Nur noch einen track lang träumen - Nico Feiden - E-Book

Nur noch einen track lang träumen E-Book

Nico Feiden

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Beschreibung

In -Nur noch einen Track lang träumen-, begleiten wir Tom, einen aufstrebenden Autor, der auf einer Release-Party plötzlich Amia wiedersieht. Doch die Atmosphäre ist durchzogen von Veränderungen: Tom, der gerade aus dem Gefängnis entlassen, und Amia, gefangen in einem Versuch, der Realität zu entfliehen. In dieser einen schicksalhaften Nacht kreuzen sich ihre Wege erneut und stürzen sie in eine turbulente Reise des Umdenkens. Dieser fesselnde Roman, geschrieben in zeitgemäßer Sprache, erkundet die beispiellose Macht der Erinnerungen. Während er sich mit der Wucht gesellschaftlicher Themen wie sexualisierter Gewalt im Kontext des Deutschraps auseinandersetzt, wirft er gleichzeitig ein Licht auf die juristische Konfrontation mit sexueller Gewalt vor deutschen Gerichtshöfen. Gibt es einen tiefgreifenden Zusammenhang zwischen Sprache und Sein? Die Leser*innen werden mitgenommen auf eine Reflexionsreise über den Wert von Erinnerungen und wie diese unsere Handlungen und Identität beeinflussen. -Nur noch einen Track lang träumen- ist nicht nur ein Roman, sondern eine eindringliche Aufforderung über das Wesen der Erinnerung nachzudenken, eingebettet in eine fesselnde Handlung, die die Leser*innen bis zur letzten Seite gefangen hält.

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Für Alina

Nico Feiden geboren 1993 in Zell (Mosel).

Nach langen Reisen durch Europa lebt & arbeitet er heute als freier Schriftsteller in Köln.

Diverse Veröffentlichungen in Anthologien, Rundfunkbeiträge & TV-Berichte im SWR, ORF und bei 3Sat.

2016 erschien sein Lyrikband "Blaue Wildnis" im Elifverlag. 2017 erschien "Das Echo des Weines" im RMV-Verlag. 2017 Stipendiat am Dante Institut Florenz.

Preisträger des Lyrikpreises der Stadt Baden (bei Wien).

2018 erschien sein Debütroman "Sterben können wir später" im Astikos-Verlag.

2019 war er Teil des Printemps Poetique Transfrontalier Stipendiums.

Seine Theaterneufassung von Borcherts "Draußen vor der Tür" wurde in Köln uraufgeführt.

2021 und 2022 erhielt er das MKW-Stipendium der Bezirksregierung Köln.

Zurzeit arbeitet er an einem Seriendrehbuch für einen Streamingdienst.

TRIGGERWARNUNG

Dieser Roman beschäftigt sich u.a. mit sexualisierter Gewalt. Bei manchen Menschen kann dieses Thema negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Epilog

Prolog

Das Herz schlägt im Durchschnitt 64-mal pro Minute. 64-mal pumpt es Blut durch den Organismus und auch wenn der Körper stillsteht, ist das Blut im Inneren in Bewegung. 64 Herzschläge, das sind 64 beats per minute, der Takt, bei dem wir zu tanzen beginnen.

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat gesagt, die elektronische Musik von heute ist nur so erfolgreich, weil sie den Herzschlag der Mutter im Uterus imitiert und wir uns dorthin zurücksehnen, in die Geborgenheit vor der Geburt, die wie eine verloren gegangene Erinnerung scheint. Wir ersetzen sie durch dunkle Sphären und Clubs, in der Sehnsucht nach einem abhandengekommenen Gefühl. Wenn der Herzschlag auf dem Beat ist, wenn jede Bewegung zu einer natürlichen Reaktion auf den Klang wird und der Unterschied zwischen der Innen- und Außenwelt aufgehoben scheint, ist die Barriere, die Körper und Geist trennt, durch Musik überwindbar.

Es gibt diesen kurzen, wachen Zustand inmitten der Nacht, wenn wir für den Bruchteil eines Augenblickes ganz bei uns sind. Ungeachtet dessen, wo wir uns befinden, ob in einem Club, auf einer Afterhour – dieser Moment, wenn sich alles aus dem Chaos heraus sortiert, wie ein umgeworfenes Schachbrett, das sich beim Zurückspulen wieder aufstellt. Und wenn du dann deinen Herzschlag fühlst, ist er Musik. 64 Schläge schnell und die Musik ist eine Erinnerung, an die du dich nur erinnern kannst, solange der Augenblick andauert und am Ende bleibt nur dein schlagendes Herz im Sinusknotentakt der Musik, wenn ein Track dich daran erinnert, dass wir tanzen und träumen, um nicht zu vergessen, woher wir kommen, dass die Wirklichkeit ein dehnbarer Raum ist, den wir mit dem füllen, was wir empfinden.

Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wir sehen sie, wie wir sind und unsere Erinnerungen erliegen äußeren Einflüssen, ohne, dass wir es bemerken. Die eigene Wahrheit verhält sich zur Wirklichkeit, wie eine Phrase zur Melodie. Eine unvollständige Partitur. Ohne die Verbindung zum Wirklichen, wäre sie nicht mehr als ein paar aneinandergereihte Noten, die im Nichts verhallen. 64 Herzschläge lang und dann Stille…

I

Tom ist 27 Jahre alt als sie ihn einbuchten. Früher hat er gedacht, mit 27 sei er entweder berühmt oder tot, aber, dass er im Gefängnis landen würde, das hat er nicht kommen sehen und vor allem nicht, dass sie ihn ausgerechnet am Premierentag seines ersten Theaterstückes festnehmen und nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, danach oder währenddessen, nein – davor.

»Typisch« denkt er, während er mit der Acht auf der Rückbank des Kripo-Opels sitzt – in Gedanken schon, die Seitentür aufgerissen, aus der Karre gesprungen, über die Leitplanke der Deutzer Brücke und mit einem Hechtsprung in den Rhein. Ob ich das wohl überleben würde?, fragt er sich, bewegungslos und still auf die schwarzwerdende Stadtsilhouette blickend. Von hier aus sieht er, wie die beleuchtete Skyline vom Seitenfenster Richtung Heck verschwindet, die reflektierenden Glasspiegelungen der futuristischen Kranentürme, der Dom, die vielen aneinandergereihten Häuser am Fluss, wirken in der Dunkelheit wie ein Herz-Rhythmus-Diagramm. Wie eine Tonspur bei Ableton und da weiß er bereits, dass er dieses Bild für lange Zeit nicht mehr sehen wird.

Das Leben gibt ihm immer eine Chance und eine Lehre zugleich. Es war nie so, dass er Momente reiner Zuversicht erlebt hätte, über allem schwebte immer ein dunkler Fetzen, als Vorahnung, dass alles bereits begonnen hat, sich in seine Einzelteile zu zersetzen, als wäre sein Leben eine Brausetablette, die man nur so zum Spaß in einen Fluss wirft, um zuzusehen, wie sie sich langsam auflöst. Wenn er so richtig lost war, war dort aber auch immer ein Funken Hoffnung, als würde etwas in ihm nach Leben ringen. Also irgendwie Segen und Fluch zugleich, 'ne fucking Lehre eben. So als wenn man nachts im Club das falsche Baggy nimmt und statt Pepp 'ne fette Nase Keta zieht und schon beim Ziehen spürt, dass die Nacht ab jetzt ein verschwommener Schleier ist, der in einzelnen Sequenzen und Bässen an einem vorbeizieht. Ohnmächtig.

Tom hat sein Theaterstück bis heute nicht gesehen. Der Regisseur schrieb ihm einen Brief in den Knast. dass es ein großer Erfolg war / ausverkauft / Folgetermine in Hamburg und Berlin.

Das Stück hatte er damals, wütend nach einer Demo am Hambacher Forst angefangen und in nur drei Wochen niedergeschrieben. Er hatte sich auf der Demo so hilflos gefühlt. Seine Stimme nutzlos gegen die Schlagstöcke und das Pfefferspray. Als er dann wieder zu Hause war, mit gereizten Augen, als könne er nicht aufhören zu weinen, setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann.

Willkommen im Anthropozän, befasste sich mit dem Ökozid der Menschheit. Dargestellt durch eine Liebesbeziehung in der pre-apokalyptischen Zukunft, in der die Völkerwanderungen des Äquators nordwärts und die Ressourcenknappheit zu weltkriegsähnlichen Zuständen führten, in der die westliche Welt Mauern um ihre Grenzen errichtete und die Spaltung der Gesellschaft sich in zwei Gruppen widerspiegelte. Eine war jene, die autark in den Wäldern lebte, Ackerbau betrieb und zu einer ursprünglichen Form der Zivilisation zurückgekehrt ist. Die andere Gruppe bestand aus jenen, die ihre Macht durch die Digitalisierung und den Fortschritt der Wissenschaft ausgebaut hatten und aus diesen beiden verfeindeten Gesellschaften stammten die Liebenden Laila und José. Erst später wurde ihm bewusst, dass das Stück als eine Art neues Romeo und Julia angesehen werden konnte. Der Regisseur war sofort begeistert und in seinem Brief fragte er Tom, ob er nun die Zeit sinnvoll nutzen wolle, um etwas Neues zu schreiben. Keine Frage nach seinem Zustand, oder wie es ihm geht.

Aber Tom denkt nicht ans Theater oder Schreiben. Er denkt an Amia, an ihre Arme, ihren Duft, an die vielen Male als sie sich verschwenderisch liebten. Die Erinnerung wirkt so weit entfernt, wie ein Bild, das am Horizont hinunterzukippen scheint.

Er denkt daran, was er alles verpasst. Was seine Jungs wohl in der Großstadtnacht ohne ihn treiben, aber vor allem denkt er daran, wann sie ihn wieder aus dieser verschissenen Sieben-Quadratmeter-Zelle lassen.

Er denkt an die Momente, die ohne ihn geschehen, die Zeitellipsen, die vor seinen Augen in Visionen rotieren.

In einem Trugbild seiner Fantasie, voller eigener Gefühle, aber ohne Bezug zur Realität. So wie damals, als er sich damals seine Zukunft ausmalte, Wünsche, die sich visualisierten, die erst einzelne Bilder und Orientierungspunkte waren und sich selbstständig zu Filmen zusammensetzten. Das Seltsamste an diesen Filmen war, dass sie mit einer Super 8 Kamera gedreht zu sein schienen.

Er sah sich in einer Zukunft, die wie eine Vergangenheit wirkte, kein Stück gealtert, auf einer Holzveranda mit einer gesichtslosen Frau. Nur ein Schatten seiner Vorstellung. Eine Silhouette in den Konturen der Phantasie. Und vor ihnen zirpten die Zikaden im warmen Abend. Der Garten war voll wildem Wein, von weit her trug der Wind das Meer in salzigen Partikeln mit sich und die Frau an seiner Seite klimperte auf einer Gitarre, sang vor sich hin. Ein Lied wie eine lang verlorene Erinnerung. Er saß tief gebeugt über einem Manuskript. Das Haus lag bis auf ein paar flimmernder Kerzen vollkommen in Dunkelheit. Manchmal bemerkte er dann, dass die Frau aufhörte zu singen und kurz darauf spürte er ihre Lippen auf seinen und ehe er ihr in die Augen schauen konnte, hatte sie sich schon abgewandt und ging mit leichten Schritten in die Dunkelheit des Gartens. Es war die Art von Filmen, bei denen er stets hoffte, sie würden niemals enden. Nur dieses Mal geht es weder um eine nicht-existente Zukunft, noch um eine gelebte Vergangenheit, denn alles existiert und geschieht im Augenblick. Ohne ihn. Wo er sein will, ist woanders.

Tom sitzt an seinem Schreibtisch, atmet den dichten Rauch seiner Selbstgedrehten gegen die kahle Wand und schaut zu, wie der Qualm sich in der abgestandenen Luft der Zelle transpiriert. Die Zeiger des kleinen Weckers sind schon wieder stehengeblieben, irgendwann in der Nacht. Er stellt sich auf den Stuhl und blickt aus dem zu hoch gelegenen, vergitterten Fenster in den grauen Oktobermorgen. Die Wolken hängen schwer über dem Horizont, wie tiefergelegt. Eine graue Decke ohne Anfang. Ohne Ende. Es könnte 7 oder 8 Uhr sein, das kann er nur schätzen.

Mal wieder ist er eingeschlafen, ohne den Aschenbecher zu leeren. Die Luft riecht nach kalter Asche und die vielen Kippenstummel, die wie kleine Särge eines Massengrabes nebeneinander liegen, lassen erahnen, dass er viel geraucht hat. Zu viel.

Immerhin hat er noch Tabak, zwar nur diesen Schwarzen Krauser, den die Gefangenen alle ohne Filter rauchen und der seine Lunge bei jedem Atemzug wie eine defekte Dampflok aufheulen lässt, aber das Falsche ist besser als nichts. Jedenfalls im Gefängnis.

Tom hat früh mit dem Rauchen angefangen und er versucht nicht mal damit aufzuhören. Warum auch? Wenn die Welt den Bach runtergeht, was macht es dann noch für einen Unterschied? Wenn dann der nächste Krieg oder die Apokalypse kommt, wird er sich eine anmachen und denken, dass er sich richtig entschieden hat.

Toms Gelassenheit, die Dinge so hinzunehmen wie sie sind, ist eine seiner größten Stärken. Er wirkt oft so, als würde er in sich ruhen, selbst wenn die Außenwelt im Chaos versinkt. Mit 17 ist er als Tramper in Spanien unterwegs gewesen und hatte in der Nähe von Granada seinen Rucksack in einem Busch versteckt, um auf einem Dorffest zu tanzen. Dumme Idee.

Als er nachts, betrunken vom Rotwein seinen Rucksack holen wollte, war er weg. Sein vollgeschriebenes Notizheft, sein Ausweis und all sein Geld. Weg, wie von der Nacht verschluckt.

Es war später Oktober und er stand in Hemd und kurzer Hose in der Dunkelheit. Nach einer durchzitternden Nacht auf der fein vergitterten Bank des Bahnhofs, nahm er den ersten Zug nach Barcelona, von dort aus nach Paris und dann weiter über Brüssel nach Köln, ohne Ticket natürlich. Es hat vier Tage gedauert. Vier Tage, in denen er fror und nichts aß. In Köln deckte er sich dann mit einem neuen Zelt und Rucksack ein, lieh sich ein paar Euros von einem Kumpel und zog sofort wieder los. In keiner Sekunde hatte er daran gedacht, die Reise abzubrechen, für ihn war selbst diese Odyssee mit leerem Magen ein Abenteuer. Etwas Existenzielles, dass durch seine Alternativlosigkeit seine Bedeutung vom Leben neu sortierte.

Als die Ärztin ihn bei der Zugangsuntersuchung in der JVA abhörte, fragte sie, ob er schon öfters im Gefängnis gewesen sei, weil sein Puls so ruhig blieb.

»Das bleibt er immer«, antwortete er, während er nackt auf der splittrigen Holzbank saß, die Beamten ihn beobachteten und nur darauf warteten, ihn ausgiebig zu durchsuchen. Leibesvisitation à la Justiz – das volle Programm, mit Mund auf, Zunge hoch, Sack heben, Arschloch spreizen und Fußsohlen zeigen. Aber peinlich war ihm das nicht. Er amüsierte sich darüber wie über einen schlechten Scherz, den man sich so lang erzählt, bis er endlich gut ist.

Aber ein Scherz ist das Ganze schon lange nicht mehr.

Jedenfalls keiner, über den er irgendwann lachen kann.

Das Gefängnis ist ein Ort, an dem der Geist außerstande ist, sich einen eigenen Raum zu erschaffen.

Spätestens als sie die Tür das erste Mal hinter ihm schlossen und es ganz ruhig wurde, ohne Zeitgefühl, nur mit dem weißen, surrenden Licht der Neonröhre über ihm, das die Zelle in ein krankes Gelb taucht, da fühlte er sich das erste Mal seit langem wieder wirklich verlassen und dieses Gefühl suchte in seinem Inneren nach Verknüpfungen und fand sie. Brachte Licht an Orte, die er bewusst im Dunkeln ließ. Die Scheiterhaufen seiner Biographie fingen wieder zu brennen an, dabei hatte er sie tief vergraben unter Erinnerungen.

Die Asche düngte jahrelang die Erde, aus der die Blumen wuchsen, an die er sich erinnern wollte. Die Blumen in Großmutters Garten, oder ihr Gesicht, das in Falten lag. Die Augen voller Sorgen vergangenen Hungers, der Krieg um Kartoffeln und etwas Schmalz. Ihre Arme, immer warm wie Brot. Ein Lächeln, das alle Entbehrungen in sich trägt und so scheint, als würde es in der nächsten Sekunde zitternd zerbrechen und das gerade in seiner Zerbrechlichkeit so ehrlich und schön ist.

Oder an die vielen Male als er mit seinem Großvater unten am Fluss stand, umgeben von den Steilhängen der Weinberge am anderen Ufer und seine Hände, die voller flacher Steine lagen, wie geschliffener Marmor, ganz weich und glatt. Die sie über das Wasser springen ließen und die bei ihm nie mehr als dreimal auf der glatten Wasseroberfläche aufsetzten, kleine ringförmige Wellen erzeugten und dann versanken.

Aber bei Großvater schienen sie hunderte Male über das Wasser zu springen, so weit, dass Tom sie aus seinen Kinderaugen verlor und dabei dachte, dass sie über den Fluss und die Weinberge hinaus, irgendwo in einer anderen Welt landeten. Jenseits von hier.

Es gab viele dieser Erinnerungsorte in ihm, die wie Efeu über ein eingestürztes Haus wuchsen. Es zusammenhielten. Denn woran er sich nicht erinnern wollte, waren seine Eltern, oder eher was mit ihnen geschah.

Manchmal ersetzte er im Inneren die Gesichter seiner Großeltern durch die seiner Eltern, um irgendwas zu haben, was über die Bilder aus den Fotoalben hinausging. Er war vier als sie starben, zu jung um sich zu erinnern. Er war vier als seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen und er war vier als seine Großeltern den Platz seiner Eltern einnahmen und schon da nahm die Heimat langsam Abschied von ihm und Jahre später auch er von ihr.

Wenn ihn nun jemand sehen könnte, wie er völlig katatonisch in der Zelle steht, äußerlich ruhig, aber im Inneren am zerbrechen. Ein Gefühl, wie wenn ein Glas explodiert. Eine Explosion unter Wasser, die so stark sie auch ist, nicht an die Oberfläche tritt.

Ist jetzt fast zwei Jahre her, sein erster Tag und wenn er in den kleinen Zellenspiegel blickt, mit der abgebrochenen Kante und den Schlieren darauf, sieht er keinen Unterschied zu damals. Nur seine Freunde, die ihn jeden Monat besuchen, sagen, er sei alt geworden. Klar, sein blondes Haar fällt nicht mehr so voll über die Stirn und die Falten seines zu dünnen Gesichts sind auch tiefer geworden und seine Zähne könnten mal wieder 'ne professionelle Reinigung gebrauchen. Aber er sieht sich immer noch als den jungen Mann, der die Welt verschlingen will.

Gerade heute, während er frisch rasiert, seine Sachen schon gepackt, nur noch darauf wartet, dass der Beamte ein letztes Mal seine Zellentür öffnet, um sie dann ohne ihn zu schließen. Ein letztes Mal wird er gleich den langen schlauchförmigen Korridor entlanggehen, zu den anderen Zellen blicken und wissen, wer damals fremd und jetzt schon fast ein Freund geworden ist.

Er wird zur Kammer gehen, die Anstaltskleidung ablegen und hoffen, dass seine Klamotten noch passen. Er wird sich dafür Zeit nehmen und in seine Kleidung schlüpfen wie in sein wahres Selbst zurück, nicht dieses gezähmte, dieses gefangene Ich, das zwar frei denken, aber schon lange nicht mehr frei sprechen konnte.

Als hätte er zwei Jahre einen unsichtbaren Maulkorb getragen. Eben etwas, dass ihn hinderte, zu sagen, was er empfand.

Er war immer schon freundlich, aber es jeden Tag sein zu müssen, ist etwas anderes. Sich keinen Tag zu erlauben, schlecht gelaunt zu sein, zu schreien, einfach liegenzubleiben, wenn die ganze Welt mal wieder unbedeutend scheint. Keine Wahl zu haben und nicht selbst entscheiden zu können.

Die Ohnmacht war es, die ihn störte.

Er wird mit seinem Karton vor dem Eingangstor stehen und warten. In dem Karton ist nicht viel. Ein paar Bücher. Thoreaus Pflicht über den zivilen Ungehorsam, Kants Kritik der reinen Vernunft, ein Gedichtband von Ginsberg, Notizen und angefangene Manuskripte, die er nie beendet hat. Zwei verfluchte Jahre, in denen er nichts schrieb, außer trauriger Briefe und Anträge auf Klopapier.

Lampe, Wasserkocher und Radio hat er gestern noch einem Neuankömmling geschenkt. Das gehört sich so.

Man geht in den Knast, wie in den Tod. Mit nichts.

Und man kommt raus, als würde man neugeboren, ebenfalls mit nichts. Er steht an der Pforte, seine Klamotten hat er angezogen, sie passen, müffeln nur nach Mottenkugeln. Der Beamte mit grauem Haar hinter der Scheibe reicht ihm seinen Geldbeutel, Ausweis und die Summe von 1.700 Euro durch die Luke.

Überbrückungsgeld nennt sich das. Aber wohin überbrücken, wenn man kein Land sieht? Für diese Summe hat er zwei Jahre zu einem Tageslohn von 2,48 Euro gearbeitet – da hat er noch mehr mit seinen Gedichten verdient, denkt er sich. Aber wenn er ehrlich ist, war das dann doch nicht viel mehr.

»Auf Wiedersehen wäre wohl der falsche Ausdruck.

Also machen Sie es gut und bleiben Sie sauber.« sagt der Beamte, nachdem Tom die Empfangsbestätigung seiner Sachen unterschrieben hat. Wie oft er diesen Spruch wohl schon gebracht hat und sich dabei witzig vorgekommen ist?

»Ja ja, bye.«, antwortet Tom.

Dann betätigt der Beamte sichtlich enttäuscht, weil er ein Lächeln als Reaktion erwartet hätte, den Summer der Tür.

Aber Tom ist nicht nach Lächeln zumute. Die Probleme, die draußen auf ihn warten, sind durch die Haft nicht verschwunden. Im Gegenteil. Sie haben sich aufgetürmt zu einer Mauer. Eine Mauer in ihm, gegen ihn, die ihn von der Außenwelt absondert und er muss nun Stein für Stein abschichten. Manchmal denkt er, ihm fehlt dafür die Kraft.

Als sich das Gefängnistor öffnet, beginnt im selben Moment ein Solohupkonzert aus dem alten, roten Ford Focus von Kamal. Er und Louis stehen auf dem Parkplatz direkt vor der Pforte. Louis lässt den Korken einer Champagnerflasche in die Luft schießen und Tom schaut ihm hinterher in den freien, weiten Himmel.

Ohne das Muster der Gitter. Das erste Mal seit Jahren.

Und in diesem Augenblick wird ihm bewusst, wie sehr sein Leben ihm gefehlt hat.

Stroboskoplicht im Takt. Der Nebel dicht. Fingerspitzen, die sich in der schwarzen Sphäre des Clubs verlieren. Tracks brechen aus in die Dissonanz. Herzschläge wie Trommeln. Die Adern voll Adrenalin. Mit dem Tageslicht ist die Ohnmacht verblasst, mit der Nacht erwacht sein Leben zurück.

Tom, Kamal und Louis sind sofort ins Fox gefahren.

Von der JVA direkt in den Club. Ihren Club, wo jeder sie kennt. Auch nach zwei Jahren noch. An der Schlange vorbei, kurz Smalltalk mit dem Türsteher Mike und rein in die Menge. Ist ganz schön komisch, so viele Menschen versammelt zu sehen. Nicht nur für Tom. Seit drei Wochen dürfen die Clubs wieder öffnen.

Nach fast zwei Jahren ist die Nacht zurück, die Szene war wie auf Pause gestellt.

Natürlich gab es illegale Raves im Sommer, in den Peripherien, Wäldern und auf irgendwelchen Äckern, mit selbstgebauten DJ-Pulten, Stromaggregaten. Aber all der Aufwand, war meist nur von kurzer Dauer, denn wo die Bässe sich ausbreiteten, war das Blaulicht nicht weit.

»Irgendwie hat sich nichts verändert.«, sagt Kamal, der neben Louis noch schmächtiger wirkt als sonst. Scheint als habe er weiter abgenommen und auch seine Augenringe nimmt Tom jetzt deutlich wahr. Aus den Andeutungen sind tiefe Furchen geworden.

»Kommt mir trotzdem so vor.« Tom ist sichtlich überfordert, seine Augen skalieren hin und her bei allem, was gleichzeitig passiert. Der Track, mit seinen wummernden Bässen, die unter den Fußsohlen kribbeln, so als hätten seine Beine zwei Jahre lang geschlafen. Das wechselnde Licht, das seine Haut für Sekunden wie die Streifen eines verblassten Regenbogens erscheinen lässt. Die vielen Gesichter, die an ihm vorbeischwirren und erst kurz neben ihm wie scharfgestellt scheinen.

Der Lärm, die Stimmen und all das Parfüm, das sich in seiner Nase zu einer unsortierten Erinnerung zusammenfügt und ihn an viele Augenblicke denken lässt, an die er lange nicht gedacht hat. So als würde ihn jemand in einen See aus Erinnerungen werfen und er hätte verlernt zu schwimmen.

Louis deutet mit seiner Hand nach hinten. »Lass mal rüber.« Tom hört es nicht bei dem Lärm. Er liest es von seinen Lippen ab. Sie drängen sich durch die zusammengequetschten Körper, die alle in Bewegung sind.

Der Track kracht von oben auf ihre Köpfe, dabei treffen sich Blicke im Schwarz. Atem. Pupillen groß wie Monde blitzen auf.

»Hast du die gesehen?« flüstert Kamal Tom ins Ohr.

»Die schnappen wir dir heute. Du musst doch chronisch untervögelt sein.« Tom hat sie gesehen und sein Arm hat ihre Schulter beim Vorbeigehen gestreift, ganz zufällig, so unbedeutend, dass es keinem aufgefallen wäre. Unter normalen Umständen nicht mal Tom. Es war zu wenig für eine Entschuldigung, aber zu viel, um es nicht zu bemerken.

Es war die erste Berührung einer Frau seit zwei Jahren, aber er sehnt sich nicht nach einem One-Night-Stand, er sehnt sich nach einer Nähe, die es hier nicht gibt.

Nach Berührungen, die mehr sind als bloße Impulse.

»Später, später.«, winkt er ab. Sie gehen am DJ-Pult vorbei, nicken dem Newcomer an den Pioneers zu und Louis öffnet die Tür zum Backstage mit einer überschwänglichen Geste. Wie immer leicht übertrieben, aber so ist er eben.

Der verqualmte Raum ist klein, sieben Quadratmeter vielleicht. In U-Form stehen alte Chesterfieldsofas an den Wänden. Das Leder ist schon ganz abgerieben, rau wie Putz, denkt Tom als er die Hand darauflegt. Sie haben früher die halbe Nacht in diesem Raum verbracht, ziemlich drauf philosophiert, mit irgendwelchen Fremden, die Augen hinter Sonnenbrillen versteckt.

Sie saßen dort mit Girls und DJs, alles war belanglos und schön. Von einer Leichtigkeit, die ihm jetzt abhandengekommen scheint. In der Mitte hängt noch immer die grasgrüne Hollywoodschaukel von der Decke. Hier hat er Amia damals zum ersten Mal getroffen.

Hier hat er fast jedes Wochenende verbracht. Für Tom wirkt der Backstage wie eine Tür in ein altes Leben zurück. Ein Verlorenes.

»Richtig savage heut´, ich hab so Bock«, sagt Louis, der breitbeinig, sein Handy auf dem linken Knie, drei Baggies mit weißem Pulver bereithält.

»Na, womit starten wir?«, fragt er Tom.

»Koka und paar Drinks reichen für den Anfang.« »Also das spaßige Zeug für später?«, entgegnet Kamal.

»Jungs! Ich hab‘ zwei Jahre nix genommen. Das wird mich so wegknallen.« »Das soll es ja auch!«, sagt Louis, der lächelnd mit seiner Kreditkarte das weiße Pulver wie ein Dirigent in drei lange Linien streicht.