Obdachlos katholisch - Regina Laudage-Kleeberg - E-Book

Obdachlos katholisch E-Book

Regina Laudage-Kleeberg

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Beschreibung

Auf der Suche nach einem religiösen Zuhause

Regina Laudage-Kleeberg ist sich sicher: Katholisch zu sein, das tut ihr gut – die Werte, die Traditionen und Rituale, darin fühlt sie sich zu Hause. Wenn da nur die Institution nicht wäre! Die legt es förmlich darauf an, die Gläubigen hinauszutreiben – und obdachlos katholisch zu machen.

Wie bleibt man katholisch, wenn die Institution Kirche so menschenverachtend unterwegs ist? Und was, wenn die Kirche lernen würde, ihren Mitgliedern wieder ein Zuhause anzubieten? Vor jeder Leistung und trotz aller Schuld?

Die Autorin kennt »den Laden«: Jahrelang hat sie leidenschaftlich im Bistum Essen und in der Radioverkündigung gearbeitet. Im Buch erzählt sie sehr persönlich, wie Katholischsein geht, wenn die Kirche so gar nicht geht. Und sie beschreibt eine neue Heimat für all die Gläubigen, die katholisch bleiben wollen, aber zur Institution Kirche Nein sagen.

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Seitenzahl: 225

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Regina Laudage-Kleeberg ist sich sicher: Katholisch zu sein, das tut ihr gut – die Werte, die Traditionen und Rituale, darin fühlt sie sich zu Hause. Wenn da nur die Institution nicht wäre! Die legt es förmlich darauf an, die Gläubigen hinauszutreiben – und obdachlos katholisch zu machen.

Wie bleibt man katholisch, wenn die Institution Kirche so menschenverachtend unterwegs ist? Und was, wenn die Kirche lernen würde, ihren Mitgliedern wieder ein Zuhause anzubieten? Vor jeder Leistung und trotz aller Schuld?

Die Autorin kennt »den Laden«: Jahrelang hat sie leidenschaftlich im Bistum Essen und in der Radioverkündigung gearbeitet. Im Buch erzählt sie sehr persönlich, wie Katholischsein geht, wenn die Kirche so gar nicht geht. Und sie beschreibt eine neue Heimat für all die Gläubigen, die katholisch bleiben wollen, aber zur Institution Kirche Nein sagen.

Regina Laudage-Kleeberg

Obdachloskatholisch

Auf dem Weg zu einer Kirche, die wieder ein Zuhause ist

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Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender geschlechtsspezifischer Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Die Bibelstellen sind zitiert aus der Gute Nachricht Bibel, durchgesehene Neuausgabe, © 2018 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net, München

Schlüsselmotiv Umschlag und Inhalt: FinePic®, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29829-6V001

www.koesel.de

Inhalt

Obdachlos katholisch

Über das Verlieren des katholischen Zuhauses

Andocken wollen

Über die Sehnsucht, dazuzugehören

Kölner Mystik

Über die Faszination des Katholischen

Beichten

Über Schuld, Schweigen und Auferstehen

Muslima werden?

Über den Zufall der eigenen Religion

Flashmobs

Über Musik und Begeisterung

Angst

Über die hässlichste Fratze der Kirche

Jemand sein

Über den Inner Circle in Kirchengemeinden

Paradoxie

Über das hauptberufliche Arbeiten in der Kirche

Ostern

Über Tod und Auferweckung

Allergie

Über das katholische Bullshit-Bingo

Gott hören

Über einen Ort, an dem Kirchenpolitik keine Rolle spielt

Spiritualität der Kritik

Über eine urchristliche Erkenntnis

Spielen

Über Gottesdienste mit Kindern

Boxen

Über die Leichtigkeit der Vielfalt

Resilienz

Über die Erschöpfung der Starken

Treppen steigen

Über Kirche im eigenen Haus

Zuhören

Über Seelsorge in sozialen Medien

»Warum ich?«

Über das Leid

Entscheiden

Über den Mut, den eigenen Prinzipien treu zu sein

Berührungsängste

Über radikale Freiheit

Unterwegs sein

Über eine neue katholische Heimat

Danke

Obdachlos katholisch

Über das Verlieren des katholischen Zuhauses

Wenn ich sonntagmorgens auf dem Spielplatz sitze, mit einem Mettbrötchen neben mir auf der Bank, einem Cappuccino in der Hand, den Kindern auf dem Klettergerüst bei ihren mutigen Kunststücken zusehe, dann höre ich in der Kirche nebenan die Glocken läuten. Mein Leben lang hat mich dieses Läuten gerufen: Auf freundliche, liebevolle Weise erinnert meine Glaubensgemeinschaft lautstark daran, dass es Zeit wird – für mich und Gott. Zusammenzukommen, still zu werden, dankbar zu sein.

Und obwohl der Impuls in mir immer noch da ist, stehe ich sonntagmorgens von der Spielplatzbank nicht auf. Ich gehe nicht in die Zehnuhrdreißig-Messe, nicht in die um elf und auch nicht in die um achtzehn Uhr.

Wie ist es so weit gekommen? Dass ich kaum noch in Gottesdienste gehe? Dass ich den geliebten Beruf in der Kirche gekündigt habe? Und das tolle Engagement als katholische Radiosprecherin auch?

Mein katholisches Obdachloswerden war und ist ein schleichender Prozess. Es ist nicht plötzlich passiert: Wohnung weg. Und zack!

Vielmehr habe ich lange versucht, immer wieder in dieses kirchliche Zuhause einzukehren bzw. zurückzukehren. Manche Jahre ist mir das sehr gut gelungen, das Zuhause fühlte sich eine Weile für mich persönlich sogar sehr stabil an. In anderen Jahren habe ich gekämpft um mein Zuhause, habe bei den anderen Bewohner:innen angeklopft, wollte reden über das, was sich verändern muss. Und trotzdem habe ich immer öfter erlebt, dass sich das Zuhause zwar gewohnt anfühlt, aber nicht richtig. Auf diesem Weg ist in mir eine tiefe Ambivalenz entstanden: Die Sehnsucht nach dem Aufgehobensein traf auf die Wut über die misslungene Aufnahme.

Warum das so schlimm ist? Katholisch zu sein – das gehört zu meiner Person. Ich kann es nicht einfach abstreifen wie ein zu klein gewordenes Kleidungsstück. Ich kann nicht davor weglaufen. Wenn es um das Katholische geht, um meine Religion, dann ist bei mir alles automatisch existenziell, tief biografisch verwoben, und nicht im Geringsten einfach. Denn meine Religion, und zwar in der römisch-katholischen Prägung, greift tief und täglich in mein Leben hinein.

Um mich herum erlebe ich Menschen, die innig dafür werben, hitzig darum streiten, dass sich die katholische Kirche verändern muss. Wenn ich davon ausgehen darf, dass das Katholischsein auch für andere eine existenzielle Bedeutung hat, dann geht es im Streit um Reform und Weiterentwicklung um nichts weniger als um das eigene Leben.

Umso logischer erscheint es mir, dass auch Ausgetretene noch wütend über das Gebaren der offiziellen Kirche sind. Es scheint, als ob die Menschen in tiefer Ambivalenz mit ihrer Kirche leben: Entweder fragen sie sich als Kirchenmitglieder, ob und wie lange sie wirklich noch »zu diesem Laden« gehören wollen. Oder sie fragen sich nach dem Austritt, wo sie mit ihren Sehnsüchten, Spiritualitäten und Sorgen ein (neues, vorübergehendes oder wechselndes) Zuhause finden können.

Diese Ambivalenz ist eines der zentralen Prägemale des obdachlosen Katholischseins.

Schon seit meiner Kindheit ist Katholischsein ein Dilemma: Ich will dazugehören, aber will ich »da« wirklich dazugehören? Mein Katholischsein ist geprägt von einer Fülle von tiefen spirituellen Erfahrungen des Aufgefangenseins, von Heilung und Ermutigung. Und es ist geprägt von einer Fülle von Widersprüchen, Wut und Enttäuschung über das Handeln der institutionellen Kirche.

Durch das Zusammenleben mit einem katholischen Theologen habe ich manches am Küchentisch über Theologie gelernt, anderes auf dem Sofa erzählt bekommen. Was ich dabei verstanden habe, ist Folgendes: Ich habe ein überzeugtes katholisch-theologisches Menschenbild, das den Menschen groß, unbedingt geliebt und von Gott angenommen denkt, egal was er leistet oder wie viel er falsch macht. Dieser Mensch ist von Gott mit Freiheit beschenkt und hat die Verantwortung, mit dieser Freiheit umzugehen.

Und während ich anderen dieses Menschenbild predige, zusage und versuche, danach zu leben, gibt die römisch-katholische Kirche in ihrer offiziellen Gestalt ein immer menschenfremderes, oft auch menschenverachtendes Bild ab. Die offizielle Kirche drängt mich und viele andere aus sich heraus – fahrlässig, so scheint mir. Auf das eigene Recht, die eigene Wahrheit bedacht, werden Menschen gedemütigt, abgeschreckt und verprellt.

Was ich seit Jahren merke: Ich bin nicht mehr bereit, die TOP 3 der katholischen Menschenverachtung zu akzeptieren:

Die sexualisierte Gewalt, ihre Ermöglichung, Relativierung und Vertuschung.Den strukturellen Sexismus, also die Ungleichstellung von Frauen und non-binären Menschen beim Zugang zu Ämtern und damit verbundenen Führungsaufgaben.Die systematische Abwertung von queeren Menschen, ihren Beziehungen, ihrer Sexualität.

Der naive Aufruf von konservativen Katholik:innen, Menschen wie ich sollten doch einfach evangelisch werden oder austreten, wenn uns die Lehre nicht passt, lässt mich als Religionswissenschaftlerin kalt.

Eine Religionszugehörigkeit ist nicht einfach zu verändern – daran hängt so viel Biografie, so viel eigene Geschichte. Das alles wird auch nicht mit einem Austritt oder einer Konversion einfach abgewaschen. Als ich vor Jahren für ein Jüdisches Museum eine Ausstellung über Religionswechsel kuratiert habe, sagte ein Mann es sehr einfach: »Ich bin im Kopf evangelisch, im Bauch katholisch.« Er war nach vielen Jahren der Auseinandersetzung aus der katholischen Kirche ausgetreten und in die evangelische Kirche eingetreten.

Aber wie geht Katholischsein heute, wenn es mit den TOP 3 trotz einzelner Lichtmomente nicht umfassend besser wird? Was bleibt vom eigenen Katholischsein übrig, und wie bleibt man katholisch? Ob nun als steuerzahlendes Mitglied, als ausgetretene:r Getaufte:r oder als konvertierter Mensch?

Sicherlich ist die Antwort so vielschichtig wie die Menschen, die sie geben.

Die einen werden sagen: »Ich bin nicht mehr katholisch«, wenn sie austreten.

Die anderen werden sagen: »Mit dem Laden hatte ich nie etwas zu tun, das alles bedeutet mir nichts.«

Andere bleiben, gehen aber nicht mehr hin.

Wieder andere bleiben und tolerieren, was geschieht.

Dann gibt es noch welche, die in einer Nische des Katholischen weiter wirken und glauben können, und welche, die in einer inneren Emigration leben.

All diese Ausdrucksformen haben ihre Berechtigung und Begründung.

Ich selbst suche noch nach dem richtigen Modus, den richtigen Worten für mein Katholischsein. Manchmal sage ich ganz überzeugt: »Ich bin getauft und gehöre zum Volk Gottes, zur Gemeinschaft der Gläubigen. Das kann mir eine weltliche Instanz auch nicht nehmen, egal was das Steuer- und Kirchenrecht dazu sagen.«

Mein Katholischsein fühlt sich dann sehr frei und unabhängig an. In anderen Zeiten fühle ich mich einfach abgeschlagen, enttäuscht und wütend, weil es so schwer ist, zur katholischen Kirche zu gehören.

Zu meinem Katholischsein gehört deshalb momentan ein Gefühl der Verlorenheit, der Obdachlosigkeit. Als Kind, Jugendliche und junge Erwachsene fühlte ich mich einfach auf Reisen, wenn es um das Ausleben meiner Spiritualität ging. Der Grund ist einfach: Früher habe ich mich wenig für die Kirchenpolitik interessiert, meine Gottesbeziehung war erstaunlich stabil, ohne dass sich damit ein fester Ort verbunden hat. Gottesdienste habe ich dort besucht, wo mir der Predigtstil gefallen hat. Gebetet habe ich mit denen, die mir ähnlich gewesen sind. Katholischsein hat damals Gottesdienstbesuch, Seelsorge und Gemeinschaft auf Zeit bedeutet.

Alle Ausgrenzungs- und Entmutigungserfahrungen habe ich integrieren können, solange die guten Erfahrungen und die biografischen Reifungsprozesse, die ich im kirchlichen Rahmen erlebt habe, überwogen haben.

Diese Waage ist langsam, unauffällig gekippt.

Das Gefühl, eine freie Reisende zu sein, ist dem Gefühl gewichen, im Katholischen kein Obdach mehr zu finden. Ohne festen Wohnsitz zu sein, ohne den Safe Space, an den ich jederzeit zurückkehren kann, ohne ein eigenes Bett, ohne Adresse. Es hat zuvor kein Auszug mit einem Möbelunternehmen stattgefunden, es gibt kein Datum, an dem ich obdachlos wurde.

Das Obdachlossein fällt mir im Alltag nur wenig auf: Die meiste Zeit fühle ich mich unter freiem Himmel frei und zufrieden. Ich trage meine katholischen Habseligkeiten immer bei mir. Wer mich nach meinem Glauben fragt, bekommt eine hoffnungsvolle Antwort.

Aber es gibt auch die Phasen, in denen es sich anfühlt, als ob ich in der Fußgängerzone auf dem Boden sitze, und keinen interessiert’s – Phasen, in denen ich nicht die Kraft habe, meine sieben Sachen selbst zu tragen. Phasen, in denen ich mich warm und sicher verkriechen möchte. Das sind die Phasen, in denen ich wütend über das institutionelle Versagen bin, über die Langsamkeit bei den Reformen, über die Beharrungskräfte und über das Verächtlichmachen der christlichen Botschaft – alles zugunsten einer vermeintlichen Wahrheit, die nichts dazulernen will.

Die römisch-katholische Kirche ist Heimat, aber kein Zuhause mehr. Dabei hätte sie alles Potenzial dazu, Menschen ein passendes Zuhause anzubieten. Sie bräuchte nur im Sinne des Evangeliums handeln: radikal menschenfreundlich.

So einfach lässt sich das existenzielle Dilemma zusammenfassen, in dem ich mich gemeinsam mit vielen Menschen befinde.

Ich wünsche mir – ganz plakativ gesprochen –, dass ich als Gläubige nach Hause kommen, die Tür aufschließen, »Hallo« rufen, den Rucksack in die Ecke schmeißen, und erst mal die Beine hochlegen könnte. Wie in einem Zuhause würde ich natürlich auch vieles andere tun: Essen, Gastgeben, Schlafen, Putzen, Streiten, Lachen, Arbeiten …

Sie wissen selbst am besten, was Sie mit Ihrem Zuhause verbinden.

Weil ich inzwischen weiß, dass die offizielle Kirche nicht in der Lage dazu ist, dieses Zuhause auf die Schnelle zu werden, bin ich unterwegs. Ich glaube, dass mein Katholischsein ein neues kirchliches Zuhause braucht – eines, das ich aufbauen muss, eines, in dem auch andere zu Hause sein könnten.

In diesem Buch möchte ich Ihnen von diesem Weg erzählen, von den Höhepunkten und Tiefpunkten mit dem Katholischsein, von Erfahrungen, die anziehend und abstoßend sind, von Gewichten, die auf die eine oder andere Seite einzahlen.

Es ist mein Weg, aber ich vermute, Sie sind mir an der ein oder anderen Stelle begegnet, weil Sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben und machen.

Zwischen den Kapiteln finden Sie kurze Momentaufnahmen von Begegnungen auf der Straße. Die Menschen an Bahnhöfen und in Fußgängerzonen haben mich viel gelehrt: über Stolz und Würde, über Sicherheit und Privilegien, über Humor und Kreativität inmitten einer existenziellen Herausforderung. Ihnen ist dieses Buch gewidmet, ihren kleinsten und kleinen Erzählungen mache ich bewusst Platz, weil sie viel mehr Aufmerksamkeit verdienen, als sie in unserer Gesellschaft und in der Kirche bekommen. Es sind die Marginalen und Marginalisierten, die, zu denen Jesus sich hinwenden würde, wäre er in heutigen Großstädten unterwegs.

Ein Mensch wird Ihnen im Laufe des Buches öfter begegnen: Klaus, der mir am Bahnhof immer wieder etwas von sich erzählt hat, den ich sehr ins Herz geschlossen habe und von dem ich zugleich weiß, dass sein Leben natürlich aus viel mehr besteht, als aus den Erfahrungen, die er beim Betteln, in seiner kurzen Zeit als Wohnungsloser oder anderweitig gemacht hat. Ich habe in den vergangenen Jahren außer ihm häufig obdachlose und bettelnde Menschen kennengelernt. Manche haben über Monate meinen Weg gekreuzt, einzelne über Jahre.

Echte Armut und Obdachlosigkeit beinhalten Lebenserfahrungen, die tief schürfen – und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das Phänomen »obdachlos-katholisch« als Metapher nutzen darf, während ich jeden Tag in ein sicheres, warmes Zuhause zurückkehre. Das Bild des »obdachlosen Katholischseins« darf niemals relativieren, dass tatsächliche Obdachlosigkeit immer von Gefahr für Körper und Seele, tiefen biografischen Einschnitten und sehr oft von Gewalt begleitet ist.

Eine Bitte an Sie als Lesende: Dieser Text soll kein weiterer Stein in der hohen Mauer von klugen Debattenbüchern zur Kirchenkrise sein. Diese Bücher sind wertvoll und werden (und wurden) von anderen Menschen geschrieben. Was ich mich in den letzten Jahren immer gefragt habe, ist: Wohin mit den Gefühlen der Menschen, die diese Krise ihrer Kirche erleben? Wo wird davon erzählt, wie Menschen den schleichenden Frustrationsprozess persönlich erleben, der manche zum Austritt, andere zur inneren Emigration treibt?

Über diesen persönlichen Prozess, über das katholisch Obdachloswerden habe ich geschrieben – und ich vermute, dass Sie beim Lesen manchmal »Ja, genau!« rufen werden und manchmal den Kopf schütteln. Wahrscheinlich unterscheiden sich Ihre Gefühle von meinen. Nehmen Sie das, was Sie hier lesen, als Projektionsfläche für das Eigene. Wie geht es Ihnen mit Ihrem Katholischsein? Wie geht es Ihnen mit der Kirche?

Und eine Bitte an die mitlesenden Theolog:innen: Ich bin nicht vom Fach, ich habe hier kein Fachbuch geschrieben und will mich auch nicht mit der Fachlichkeit von Theolog:innen messen – ich erzähle, weil ich glaube.

Und falls Sie interessiert, warum die Bibeltexte, die vorkommen, so besonders ermutigend sind: Ich nutze die Bibel in der »Guten Nachricht«-Übersetzung, meiner absoluten Lieblingsfassung, die viele Bibelstellen in besonders menschenfreundliches, poetisches Licht setzt.

Auf der Straße »Nee, danke, wir sind katholisch«, habe ich vor vielen Jahren im Vorbeieilen zu einem Mann gesagt, der mir eine Zeitschrift unter die Nase gehalten hat. Ich habe mir weder gemerkt, wie er aussah, noch darauf geachtet, was er konkret sagte. Über den Spruch haben meine Freundinnen und ich damals gekichert, eine Gruppe 15-Jähriger auf dem Weg zu einem Theaterfestival – mit einem Gefühl von Wichtigkeit, weil wir den Job als jugendliche Theaterkritikerinnen unglaublich cool fanden.

Das Einzige, was ich noch weiß: Der Mann guckte sehr überrascht. Und als ich mich im Weitergehen noch mal umdrehte, sah ich auch, warum: Er hatte nicht den »Wachturm« der Zeug:innen Jehovas in der Hand, wie ich gedacht hatte. Er hatte den »Straßenkreuzer« in der Hand, das Magazin, das arme und obdachlose Menschen in der Stadt verteilen, um sich etwas Geld zu verdienen. 

Andocken wollen

Über die Sehnsucht, dazuzugehören

1998. Ich bin 12 Jahre alt. Mein Alltag ist gräulich in dieser Zeit. Pubertät, das Fremdsein in mir und einer fremden Region. Wir wohnen seit Kurzem in Franken – und gelten als »Zugezogene«. Das Fränkische begrüßt uns nicht mit seiner vielgerühmten Gemütlichkeit, sondern mit seiner eigenbrötlerischen Skepsis. Wir Kinder stecken alle im Übergang vom Spiel zum Ernst, die Eltern sind mit ihren eigenen Übergängen beschäftigt, das Umfeld wirkt geschlossen – ohne Einladung.

Im protestantisch geprägten Kontext sind wir nicht nur die geografischen »Preußen«, die merkwürdig sprechen, sondern gehören auch zur katholischen Minderheit. Im Religionsunterricht erlebe ich ein kleines Aufblitzen von Offenheit, einen humorvollen Lehrer und ein Mädchen aus einer anderen Klasse, das tatsächlich in meiner Straße wohnt, also erreichbar für eine Freundschaft, wie ich damals vermute. Es erzählt von der Jugendgruppe der Kirchengemeinde. Ich fasse Mut, fahre hin, sehe mir im Schaukasten die Zeiten der Gruppenstunde an, und stehe bei nächster Gelegenheit im Pfarrheim.

Womit ich in meiner Fantasie vorab absolut nicht rechne, ist Ablehnung.

Denn meine eigenen – katholischen – Kindheitserfahrungen im Rheinland sind durchweg positiv: Die Kirchengemeinde kenne ich dort als Ort für Groß und Klein, in der katholischen Bücherei eine Fülle von Antworten auf kindliche Sehnsüchte, im Gottesdienst eine offene Atmosphäre, sodass ich ihn nach der Erstkommunion in der Regel sogar allein besucht habe, das jährliche Zeltlager ein einziges Abenteuer.

In Franken ist Katholischsein anders. Merke ich später.

An dem Nachmittag merke ich aber vor allem eins: Pubertät heißt Konkurrenz. Das nette Mädchen aus dem Religionskurs will mich nicht dabeihaben und macht mir mit wenigen Worten deutlich, dass mein Besuch in der Gruppenstunde nicht willkommen ist.

Niemand geht mir nach, als ich das Gelände der Kirche wieder verlasse.

Ich stelle mir das, wenn ich es mit der Lebenserfahrung von heute betrachte, sonderbar vor. Scheinbar gab es keine aufmerksame Gruppenleitung? Ein Kind, das ein anderes einfach hinausschickt? Und niemand reagiert darauf? Aber möglich ist es natürlich – denn auch die liebevolle, aufmerksame Jugendpastoral, die ich in einer anderen Rolle als Erwachsene kennengelernt habe, konnte nicht verhindern, dass Kinder und Jugendliche zueinander sehr gemein sein können.

Einige Monate später sind Osterferien, ich mache wieder einen Versuch. Wieder fahre ich zum Schaukasten an der kleinen Kirche, schaue nach dem nächstbesten Gottesdienst und finde einen für den Tag darauf: Freitag, 15 Uhr. Ich habe zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von Liturgie. Es steht »Feier vom Leiden und Sterben Christi« neben der Uhrzeit, ich denke: »Passt schon, bestimmt dauert das nicht so lange wie eine normale Messe.«

Kaum angekommen bin ich ganz verwundert, dass alle schwarz gekleidet und mucksmäuschenstill sind. Die Abläufe sind anders als an Sonntagen, fast die ganze Zeit knien alle. Und dann kommt etwas Besonderes, etwas wahnsinnig Langes: die großen Fürbitten, wie ich heute weiß.

Der Inhalt stimmt für mich nicht. Meine Knie tun weh. Ich verlasse die Kirche. Die stille Gemeinschaft betet weiter.

Von heute aus betrachtet sind das zwei Momentaufnahmen, bei denen etwas nicht geklappt hat. Bei denen ein System nicht zu dem anderen passte, bei denen das große »Willkommen an alle«, das über dem Glauben meiner Kindheit wie eine Überschrift prangte, verdeckt geblieben ist.

Die beiden Erinnerungen sind Schemen, vielleicht sogar Trugbilder, aber sie sind noch da. Und ich frage mich, warum sie mir als Erstes in den Sinn kommen, wenn ich an das katholische Franken denke. Denn später, als ich einige Jahre dort gewohnt hatte, habe ich auch andere Erfahrungen gemacht. Mit viel Aufwand bin ich hineingewachsen in diese etwas griesgrämige Welt, in der die zusammenhocken, die das immer schon gemacht haben. Bei Johannisfeuern hatte ich sogar ein wenig das Gefühl, dass das Fränkisch-Katholische genauso gesellig ist wie das Rheinisch-Katholische.

Trotzdem hängt über der Erinnerung an diese Kirchengemeinde das Wort »Ablehnung« – und das, obwohl ich eine Reihe von Versuchen gemacht habe, dort mitzumachen.

Das Ergebnis damals: Die Einladung zur Firmung mit 14 Jahren habe ich ausgeschlagen. Das machte für mich alles keinen Sinn. Warum mich firmen lassen, wenn ich so gar kein Gefühl von Angenommenwerden und erst recht nicht von Zugehörigkeit verspürte?

Umso verwirrender war die Erfahrung, die ich drei Jahre später in Irland gemacht habe. Im Auslandsjahr war das Katholische allgegenwärtig. Vor jeder Unterrichtsstunde wurde gebetet, in einem Affenzahn, sodass ich nach wenigen Tagen den Religionslehrer vorsichtig fragte, was das denn für ein Gebet sei, das mit »Hail Mary« begann. Er hat es mir ausgedruckt: das Ave Maria auf Englisch. Hatte ich noch nie gebetet, kannte ich nicht. Seit dieser Zeit kann ich es allerdings beten: auf Englisch, in circa sechs Sekunden.

Das Ave Maria ist die eine Facette, die ich mit irischer Katholizität verbinde, die andere ist das strukturelle Willkommensein im Gottesdienst. Natürlich waren wir jeden Sonntag in der Kirche, der ansonsten sehr zottelige Gastvater mit Schlips, die Gastmutter im Kostüm, und um uns herum die ganze Stadt. Und obwohl fast alle jeden Sonntag gekommen sind, brauchte sich niemand zu schämen, wenn er den Ablauf nicht draufhatte. Zu jedem Sonntag gab es ein Faltblatt, in dem der komplette Messablauf, alle Gebete, alle Lieder, alle Gesten aufgeschrieben waren. Wer lesen konnte, konnte nichts falsch machen.

Und so saß ich mit 17 Jahren begeistert da, denn ich war in meiner Fremdheit willkommen: Durch dieses Papier, in dem ich unauffällig nachlesen konnte, wie der Gottesdienst hier funktioniert – ohne mich outen zu müssen, dass ich keine Ahnung von der Liturgie hatte. Ich nenne das strukturelles Willkommensein, weil es nicht an der individuellen Aufmerksamkeit einzelner Menschen hängt, sondern weil es Standard gewesen ist. Die Struktur der Kirchengemeinde war auf Messebesucher:innen eingestellt, die den Ablauf nicht kennen. Aus welcher Erfahrung oder mit welcher Begründung das so war, weiß ich nicht. Aber ich vermute: Da hatte jemand etwas von Kundenorientierung, von Gesicht wahren und vom christlichen Glauben verstanden: Wenn Menschen sich nicht schämen müssen, dass sie etwas nicht können, dann fühlen sie sich angenommen. Das ist eine Kurzformel für Christlichkeit, finde ich.

Was daran so unglaublich kostbar ist, weiß ich heute umso genauer: Die Leiterin einer der Jugendkirchen, für die ich einige Jahre Verantwortung getragen habe, hat mal zu mir gesagt: »Regina, wir drucken das Vaterunser auf Postkarten. Das kann heute kaum noch jemand von den Gruppen, die zu uns kommen. Und ich will nicht, dass die Jugendlichen sich dafür schämen müssen!«

Sie hatte so recht, und ihre Haltung müsste der Standard sein.

Denn ehrlich gesagt ist es nicht seltsam, dass Jugendliche den Gottesdienstablauf nicht kennen. Es ist nicht seltsam, wenn Menschen irgendwo dazugehören wollen, ohne dass sie schon die Regeln und Gewohnheiten verstanden haben. Seltsam ist, wenn sich Gemeinden keine Gedanken darüber machen, wie sie auf Neuankömmlinge wirken. Seltsam ist, dass man die eigenen ungeschriebenen Regeln nicht hinterfragt. Seltsam ist, wenn man nie darüber nachdenkt, warum andere wegbleiben.

Gerade die kirchlichen Angebote für Kinder und Jugendliche achten heutzutage unglaublich stark auf Willkommenskultur, und zugleich formen sich hier Cliquen, Freundeskreise, die nach innen Halt in einer unsicheren Lebensphase geben, aber nach außen eher verschlossen wirken. Für diejenigen, die hier (oft ehrenamtlich) Verantwortung übernehmen, ist das eine immense Herausforderung: Den einen den erhofften Halt zu geben und den anderen die Tür offen zu halten.

Es wäre einfach, zu rufen: Dann müssen sie dafür (noch) besser qualifiziert werden. Jugendleiter:innen werden meiner Erfahrung nach überfrachtet mit verpflichtenden Qualifikationsmaßnahmen beziehungsweise, um es etwas freundlicher zu sagen, sie werden exzellent ausgebildet – in wichtigen und weniger wichtigen Themen: in Prävention sexualisierter Gewalt, in Gruppenleitung, in Datenschutz, im Einmaleins der steuerrechtlich korrekten Finanzbuchhaltung und und und. Sie stellen Anträge, füllen Verwendungsnachweise aus, müssen sich rechtfertigen, wie sie das wenige Geld, das ihnen zur Verfügung steht, ausgeben.

Wer schon mal ein Ferienlager organisiert hat, ist oft bestens über Projektfördertöpfe, Sicherheits- und Hygienerichtlinien und Jugendschutz informiert, hat ein Diplom in Heimweh-Trösten und Eltern-Beruhigung und weiß, wie viel man abends trinken darf, um notfalls noch ein Kind ins Krankenhaus fahren zu können. Eine Gruppe zu leiten, ehrenamtlich wohlgemerkt, ist oft eine Wahnsinnschance, Verantwortung zu übernehmen, aber auch von kirchlicher Regelwut und struktureller (Über-)Forderung geprägt. Ehrenamtliche werden mit Aufgaben konfrontiert, für die es entweder keine Hauptberuflichen mehr gibt, oder bei denen die Hauptberuflichen keine Ideen haben, wie die Ehrenamtlichen zwar profitieren, aber nicht belastet werden könnten.

Das Absurde ist: Anstatt Verwaltungslasten von Ehrenamtlichen fernzuhalten, werden sie immer tiefer hineingezogen. Wie oft habe ich von hoch engagierten jungen Menschen gehört: »Wir haben bald keine Zeit mehr für die Jugendlichen, so viel Bürokram, wie wir erledigen müssen!«

Zu erwarten, dass diese Ehrenamtlichen also alles richtig machen, wäre falsch. Denn sie machen schon unglaublich viel und unglaublich viel richtig – in der Regel mit immenser Kraft, mit konstruktiven Vorschlägen und höchster Loyalität.

Wenn ich auf die Ablehnungserfahrungen in meiner Jugend schaue, gibt es niemanden, den ich verantwortlich machen will, schon gar keine Ehrenamtlichen. Aber ich will beschreiben, was Ablehnung in fragilen Lebensphasen mit Menschen macht.

In meinem Fall hat sie für ein Grundgefühl des Nicht-Richtig-Seins gesorgt: »Ich passe nicht dazu, weil ich anders bin«, das war mein Gefühl. Und dieses Gefühl zieht sich durch die kirchliche Biografie weiter – latent gespeist aus diesen alten, tief sitzenden Erfahrungen.

Das Verrückte ist: Meine Gottesbeziehung hat in den Jahren nicht gelitten, das Vertikale im Glauben, die Bindung zwischen Gott und mir, trug mich, trägt mich. Eher das Horizontale, also das Gemeinschaftliche mit Menschen, sorgte für Verunsicherung.

Und obwohl ich ein Jahr nach meinem Irland-Aufenthalt dann doch noch zur Firmung gegangen bin, bin ich auch dann nicht in der Gemeinde angekommen – die unsichtbaren Zäune waren zu hoch. Zugleich hatte ich unfassbares Glück: Denn die Frau, die meine Firmgruppe geleitet hat, war für meine Bedürfnisse aufmerksam. Sie gehört bis heute zu den Menschen, die ich jederzeit um Rat frage, obwohl wir uns seit damals nur alle paar Jahre sehen. Sie und andere Menschen sind das »Trotzdem« in mir, wenn es um die wiederholten Versuche geht, in Kirchengemeinden anzudocken. Ich weiß, dass überall solche aufmerksamen, spirituellen Menschen sind, ob nur hauptberuflich oder ehrenamtlich engagiert.

»Nee, danke, wir sind katholisch!« Der Satz, für den ich mich bis heute schäme, könnte auch für die damals in meiner Gemeinde nicht vorhanden gewesene fränkisch-katholische Willkommenskultur gelten und eine Erinnerung für all diejenigen sein, die es sich in Gemeinden und Jugendgruppen zu gemütlich eingerichtet haben:

Sind unsere Türen wirklich für Menschen offen, die neu oder anders sind? Woran könnte das jemand merken, der das erste Mal da ist? Muss die Person sich durchfragen oder gibt es unauffällige (gesichtswahrende) Möglichkeiten, sich einen Überblick zu verschaffen, wie hier »der Hase läuft«?

Und wenn diese neuen Leute zu uns reingekommen sind, wer merkt es? Wie werden sie willkommen geheißen? Wer verstärkt, dass sie sich wohlfühlen?

Ist das etwas, das wir vom Pastoralteam erwarten? Oder ist es etwas, das wir als Gemeindemitglieder unterstützen könnten?

Was ich sagen will, ist: Es gibt nur wenige Menschen, die so verrückt sind wie ich, dass sie trotz aller Ablehnung und Abschreckung immer wieder versuchen, in der katholischen Kirche, in Kirchengemeinden oder Angeboten Fuß zu fassen, sich ein kleines spirituelles Zuhause aufzubauen.

Den meisten Menschen reicht eine schlechte Erfahrung, um nicht mehr wiederzukommen. Das bedeutet für jeden Sonntag, für jedes Gemeindefest, für jede Jugendgruppe: Wenn der Spruch »Wir sind hier offen für alle!« Wirklichkeit werden soll, dann braucht er Zeichen, explizite und immer wieder gesetzte Zeichen. Sich als offen zu bezeichnen, aber keine Offenheit im Handeln zu zeigen, bringt genauso wenig wie zu sagen: »Es ist nicht schlimm, das Vaterunser nicht zu kennen«, aber dann nicht dafür zu sorgen, dass die Menschen es irgendwo mitlesen können, während es gesprochen wird.

Auf der Straße