passiert.“ Er legte die Hände zurück in den Schoß und beugte sich vor. „Vielleicht ist‘s möglich, innerhalb der Meditation Wünsche zu äußern. Mein Handeln kann ich auf jeden Fall nicht beeinflussen.“
In Rosa stieg Wut auf. Warum sperrte sich Johann gegen den Versuch, ihn von diesem Blödsinn abzubringen? Sie stellte einen Ellbogen auf den Metalltisch und hob den Zeigefinger, um damit eine verneinende Geste zu machen.
„Das ist eine schöne Ausrede, die Du Dir da zusammengezimmert hast.“ Sie ahmte Johann nach, indem sie ebenfalls die Arme ausstreckte und eine tiefe Stimme imitierte: „Ich habe null Verantwortung, dass ich erfolglos bin. Der Autor will es so.“ Rosa lehnte sich zurück und nahm eine entspannte Körperhaltung ein. In normalem Tonfall fuhr sie fort: „Hätte Dir nicht einfach Gott genügt, als Herr über Deine Handlungen? Musst Du so eine haarsträubende Geschichte erfinden?“
Postpischil schüttelte den Kopf. Er hatte geahnt, dass sie derart reagierte. Er glaubte ihr auch nicht, wenn sie ihm eine solche Story erzählte.
„Das ist keine Ausrede! Im Gegenteil! Es hat sogar sein Gutes. Als Protagonist eines Buches kann mir nichts passieren! Ich überlebe, komme aus jeder Schwierigkeit heraus und löse alle Fälle. Das macht mich und die Klienten zufrieden.“ Johann setzte ein breites Grinsen auf und zog die Augenbrauen nach oben.
„So plötzlich?“, rief Rosa überrascht aus. Bisher drückte sich Postpischil vor scheinbar gefährlicheren Aufträgen und jetzt gab er den Unverwundbaren und Unfehlbaren? Sie musste ihn auf den Boden der Tatsachen herunterholen, bevor er sich im Wahn verletzte, oder Schlimmeres.
„Erinnerst Du Dich an einen Fall, den ich nicht lösen konnte?“, fragte er seine Assistentin und unterbrach damit ihr Grübeln.
Rosa überlegte. Es fiel ihr kein Auftrag ein, bei dem sich ein Klient über einen Misserfolg beschwert hatte. Wahrscheinlich lag die letzte ungeklärte Mission schon zu lange zurück und sie hatte schließlich noch einen zweiten Job, bei dem sie an viele Sachen denken musste.
„Eigentlich nein“, antwortete sie.
Johann zwinkerte bestätigend. „Siehst Du. Es kann unmöglich erfolglose Aufträge geben, denn es gab nie Fälle in der Vergangenheit. Es gibt kein Vorleben!“ Er beugte sich vor, um den nächsten Worten Nachdruck zu verleihen. „Unser Leben fängt jetzt, am Beginn des Buches, an! Das Wissen ein Romanheld zu sein verschafft mir die Chance, höhere Risiken einzugehen und riskantere Geschichten zu erleben! Ich brauche keine Angst zu haben. Mein Leben ist nur ein Roman!“
Rosa starrte ihn an. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Johann glaubte fest an diese Vorstellung. Er ließe sich keinesfalls bei einem Frühstück davon abbringen. Sie musste aufgeben. Für den Moment.
„Wenn Du Dich mit der Einstellung mal nicht in Schwierigkeiten bringst“, seufzte sie resignierend. Und wenn doch? Sollte sie bei ihm bleiben, oder den Job als Kellnerin ernsthafter betreiben?
Sie arbeitete schon mehr als zehn Jahre im Bermudadreieck. Wie das klang. Bermudadreieck. Ihre Gedanken schweiften ab. Das Szeneviertel Wiens hieß seit den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts so, da mancher Student damals mehrere Nächte darin verschollen war und sich, als er wieder auftauchte, an nichts erinnern konnte. Das Viertel, das vom nordöstlichen Zugang zur Altstadt beim Schwedenplatz, über den Rabensteig und die Seitenstättengasse, bis zur Judengasse und zum Ruprechtsplatz reichte, war eine der ältesten Gegenden Wiens. Einst errichtete man hier den östlichen Teil des römischen Lagers Vindobona. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten zahlreiche jüdische Kaufleute in der Umgebung. Der Bereich wurde um neunzehnhundertsiebzig als jüdisches Textilviertel bekannt. Rosa ahnte nicht, dass sie es bald mit einem der dort ansässigen Unternehmer zu tun bekäme.
Zehn Jahre später eröffnete das erste Bierlokal in dem Gebäude, welches im neunzehnten Jahrhundert das Gasthaus zu den drei Raben beherbergte. Die Vögel übernahm das neue Lokal ins Logo und nannte sich Krah-Krah. Eine Liberalisierung der Gewerbeordnung machte es möglich, dass in den Achtzigern viele weitere Bars aufmachten. In einer davon arbeitete Rosa Beljajew und verdiente gut. Vor allem am Trinkgeld. Besser, als in der Detektei und regelmäßig. Johann musste damit rechnen, dass sie sich von ihm abwandte, wenn er durchdrehte. Er wusste, dass Rosa die Arbeit bei ihm aus Gefälligkeit verrichtete.
„Und warum erzählst Du mir das?“, fragte sie ihn.
„Tja, ich denke, die Kanzlei wird aufblühen. Ich bekomme aufregendere und besser bezahlte Fälle. Mit dem Beginn des Buches ändern sich die Zeiten, davon bin ich überzeugt. Ich werde Dich öfter benötigen und Du kannst Deinen Nebenjob an den Nagel hängen.“ Postpischil strahlte Zuversicht und Selbstvertrauen aus.
„Eigentlich ist die Arbeit in der Detektei mein Nebenjob. Die Kündigung im Lokal verschiebe ich derweil noch.“
Johann winkte ab. „Gut, gut. Noch ist‘s nicht so weit. Aber ich bitte Dich, morgen das Telefon zu übernehmen. Falls Anrufe von Klienten kommen, und sie werden sich melden, mach einen Termin für übermorgen aus. Ich möchte einen Tag frei nehmen, um mit den Meditationen anzufangen, und über alles nachzudenken.“
„Das ist eine gute Idee! Du solltest die Sache überdenken. Keine Sorge, ich überwache das Telefon.“ Vielleicht kam Johann im Laufe des freien Tages zur Vernunft. Bisher hatten ihn die Recherchen über seine Vergangenheit und die Lösung des Falles von Berta von Bergweg beschäftigt. Er war erst gestern zurückgekehrt und Entspannung täte ihm gut. Wenn sie ihm damit half, nähme sie die Anrufe entgegen, obwohl sie mit keinem rechnete. Sie irrte sich.
Freitag, 19. Juni 2015
Johann Postpischil fröstelte. Der durchweichte Anzug hinterließ eine Spur aus Wassertropfen auf der Treppe, die er mühsam erklomm. Der Wetterbericht hatte ‚meist bewölkt‘ und ‚teilweise Regen‘ vorhergesagt. Bereits in der Nacht hatte es heftige Schauer gegeben. Aber er hätte niemals damit gerechnet, am kurzen Weg vom Café Ministerium ins sechsstöckige Nebenhaus aus der Jahrhundertwende, in dem seine Wohnung lag, derart nass zu werden. Hoffentlich überstanden die cognacfarbenen Flechtschuhe das Wasser unbeschadet. Trotz der Vorhersage und nur sechzehn Grad diesen Morgen hatte er sich für den Sommeranzug und die dazu passenden Schuhe entschieden. Er vertraute darauf, dass es schöner und wärmer wurde.
Postpischil war wie immer ins Kaffeehaus frühstücken gegangen, als seine Assistentin überraschend aufgetaucht war. Er hatte sie einladen wollen, aber sie war in Eile gewesen.
„Ich muss einen Termin vorbereiten“, hatte sie lächelnd gesagt.
Ihre freundliche Art hatte Johann den Tag versüßt. Er war verärgert gewesen, da die ersten Meditationsversuche am Vortag erfolglos geblieben waren. Sie hatten nicht den kleinsten Hinweis auf einen möglicherweise existierenden Autor gebracht.
Bei ihrem kurzen Zusammentreffen hatte ihm Rosa von Herrn Rosenstein erzählt: „Er hat gestern angerufen und einen Termin für heute, um zehn Uhr, vereinbart. Ich möchte noch alles über ihn zusammentragen, was es zu wissen gibt, bevor er kommt.“
Postpischil hatte sich im Anschluss an das Treffen über ihre Freundlichkeit gewundert. Nach alldem, was am Mittwoch vorgefallen war. Hielt sie ihn für verrückt? Wollte sie die Stimmung normalisieren? Ihm sollte es Recht sein. Johann brauchte sie. Mehr als sie ihn.
Kurz vor zehn hatte er sich auf den Weg gemacht und war von einem starken Regenschauer überrascht worden. Der Anzug schien von Etage zu Etage schwerer zu werden.
Endlich erreichte er das dritte Stockwerk. In jedem Geschoss des Altbaus befanden sich zwei Eigentumswohnungen. Die Eingangstür an der linken Seite des Treppenhauses führte in Johanns Eigenheim. Den Nachbarn hatte er noch nie zu Gesicht bekommen.
‚Ich lebe ja auch erst zwei Tage‘, dachte er und empfand diese Tatsache beunruhigend. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.