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Josefa, Anfang dreißig, ist Eventmanagerin mit besten Aufstiegschancen. Bis man ihr Schulmann vor die Nase setzt, der sie vor Jahren sexuell belästigt hat. Josefa zieht die Konsequenzen und geht. Und dann geschehen kurz nacheinander zwei Morde und eine Reihe mysteriöser Unfälle: Die Opfer standen in engem Kontakt zu Josefas früherem Arbeitgeber ...
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Für Christa
ISBN 978-3-492-98255-9September 2015© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015© Piper Verlag GmbH, München 2015Covergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: © Fer Gregory/Shutterstock.comDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich Fahrenheitbooks nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
(sda) 2. August – Die Strafuntersuchung gegen zwei Mitglieder der Konzernleitung der Bankrott gegangenen Swixan AG ist eingestellt worden. Untersuchungsrichter Guido Seiler erklärte am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Zürich, Verdachtsmomente, wonach die Spitze des Swixan-Konzerns maßgeblich oder willentlich zum Zusammenbruch des Unternehmens beigetragen habe, hätten nicht erhärtet werden können. Die Strafuntersuchung war vor drei Jahren gegen Konzernchef Beat Thüring und Finanzchef Karl Westek eingeleitet worden, nachdem Zürcher Medien von angeblich dubiosen Transaktionen der beiden berichtet hatten. Diesen Berichten zufolge haben Thüring und Westek mit Hilfe des Wirtschaftsanwaltes Urs Feller-Stähli mehrere Dutzend Millionen Franken in Bankkonten auf den Bahamas deponiert, während hunderte von Mitarbeitern ihre Pensionen und Aktionäre ihre Investitionen verloren. Gleichzeitig ist nach Angaben des Untersuchungsrichters Seiler auch die Strafuntersuchung gegen Henry Salzinger, den Chef der Rechnungsprüfungsfirma Färber Brothers & Co. in Zürich, eingestellt worden. Die Ermittler konnten den Managern von Swixan und Färber keine illegalen Handlungen nachweisen.
PROLOG
Die Straßenbahn kam so abrupt zum Stehen, dass Josefa Rehmer gegen die Stange des Sitzes vor ihr prallte, dann zurückfiel und auf die Seite kippte. Die Warnglocke der Straßenbahn schrillte. Während Josefa versuchte, sich irgendwo festzuhalten, traf ihre linke Schläfe auf etwas Hartes unter rauem Stoff. Sie lag seitlich gegen einen menschlichen Körper gelehnt, der wie ein Turner an den Ringen hin und her baumelte. In ihrer Schläfe pochte ein stechender Schmerz. Der Turner, der sich an die Halteschlaufen geklammert hatte, richtete sich auf und zog den schwarzen Anzug zurecht, den er unter einem offenen Lammfellmantel trug. Josefa spürte seinen Blick auf sich ruhen. Doch als sie ihm ein entschuldigendes Lächeln zuwarf, schaute er rasch zur Seite. Dem jungen Mann war die ungewollte Tuchfühlung offensichtlich genauso peinlich wie ihr. Der Leitwagen der Straßenbahn stand beschädigt auf Zürichs Bahnhofstraße. Er war gerade von der Haltestelle weggefahren und hatte an Tempo gewonnen, als ihn ein Hindernis unvermittelt zu einem scharfen Bremsmanöver zwang. Nun öffneten sich die automatischen Türen, und die Passagiere drängten benommen nach draußen. Auch Josefa packte ihre heruntergefallene Aktentasche und trat auf den Gehsteig. Die eisige Januarluft schnitt ihr ins Gesicht. Auf der anderen Straßenseite hatten sich bereits etliche Schaulustige versammelt. In einer Phalanx kreisten sie ein rotes Mercedes-Coupé ein, dessen Kotflügel zersplittert war wie ein eingedrücktes Osterei. Ein modisch gekleideter Mann stand daneben, die Hände hilflos in die Hüften gestemmt. Doch Josefa hatte keine Zeit zu verlieren. Ungeduldig bahnte sie sich einen Weg durch den Menschenauflauf. Jetzt spürte sie auch in ihrem Brustbein ein Pochen. Das musste die Stange des Vordersitzes gewesen sein. Ihre Schläfe fühlte sich feucht an. Sie fuhr prüfend mit dem Finger darüber: Ein roter Film blieb haften. Im Laufen holte sie einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche, klappte ihn auf, blieb kurz stehen und hielt ihn schräg nach oben. Nichts. Sie musste das Blut gleich mit dem Finger weggetupft haben. Aber da war etwas im Hintergrund. Vor einem Schaufenster, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, stand der Mann im Lammfellmantel. Sie spürte wieder den pochenden Schmerz. Der Typ musste etwas verdammt Hartes in seiner Seitentasche tragen. Josefa verstaute den Spiegel und lief weiter. Sie war unter Zeitdruck. Die Straßenbahn war bereits zu spät eingefahren, völlig unüblich für die legendäre Zürcher Pünktlichkeit. Wenn sie sich beeilte, konnte es Josefa zum Paradeplatz in wenigen Minuten schaffen. Doch nach diesem Zwischenfall würde sie verschwitzt und aufgelöst ankommen – trotz der Kälte.
Die Bahnhofstraße erschien ihr plötzlich unendlich lang, mit viel zu vielen Passanten vor den Toren der Bankpaläste und den vornehmen Geschäften. Auf dem Paradeplatz hatte sich ein Alphornbläser aufgestellt, ein uriger Typ mit Vollbart und einem edelweißbekränzten grünen Filzhut. Im Vorbeihasten konnte Josefa nur zwei Wörter der Botschaft entziffern, die er auf einen Karton gepinselt hatte: »Stille« und »besinnen«. Das Alphorn übertönte das Kreischen der Straßenbahnen und den rauschenden Autoverkehr in den umliegenden Straßen. Ein Radfahrer, der die Schienen überqueren wollte, rutschte aus und stürzte. Was für ein verrückter Tag! Josefa warf eilig einen Blick zurück, um festzustellen, ob der Radler verletzt war. Da sah sie den Mann im Lammfellmantel hinter einem Pfeiler beim Eingang einer Privatbank verschwinden.
Endlich angekommen. Bevor sie das Hotel betrat, tupfte sie sich sicherheitshalber mit einem Taschentuch die Schläfen ab. Blassrote Streifen verfärbten das Papier. An der Mauer des Kaufladens gegenüber klebte ein Plakat, das alle Schweizer Soldaten zur jährlichen obligatorischen Schusswaffenübung aufrief.
Josefa schob sich durch die Drehtür in die elegante Hotelhalle, die mit blau-goldenen Teppichen ausgelegt war. Der Concierge telefonierte gerade und musterte sie beiläufig. Josefa sah hastig auf ihre Uhr: Sie war bereits fünf Minuten zu spät. Das war für ein erstes Treffen immer schlecht. Dann, endlich, kam eine junge Frau hinter den Tresen und wandte sich ihr zu. Sie besaß den unterkühlten Charme deutscher Nachrichtensprecherinnen. »Die Firma Dessag hat eine Nachricht für mich hinterlassen«, erklärte Josefa. Die Dame vom Empfang hob fragend die Augenbrauen. »Welche Firma, bitte?«
»Dessag. D-E-S-S-A-G«, wiederholte Josefa. Das Treffen fand zum ersten Mal in diesem Hotel statt, weil das Baur-au-Lac wegen Bauarbeiten geschlossen war.
»Dessag? Und eine Nachricht für wen, bitte?«
Josefa wurde nervös. War das Personal nicht informiert? Oder waren ihre Gesprächspartner vielleicht im falschen Hotel?
Nun legte der Concierge den Hörer auf. »Dessag«, sagte er. »Ja, da haben wir eine Nachricht. Sie werden ins Zimmer 398 gebeten.«
Josefa zögerte. »Zimmer 398? Ist das ein Hotelzimmer?«
Die Treffen fanden grundsätzlich nicht in Hotelzimmern statt. Josefa blickte den Mann peinlich berührt an. Ihr fielen plötzlich Geschichten von Edelprostituierten ein, die betuchte Kunden in Grand-Hotels aufsuchten. Für einen kurzen Moment überlegte sie, wen er wohl vor sich sah: eine schlanke Frau, Mitte dreißig, in einem hellblauen Mohair-Mantel, mit farblich passendem Seidenschal von Fabric Frontline und einer Aktentasche in der Hand. Ihre grau melierten Locken (sie hatte schon im zarten Alter von zwanzig Jahren graue Strähnen, ein Erbe ihrer Mutter) hatte sie hochgesteckt. Außer einem blassen Lippenstift und einem hauchdünnen Lidstrich war sie nicht geschminkt. Zum Glück hatte sie von ihrer italienischen Mutter auch die dunklen Augen und die dichten Wimpern geerbt. Ihre fein getönte Gesichtshaut brauchte kein Make-up.
Josefa sog die Luft ein. »Nach meinen Informationen wurde ein kleines Konferenzzimmer reserviert«, sagte sie mit fester Stimme. Der Concierge nickte entschuldigend. »Leider sind unsere Konferenzräume alle belegt. Aber das Zimmer 398 ist eine große Suite. Und sie verfügt über die gesamte notwendige Infrastruktur, um als Büro genutzt zu werden, das kann ich Ihnen versichern.« Er nahm ein mehrseitiges Dokument und heftete es mit Schwung ab. In Josefas Ohren knallte es. Sie zuckte zusammen. Es war eine Waffe, die ihre Schläfe gerammt hatte! Ein Revolver oder eine Pistole. Das musste es sein. Ihre Knie wurden weich. Wurde sie erneut verfolgt?
»Wünschen Sie noch etwas?«, fragte der Concierge.
»Zum Aufzug, bitte«, sagte Josefa.
»Gleich da drüben links.«
Josefa wartete ungeduldig vor dem Aufzug. Neben ihr stand eine Gruppe Touristen, die in den Tüten der teuren Designerläden zwischen Paradeplatz und Storchenplatz ihre Ausbeute heimtrugen. Josefa, reiß dich zusammen. Es ist alles in Ordnung. Wie schreckhaft sie doch war. Die vergangenen Ereignisse hatten ihre Nerven angegriffen. Wahrscheinlich lag es an dem Plakat mit dem Aufruf zur militärischen Schießübung. Das musste ihre Phantasie beflügelt haben. Es gibt noch eine normale Welt, versuchte sie sich zu beruhigen. Dieses Hotel etwa, oder die Touristen, die nun mit ihr im Aufzug nach oben glitten.
Der Flur auf der dritten Etage war leer. Neben Zimmer 398 leuchtete ein Schalter mit der Aufforderung »Bitte drücken«. Doch Josefa klopfte an, mehrfach und kräftig. Sie wartete. Eine Leuchtschrift erschien: »Bitte eintreten.« Sie drückte auf die Klinke.
Das Vorzimmer lag im Dunkeln, doch in der angrenzenden Suite brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, das konnte sie von weitem erkennen. Hätte sie etwas warnen sollen? Hätte sie vorsichtiger sein sollen nach den vergangenen Monaten? Unschlüssig schob sie die Aktentasche von einer Hand in die andere, da erschien im Türrahmen eine Gestalt.
Josefa erstarrte. »Sie?«, stieß sie hervor. Das war nicht die Person, die sie erwartet hatte. Diesem Mann, der nun die Hand leicht hob, hätte sie nicht begegnen wollen. Nicht jetzt und nicht unvorbereitet.
»Ich hatte schon lange den Wunsch, mich mit Ihnen zu unterhalten«, hörte sie ihn mit schwerer, heiserer Stimme sagen. In diesem Augenblick ließ ein Geräusch sie herumfahren. Ein Mann hatte die Außentür aufgestoßen. Er trug einen Lammfellmantel über einem schwarzen Anzug. Und darunter einen eckigen Gegenstand aus Metall.
TEIL EINS
– 1 –
Das Festzelt hockte wie ein glänzendes Raumschiff auf einem schwarzen See. Der See bestand allerdings nicht aus Wasser, sondern aus einem ausgelegten Kunststoff-Teppich. Francis Bourdin hatte die Idee gehabt, die Wiese mit einem Bretterrost zu belegen und den Teppich darauf auszubreiten. Und wenn Bourdin, der Chef der Firma Loyn, eine Idee hatte, war es Josefa Rehmers Aufgabe, sie umzusetzen. Sie fand, dass es ihr wieder einmal hervorragend gelungen war.
Das Zelt war gigantisch. Josefa hatte ein Dach aufgetrieben, unter dem zweihundert Personen an kleinen, kreisrunden Tischen Platz fanden. Die Gäste saßen fast alle schon unter den goldgefassten Kristallleuchtern an den weißen Tischen mit den schwarzen Tellern und goldenen Untertellern. Die Stühle waren ebenfalls schwarz und auf den Tischen prunkten goldene Vasen mit weißen Tulpen. Die Kombination Schwarz-Weiß-Gold war ebenfalls Bourdins Wille, oder vielmehr seine Vision, und Josefa tat alles, um seinen Vorstellungen gerecht zu werden.
Sie stand unter Strom, das spürte sie deutlich. Sah man ihr an, wie stolz sie auf ihre Leistung war? Loyn hatte seine besten Kunden und andere Freunde des Hauses zu einer prächtigen Schau von achtzig der schönsten Araberhengste der Welt geladen. Es war eine der größten Veranstaltungen, die Josefa je für ihre Firma organisiert hatte. Bourdin hatte darauf bestanden, dass die Party Ende Juni in St. Moritz stattfand, trotz Josefas Befürchtung, das Wetter könnte nicht mitspielen. Aber nun stellte sie zufrieden fest, dass die Frühsommerwärme über den Bergtälern des Engadin den letzten Tropfen Feuchtigkeit von der Wiese gesogen hatte. Gerade ging die Sonne als Feuerschweif langsam hinter der trutzigen Alpenkette unter.
Der gesponserte Anlass hatte vor einer Stunde mit der glanzvollen Pferde-Parade seinen Höhepunkt erreicht. Die VIPs warteten nun im Zelt auf die Vorspeise. Champagner und teure Weine flossen bereits reichlich. Die Damen zeigten viel nackte Haut, teuren Schmuck und perfekte Zähne. Josefa stand im lindgrünen Kostüm am Zelteingang und übersah den Innenraum. Ein Namensschild wies sie für alle erkenntlich als »Managerin Event Marketing« aus.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich so unauffällig wie möglich um. Ein gedrungener, breitschultriger Mann stand etwa zwanzig Schritte von ihr entfernt. Er rauchte eine Zigarre. Ihre Blicke trafen sich. Im Geiste ging Josefa schnell die Namen auf der Gästeliste durch. Natürlich: Thüring, Beat Thüring, einst hochgejubelter Konzernchef bei Swixan. Dann kam die Pleite des Konzerns und Thürings tiefer Fall – ein gut gepolsterter Fall, wie sich Josefa noch erinnern konnte. Thüring hatte zuvor ausreichend Geld – man sprach von vielen, vielen Millionen – auf die Seite geschafft. Das hatte sie in den Zeitungen gelesen. Danach wurde er für das Zürcher Wirtschaftsestablishment eine Persona non grata – wenigstens eine Zeit lang. Warum Thüring wieder auf der VIP-Liste von Loyn stand, war Josefa ein Rätsel. Aber das ging sie auch nichts an.
Als Organisatorin hatte sie keine andere Wahl, als freundlich auf ihn zuzugehen, Zigarrenrauch hin oder her.
»Sie haben Ihren Sitzplatz im Zelt schon gefunden, nicht wahr, Herr Thüring?«, fragte sie beflissen.
Beat Thüring drehte den Arm mit der Zigarre von ihr weg.
Er hatte etwas Mediterranes an sich, wirkte mehr wie ein Lebemann als ein Finanzhai. Josefa konnte sich gut vorstellen, wie er mit seinem Charme all jene verführt hatte, die er dann später hineinlegte.
Thüring verzog die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln. »Heute kann ich alle schönen Dinge gleichzeitig genießen – die Engadiner Berge, eine gute Zigarre und eine wundervolle Gastgeberin.«
»Und jetzt noch ein vorzügliches Essen«, erwiderte Josefa, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir möchten, dass sich unsere Gäste gern an diesen Tag erinnern werden.«
»Ich dachte, ich vertrete mir noch ein wenig die Füße, bis die Ehrengäste eintreffen.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Josefa hörte nicht auf zu lächeln. Sie wusste, was sie der Firma schuldig war. »Für mich gehören auch Sie zu den Ehrengästen, Herr Thüring.« Dann entfloh sie der qualmenden Zigarre.
Thüring hatte einen wunden Punkt getroffen.
Der Tisch mit den Ehrengästen in der Mitte des Zelts war noch nicht besetzt.
Josefa schaute sich suchend um. Vor dem kleinen Küchen-Mobil gab ihre Assistentin Claire Fendi dem Chef de Service gerade letzte Anweisungen. Josefa eilte hinüber. »Wo ist Joan Caroll? Wo sind Bourdin und die anderen?«
Claire blickte erstaunt drein. »Sind die noch nicht drin? Die wollten vor zwanzig Minuten vom Hotel losfahren. Sie müssten schon längst hier sein.«
Dass Bourdin nicht rechtzeitig am Ort des Geschehens eintraf, war an sich nichts Ungewöhnliches. Obwohl er Firmenchef von Loyn war, führte er sich auf wie ein exzentrischer Künstler, ein Bohemien der Wirtschaftswelt – ein Image, das er medienwirksam kultivierte. Für einen geregelten Ablauf der Dinge sorgten andere. Vor allem Josefa.
Was sie mehr beunruhigte, war das Ausbleiben von Joan Caroll. Sie war der Star der VIP-Gala von Loyn. Alle Gäste waren neugierig auf die Frau, die als sechzehnjähriges Mädchenwunder den US-Schachmeistertitel gewann, dann als internationales Photomodell Furore machte und schließlich Filmschauspielerin wurde (ihre Filme überzeugten Josefa nicht besonders, aber das behielt sie für sich). Loyn hatte Joan Caroll als Imageträgerin eingekauft. Gegen viel Geld ließ sie sich mit den luxuriösen Taschen und Koffern von Loyn photographieren und nahm an Werbeveranstaltungen der Firma teil. Ein gelungener Coup für das fünfundachtzigjährige Schweizer Familienunternehmen, fand Josefa.
Es gehörte zu ihren Aufgaben, Joan Caroll rechtzeitig von A nach B zu bringen. Sie griff zu ihrem Handy. Bourdin meldete sich nicht. Sie fürchtete das Schlimmste. »Übernehmen Sie hier«, sagte sie zu Claire. »Ich fahr rüber zum Hotel. Bourdin spielt mal wieder verrückt.«
Ihre Assistentin verdrehte die Augen. Sie wusste Bescheid. Die beiden Frauen waren so gut aufeinander eingespielt, dass Worte oft überflüssig waren. »Wann sollen wir beginnen?«, fragte sie.
»In einer Viertelstunde. Bis dahin sollten wir hier sein. Wenn nicht, fang einfach mit dem Essen an. Gib dem Team Bescheid.«
Josefa rannte über den schwarzen Teppich zum bereit stehenden Firmenwagen. Es waren etwa sieben Minuten bis zum Hotel. In der Empfangshalle traf sie Bourdin mit der Pressedame der Pferdeschau und der Bürgermeisterin von St. Moritz. Josefa entdeckte auch ein paar Journalisten in der Halle. Für die Medien posierte Bourdin stets als leicht gelangweilter Einzelgänger mit entrücktem Blick, das lange schwarze Haar (Josefa hielt es für gefärbt) zu einem Mozartzopf zusammengebunden. Fast immer trat er im Kostüm eines pakistanischen Edelmannes auf, gekleidet in feinste italienische Stoffe.
Bourdin drehte sich verärgert um. »Was machen Sie denn hier?«, bellte er. »Sie sollten im Zelt sein.«
»Ich bin hier, weil alle im Zelt auf die Ehrengäste warten«, sagte Josefa so ruhig wie möglich. Sie ärgerte sich über sich selbst. Weshalb rechtfertigte sie sich für etwas, das schließlich sonnenklar war? Aber Josefa hatte längst aufgehört, von Bourdin ein rationales Verhalten zu erwarten.
Seine Stimme wurde plötzlich sehr nachsichtig – so verpackte er immer seine größten Unverschämtheiten. »Dann machen Sie ihnen das Warten möglichst angenehm. Wir haben unsere Pläne geändert. Alphonse Yvon hat uns in sein Chalet eingeladen. Zu einem Fleischfondue.«
Alphonse Yvon. Der Ölmagnat. Und Besitzer der exklusiven Primadonna-Läden. Sie hörte Bourdins Stimme wie durch einen Nebel. »Sie verstehen, Joan muss dabei sein. Das wird sicher ein großartiges Geschäft für uns.«
Josefa starrte ihn ein paar Sekunden lang sprachlos an. Doch dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. »Da drüben warten zweihundert Gäste auf Sie und vor allem auf Joan. Sie ist in der Einladung groß angekündigt worden. Und Sie wollen diese Gäste einfach sitzen lassen? Links liegen lassen? Das ist unsere Einladung und das sind unsere Gäste. Das können Sie nicht machen. Das ist ein absoluter Affront!«
Bourdin hatte sich schon halb abgewandt. »Erzählen Sie ihnen was. Sagen Sie ihnen, Joan hat die Grippe oder irgendetwas. Ich kann’s nicht ändern, Yvon ist nun mal wichtiger.« Damit drehte er ihr vollends den Rücken zu.
Josefa wusste, jedes weitere Argumentieren war zwecklos. Sie nahm den Aufzug ins oberste Hotelgeschoss. In der Präsidentensuite standen überall herrliche Blumensträuße. Joan Caroll saß in geheizten Lockenwicklern am Schminktisch; ihr Hairstylist fingerte an den Dingern herum.
»Josephine!«, begrüßte Joan sie herzlich, wobei sie den Namen als »Tschousefiin« aussprach. Die beiden Frauen waren sich in den drei Jahren ihrer Zusammenarbeit vertraut geworden – so vertraut man eben mit Joan Caroll werden konnte.
Joan sah wie immer blendend aus. Sie trug einen tief dekolletierten schwarzen Blazer und eine silbern funkelnde enge Hose.
»Sie sind besorgt wegen des Fondues, nicht?«, fragte sie liebenswürdig.
»Wollen Sie da wirklich hingehen, oder ist das Bourdins Wunsch?«, fragte Josefa zurück.
»Sein Wunsch ist mir Befehl«, sagte Joan und lächelte freundlich. »Er ist die Firma, und die Firma entscheidet.«
Josefa wusste, Joan würde sich niemals in ein internes Hickhack einmischen.
»Wenn Sie gehen wollen, dann ist es auch für mich okay«, sagte Josefa.
»Wunderbar«. Joan steckte sich ein weißes Glitzerding, das wie ein großer Diamant aussah, ans Ohr.
»Ich fahre Sie morgen zum Flughafen«, sagte Josefa und verabschiedete sich.
Sie fuhr mit dem Firmenwagen zum Festzelt zurück. Beim Aussteigen sah sie Beat Thüring immer noch draußen stehen. Diesmal war er in Gesellschaft zweier Männer; sie drehten Josefa den Rücken zu. Warum waren die nicht an ihren Tischen?, fragte sie sich alarmiert. Das Gala-Diner musste doch längst angefangen haben! Als sie näher kam, verschwanden die drei eilig im Zelt.
– 2 –
Das Telefon schepperte. Josefa fuhr aus dem Schlaf hoch und griff zum Hörer. Es war der Weckdienst des Hotels. Sie blinzelte, um die Anzeige auf ihrer Uhr zu lesen. Viertel nach sechs.
Sie hatte kaum geschlafen. Noch mitten in der Nacht hatten ein paar Hotelgäste einen ziemlichen Radau auf dem Korridor veranstaltet. Josefa war sauer: So etwas in einem Grandhotel in St. Moritz. Jetzt, wo sie aufstehen musste, war alles ruhig. Die Störenfriede schliefen bestimmt selig. Sie bestellte sich das Frühstück aufs Zimmer, öffnete ihren Laptop und überprüfte den Zeitplan, nach dem die VIP-Gäste zum Flughafen gefahren wurden. Dann überflog sie rasch ihre neuen E-Mails. Viele Junkmails, trotz des Filters, den die Firma einrichten ließ.
Plötzlich stutzte sie. Was war das für eine eigenartige E-Mail – auf Englisch? Sie las den Text mehrmals und übersetzte ihn sich, so gut sie konnte. Der Teufel ist am teuflischsten, wenn er im ehrbaren Gewand daherkommt. Erkenne den Übeltäter, bevor er dich mit seinen Fängen zerreißt.
Was für eine merkwürdige Warnung. Josefa las den Absender, auf den sie sich ebenso wenig einen Reim machen konnte wie auf den Text: [email protected]. Jemand trieb hier offenbar einen Scherz mit ihr. Aber wer konnte das sein? Ihre E-Mail-Adresse war breit gestreut.
Sie wollte die ominöse Nachricht erst löschen, legte sie dann aber in einem Ordner ihres E-Mail-Programms ab. Vielleicht würde sie später etwas erkennen, was ihr entgangen war. Sie hatte jetzt an wichtigere Dinge zu denken.
Am Nachmittag saß sie neben Joan Caroll in der Mercedes-Limousine, die sie zum Flughafen Zürich-Kloten fuhr. Vor den getönten Autofenstern huschten Dörfer und Wiesen vorbei. Es regnete. Josefa unterhielt sich mit Joan über den Vorabend. Das Model trug Jeans und ein weißes T-Shirt unter einer kurzen orangefarbenen Lederjacke. Sie hatte das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre vollen Lippen waren ungeschminkt. Sie stand nun nicht mehr im Dienst von Loyn. Entspannt plauderte sie über den Fondue-Abend in der urigen Alphütte, die sich der Milliardär Yvon in sein luxuriöses Chalet hatte einbauen lassen. Musikanten mit Handorgeln und Klarinetten hatten nach dem Essen aufgespielt, erzählte Joan, nur Jodeln habe dabei gefehlt.
Francis Bourdin saß ihnen mit steinerner Miene gegenüber. Seit der Abfahrt hatte er kaum etwas gesagt, wie Josefa verwundert feststellte. Hatte Yvon seine hochgespannten Erwartungen nicht erfüllt? Üblicherweise bestritt Bourdin die ganze Unterhaltung, versprühte unentwegt Charme und war durch nichts zu bremsen. Sie staunte oft, wie er mit Worten jonglierte. Francis, der einst als Franz geboren worden war, redete am liebsten in großen Blasen: »Loyn ist die Kulmination vom Hier und Nichts im unendlichen Spektrum des innovativen Potentials.« Frauen und Männer kauften dann dieses Gepäck der Luxusklasse, als wollten sie tatsächlich im Hier und Nichts kulminieren. Und auch Josefa konnte sich sehr für die Taschen und Koffer aus feinstem Leder begeistern – sie drückte es nur anders aus. Dank Bourdin, das musste sie jetzt trotz ihrer schwelenden Wut auf ihn zugeben, verkörperten edle Ledertaschen inzwischen genauso Schweizer Qualität wie Uhren und Schokolade. In speziellen Momenten, und so einer war heute, konnte sie sich sogar eingestehen, dass auch sie maßgeblich zum Erfolg von Loyn beitrug. Sie organisierte effizient den Auftritt der Firma in der Öffentlichkeit, sie überwachte präzise und zuverlässig die VIP-Galas. Loyns wandelnde Werbeträger, Ambassadoren genannt, bestätigten ihr immer wieder, wie sehr sie Josefas Verlässlichkeit schätzten. Darunter waren immerhin mehrere Filmstars, internationale Sportgrößen und einige Ikonen aus dem Musikgeschäft. Sie war vierundzwanzig Stunden am Tag verfügbar – wenigstens noch für vier Tage. Josefa seufzte innerlich. Gut, dass dann ihr Urlaub begann. Drei Wochen Abstand von der Firma, drei Wochen Nichtstun, drei Wochen Sonne und Strand. Geplant hatte sie noch nichts, gebucht noch weniger. Sie hatte bisher einfach keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
Bourdin riss sie aus ihren Gedanken. »Frau Rehmer.« Die Limousine war am Zürcher Flughafen angekommen. Draußen regnete es. »Ich werde Joan zur VIP-Lounge begleiten«, sagte Bourdin. »Morgen ist Lagebesprechung in meinem Büro. – Kommen Sie, Joan.« Doch Joan kümmerte sich nicht um ihn und fasste Josefa leicht am Ärmel. »Ich will noch ein Andenken für meine Schwester kaufen. Begleiten Sie mich?« Josefa überlegte kurz. Joan im Souvenirladen – das war keine gute Idee. Die Leute würden sie auf jeden Fall erkennen. »Was halten Sie davon, wenn wir in die VIP-Lounge gehen und ich Ihnen eine Auswahl bringen lasse?«, schlug sie vor. Joan war einverstanden.
Bourdin wich ihnen nicht von der Seite. Schließlich gab es in der VIP-Lounge ein interessantes Publikum, und er war in Gesellschaft eines der berühmtesten Photomodels der Welt. Obwohl sich Joan nicht für den großen Auftritt zurechtgemacht hatte, zog ihre gertenschlanke Gestalt mit den langen Beinen alle Blicke auf sich.
Eine Bodenstewardess brachte eine Auswahl Schweizer Andenken. Joan wählte ein mit lustigen Kühen bedrucktes Seidenfoulard. Dann traf ihre Assistentin Kelly ein, die sie auf dem Flug in die USA begleiten würde, und Josefa nutzte die Gelegenheit, sich von Joan zu verabschieden. »Sie haben Ihre Sache toll gemacht«, sagte sie zu dem Star. Joan deutete eine Umarmung an. »Josephine, mit Ihnen ist das nicht schwer.« Dann tauschte sie mit Bourdin ein paar höfliche Floskeln aus und entschwand an der Seite von Kelly.
»Finden Sie nicht auch, dass Joan wieder hervorragend war?« Josefa drehte sich zu Bourdin um. Doch der stand gar nicht mehr neben ihr, sondern verließ bereits die Lounge. Ohne ein Wort. Ließ sie einfach stehen wie einen Regenschirm. Die Firmen-Limousine würde sie also nicht nach Zürich hineinfahren. Verdammt. Bourdin behandelte sie, als ob sie sein Dienstmädchen wäre, ein Mensch zweiter Klasse. Sie, die Loyn gerade zu einem Glanzauftritt verholfen hatte.
Josefa stand wie angewurzelt da, unfähig, sich zu bewegen. Ihr Atem ging flach, die Luft staute sich in ihr wie Wasserdampf in einem geschlossenen Kessel. Ihre Arme und Hände verkrampften sich. Sie nahm ihre Umgebung nur noch verschwommen wahr. In ihren Ohren dröhnte es. Plötzlich fühlte sie einen metallenen Griff in der Hand, daran ein gespanntes Drahtseil mit einer monströsen Stahlkugel. Josefa drehte sich um ihre eigene Achse, ohne das Drahtseil loszulassen, während die schwere Kugel zu schwingen begann. Sie zog immer weitere Kreise, drehte und drehte sich und zertrümmerte dabei alles, was ihr im Weg stand. Sie zerschmetterte Mauern, Metallgerüste wurden wie Streichhölzer umgemäht, Scheiben zersplitterten. Geht mir aus dem Weg, geht mir aus dem Weg! Sie drehte sich immer schneller, und die Kugel raste immer mächtiger durch die Luft, unaufhaltbar in ihrem Siegeszug der Vernichtung. Endlich, als alles dem Erdboden gleichgemacht war, ließ Josefa die Kugel los, in einer letzten ruckartigen Drehung, setzte sie frei und sah ihr nach, wie sie wie eine Rakete in eine diffuse Weite entschwand.
Jetzt brach ihr Atem durch, tief und alle Verkrampfungen lösend. Josefa hörte eine Stimme und blinzelte. Langsam lichtete sich der Schleier. Vor ihr stand eine Frau. Sie trug eine blau-rote Uniform und hatte eine Hand auf ihren Arm gelegt. Josefa verstand jetzt auch ihre Worte.
»Der Fahrer Ihres Firmenwagens hat mir Ihr Gepäck übergeben.«
»Mein Gepäck?«, fragte Josefa verstört. »Ach so.« Das hatte sie völlig vergessen.
»Wollen Sie sich nicht setzen? Sie sehen blass aus.« Die Bodenstewardess verströmte ein dezentes Parfüm.
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, versicherte Josefa, die langsam ihre Fassung zurückgewann.
Die Uniformierte sah sie besorgt an. »Sie sind ganz blass.«
»Mir wird manchmal schwindlig«, erklärte Josefa eilig. »Ich habe zu niedrigen Blutdruck, wissen Sie. Aber das ist ja … das ist ja keine Krankheit. Typische Frauensache.« Sie verzog das Gesicht zu einem schwachen Lächeln. »Und besser als zu hoher Blutdruck. Offenbar habe ich in letzter Zeit zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.« Sie nickte der immer noch zweifelnd dreinschauenden Stewardess zu, nahm ihr Gepäck und lief zum Taxistand.
Auf der Fahrt nach Zürich sah Josefa gedankenverloren die hässlichen Vorstadtbauten an sich vorübergleiten. Der Schrecken saß ihr immer noch in den Gliedern. Diese Phase hatte sie doch schon längst hinter sich gelassen, oder nicht? Das war eine Phantasie, die sie als heranwachsendes Mädchen verfolgt hatte – und mit dieser Zeit hatte sie doch abgeschlossen! Die Wut eines hilflosen Teenagers, nicht ihre Wut. Doch jetzt war dieser Zorn wieder da, plötzlich durchgebrochen, unkontrolliert, ungezügelt, das machte Josefa Angst. Wahrscheinlich die Nerven, sagte sie sich. Je schneller sie zu Hause war, umso besser.
– 3 –
In Zürichs Innenstadt hatte der Regen aufgehört. Es dämmerte bereits. Josefa schloss die Eingangstür auf und stieg die Steinstufen des Treppenhauses hoch in den vierten Stock – einen Aufzug gab es in diesem etwas vernachlässigten, der Modernität trotzenden Haus nicht. Trotz aller Müdigkeit durchflutete Josefa ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Wieder zu Hause. Vorerst keine Hotelzimmer und Restaurants mehr. Sie lief durch die Zimmer ihrer Wohnung wie eine Katze, die nach tagelangem Herumwandern zurückgekehrt ist, nahm die vertraute Witterung auf. Sie öffnete die Fenster in den begrünten Hinterhof und sog die kühle Abendluft ein. Ihr Haus war Teil eines großen Gevierts von mehrgeschossigen Jugendstilhäusern, mit hohen Räumen und Stukkaturen an den Decken. Seit drei Jahren wohnte Josefa hier zur Miete. Sie flätzte sich in den Schaukelstuhl und ließ ihren Blick durchs Wohnzimmer schweifen: die Ölbilder an der Wand, die sie gemalt hatte, als ihr Leben noch nicht vom Terminkalender bestimmt wurde, das sonnengelbe Sofa, die Stapel von ungelesenen Magazinen (sie enthielten Anzeigen von Loyn-Taschen), die bunten Kissen auf dem Parkettboden, der schmale Perserteppich, die Bücherwand, die Tonfiguren aus Peru und die geliebte Lampe mit dem antiken chinesischen Porzellansockel. Sie war ein Erbstück ihrer Mutter, die mit sechsunddreißig Jahren an Krebs gestorben war, und hatte glücklicherweise alle Umzüge heil überstanden. Auf der kleinen Konsole aus meergrünem Glas stand Josefas Lieblingsphoto von der Mutter. Es war in ihrer Heimat Piemont aufgenommen worden, noch vor der Krankheit. Die Mutter lehnte sich über eine Mauer, im Hintergrund eine alte Kirche und Menschen auf dem Platz davor. Ihr dunkles Haar mit den Silberfäden wurde von einem gepunkteten Band aus dem bildhübschen Gesicht zurückgehalten. Plötzlich fiel Josefa auf, dass sie nur noch ein Jahr zu leben hätte, wenn sie ihre Mutter wäre. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie spürte einen Anflug von Kopfschmerz.
Rasch legte sie eine CD ein und verschmolz für eine Weile mit der Stimme von Jeff Buckley. Dann packte sie ihren kleinen Koffer aus und stieg mit einem Haufen Kleidungsstücke in die Waschküche hinunter, die sie mit den anderen Hausbewohnern teilte. Beide Waschmaschinen waren besetzt. Josefa seufzte und stieg wieder nach oben. Seit einem Jahr brachte die Stadtverwaltung im ersten und zweiten Stock Asylsuchende unter. Einige der alten Mieter hatten vergeblich dagegen protestiert. Josefa war es eigentlich egal. Sie war ohnehin die ganze Zeit unterwegs.
Sie legte sich ins Bett und schlief sofort ein. Als sie erwachte, war es fünf Uhr morgens. Leicht betäubt stand sie auf, weckte ihr Gesicht mit kaltem Wasser und schaute sich im Spiegel an. Ihre Haut wirkte trotz der leichten Rötung fahl. Unter den Augen lagen Schatten. Sie hielt sich am Rand des Waschbeckens fest, ihr war ein wenig schwindlig. Dann schleppte sie sich in die kleine Küche. Das Gefrierfach war voll mit Fertiggerichten. Sie rührte einen Getreidebrei mit heißem Wasser an und nahm vor ihrem Heimcomputer Platz. Unter den neuen E-Mails war auch eine Nachricht von Stefan, ihrem verheirateten Geliebten, der sich gerade auf Geschäftsreise in New York befand. »Bin am Dienstag wieder zurück.« Was bedeutete das? Würde er bei seiner Familie sein oder würde sie ihn dann sehen können? »Ruf mich an, sobald du da bist«, antwortete sie ihm. Dann sah sie die nächste EMail, und ein kalter Schauder überlief sie. Wieder der Absender [email protected]. Mit zittrigen Fingern klickte sie auf »Öffnen« und las auf Englisch: Eigentlich bin ich froh zu hören, dass du deine Fassung verloren hast. Es ist ein gutes Zeichen, wenn kranke Menschen wütend werden.
Sie starrte die Zeilen an, als sähe sie ein Gespenst vor sich. Wie war das möglich? Hatte sie jemand am Flughafen beobachtet? Hatte jemand gesehen, wie sie in eine dunkle Welt abgedriftet war? Vielleicht Francis Bourdin? Aber das konnte nicht sein. Sie hatte ihn hinausgehen sehen.
Erschrocken schaltete sie den Computer ab.
Dann zog sie sich eine Jacke über, griff nach der Aktentasche und stand fünf Minuten später in dem kleinen italienischen Laden an der Ecke, der schon um sechs Uhr morgens öffnete. Sie kaufte sich zwei Äpfel, ein Sandwich und eine Flasche Wasser. Dann fuhr sie mit der Straßenbahn in die Firmenzentrale.
Auf dem Korridor der vierten Etage kam ihr Claire Fendi entgegen. Sie trug immer noch ihre lindgrüne Loyn-Uniform. Der Schlafmangel hatte auch auf ihrem sonst so frischen Gesicht Spuren hinterlassen.
»Claire, Sie schon hier?«, fragte Josefa mehr rhetorisch.
»Sie ja auch«, sagte Claire mit ihrer hellen Stimme und versuchte, trotz ihrer offensichtlichen Erschöpfung einen leichten Ton anzuschlagen. »Ich habe Ihnen die Presse-Ausschnitte auf den Schreibtisch gelegt. Sie sind phantastisch. Und Curt Van Duisen hat ein Glückwunsch-Telegramm geschickt, und das im Zeitalter des Internets. Dieser Mann hat wirklich Stil.«
»Danke, Claire. Ohne Sie hätte ich es nicht geschafft, das wissen Sie.«
»Bourdin ist da anderer Meinung.« Josefa entging nicht, dass Claire angespannt war. Sie spürte, wie sich ihr Magen verhärtete. Da waren ihr so hervorragende Mitarbeiter wie Claire anvertraut, und Bourdin hatte nichts Besseres zu tun, als sie fertig zu machen.
»Ach, ignorieren Sie so was einfach«, sagte sie, wohlwissend, dass es ein schlechter Rat war, den sie selbst nicht befolgte. »Für unser Team sind Sie einfach unentbehrlich.«
Josefa meinte, was sie sagte. Als sie Bourdin ein Jahr nach ihrem Stellenantritt darum bat, eine persönliche Assistentin anheuern zu dürfen, hatte sie bereits Claire im Auge. Josefa brauchte eine loyale, zuverlässige Mitarbeiterin, die genauso in der Arbeit aufging wie sie selbst. Claire, Ende zwanzig, war ihre erste Wahl. Sie hatte mit der zierlichen rotblonden Frau, die nie viel Zeit und noch weniger die Nerven verlor, von Anfang an regelmäßig zusammengearbeitet. Claire war diejenige, die alle Geschäfts- und Werbereisen für Loyn organisierte, die im letzten Moment noch günstige Flugtickets auftrieb, für Extrawünsche stets ein offenes Ohr hatte, sicherstellte, dass Loyns Ambassadoren von den Fluggesellschaften wie rohe Eier behandelt wurden, und die immer wusste, welches die besten Reiserouten waren. Sie war ein echtes Organisationstalent.
Josefa erkannte Claires Potential schnell. Und sie wusste, sie würde rasch handeln müssen, bevor jemand anders dieses Talent unter seine Fittiche nahm. Sie wollte eine Assistentin, die sie aufbauen und nach allen Kräften fördern konnte, aber in dem sicheren Bewusstsein, dass ihr keine Konkurrenz erwachsen würde. Claire konnte ihr trotz all ihrer Fähigkeiten nicht gefährlich werden, das war Josefa rasch klar. Sie wirkte zu mädchenhaft und ihre Stimme war viel zu hoch und zu weich, als dass sie den Eindruck von Autorität vermitteln könnte. Diese Stimme passte zu Claires feingliedriger, kleinwüchsiger Gestalt, ihren kindlich runden Gesichtszügen mit den Sommersprossen und den zarten kleinen Händen. Josefa gab ihr Kalkül niemals preis, und manchmal schämte sie sich auch ein wenig für ihre Einstellung.
Sei’s drum. Die Arbeit drängte. Auf ihrem Schreibtisch lag die Mappe mit den Presse-Ausschnitten. Josefa setzte ihre Lesebrille auf. Alle waren sie in St. Moritz gewesen, die Illustrierten, die Boulevard-Blätter, aber auch die Finanzpresse.
Loyn war zu einem Wirtschaftsfaktor geworden, dem man Beachtung schenken musste. Bourdin wusste die Medien für sich einzuspannen, selbst wenn es nur ein gesellschaftliches Ereignis wie die Pferdeschau in St. Moritz war.
Josefa erkannte die Gesichter der Prominenz, von denen vor allem eines strahlend herausstach: das von Joan Caroll. Josefa staunte immer wieder, wie gut Joan auf Bildern aussah, manchmal sogar besser als von Angesicht zu Angesicht. »Starqualität«, kommentierte Pius Tschuor, der Photograph von Loyn, öfters.
Auf dem Etagenkorridor begegnete sie Richard Auer, »unser aller Verkaufschef«, wie Josefa ihn insgeheim nannte. Sein firmeninterner Spitzname war Dick, passend zu seinem jungdynamischen, weltmännischen Auftreten. Er hatte das blonde Haar mit Gel geknetet, ein paar Fransen fielen ihm neckisch in die Stirn. Was machte der schon in der Zentrale? Josefa schob ihr Misstrauen wie einen Bulldozer vor sich her. Auer hingegen schien bester Laune. »Alle sind voll des Lobes für Sie, Frau Rehmer«, säuselte er, als ob er sich auch die Stimmbänder mit Gel eingeschmiert hätte. Auer war Deutscher, aus Hamburg, wie er stets betonte. »Danke«, sagte Josefa und drückte sich an ihm vorbei. Im Sitzungszimmer waren schon alle versammelt. Josefa fühlte ihr Herz pochen. Ihr Team. Sie hatte es selbst aufgebaut. Zehn Leute waren ihr unterstellt, vom Alter her gemischt, weil sie beides wollte: Dynamik und Erfahrung. Dieses Team war ihr ganzer Stolz.
Jetzt stellte Albert Tenning, der Jüngste unter ihnen, einen Korb voll duftender Buttercroissants auf den ovalen Tisch. »Fangen wir an«, rief sie in die Runde. Als sie in die zehn Gesichter schaute und gerade zu einer Lobrede auf das Team ansetzen wollte, fiel ihr Blick auf Claire. Etwas an ihrem Ausdruck befremdete sie. Claire schien nicht nur übernächtigt zu sein, sondern irgendwie entrückt. Was war bloß los? Nun, das würde sie später klären. Routiniert fasste Josefa die Ereignisse der vergangenen Tage kurz zusammen, teilte Anerkennung und Dank aus, machte Verbesserungsvorschläge, hörte sich die Stellungnahmen ihrer Mitarbeiter an.
Niemand erwähnte Joans Abwesenheit beim Gala-Diner im Festzelt, obwohl es an jenem Tag das Thema Nummer eins gewesen war. Doch Josefa hatte die Parole ausgegeben, dass sie das mit der Firmenleitung regeln würde. Wenn Bourdin zu Ohren käme, dass ihre Mitarbeiter offen darüber lästerten, könnte er Josefa mangelnde Loyalität gegenüber der Firma vorwerfen. Das war allen im Team klar.
Nachdem Josefa die Sitzung für beendet erklärt hatte, kam Bianca Schwegler, ihre Sekretärin, auf sie zu. »Um neun Uhr findet eine Sitzung mit dem CEO im großen Konferenzraum statt.« Es blieben gerade noch zwanzig Minuten.
Josefa suchte Claire. Sie stand bereits hinter ihr und drückte ihr ein Telegramm in die Hand. »Lesen Sie das, bevor Sie in die Konferenz gehen«, raunte sie. Josefa hielt sie am Arm fest. »Wir müssen uns nachher unterhalten.« Claire schaute sie mit einem Blick an, der Josefa geradezu gehetzt vorkam. Dann nickte sie.
Die wöchentliche Sitzung mit Bourdin fand, wenn er nicht gerade im Ausland war, immer am Freitagmorgen statt. Das war Routine. Doch diesmal war der Raum ungewöhnlich voll: Bourdin hatte die regionalen Verkaufsleiter aus verschiedenen Ländern nach Zürich kommen lassen. Und Josefa darüber nicht informiert. Sie hätte ihn in der Luft zerreißen können. Er thronte bereits am Kopfende des Konferenztisches. Hans-Rudolf Walther, Präsident des Verwaltungsrates und steinreicher Besitzer von Loyn, saß neben ihm. Stand etwas Wichtiges an, von dem sie nichts wusste? Walther war zwar bekannt dafür, dass er sich gern auch persönlich um die Tagesgeschäfte von Loyn kümmerte. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren war er noch zu jung, um sich aufs Altenteil zu setzen. Doch an den Freitagskonferenzen nahm Walther nur ganz selten teil.
Bourdin hatte bereits mit seinem üblichen Redeschwall begonnen. »… zu einer Marke des vorurteilslosen Zeitreisenden rund um den Globus etabliert … moderne Nomaden, die den Eckpfeiler ihres Wirkungskreises in bleibender Ästhetik suchen …« Manchmal überschlug sich seine Stimme leicht. Josefa merkte plötzlich, dass sie immer noch das Telegramm in ihren Händen hielt. Sie lehnte sich etwas zurück und öffnete es auf ihrem Schoß.
Liebe Frau Rehmer,
erlauben Sie mir, Ihnen meinen tief empfundenen Dank auszudrücken für die herzliche und kompetente Weise, mit der Sie Ihre Gäste umsorgen. Sie haben mir und meiner Frau wunderschöne und anregende Tage in einem höchst angenehmen Umfeld ermöglicht. Herzliche Gratulation!
Ihr Curt Van Duisen
Josefas Herz machte einen Sprung. Curt Van Duisen galt als alter Freund von Walther. Wenn das kein gutes Zeichen war. Wie durch eine Nebelwand hörte sie Bourdins Stimme: »… dank unserer Mitarbeiter, die ihr Letztes gaben …« Josefa steckte das Telegramm in die Hosentasche. Bourdins Rede näherte sich nun offensichtlich ihrem Ende. »… unsere Projektleiterin …, Verkaufsleiter USA …, die Chefin der PR-Abteilung …, und last but not least« – Josefa richtete sich unmerklich auf – »unserem Chef Hans-Rudolf Walther, der das alles möglich macht. Sie alle haben einen Applaus verdient.«
Josefa saß einen Moment lang völlig unbeweglich da. Er konnte es doch nicht wagen, sie so offensichtlich zu ignorieren! Alle hier wussten, dass sie in St. Moritz unter schwierigen Umständen das Unmögliche geschafft hatte. Josefa spürte, wie sich einige Blicke auf sie richteten. Bourdin kündigte nun an, dass er den Verkaufsleitern den neu eröffneten Schauraum mit Exponaten aus allen bisherigen Loyn-Kollektionen im Empfangsgeschoss zeigen werde, »ein architektonisches Juwel«, wie er prahlte. Das war’s also.
Josefa verharrte noch auf ihrem Platz, unschlüssig, was sie tun sollte. Bourdin zur Rede stellen? Hans-Rudolf Walther kam auf sie zu. »Frau Rehmer, ich würde mich gerne unter vier Augen mit Ihnen unterhalten.« Er legte väterlich seine Hand auf ihren Arm und lächelte. »Kommen Sie doch in zehn Minuten in mein Büro.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und tauchte ins Getümmel.
In ihrem Büro zog Josefa die Unterlagen für die nächste große PR-Veranstaltung heraus, ein Musik-Festival mit berühmten Interpreten, für das sie schon ein Konzept vorbereitet hatte. Vielleicht würde Walther etwas darüber erfahren wollen. Sie eilte auf die Toilette, machte sich frisch und nahm den Aufzug in die oberste Etage.
Walther war natürlich noch nicht da. Es war das Privileg der Mächtigen, andere warten zu lassen. Seine Sekretärin bot ihr einen Sessel an. Josefa stellte sich stattdessen ans Fenster. Die herrliche Sicht auf den Zürichsee und die Alpen am Horizont nahm sie gefangen. Es sah aus wie ein Gemälde von Ferdinand Hodler. Die Stadt lag ihr zu Füßen. Josefa gingen Bilder eines warmen Sommerabends durch den Kopf, sie sah Wellen, die gegen Steine schwappten, ihre braun gebrannten Beine, die im warmen Wasser versanken, einen stolzen Schwan, der aufrechten Hauptes vorbeizog, Boote mit geblähten Segeln …
»Frau Rehmer.« Hans-Rudolf Walther war ins Vorzimmer getreten. Er war die sprichwörtlich graue Eminenz bei Loyn. Alles an ihm war grau – der Anzug, die Krawatte, das Haar, selbst seine Haut schien grau zu sein. Jetzt streckte er einladend die Hand zu seinem Büro aus. Josefa folgte seiner Aufforderung, nahm an einem kleinen runden Tisch Platz und legte ihre Unterlagen darauf.
»Ja, Frau Rehmer«, begann nun Walther in der etwas aufgedrehten, jovialen Art etablierter Männer, die einer deutlich jüngeren Frau etwas zu erklären wünschen. »Ihre Leistung war wieder einmal großartig. Wir wissen das alle außerordentlich zu schätzen. Seit Sie das Event Marketing unter sich haben, läuft das ja ganz prächtig.«
»Das freut mich, Herr Walther.« Sie konnte sich den nächsten Satz nicht verkneifen. »Es hätte mich noch mehr gefreut, wenn das in der Konferenz erwähnt worden wäre.«
Walther gab seinem Körper einen leichten Dreh nach links. Sein Siegelring blitzte auf. »Ach, sehen Sie, Sie dürfen das nicht so tragisch nehmen. Francis Bourdin ist ein spontaner Mensch, ein bisschen unstrukturiert manchmal, wie eben Genies so sind. Er hat das in seiner Begeisterung ganz einfach vergessen. Deshalb hole ich das jetzt nach. Sie liegen uns sehr am Herzen.« Er schaute sie an, als ob sie jetzt gleich zu schmelzen hätte.
Was immer Bourdin auch tat, Walther würde ihn decken. Bourdin war zu wichtig für die Firma. Walther hatte auf dieses Pferd gesetzt, und der Erfolg von Loyn gab ihm Recht.
Er redete bereits weiter, ohne ihre Antwort einzuholen. »Sie haben in den letzten Tagen fast Übermenschliches geleistet, Frau Rehmer. Sie hatten ja kaum Zeit zum Luftholen. Das soll anders werden. Wir möchten Sie ein wenig von Aufgaben entlasten, die eigentlich nichts mit Ihrer Kerntätigkeit zu tun haben.«
Jetzt kommt’s, dachte Josefa. Ich wusste, es kommt.
Walther spreizte die Finger beider Hände und legte sie wie zu einer Kuppel aufeinander. »Wir haben beschlossen, die Position des Marketingchefs wieder von außen zu besetzen.«
Josefa versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Herr Walther, Ihre Entscheidung erstaunt mich sehr. Besonders nach den schlechten Erfahrungen, die wir damit gemacht haben.« Walther wusste, wovon sie sprach. Der Posten des Marketingchefs war vakant, weil der Mann, der ihn zuletzt besetzt hatte, ein Fiasko gewesen war. Er hatte alle in der Firma verrückt gemacht. Seither hatte Josefa den größten Teil seiner Aufgaben übernommen, und Bourdin machte den Rest.
»Wissen Sie«, erklärte Walther, »wir brauchen einen kompetenten Chef für einen so wichtigen Bereich. Wir brauchen einen Vermittler, ein Scharnier, einen Ansprechpartner für unsere Mitarbeiter, für unsere Gäste, für die Firmenleitung.«
»Unsere Mitarbeiter? Unsere Gäste? Das funktioniert doch alles bestens«, entfuhr es Josefa. Ihr wurde schlecht vor Wut. Am liebsten hätte sie ihm Van Duisens Telegramm gezeigt – aber nein, sie war kein Kind, das um Anerkennung buhlte.
»Frau Rehmer«, fuhr Walther in seinem väterlichen Ton fort, »niemand zweifelt an Ihrer Tüchtigkeit. Vielleicht haben Sie mich nicht richtig verstanden. Wir wollen Sie einfach nur ein wenig entlasten. Damit Sie sich auf Ihre Kernaufgaben konzentrieren können. Und ich bin überzeugt, dass wir diesmal einen außerordentlich fähigen, hervorragenden Kandidaten gewinnen konnten. Sein Name ist Werner Schulmann.«
Josefa verschlug es die Sprache. Ihr war, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.
– 4 –
Pius Tschuor stand in der offenen Tür von Josefas Büro. Mit seinem kräftigen dunklen Haar, das sich selbst mit einem gepflegten Haarschnitt nicht bändigen ließ, mit den blauen Augen und dem perfekt geschnittenen, männlichen Mund – nicht zu voll, nicht zu weich – war Pius eine auffallende Erscheinung. Manchmal fragte sich Josefa, wie Loyn diesen gut aussehenden Mann hatte einfangen können. Das war natürlich pure Koketterie: Sie selbst hatte ihn entdeckt – oder besser, seine Bilder. Sie hatte seine Photographien in einer Galerie gesehen und sofort Kontakt mit ihm aufgenommen. Sie hatte seine Photomappe an Bourdin weitergereicht, der Pius gleich für den neuen Katalog verpflichtete. Und in kürzester Zeit war der junge Mann so etwas wie der Hofphotograph von Loyn geworden. Das war sein Broterwerb, mit dem er eine weniger einträgliche Leidenschaft finanzierte: Er photographierte unterirdische Höhlensysteme, dunkle Seen und verborgene Schluchten, kleine geheimnisvolle Lebewesen, für die seine Scheinwerfer das erste Licht war, das sie je bestrahlt hatte. Für Josefa war es ein Rätsel, warum Pius seinen athletischen Körper dem Tageslicht und den vielen bewundernden Augen entzog und ins Innere der Erdkruste entfloh. »Ist das die Sehnsucht nach dem weiblichen Uterus?«, hatte sie ihn schon augenzwinkernd geneckt. Das war ihre Art, mit ihm zu kommunizieren: flachsen, schäkern, herumalbern, in der Glut herumstochern, aber nie mit dem Feuer spielen. Wenn es um ihre gemeinsamen Projekte ging, entstand zwischen ihnen sofort eine konzentrierte Übereinstimmung. Sie war sich mit Pius selten uneins. Er wusste immer sehr schnell, was sie wollte.
Jetzt sah er sie wortlos mit fragendem Blick an. Josefa war unübersehbar schlechter Laune. Sie saß wie erstarrt auf ihrem Bürostuhl, hatte die Arme auf die Lehnen gestützt, die Hände gefaltet und blickte stur geradeaus. »Ich fang gleich an zu schreien«, stieß sie endlich hervor.
Pius schlich wie ein Puma um den Schreibtisch und blieb am Fenster stehen. »O-o-o-o-o«, gab er nur von sich. Dann hakte er nach. »Wie schlimm ist es diesmal?« Josefa rieb sich die Nasenwurzel. »Schlimm genug, um mir den ganzen Urlaub zu verderben.«
»In dieser Firma hat niemand Anspruch auf einen angenehmen Urlaub, das wissen Sie doch.«
»Nicht auf Urlaub, nicht auf Anerkennung, nicht auf eine menschenwürdige Behandlung.« Josefa wusste, dass sie bei offener Tür nicht so laut sprechen sollte. Aber das war ihr gerade vollkommen egal. Wie alles andere auch.
Pius legte ihr behutsam eine Mappe auf den Tisch. »Das sind meine Vorschläge für die Dankeskarte an die VIPs von St. Moritz.« Dann beugte er sich zu ihr herunter, stemmte die Arme auf den Tisch, und sein Gesicht glitt gefährlich nahe vor ihres. Josefa dachte einen Moment lang, er würde sie gleich küssen. Sie konnte sein Aftershave riechen. »Die Welt besteht nicht nur aus Loyn, Josefa«, sagte er leise und schaute sie ernst an. Und schon war er aus dem Büro verschwunden. Josefa saß einen Moment lang überrumpelt da. Dann gewann ihr Ärger wieder die Oberhand. »Nein, sie besteht noch aus glitschigen Höhlen und blinden Fledermäusen«, brummelte sie vor sich hin. Sie griff nach dem Telefon und bat Claire zu sich. Vor dem Fenster sah sie Schwalben tanzen.
Oh mein Gott. Werner Schulmann. Er nannte sich Kommunikationsberater und Experte für Neue Medien. Josefa hatte vor ein paar Jahren mit ihm zusammengearbeitet, als Loyn im Museum of Modern Art in San Francisco eine große Geburtstagsparty für die neue Kollektion inszenierte. Schulmann gab sich als Spezialist für jeden erdenklichen technischen Schnickschnack – Video-Sound-Shows, Lichteffekte, Großprojektionen. Bei der Planung des Ereignisses hatte sie zunächst einen guten Draht zu ihm gehabt. Er war unkompliziert im Umgang, offen für ihre Ideen. Er hatte Charme und ein angenehmes, sportliches Äußeres. Doch in San Francisco ließ er sie wissen, dass er die Nächte nur ungern allein verbrachte, und machte ihr ein unzweideutiges Angebot. Sie lehnte freundlich ab. Doch Schulmann ließ nicht locker. Josefa musste deutlicher werden. »Sie müssen ein Nein für ein Nein nehmen.« Er lächelte und sagte sanft: »Wissen Sie eigentlich, wie sehr der sexuelle Hunger aus Ihren Augen spricht? Vielleicht sollten Sie etwas dagegen tun.« Dann drehte er sich um und entfernte sich mit federnden Schritten. Josefa war sprachlos. Das ärgerte sie hinterher fast am meisten. Warum war ihr nicht sofort eine passende Antwort eingefallen? Sie war doch sonst so schlagfertig. Oder hätte sie ihm hinterherrennen und zur Rede stellen sollen?
Am späten Abend, als sie in ihre Hotelsuite zurückkehrte, bestellte sie sich eine Suppe und einen Pfefferminztee auf ihr Zimmer. Als es an der Tür summte, öffnete sie automatisch, ohne durch den Spion zu gucken. Ehe sie es sich versah, stand Schulmann im Zimmer. Alles ging sehr schnell. Er packte sie und fing an, sie zu küssen, griff ihr an den Busen. Josefa, erschrocken und überwältigt, versuchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Der Kampf kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Plötzlich ließ Schulmann sie los. Ein Summen. Der Kellner. Die Suppe. Sie riss die Tür auf, so schnell sie konnte. »Bitte, bitte …«, stammelte sie. Der Kellner schaute verunsichert drein. Schulmann nutzte sein Zögern, schob sich an ihr vorbei und verschwand den Korridor entlang. Der Kellner stellte das Tablett auf den Tisch. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er, in ihr aufgewühltes Gesicht blickend. Josefa schüttelte den Kopf. »Kann ich ein anderes Zimmer haben?«
Damals war sie noch ziemlich neu bei Loyn; die Geburtstagsparty war eine Feuerprobe für sie und Schulmanns Inszenierung ein wichtiger Teil davon. Während Schulmann so tat, als ob nichts geschehen wäre, sprach Josefa nur das Nötigste mit ihm. Doch der Groll in ihr wuchs. Den Gedanken, ihre Vorgesetzten zu informieren, verwarf sie schnell. In der Firma hörte sie ständig von irgendwelchen Bettgeschichten quer durch die Etagen. Wer würde sie da in Schutz nehmen?
Zurück in Zürich, verfasste sie einen Bericht über die Veranstaltung in San Francisco und plädierte dafür, dass man bei Loyn die Produkte und die prominenten Werbeträger stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen sollte. Aufwändige Licht- und Soundeffekte entsprächen weniger dem distinguierten Understatement von Loyn. Josefa erhielt nie eine offizielle Reaktion auf ihren Bericht, aber Schulmann erhielt auch nie wieder einen Auftrag von Loyn.
Das Geräusch von herannahenden Schritten riss sie aus ihren Gedanken. Es war Claire. Sie trug einen lachsfarbenen Zweiteiler, der sie noch blasser wirken ließ, als sie ohnehin schon war. Sie schloss in vorauseilender Vorsicht die Tür und setzte sich Josefa gegenüber.
»Walther hatte ein Gespräch mit mir«, sagte Josefa ohne große Einleitung. »Wir bekommen einen neuen Marketingchef.«
Claire schwieg. Hatte sie nicht begriffen, worum es ging?
»Der neue Mann heißt Werner Schulmann«, legte Josefa nach.
»Ich weiß«, sagte Claire fast tonlos.
»Sie wissen das schon?« Josefa fuhr auf. »Bin ich etwa die Letzte in diesem Laden, die es erfährt?«
Warum sagt mir nie jemand etwas?
Claire lehnte den Oberkörper nach hinten, als ob sie einem Schlag ausweichen wollte. »Werner Schulmann hat es mir gestern Abend gesagt.«
Josefa starrte sie ungläubig an. Claire wand sich auf ihrem Stuhl. »Werner und ich …, wir … Also, wir sind seit einem halben Jahr zusammen. Ich hab ihn bei einem gemeinsamen Bekannten kennen gelernt. In Paris. Nachher rief er mich an und … Er lud mich zum Essen ein. Und … ich habe mich in ihn verliebt. Ganz einfach.« Sie wirkte gequält.
Josefa saß wie versteinert da. Claire Fendi und Werner Schulmann. Claire und dieser … dieser … Wie konnte eine gescheite junge Frau auf solch einen Gauner hereinfallen! Claire hatte ihr nie aus ihrem Privatleben erzählt. Das hatte in der Firma nichts zu suchen. Und auch deshalb hatte Josefa sich immer zu hundert Prozent auf ihre diskrete, vertrauenswürdige, stets verfügbare Assistentin verlassen. Die nun mit schnellen, hastigen Sätzen ihre Niederlage vor ihr ausbreitete.
»Ich dachte, ihm ginge es genauso. Er … er hat mir Geschenke gemacht. Und täglich einen Liebesbrief geschrieben. Gestern teilte er mir dann mit – erst gestern! –, dass er den Posten bei Loyn hat. Und dass wir weiter zusammen sein könnten. Aber dass niemand etwas davon erfahren darf.« Sie warf den Kopf nach hinten. »Ich habe nichts davon gewusst, Josefa. Er hat mir nie etwas davon gesagt … Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Josefa versuchte in ihrem blassen Gesicht zu lesen. Wusste Claire von ihrer »Auseinandersetzung« mit Schulmann? Hatte er ihr davon erzählt? Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Es konnte nicht in seinem Interesse sein, sich als Sexprotz darzustellen. Aber vielleicht hatte er versucht, aus Claire Informationen über Loyn und über ihre Chefin herauszuholen …
»Haben Sie ihm Dinge aus der Firma erzählt?«
»Den üblichen Kleinkram halt. Was man so seinem Partner erzählt.« Ihre zarte Stimme wurde brüchig. »Ich will nicht, dass er sich in meine Arbeit einmischt. Es ist eine unmögliche Situation. Er hat mich nicht einmal gefragt! Er hat mir alles komplett verheimlicht.«
Josefa verspürte ein zunehmendes Schwindelgefühl. Die fünf Jahre bei Loyn waren nicht einfach gewesen. Aber jetzt türmten sich mehr und mehr Probleme vor ihr auf und drohten, sie unter sich zu begraben.
»Das Schlimme ist«, sagte Claire, »dass er schon nächste Woche anfängt.«
»Was? Nächste Woche bereits!«, explodierte Josefa. Darüber hatte Walther kein Wort verloren. Sie wollten Schulmann eine Schonfrist geben, während sie im Urlaub war. Sie gaben ihm Zeit, das Terrain zu erobern. Ihr Terrain.
Sie musste in Ruhe über alles nachdenken. Auf dem Tisch lag die Photomappe von Pius. »Kümmern Sie sich darum«, sagte sie abrupt zu Claire. Ihre Assistentin nahm die Mappe entgegen und schaute Josefa direkt in die Augen. Josefa las etwas Trotziges darin, etwas Rebellisches. »Warum haben Sie sich nicht auf diesen Job beworben?«, fragte Claire. Ihr Tonfall war fest. »Sie hätten sich bewerben sollen, bei Ihren Qualifikationen. Sie wären eine super Marketingchefin!«
Josefa fühlte sich ertappt. Ertappt von ihrer eigenen Assistentin. Sie wandte den Blick ab und ärgerte sich über die Pause, die entstand. Sie rang nach Worten, und Claire konnte es sehen. Als sie endlich antwortete, klang ihre Stimme lauter als beabsichtigt. »Warum? Erstens war der Job besetzt, nämlich von Bourdin und mir – ich leite das Marketing ja praktisch. Man hätte mir die Position anbieten können. Es hätte doch nahe gelegen, zuerst mit mir darüber zu sprechen.«
Claire schaute sie immer noch an – herausfordernd, fand Josefa –, sagte aber nichts. Ihr Schweigen irritierte Josefa. Sie wusste, dass es ein Fehler war, sich Claire gegenüber zu rechtfertigen. Trotzdem konnte sie ihren Redefluss nicht stoppen. »Diese ganze Angelegenheit mit Schulmann zeigt doch, dass sie mir keinen Direktorenposten geben wollen. Claire, bei dieser Firma hängt die gläserne Decke für Frauen ganz, ganz niedrig. Da kann ich mich noch so bemühen, ich kann mein Letztes geben – was bringt’s?« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und bemühte sich, souverän zu wirken.
Claire beugte sich ein wenig vor. »Sie dürfen nicht so schnell aufgeben, Josefa. Vielleicht hätten Sie mehr Kontakt zu Walther suchen sollen, ihm mehr schmeicheln müssen. Sie wissen doch, dass er auf so etwas abfährt. Walther will umworben sein, er möchte der Wohltäter sein, der von seinen Leuten geliebt wird.«
Josefa starrte Claire an. Ihre Irritation wuchs. So weit war es also schon, dass sie von ihrer Assistentin wohlmeinende Ratschläge bekam, wie sie die Karriereleiter hinaufsteigen konnte. Noch dazu von einer Frau, die mit ebenjenem Mann liiert war, der ihr dabei gefährlich werden konnte. Der ihre Stellung untergraben, gegen sie intrigieren, ihr jede Sitzung vermiesen konnte. Beim Gedanken, dass sie nun nicht mehr Bourdin direkt unterstellt war, sondern Schulmann, wurde ihr fast schlecht. Schulmann würde die Chance ergreifen, sich an ihr zu rächen, davon war sie überzeugt. Er würde ihr wichtige Informationen vorenthalten, Gehaltszulagen streichen, neue Leute vor die Nase setzen. Wer würde ihr schon gegen Schulmann Rückhalt geben? Auf Walther und Bourdin war kein Verlass, auf Auer sowieso nicht. Sie war nun richtig verärgert.
Aber sie musste ihre Worte vorsichtig wählen. Claire hatte die Tendenz, auf Kritik überempfindlich zu reagieren. Sie räusperte sich, stützte die Arme auf die Tischplatte, ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
»Ich wäre nicht so weit gekommen, wenn ich nicht wüsste, was es in diesem Geschäft braucht. Sie können mir glauben, Claire, nur nett sein und jemandem schöne Augen machen, bringt einen nicht weit. Dafür braucht es ein ganz anderes Kaliber. Wichtig ist zu wissen, wer auf Ihrer Seite steht, wer Ihnen notfalls Rückendeckung gibt.«
Josefa richtete sich auf und zog die Manschetten ihrer Seidenbluse zurecht. Claire erhob sich ebenfalls, wandte sich halb zur Tür. Dann sagte sie: »Was Werner Schulmann betrifft: Ich weiß trotz allem, wo ich stehe, Josefa«, und ging.
– 5 –
Ich stehe mitten im Wald.«
Josefa hörte Vogelgezwitscher, Kinderstimmen, Knacken und Rauschen. »Bist du auf der Pirsch?«, fragte sie und holte sich aus der Küche eine Tasse Tee. Sie hatte Helenes Handy angewählt, da ihre Freundin ohnehin immer unterwegs war. Entweder als Ornithologin oder als Hobby-Jägerin. Im Herbst ging sie in die Berge des Kantons Graubünden, um Wild zu erlegen – sie besaß dafür ein Jagdpatent. Im Winter war sie oft in Borneo, Madagaskar oder anderen tropischen Vogelparadiesen unterwegs. Wenn es dann in der Schweiz wieder wärmer wurde, stieg Helene auf Feuerwehrleitern, Dachstöcke und Kaminschlote von Abbruchhäusern und Renovationsbauten, um Vogelkolonien umzusiedeln.
»Ich führe gerade eine Schulklasse durch den Wald«, rief Helene.
»Ich muss dich unbedingt sprechen, hörst du«, brüllte Josefa zurück.
»Heute noch?«
»Wenn’s irgendwie geht.«
Das Knacken im Hintergrund wurde lauter, als ob ein Rudel Wildschweine durchs Unterholz bräche.
»Weißt du was, komm doch ins Dolder«, schlug Helene vor. »Das ist hier gleich in der Nähe.«