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Paul Margis, Experte der Bundesregierung, versteht die Welt nicht mehr. Eben noch konnte er in Chile einen bahnbrechenden Verhandlungserfolg verkünden – eine internationale Partnerschaft zur Ausschöpfung einer neuen Rohstoffquelle im Pazifik. Im nächsten Moment will man ihm den Mord an dem Wissenschaftler anhängen, der die neue Abbautechnologie erforschte. Um seinen Ruf zu retten, muss Paul herausfinden, was der Tote wusste. Doch damit gerät er erst recht ins Visier machtvoller Gegner und in den Strudel eines Komplotts, das von den chilenischen Kupferminen bis an die internationalen Börsen und in die höchsten Ebenen der Politik reicht …
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Seitenzahl: 482
Buch
Paul Margis, Verhandlungsstratege der Bundesregierung, hat den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Bei einem feierlichen Staatsakt in der chilenischen Hafenstadt Valparaíso verkündet er einen bahnbrechenden Erfolg: eine internationale Partnerschaft zur Ausschöpfung einer neuen Rohstoffquelle im Pazifik. Doch in der Nacht stürmen Polizisten in Pauls Hotelzimmer und nehmen ihn fest. Man wirft ihm den heimtückischen Mord an Eduard Maining vor – seinem Kollegen, der die neue Abbautechnologie erforschte. Um seinen Ruf zu retten und seine Unschuld zu beweisen, muss Paul herausfinden, was der Tote wusste. Doch damit gerät er erst recht ins Visier machtvoller Gegner und in den Strudel eines Komplotts, das von den chilenischen Kupferminen bis an die internationalen Börsen und in die höchsten Ebenen der Politik reicht …
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Till Berger
Offshore
Thriller
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1. Auflage
Originalausgabe März 2018
Copyright © 2018 by Till Berger
Copyright deutsche Erstausgabe © 2018
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München;
gettyimages/Emil von Malritz; gettyimages/Vizerskaya
Redaktion: Alexander Behrmann
KS · Herstellung: ik
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-21346-6V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Julia
Prolog
Clarion-Clipperton-Zone, Nordpazifik
Der Tauchroboter streifte lautlos über den schlammigen Tiefseeboden. Ein Scheinwerfer am Bug des Remotely Operated Vehicles erzeugte eine winzige Insel aus Licht, die nach wenigen Metern ausfranste und sich rasch in der tintenartigen Finsternis verlor. Darunter wurde nackter Boden aus ockerfarbener Schlickschicht entblößt. Wie auf einen Teig geworfene Rosinen lagen darauf faustgroße graue Klumpen. Sie tauchten in den Lichtkegel ein, zogen langsam unter dem Unterwassergefährt vorbei und verschwanden kurz darauf wieder in der Schwärze der Tiefsee.
Ein blassroter Seestern wurde vom Scheinwerfer erfasst. Zwei SD-Kameras zoomten heran. Die langen Arme des Bodenbewohners hefteten sich an eine Gruppe von Klumpen. Das Bild wurde in eine taxonomische Datenbank eingespeist, und ein Analyseprogramm klassifizierte ihn als Fryellaspecies. Währenddessen sammelten Messgeräte Informationen zu Druck, Temperatur, Eisengehalt, Trübstoffgehalt, Sinkstoffen und der vorherrschenden Strömung. Die Daten wanderten in Echtzeit über ein Glasfaserkabel an die mehr als fünftausendzweihundert Meter weit entfernte Meeresoberfläche in den Bug des umgebauten Schwergutfrachters Trias-Ex, wo sie in einem Datencenter abgespeichert wurden.
Ohne das Wissen der wissenschaftlichen Besatzung ging von diesem über eine versteckte Schnittstelle ein Kabel ab, das in einen Lüftungsschacht hinter einer Metallwand führte. Dort wurden die Daten ebenfalls auf einer mobilen Solid-State-Festplatte abgespeichert. Um Punkt zwölf Uhr mitteleuropäischer Zeit wurden die gesammelten Informationen des Tauchroboters durch einen Transmitter an eine unauffällige, zusätzlich am Sendemast installierte Satellitenschüssel geleitet, die sie an einen geostationären Inmarsat-Satelliten in der Erdumlaufbahn schickte. Dieser übermittelte sie an einen Rechner in einer Villa in Fort Hill, Road Town, auf den Virgin Islands, der sie wiederum über mehrere anonyme Proxyserver in Laos, Neuseeland, Weißrussland und Saudi-Arabien nach Deutschland weiterleitete. Nach einer halben Sekunde erreichten sie einen Laptop in Raum 905 im Sony-Center am Potsdamer Platz in Berlin. Nach sechs weiteren Sekunden war die Übertragung abgeschlossen. Ein kurzer summender Ton signalisierte den Eingang der Daten.
Gabriella Roskowa nahm ihre Brille ab und steckte sie in die Tasche ihres Forschungskittels. Sie wandte sich dem Computer zu und übertrug die Daten in eine Tabelle mit den Erhebungen der letzten beiden Jahre. Danach startete sie ein Analyseprogramm. Gebannt verfolgte sie den Fortschritt der Auswertung. Als das Programm endete, atmete sie auf. Das Ergebnis war wie erhofft.
Endlich!
Sie griff zu ihrem Handy und wählte eine Nummer.
Eine Männerstimme meldete sich. »Ja?«
»Sie können anfangen«, sagte Roskowa.
1
Cerro Concepción, Valparaíso, Chile
Eduard Mainings Lunge schrie nach Luft. Seine zitternden Beine drohten ihm jeden Moment einzuknicken. Die Flucht durch die steilen Gassen Valparaísos hatte seinen alten Körper vollkommen ausgelaugt. Trotzdem wagte er es nicht, sich zu bewegen. Nicht einmal zu atmen. Das Messer, das ihm an den Hals gehalten wurde, drückte so fest und unerbittlich auf seine Haut, dass er darunter den Puls seiner Halsschlagader spürte.
Er befand sich in einer der engen Gassen des Cerro Concepción. Sein Verfolger hatte ihn in den dunklen Eingang eines baufälligen Hauses gezogen. Der Straßenlärm des belebten Zentrums drang nur als dumpfes Echo den Hügel hinauf.
»Wo haben Sie die Festplatte?«, flüsterte ihm der Fremde ins Ohr. Seine Stimme war kaum mehr als ein scharfes Zischen.
Maining atmete flach. Von der gegenüberliegenden Wand starrte ihm eine seltsame Kreatur entgegen. Ein Straßengemälde zeigte einen auf zwei Beinen stehenden Fischkopf. Die glasigen Augen des Tiers fixierten ihn mit stoischer Teilnahmslosigkeit.
»Ich weiß, was Sie vorhaben, aber es wird Ihnen nicht gelingen«, presste der Forscher hervor. »Die Festplatte ist sicher verwahrt.«
Der Druck des Messers wurde stärker. »Reden Sie.«
»Ich habe die Informationen bereits weitergegeben«, keuchte Maining. »In wenigen Tagen ist alles vorbei. Mich zu töten, würde nichts bringen. Das macht nur alles schlimmer für Sie.«
Aus einer nahe gelegenen Gasse ertönten das Lachen und Schreien von Kindern.
»Wem haben Sie sie gegeben? Paul Margis?«
Mainings Atem stockte kurz. Er zögerte. Einen Hauch zu lange.
»Danke«, sagte der Fremde.
Der Forscher spürte etwas Kaltes über seinen Hals streifen. Er sog scharf Luft ein und verschluckte sich. Aus seinem Hals kam ein gurgelndes Geräusch. Abrupt ließ ihn der Fremde los und drückte sich an ihm vorbei in die Gasse. Seine Schritte verloren sich rasch im Lärm der Kinder. Sie waren jetzt schon deutlich näher.
Mainings Beine knickten ein, und er sackte auf die Knie. Es gelang ihm, sich mit einer Hand an der Wand des Hauseingangs festzuhalten. Mit der anderen fasste er sich an den Hals. Eine warme Flüssigkeit strömte ihm über die Finger. Er hob sie vor sein Gesicht. Sie waren mit Blut überzogen. Sehr viel Blut.
Der Verputz der Wand bröckelte ab, und Mainings Hand rutschte weg. Kraftlos brach der Forscher zusammen und stürzte in die Gasse.
Das Letzte, was er hörte, war das Kreischen der Kinder.
2
Muelle Prat, Valparaíso, Chile
»Dies ist ein historischer Moment.«
Gregor Elsner machte eine effektvolle Pause und bedachte sein Publikum mit einem bedeutungsschweren Blick. Zugegen waren Journalisten aller internationalen Medienhäuser und geladene Ehrengäste. Unter ihnen die Außenminister von Frankreich, Russland, Großbritannien, Indien und China, Botschafter aus weiteren zwanzig UNO-Mitgliedsstaaten sowie die CEOs der großen globalen Rohstoffkonzerne wie Pemay, Teufen, Belmont und Sintex. Alle hatten die Einladung angenommen. Niemand wollte sich dieses Ereignis entgehen lassen, das nicht weniger gewichtig angekündigt worden war als die Rede des deutschen Wirtschaftsministers.
Der Staatsakt fand im Hafen von Valparaíso statt, einem der ehemals größten Handelsknotenpunkte am Pazifik. Auf beiden Seiten des Ministers wehten die deutsche und die chilenische Flagge. Vor ihm lag am anderen Ende der Plaza Sotomayor die Armada de Chile, der im neoklassischen Stil erbaute Hauptsitz der chilenischen Marine. Im Hafenbecken hinter ihm thronte die Trias-Ex, ein Schwergutfrachter vom Typ Scan-Polaris. Mit seinen hundertsechzig Metern Länge und dreiundzwanzig Metern Breite ließ er die vor ihm auf dem Wasser schaukelnden Fischerboote wie Spielzeug aussehen.
Aber der eigentliche Blickfang der Feierlichkeit war das gelb verschalte Tauchgerät, das sich neben der Bühne befand. Der zwei Stockwerke hohe Apparat war auf einem Podest aufgebaut und sah aus wie ein flach gedrücktes U-Boot mit seitlichen Flügeln. Seine Form erinnerte entfernt an einen Mantarochen. Die Eleganz des Rumpfs wurde jedoch von einer Apparatur überschattet, die sich an der Spitze des Geräts befand. Es handelte sich dabei um eine Walze mit einem Durchmesser von etwa einem Meter, aus der dicht an dicht schlauchartige Ausstülpungen ragten. Sie sahen aus wie die zu kurz geratenen Arme eines Oktopus, nur, dass sich an ihren Enden etwa fußballgroße Öffnungen befanden.
»Durch einen Technologiesprung zur Industrie Vier Punkt Null hat ein neues Kapitel in der Rohstoffversorgung der Welt begonnen.« Gregor Elsner wies auf das Gerät an seiner Seite. »Mit einer neuen, intelligenten Fördermaschine, inspiriert von der Drohnentechnologie des Militärs, wird eine historische Wende eingeläutet: der Zugang zu unermesslichen Rohstoffmengen in der Tiefsee in mehr als fünftausend Metern Tiefe. Dank der neuen Technologie können die Bodenschätze nun wirtschaftlich und mit nur minimalem Impact auf die Umwelt gefördert werden. Damit entsteht eine neue, zuverlässige Rohstoffversorgung für die industrielle Entwicklung, die angesichts des weltweit ungebremst wachsenden Bedarfs dringend benötigt wird …«
Paul Margis sah auf die Uhr.
»Nervös?«, fragte Lennard Price, der neben ihm in der ersten Reihe saß.
Paul rückte sich zum gefühlt hundertsten Mal die Krawatte zurecht. Der Hemdkragen fühlte sich eng an.
»Ein bisschen«, sagte er.
»Ein bisschen?« Lennard hob die Augenbrauen. »Also, ich hätte einen ziemlichen Zirkus im Kopf, wenn ich gleich auf jedem Kontinent über die Bildschirme flimmern würde.«
Paul versuchte, nicht besonders beeindruckt zu wirken. Aber natürlich war er beeindruckt. Er hatte in letzter Zeit nahezu täglich für ein Interview oder ein Politmagazin vor der Kamera gestanden, das gehörte zu seinem Job. Aber das hier war ein ganz anderes Kaliber. Hinter den Stuhlreihen, die für Print- und Onlinemedien reserviert waren, befanden sich die Kameras von vierzehn Fernsehsendern: BBC, CNBC, EuroNews, Bloomberg, France24, Russia Today, China Central Television und so weiter. Über ein Dutzend Nachrichtenagenturen würden den Beitrag an Medienhäuser aus aller Welt verkaufen. Sein Gesicht würde heute Abend so ziemlich überall zu sehen sein.
»Danke für die beruhigenden Worte«, sagte er. »Jetzt fühl ich mich schon viel besser.«
»Gern geschehen.« Lennard reichte ihm ein kleines Päckchen.
»Was ist das?«
Sein Freund schob sich die Brille zurecht und zwinkerte ihm zu. »Mach auf!«
Das Päckchen fühlte sich leicht an. Paul löste die Schleife und öffnete den Deckel. In der Schachtel lag ein runder Anstecker. Er nahm ihn in die Hand. Die Abbildung darauf zeigte einen Mann, der auf einem kartoffelförmigen schwarzen Klumpen ritt und einen Cowboyhut schwingend dem Erdboden entgegenfiel. Als Kopf war ein schlecht ausgeschnittenes Foto von Paul eingeklebt. Darüber stand: »DROP THE BOMB!«
Paul musste grinsen. »Wer von euch Spinnern hat sich das denn ausgedacht?«
Ellis aus der hinteren Reihe lehnte sich nach vorne und flüsterte ihm zu: »Wir dachten, wenn du schon die Ehre hast, die Bombe platzen zu lassen, dann solltest du auch die passende Deko dazu tragen.«
Paul schüttelte amüsiert den Kopf. »Also wirklich, Jungs, ihr wollt mich mit Major Kong vergleichen? Der Typ reitet auf einer Atombombe.«
»Na eben, deine News sind ja nicht weniger explosiv«, meinte Lennard.
Paul sah auf sein Gesicht, das ihm vom Anstecker aus schief entgegengrinste. Wo hatten sie nur dieses Foto ausgegraben?
»Na ja, da hast du vielleicht ausnahmsweise sogar recht«, sagte er. »Aber wenn ich Kong sein soll, wer ist dann Dr. Seltsam? Etwa Maining?«
Gedämpftes Lachen.
»Wo ist der Doktor eigentlich?«, fragte Paul. »Ich habe ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen.«
Lennard sah nach hinten über die Sitzreihen hinweg. »Hier ist er jedenfalls nicht, aber du weißt ja, wie sehr er Menschenansammlungen hasst. Aber ich sehe gerade, dass sich dafür jemand anderes unter die Leute mischt.«
Paul warf ebenfalls einen Blick über die Schulter. Hinter den Sitzreihen entdeckte er Raul Esteban, den unabhängigen Beobachter von Ocean Shield, der gerade auf den Journalisten der New York Times einredete.
»Er kann’s einfach nicht lassen«, bemerkte Lennard. »Hält wahrscheinlich wieder seinen üblichen Vortrag.«
»Sieht so aus.« Paul hatte die Litanei des Umweltaktivisten über unerforschte Arten, ungeklärte Wechselwirkungen und die unabsehbaren ökologischen Langzeitfolgen des Tiefseebergbaus auch schon über sich ergehen lassen müssen. Der Mann war wie ein Terrier. Hatte er sich einmal in etwas verbissen, ließ er sich kaum mehr abschütteln. Der Journalist sah allerdings nicht besonders interessiert aus.
Der Minister kam zu seinem Schlusswort. »Und damit beginnt eine neue Phase des Fortschritts und der internationalen Partnerschaft. Ich bin stolz, diesen wichtigen Moment heute gemeinsam mit unserem Partnerland Chile zu feiern, mit dem wir das Fördergebiet im Pazifik teilen.«
Paul legte den Anstecker zurück in die Schachtel.
»Willst du ihn nicht tragen?«, fragte Lennard mit gespielter Enttäuschung.
»Klar«, erwiderte Paul, »wenn du mich dafür auf deiner Hochzeit die Musik auswählen lässt.«
»Ich glaub, da würde ich lieber sterben, als einen Metal-Freak an die Anlage zu lassen. Vergiss es.«
Paul grinste. »Dacht ich’s mir doch. Und übrigens: Stoner Rock ist kein Metal.«
Applaus brandete auf, als Elsner seine Rede beendet hatte. Der chilenische Minister für Bergbau betrat die Bühne.
»Sehr geehrte Damen und Herren, Deutschland und Chile blicken auf eine lange und ertragreiche Partnerschaft zurück. Als größter Kupferproduzent der Welt hat Chile maßgeblich zur Versorgung der deutschen Industrie beigetragen. Es freut mich, diese langjährige Partnerschaft nun ausbauen zu können. Der Bergbau ist in Chile seit jeher eine der wichtigsten Komponenten der Wirtschaft. Nun ist mit der Rohstoffförderung in der Tiefsee eine neue Epoche der fruchtbaren Zusammenarbeit angebrochen. Minister Elsner spricht zu Recht von einem historischen Tag. Der Tiefseebergbau ermöglicht eine umweltfreundliche und sichere Rohstoffgewinnung, von der die Bergbauindustrie bisher nur träumen konnte. Was aber unter Wasser gelingt, soll in Zukunft auch das Vorbild für die Produktion an Land werden. Chiles Kupferminen setzen bereits heute internationale Standards, was Sicherheit und Umweltschutz angeht. Diese werden nun durch ein neues und umfassendes Bergbaugesetz verschärft, damit sich auch die künftigen Generationen an einer intakten und gesunden Natur erfreuen können …«
❊ ❊ ❊
Solin hielt dem Wachmann seinen gefälschten Journalistenausweis hin und betrat die für die Öffentlichkeit abgesperrte Zone im Hafenbecken. Das Publikum applaudierte, als der chilenische Minister geendet hatte und die Bühne verließ. Solin stellte sich neben die Kameras, die die Fernsehteams für die Live-Übertragung aufgebaut hatten.
Ein Mann um die vierzig trat hinter das Rednerpult. Trotz seines Anzugs wirkte er sportlich und dynamisch. Ein gut aussehender Typ, soweit Solis das einschätzen konnte. Er erkannte das Gesicht von den Bildern wieder, die er zuvor studiert hatte. Paul Margis.
Solin hatte nicht viel Zeit gehabt, die Unterlagen über den Mann durchzugehen. Aber was er bisher gelesen hatte, klang vielversprechend. Margis hatte nach seinem Wirtschaftsstudium bei verschiedenen Banken als Trader gearbeitet und sich im Rohstoffhandel profiliert. Vor einigen Jahren hatte er angefangen, Politiker in Rohstofffragen zu beraten. Zuletzt den deutschen Staatssekretär für Rohstoffe. Vor zweieinhalb Jahren dann machte er den vollständigen Sprung in die Politik. Der Staatssekretär hatte ihn auf die Position eines Abteilungsleiters im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gebracht, um die Verhandlungen für die Förderlizenzen im Tiefseebergbau zu leiten.
Margis war das übliche Klischee des erfolgsverwöhnten Managers. Mit der Überheblichkeit eines Typen, der gewohnt war, dass die Dinge genau nach seinen Vorstellungen verliefen, ohne je dabei auf größeren Widerstand getroffen zu sein. Ein weicher Macho.
Solin lächelte. Ein leichtes Ziel.
»Meine Damen und Herren. Ich will Sie nicht lange auf die Folter spannen«, begann Margis. »Sie fragen sich nun bestimmt, was am heutigen Tag besonders ist und was es mit dem Gerät neben mir auf sich hat. Zunächst ein paar Fakten: Ihnen dürfte bekannt sein, dass in der Tiefsee enorme Vorkommen an Energierohstoffen wie Erdöl, Erdgas und Methanhydraten lagern. Sie birgt aber auch andere Schätze.« Margis hob einen schwarzen Klumpen hoch, der etwa die Größe einer kleinen Melone hatte. »Was Sie hier sehen, ist eine Manganknolle. Dieser unscheinbare Brocken in meiner Hand stammt aus einer Tiefe von fünftausenddreihundert Metern und wurde innerhalb von fünfzig bis hundert Millionen Jahren auf dem Sedimentboden des Pazifiks gebildet. Er wiegt knapp ein Kilogramm.«
Er drehte den Klumpen, damit ihn die Kameras von allen Seiten erfassen konnten.
»Und nun kommen wir dazu, was diesen Brocken für uns so spannend macht: Denn er besteht nicht einfach aus Stein. Nein, er besteht zu einem großen Teil aus Metall und enthält knapp dreihundert Gramm Mangan, etwa drei Gramm Kupfer und Nickel sowie kleinere Mengen Kobalt, Molybdän, Lithium und seltene Erden wie Cerium und Neodym. Allesamt unverzichtbare Baustoffe in der Elektroindustrie. Nur durch sie gibt es Elektromotoren, Computer oder Handys. Ein Leben ohne diese Metalle wäre in der heutigen Welt nicht mehr denkbar.«
Margis legte den Brocken beiseite. »Manganknollen wie diese kommen in allen Weltmeeren vor. In vier Gebieten gibt es sie aber in ganz besonders großen Mengen: In der Clarion-Clipperton-Zone zwischen Mexiko und Hawaii, im Peru-Becken dreitausend Kilometer vor der peruanischen Küste, im Penrhyn-Becken vor den Cookinseln und im Indischen Ozean. Allein in der Clarion-Clipperton-Zone wird die Gesamtmenge an Knollen auf vierzig Milliarden Tonnen geschätzt. So viel zu den Zahlen.«
Solin bemerkte, wie das Publikum still geworden war. Der Mann war ein guter Redner, das musste man ihm lassen.
»In den Siebzigerjahren wurde erstmals versucht, diese Bodenschätze zu ernten, die wie verstreute Murmeln auf dem Meeresboden liegen und nur darauf warteten, hochgeholt zu werden. Doch das Unterfangen erwies sich als kostspielig und wurde aufgrund sinkender Rohstoffpreise wieder aufgegeben. Erst in den Zweitausendern, als die Metallpreise wieder anstiegen, rückten die Knollen erneut in den Fokus des Interesses. Allerdings bestanden Bedenken bezüglich der ökologischen Folgen des Abbaus, da die ersten Prototypen von Kollektormaschinen Schneisen der Verwüstung auf dem Meeresboden hinterlassen hatten. Kurz: Die Förderung der Manganknollen war zu teuer und zu schmutzig.«
Margis wies auf das Gerät neben sich. »Ein Problem, das mit diesem selbstständig und intelligent agierenden Kollektor gelöst werden konnte. Sie werden später von unserem Industriepartner Pemay noch mehr über dieses kleine Wunder der Technik erfahren, aber Sie können sich seine Funktionsweise ungefähr so vorstellen: Durch ein autonomes Steuerungssystem schwebt der Kollektor knapp über dem Boden, sodass es zu keinerlei Schäden am Untergrund kommt. Durch fast zwanzig Manövrierdüsen wird er auf stabilem Kurs gehalten, ganz so, als würde er auf Schienen fahren. Sie können sich das als eine Kreuzung einer Helikopterdrohne mit einem selbstfahrenden Auto vorstellen. Die Tentakel, die Sie vorne auf der Walze sehen, saugen derweil gezielt die Manganknollen mit Unterdruck auf. Über optische Sensoren wird sichergestellt, dass nur Knollen eingesammelt werden und nicht versehentlich andere Objekte oder Tiere hineingelangen. Das Material wird anschließend zu einem Förderschiff – wie Sie eines hinter mir sehen – hinaufgesaugt, wo die Metalle extrahiert werden. Die Restsubstanz wird wieder zu Knollen zusammengepresst und zurück auf den Meeresboden befördert, wo sie als Substrat für die dortigen Lebewesen dienen. Somit hinterlässt der Kollektor das Erntegebiet fast so, wie er es vorgefunden hat. Wenn Sie den Kollektor in Aktion erleben wollen, können Sie ihm später beim Aperitif auf den Videoscreens bei der Arbeit zusehen.«
Paul Margis faltete die Hände. »Und nun zum Grund, warum wir alle hier sind. Vor einem Monat konnte die Testphase dieser Fördermethode, die sogenannte Pilot-Mining-Phase, abgeschlossen werden. Vor einer Woche hat die Internationale Meeresbodenbehörde offiziell grünes Licht für den Start des Tiefseebergbaus mit dieser neuen Technologie gegeben. Das Förderschiff der Testphase, die Trias-Ex, die Sie hinter mir sehen, geht nun in die Werft in Talcahuano, um für die kommerzielle Förderung aufgerüstet zu werden. Zusammen mit zwei weiteren Schiffen derselben Klasse nimmt sie in einem halben Jahr ihre Arbeit auf. Doch die Erschließung der Bodenschätze der Tiefsee beginnt nicht etwa nur für Deutschland und seinen Partner Chile.«
Margis’ Mimik wurde feierlich.
Na, dann lass mal die Katze aus dem Sack, dachte Solin.
»Gleichzeitig mit Deutschland und Chile haben auch sechzehn weitere Staaten Lizenzen bei der Meeresbodenbehörde beantragt. Allen wurde die Zulassung erteilt, sich mit der bahnbrechenden Technologie von Pemay ihre Rohstoffe für die Zukunft zu sichern. Dazu gehören unter anderem China, die USA, Indien, Großbritannien, Frankreich, Japan, Russland, Südafrika, Australien und Brasilien. Wir schätzen, dass diese binnen eines Jahres mit der Arbeit in ihren Fördergebieten beginnen können.«
Margis sah in die Runde. »Meine Damen und Herren, wir sprechen von der Erschließung der gesamten Clarion-Clipperton-Zone. Also von einer Quelle von vierzig Milliarden Tonnen Erz. Damit beginnt eine neue Epoche in der Rohstoffgewinnung! Und zwar nicht nur für Deutschland und Chile, sondern für die ganze Welt …«
Solins Handy klingelte. Er entfernte sich ein Stück und nahm ab. »Wie sieht’s aus?«
»Sein Hotelzimmer ist sauber«, meldete sich Lana. »Auch an der Rezeption wurde nichts für ihn abgegeben.«
»Schade«, sagte Solin und betrachtete Margis, wie er unter Applaus die Bühne verließ.
Schade für Margis.
3
Flughafen Berlin-Tegel, Deutschland
Anna Kolping stieg in die dunkle Limousine, die am Flughafen Berlin-Tegel vor Terminal C wartete. Im Inneren war es beinahe so düster wie draußen. Ein Mann mit bartstoppeligem Gesicht nickte ihr zu.
»Danke, dass Sie so rasch kommen konnten«, sagte Kapov.
Kolping schloss die Tür. »Sie haben gesagt, dass es eilt.«
»Allerdings.« Kapov gab ihr eine Mappe. »Darin finden Sie Ihre Ausweise und alle nötigen Informationen zum Auftrag. Die besagte Person hieß Dr. Eduard Maining. Er war Rohstoffexperte und arbeitete …«
»… bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover«, vervollständigte Kolping den Satz. »Er leitete dort für acht Jahre den Fachbereich Marine Rohstofferkundung und befasste sich hauptsächlich mit der Erforschung der Manganknollenvorkommen in der Clarion-Clipperton-Zone im Pazifik. In den letzten drei Jahren war er der Expeditionsleiter der Pilot-Mining-Phase für die Exploration des deutsch-chilenischen Fördergebiets. Er war zum zweiten Mal verheiratet und hatte eine zwölfjährige Tochter und einen achtzehnjährigen Sohn aus erster Ehe. Gestern wurde er in Valparaíso, Chile, tot aufgefunden. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Gestohlen wurde nichts, nur sein Handy lag zerschmettert auf dem Boden.«
Kapov sah sie an. »Wie ich sehe, haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht.«
»Warum wollen Sie gerade mich für diesen Fall?«
»Das werden Sie sehen, wenn Sie die Unterlagen lesen. Es geht vielleicht nicht nur um Maining. Möglicherweise betrifft es auch jemanden, den Sie kennen. Was ihn anbelangt, dürften Sie wohl eine …«, er zögerte, als suche er nach dem richtigen Wort, »… ganz besondere Motivation haben, den Fall zu lösen.«
4
Comandancia Naval, Valparaíso, Chile
Der Bankettsaal der Armada de Chile war trotz der fortgeschrittenen Stunde noch immer fast voll. Der Abend hatte sich von einem formellen Aperitif zu einer ungezwungenen Cocktailparty gemausert. Die meisten Journalisten hatten ihre Arbeit beendet, die Interviews waren geführt, die Kameras abgebaut. Auch die Minister hatten das Feld bereits geräumt und die Bühne den Diplomaten überlassen, die routiniert den Champagnervorrat seinem Verwendungszweck zuführten. Leise Jazzmusik unterlegte dezent den Stimmenteppich, und hier und da war bereits der Krawattenknopf etwas gelockert worden.
»Möchten Sie noch etwas trinken?«
Paul sah zum Kellner, der auf seiner behandschuhten Hand ein Tablett mit Champagnergläsern balancierte.
»Haben Sie auch was Stärkeres?«
»Leider nicht. Möchten Sie stattdessen ein Glas Wein?«
»Nein danke, ist schon gut.«
Paul griff sich ein Glas von dem klebrig-süßen Gesöff, einem Veuve Clicquot Demi-sec, den der Gastgeber nur für diesen Anlass aus Frankreich hatte importieren lassen, nippte daran und bedauerte seine Entscheidung sogleich. Der Champagner war durchaus trinkbar, aber nach ein paar Gläsern war dieser zahnschmelzauflösende Zuckersaft nur noch eine Zumutung. Paul hätte ein Vermögen für einen ordentlichen Whisky gegeben. Oder wenigstens ein Bier.
»Um sich zu betrinken, ist es vielleicht noch etwas früh, meinst du nicht auch?«
Lennard stellte sich neben ihn. Sie befanden sich etwas erhöht auf den Eingangsstufen des prachtvollen, mit barocken Stuckaturen verzierten Raums, von wo man einen guten Überblick über die feiernde Gesellschaft hatte.
Paul nahm noch einen Schluck. »Zum Glück ist unsere Zusammenarbeit bald beendet. Du bist ja ein richtiger Sklaventreiber.«
»Ein bisschen musst du schon noch durchhalten. Du bist schließlich unsere Galionsfigur.«
»Das klingt ganz danach, als hättest du wieder haufenweise Sachen über mich erzählt, die mich in Verlegenheit bringen werden.«
»Aber sicher doch, sooft ich nur kann.« Lennard schob sich die Brille zurecht und grinste. »Es da gibt jemanden, der geradezu darauf brennt, dir zu gratulieren.«
Pauls Aufmerksamkeit wurde auf ein dunkelrotes Kleid in der Mitte des Raums gezogen. Es fiel elegant von graziösen Schultern und entblößte einen makellosen Rücken. Der Kopf war von ihm abgewandt, aber die langen hellblonden Haare versprachen schon so einiges.
»Du schaust in die falsche Richtung«, sagte Lennard.
Die Blondine drehte ihren Kopf, sodass er ihr Profil sehen konnte.
Die Aussicht wurde immer besser.
»Ach ja?«, sagte Paul.
Die Blondine lachte über etwas, das ihr ihre Nachbarin ins Ohr geflüstert hatte. Dann warf sie einen Blick über die Schulter und sah flüchtig zu ihm hinüber. Sie wandte sich rasch wieder ab, aber er hatte schon alles erfahren, was er wissen musste. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Lennard stupfte ihn an den Arm. »Er ist da drüben, komm mit.« Er ging die Stufen hinunter und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Paul seufzte und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Widerstrebend folgte er Lennard, der sich geschickt durch die Menschenmenge navigierte. Nach drei Stunden Smalltalk hatte er keine Lust mehr, irgendwelchen lächelnden Leuten die Hände zu schütteln. »Wirst du eigentlich dafür bezahlt, so eine Nervensäge zu sein?«
Lennard überging die Bemerkung. »Das willst du bestimmt nicht verpassen. Michael Herebran und mein Boss sprechen miteinander. Freiwillig.«
»Die beiden CEOs der größten Rohstoffunternehmen zusammen? Das ist allerdings ein seltener Anblick.«
»Stell dich nur nicht zwischen sie. Sie schießen schon seit einer halben Stunde mit Giftpfeilen aufeinander.«
Die Feindseligkeit zwischen den beiden Männern war tatsächlich schon von Weitem zu sehen. Als Paul sich ihnen näherte, klopfte Michael Herebran Lennards Chef, John Sollinger, mit einer jovial-väterlichen Geste auf die Schulter. Paul konnte nicht hören, worum es ging. Sollingers abweisende Körperhaltung sprach allerdings Bände. Der Ärger über die überhebliche Art seines Gegenübers war ihm ins Gesicht geschrieben.
»… dürfte sich eine Investition in die chilenischen Kupferminen auch für Sie lohnen«, beendete Herebran seinen Satz, als sie zu ihnen stießen. Er wandte sich zu Paul. »Ah, da ist er ja. Der Mann der Stunde!«
Michael Herebran war der Prototyp des reichen Aristokraten. Seine silbergrauen Haare und die hohe Stirn verliehen ihm das erhabene Aussehen eines britischen Landadeligen. Neben ihm stand eine attraktive Frau, die locker seine Tochter hätte sein können und verdächtig nach einem Callgirl aussah. Er stellte sie nur als »Chantal« vor.
Herebran hob das Champagnerglas. »Einen Toast auf die Erschließung der Tiefsee.«
»Auf eine neue Epoche«, stimmte Sollinger ein, wirkte dabei aber nicht besonders enthusiastisch. Lennards Chef war das pure Gegenteil von Herebran. Mit seinen unordentlichen roten Haaren wirkte er eher wie ein irischer Kneipenwirt, den man gegen seinen Willen in einen Anzug gezwungen hatte, und nicht wie der CEO eines dreißig Milliarden Euro schweren Rohstoffkonzerns. Das kurze, kantige Kinn und die Furchen zwischen den Augenbrauen erzeugten den dazu passenden Eindruck permanenter Unzufriedenheit.
Die Gläser klirrten, als die kleine Gruppe anstieß.
»Ich hoffe, Lennard hat Sie nicht mit langen Erzählungen über die Verhandlungen gelangweilt«, versuchte Paul die Stimmung etwas aufzulockern.
»Das ist nicht im Geringsten langweilig«, entgegnete Herebran. »Ich habe heute Abend schon viel Gutes über Ihr Verhandlungsgeschick gehört. Sie haben hoch gepokert und alles gewonnen. Glückwunsch.«
»Danke.«
»Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass man die Knollen wirklich jemals hochholen würde. Und nun ist es sogar zu einem rentablen Geschäftsfeld geworden. Da hatte Pemay zur Abwechslung mal den besseren Riecher.«
»Das Potenzial lag offen zutage«, konterte Sollinger. »Es war nur die Frage, ob man den Mumm hatte, in eine unerprobte Technologie zu investieren.«
Herebran lächelte gönnerhaft. »Nun, das war auch nicht nötig, wir können ja jetzt mitprofitieren.« Er richtete sich wieder an Paul und senkte verschwörerisch die Stimme. »Zum Glück haben Sie ein so gutes Verhandlungsergebnis rausgeschlagen. Bei diesen exorbitanten Lizenzgebühren, die Pemay für die Kollektortechnologie verlangt, ist das eine mehr als erfreuliche Nachricht gewesen.«
»Wenn es Ihnen zu teuer ist, können Sie ja gern Ihren eigenen Kollektor entwickeln«, moserte Sollinger trocken, der das natürlich trotzdem gehört hatte.
»Man sagt, die Verhandlungen seien schwierig gewesen«, versuchte Herebrans Reich-und-schön-Trophäe das Thema zu wechseln. Vom Hahnenkampf der beiden CEOs hatte sie offenbar die Nase voll. Paul grinste in sich hinein. »Wo lag das Problem?«, fragte sie.
»Das hat mit der besonderen Lage zu tun, wo sich die Manganknollen befinden«, erklärte Paul, allzu gerne bereit, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. »Die wirtschaftlich interessanten Vorkommen liegen fast ausschließlich in internationalen Gewässern und sind damit Teil des sogenannten ›Erbes der Menschheit‹.«
»Und das heißt?«
»Dass diese Gebiete allen Staaten gemeinsam gehören und es deshalb eine faire Verteilung der Ressourcen geben muss. Die Meeresbodenbehörde hat die Pionierstaaten wie Deutschland dazu verpflichtet, die Hälfte ihres Lizenzgebietes an einen Drittstaat abzugeben. Dadurch ist das deutsch-chilenische Gebiet entstanden. Außerdem wurden für Entwicklungsländer sogenannte Reserved Areas vorbehalten.«
»Aber die Gebiete reichen nur für einen Teil der Entwicklungsländer aus«, fuhr Lennard fort. »Mehr als die Hälfte der G77 geht noch immer leer aus. Deshalb wurde vereinbart, auch einen Teil des wirtschaftlichen Gewinns der Förderstaaten an die Entwicklungsländer abzugeben. Wir hatten uns ursprünglich auf ein Prozent einigen können. Zuerst sah es so aus, als würde das funktionieren.«
»Aber das hat es leider nicht«, sagte Paul. »Als klar wurde, dass die Förderung so gewaltig sein wird, dass die Marktpreise sinken würden, waren die vorgesehenen Anteile nicht mehr genug. Die größten Vorkommen dieser Metalle liegen in Entwicklungsländern, die nun mit sinkenden Einnahmen rechnen müssen. Die Staaten der G77 haben deshalb gedroht, vor dem Internationalen Seegerichtshof Klage einzureichen, falls die Beteiligungen nicht neu verhandelt würden.«
»Ihre neue Forderung war drei Prozent«, bemerkte Lennard. »Paul konnte schließlich eine Einigung bei eineinhalb Prozent erzielen. Als Gegenleistung für diese Erhöhung hat er ausgehandelt, dass es keine Zölle oder andere Handelsschranken für diese Bodenschätze geben soll.«
»Ein ziemlich guter Schachzug«, meinte Herebran.
Lennard nickte zustimmend. »Allerdings. Damit hat Deutschland über die nächsten Jahrzehnte hinaus den vollen und ungehinderten Zugriff auf diese Rohstoffe.«
»Wahrlich eine Meisterleistung«, ertönte es hinter ihnen. Raul Esteban schloss sich ihrer Gruppe an und prostete Paul mit seinem Wasserglas zu. Es war nicht auszumachen, ob seine Bemerkung sarkastisch oder anerkennend gemeint war. Vermutlich Ersteres.
Er trug eine verwaschene Jeans und ein schlecht sitzendes Jackett mit abgewetzten Ellbogenschonern.
Immer auf Protestkurs gegen das Establishment, dachte Paul. Ein Wunder, dass die Sicherheitsleute ihn in dieser Aufmachung überhaupt reingelassen hatten.
»Darf ich vorstellen, das ist Raul Esteban von der NGO Ocean Shield«, sagte er. »Er hat die Pilot-Mining-Phase als unabhängiger Beobachter mitverfolgt und die Auswirkungen auf das Leben auf dem Meeresboden beurteilt.«
»Interessant.« Herebran gab ihm die Hand. »Und, wie bewerten Sie den Tiefseebergbau?«
»Aus wissenschaftlicher oder aus persönlicher Sicht?«, fragte Esteban.
»Beides.«
Lennard warf Paul einen entnervten Blick zu.
»Nun ja«, sagte Esteban, »aus wissenschaftlicher Sicht gehört die Fördermethode sicher zu den saubersten, die die Bergbauindustrie je gesehen hat. Oberflächlich gesehen sind die abgeernteten Gebiete innerhalb von zwei Jahren wieder besiedelt. Allerdings wird man erst durch Langzeitstudien wissen, wie lange es dauert, bis der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt ist.«
»Und die persönliche Sicht?«
»Die dürften Sie nur allzu gut kennen. Persönlich finde ich – bitte entschuldigen Sie meine Direktheit –, dass Konzerne wie Ihrer die Finger von der Tiefsee lassen sollten. Sie gehört zu den letzten vom Menschen unberührten Ökosystemen der Welt. Bisher haben Ihre Bergbaufirmen noch alles zerstört, was sie angefasst haben.«
Esteban sah sich um. »Ich wollte Ihre kleine Runde eigentlich gar nicht stören. Ich bin nur gekommen, weil ich Dr. Maining suche, ich vermisse ihn schon den ganzen Abend. Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein, leider nicht«, sagte Paul.
»Nun gut. Dann lass ich Sie wieder allein. Einen schönen Abend noch.«
Herebran zeigte ein amüsiertes Lächeln. »Ein Mann mit einer klaren Meinung.«
Lennard seufzte. »Ja, wir können auf viele nette Stunden mit ihm zurückblicken.«
»Das glaube ich. Ich muss mich jetzt aber leider auch verabschieden, es ist schon spät, und ein Mann in meinem Alter braucht seinen Schlaf. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.«
Als Herebran und seine Begleitung gegangen waren, sagte Sollinger: »Nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen, Herr Margis. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Erfolg. Aber wenn nächste Woche die Verhandlungen über den zollfreien Handel beginnen, werden Sie nicht noch mal so eine riskante Strategie fahren. Ich will nicht, dass wir auf den letzten Metern noch ins Stolpern kommen.«
»Keine Angst, die roten Linien für das Freihandelsabkommen sind viel weniger eng gesetzt. Da wird es keine Probleme geben. Außerdem bin ich nicht der Meinung, dass meine Strategie riskant war.«
Sollingers Mine verfinsterte sich. »Das war sie, und das wissen Sie ganz genau. Mit Ihrer harten Verhandlungsposition sind Sie ein unnötiges Risiko eingegangen. Wenn es zu einer Klage vor dem Seegerichtshof gekommen wäre, hätte das den Start unseres Projekts um Jahre verzögern können.«
»Das ist nie eine realistische Gefahr gewesen. Mit einer Verzögerung hätten auch die G77 verloren. Sie haben nur geblufft.«
»Ach ja? Und das haben Sie natürlich gewusst«, knurrte Sollinger.
»Natürlich. Viele der G77-Staaten stehen kurz vor den Wahlen. Sie mussten ein positives Ergebnis nach Hause bringen. Und unser Angebot war noch immer gut genug. Sie hatten die Wahl, entweder ein etwas kleineres Stück vom Kuchen abzubekommen, oder den Erfolg ihren Nachfolgern zu überlassen.«
»Unsinn«, blaffte Lennards Chef. »Keine Regierung ist so berechenbar, das wissen Sie genauso gut wie ich. Niemand konnte sagen, ob das klappen würde. Oder können Sie etwa Gedanken lesen?«
Paul zog es vor zu schweigen und nahm noch einen Schluck von seinem Champagner. Er hatte diese Diskussion mit Sollinger schon ein paarmal geführt, und sie war immer auf dasselbe hinausgelaufen. Aber der Erfolg gab Paul recht. Es gab also keinen Grund, weiter zu argumentieren. Und dass er mit seiner Vermutung gar nicht so weit danebenlag, musste der CEO auch nicht wissen.
Sollinger schien jedoch noch nicht fertig zu sein. Er hob den Zeigefinger und sah Paul scharf an. »Wir haben mehr als eine Milliarde Euro in dieses Vorhaben investiert, Herr Margis. Ich lasse mir das von niemandem zunichtemachen. Schon gar nicht von einem Heißsporn wie Ihnen, der sich hier seinen Namen vergolden lassen will. Merken Sie sich das.« Er behielt Paul noch einige Sekunden im Auge. Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging.
Lennard sah Paul entschuldigend an. »Sorry, wenn ich gewusst hätte, dass er wieder seine Tage hat, hätte ich dich natürlich nicht hergeholt.«
»Kein Problem, wir waren noch nie die dicksten Freunde.«
»Schade eigentlich. Damit erübrigt sich wohl auch die Frage, ob du nach der Sache hier die Seiten wechseln und bei uns anfangen willst.«
»Das wäre nichts für mich. Außerdem habe ich schon was anderes in Aussicht.«
»Ach ja? Was denn?«
»Das sag ich dir, wenn es so weit ist.« Paul suchte nach der Stelle, wo er die Blondine mit dem roten Kleid gesehen hatte. Sie stand keine fünf Meter von ihm entfernt. »Bitte entschuldige mich, Lennie, aber ich glaub, ich habe heute noch ein Date.«
»Mit wem?«
»Schau mal auf neun Uhr.«
Lennard sah in die angegebene Richtung. »Meinst du die Blondine? Ziemlich hübsch. Kennst du sie?«
»Noch nicht.«
»Aha.« Lennards Blick wurde kritisch. »Was ist eigentlich aus deiner letzten Liebschaft geworden? Wie hieß sie noch gleich? Manuela?«
»Das ist vorbei.«
»Warum überrascht mich das jetzt nicht?«
Paul zuckte mit den Schultern. »Hat eben nicht geklappt.«
»Wie wär’s mal mit einer richtigen Beziehung? Du bist langsam in einem Alter, in dem man seinen Marktwert überdenken sollte.«
»Ach was, ich wüsste ja gar nicht, woher ich die Zeit für eine Freundin nehmen sollte.«
Lennard rollte theatralisch mit den Augen. »Wenn es einen Preis für schlechte Ausreden gäbe, hättest du ihn auf jeden Fall sicher«, ätzte er und machte eine wegscheuchende Handbewegung. »Mach, dass du wegkommst, du fängst an, mich zu langweilen.«
Paul grinste. »Wünsch mir Glück.«
Er drehte sich um und ging auf die Blondine zu. Inzwischen war sie allein. Die Frau, die ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte, war nirgends mehr zu sehen.
Paul prüfte seinen Krawattenknopf. Na dann, auf zum Angriff.
Er trat näher, und ihre Blicke trafen sich.
»Wie ich sehe, sitzen Sie auf dem Trockenen«, sagte er nonchalant. »Darf ich das ändern?«
Sie sah belustigt auf ihr noch halb volles Champagnerglas. »Das ist nett von Ihnen, aber ich bin noch gut versorgt, danke.«
»Das glaube ich nicht. Ich denke, dass Sie eigentlich etwas anderes wollen.«
»Ach ja? Und woran meinen Sie das zu erkennen?«
»Es ist die Art, wie Sie das Glas halten. Mit nur zwei Fingern, wodurch es ihnen leicht schräg in der Hand liegt. Außerdem halten Sie den Arm nur auf halber Höhe, so als hätten Sie das Glas schon fast vergessen. Daraus spricht Ablehnung. Sie mögen keinen Champagner.«
Sie lachte. »Ist das wirklich so offensichtlich?«
Paul schenkte ihr ein breites Lächeln. »Ja. Aber ich glaube, ich weiß, was Sie mögen. Es gibt in der Nähe eine nette Bar, die exzellente Pisco Sours macht. Wie wär’s, wenn Sie mich begleiten?«
5
Cerro Alegre, Valparaíso, Chile
Die Nächte in Valparaíso waren eine intime, heimliche Zeit. Als hätte sich ein dumpfer Teppich über die Hafenstadt gelegt, waren kaum mehr Geräusche zu hören. Nur vereinzelt stahl sich das Rauschen eines Autos über die Dächer, selten hallten Stimmen durch die engen Gassen.
Paul lag schlaflos im Bett seines Hotelzimmers. Neben sich hörte er Amandas regelmäßigen Atem. Er kannte nur ihren Vornamen. Amy. Sie nach ihrem Nachnamen zu fragen, dafür hatte es nach den Piscos und einigen Algarrobinas nicht mehr gereicht. Nach dem fünften oder sechsten Drink war alles sehr schnell gegangen. Er spürte noch den süßen Geschmack ihrer Zunge im Mund.
Amy hatte sich zur Seite gedreht und das Laken nur bis zur Hüfte hochgezogen. Das Licht der Straßenlaternen tauchte ihren Körper in einen cremefarbenen Ton. Die Gardinen schwangen leicht vor dem offenen Fenster und ließen Schatten über sie tanzen.
Paul sah zur Decke. Seit sie eingeschlafen war, schwirrten ihm tausend Gedanken durch den Kopf, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen wollten. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er war hellwach. Die verdammte Pille, die er am Morgen eingeworfen hatte, wirkte noch immer.
Eine Pressekonferenz zu halten, war immer eine aufreibende Angelegenheit. Paul hätte es niemals zugegeben, aber in Tat und Wahrheit machte es ihm ziemlich zu schaffen, vor andere Menschen zu treten. Das war schon immer so gewesen. Aber während manche vor ihrem Auftritt nervös wurden und feuchte Hände bekamen, breitete sich in ihm eine lähmende Müdigkeit aus, die sich mitunter in eine bleierne Schwere verwandeln konnte. Heute hatte bereits am Mittag alles darauf hingedeutet, dass es nicht bei schweren Augenlidern bleiben würde. Paul hatte ein Modafinil dagegen genommen. Das Aufputschmittel hatte seine Wirkung getan und seine Trägheit verdrängt. Aber jetzt war es noch immer in seinem Blut und ließ seine Gedanken kreisen, als wären sie in einer Waschtrommel.
Paul stand auf und ging ins Bad. Er schaltete das Licht an und begann, in seinem Kulturbeutel zu wühlen. Im Spiegel fiel sein Blick auf die vereinzelten grauen Haare an seinen Schläfen. Auf der Stirn hatten sich leichte Einkerbungen gebildet. Er dachte an Lennards Worte. Prüfend tastete er an den Haaren herum und zog an einigen Stellen daran. Hielt noch.
In deinem Alter … Von wegen.
Dann straffte er die Stirn, und die Kerben glätteten sich. Als er das Gesicht wieder entspannte, kehrten die Falten beharrlich zurück. Na ja, so jung war er vielleicht auch nicht mehr.
Paul zuckte gleichgültig mit den Schultern, und das Spiegelbild tat es ihm gleich. Er sah zu Amy. Der Abend war ganz nett gewesen. Die Drinks hatten die Zungen gelockert, ein Thema hatte zum nächsten geführt, und sie hatten sich prima unterhalten. Aber mehr als das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber was soll’s? Er wusste nicht, wo für die Leute das Problem lag, wenn man mit Anfang vierzig noch keine feste Beziehung hatte. Er freute sich für Lennard, dass er die Frau seines Lebens gefunden hatte. Wirklich. Aber bisher hatte noch jede seiner Frauengeschichten ein Ablaufdatum gehabt. Irgendwann kam immer dieser eine Punkt, an dem sie mehr von ihm wollten, Ansprüche stellten. Verbindlichkeit verlangten. Paul konnte es nicht ausstehen, wenn es dazu kam. Der Gedanke daran, plötzlich gebunden zu sein, war für ihn unerträglich. Er war eben nicht der Beziehungstyp. So einfach war das.
Er holte eine Packung Temesta aus dem Kulturbeutel. Zeit zu schlafen. Er drückte sich eine Tablette des Beruhigungsmittels auf die Hand und legte sie unter die Zunge.
Als er das Licht ausmachen wollte, hörte er ein Geräusch an der Tür. Er trat aus dem Bad und warf einen Blick Richtung Eingang. Einen kurzen Moment passierte nichts, und er dachte schon, sich verhört zu haben.
Dann wurde mit einem Schlag die Tür aufgebrochen. Paul wich einen Schritt zurück und konnte die Umrisse dreier Männer in Uniform erkennen, von denen zwei ihre Waffe auf ihn richteten.
Paul hörte noch, wie einer der Männer etwas auf Spanisch schrie, dann wurde er auf den Boden geworfen und mit einem Knie gegen den Teppich gedrückt.
Der Druck auf seinem Rücken presste ihm die Luft aus der Lunge. Scheppernd krachte irgendwo eine Lampe auf den Boden, und Amy schrie auf. Befehle wurden gebrüllt, und sie begann zu kreischen. Pauls Kopf war auf die Seite gedreht, sodass er sie nicht sehen konnte.
Amys Schreie wurden lauter, verzweifelter. Paul zog sich der Magen zusammen. Er stemmte sich dem Gewicht über ihm entgegen und schaffte es, den Kopf leicht anzuheben. Er sah, wie Amy verängstigt mit dem Rücken zur Wand stand und von zwei Männern eingekreist wurde. Sie hielt sich die Bettdecke schützend vor den nackten Körper und starrte die Männer panisch an.
»Lasst sie in Ruhe!«, schrie Paul.
Postwendend bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf, und sein Gesicht wurde zurück auf den Boden gedrückt.
»Schnauze!«, rief der Mann über ihm auf Spanisch und zerrte ihm die Hände auf den Rücken. Handschellen schnappten ein. Dann wurde er hochgezogen.
Ein Mann in olivgrüner Uniform kam in sein Sichtfeld. Paul erkannte die Uniform, sie stammte von den Carabineros, der chilenischen Polizei.
Der Uniformierte begann, in monotonem Tonfall auf ihn einzureden. Obwohl Paul Spanisch verstand, begriff er aber kein Wort von dem, was er sagte.
6
Gendarmería de Chile, Valparaíso, Chile
»Komm, mein Sohn.« Pauls Vater hielt ihm die Hand hin.
Paul streckte seinen Arm aus, um sie zu greifen. Seine Hand war klein, die eines Kindes. Paul sah an sich hinab. Er trug die farbigen Turnschuhe, die er zu seinem ersten Schultag bekommen hatte. Sie waren mit Klettverschluss, weil er noch keine Schleife binden konnte. Er musste den Kopf anheben, um seinem Vater in die Augen sehen zu können.
»Komm zu mir, Paul«, forderte ihn dieser nochmals auf. Er stand auf einmal nicht mehr neben ihm, sondern einige Meter weiter weg. Die Hand nach ihm ausgestreckt, machte Paul einige Schritte auf ihn zu. Aber er kam nicht näher.
Sein Vater sah ihn erwartungsvoll an, wartete. Paul ging schneller, seine Beine fühlten sich ungelenk an, die Schritte kurz. Sein Vater war erneut ein Stück weiter weggerückt. Paul begann zu rennen. Er musste ihn erreichen. Um jeden Preis.
Aber es half nichts. Je schneller er lief, desto größer wurde der Abstand. Als wäre sein Vater auf einem unsichtbaren Laufband, das ihn forttrug.
»Du bist zu langsam, renn schneller«, hörte er dessen Stimme in weiter Ferne.
Paul rannte so schnell, wie ihn seine kleinen Beine tragen konnten.
»Warte!«, rief er. Tränen standen ihm in den Augen.
Doch sein Vater hörte ihn nicht mehr. Er war nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne.
Stimmen rissen Paul aus seinem Traum. Er öffnete die Augen und sah auf eine schmutzige Decke. Benommen folgte sein Blick einem langen Riss, der in eine schimmlige Ecke auslief. Paul schluckte trocken. Er fühlte sich wie ausgedörrt, und ein seltsamer abgestandener Geschmack lag in seinem Mund. Sein Schädel pochte. Er fühlte sich, als hätte er zwei Nächte lang durchgetrunken.
Er setzte sich auf, versuchte, sich zu orientieren. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Er befand sich in einer Gefängniszelle. Nachdem ihm die Polizisten die Handschellen angelegt hatten, war er durch die Gänge gestoßen und vor dem Hotel in ein Polizeiauto gesteckt worden. Sie hatten ihm gerade noch erlaubt, sich vorher Hose und Schuhe anzuziehen. Paul hatte protestiert und nach einer Erklärung verlangt, aber man war ihm jegliche Antwort schuldig geblieben. Nach wenigen Minuten hatten sie das Gefängnis erreicht. Paul war durch kahle, von grellem Neonlicht erhellte Gänge in seine Zelle befördert worden. Er hatte verlangt, mit der Botschaft sprechen zu dürfen, doch auch das war ihm verweigert worden. Als die Tür ins Schloss gefallen war, hatte er minutenlang dagegengepocht. Doch auf der anderen Seite war es stumm geblieben.
Danach war Paul in der Zelle herumgetigert, auf der Suche nach irgendeiner vernünftigen Erklärung, was gerade passiert war. Seine Lage war vollkommen surreal. Er kam sich vor wie eine der Figuren in Kafkas Romanen. Irgendwann hatte dann das Temesta zu wirken begonnen. Er hatte sich auf die Gefängnispritsche gelegt und mit leerem Kopf gegen die Decke gestarrt. Dabei musste er eingeschlafen sein.
Die Stimmen vor der Zelle wurden lauter. Das Schloss der Tür klackte laut, und ein Uniformierter betrat den Raum. Er hielt ein Tablett mit Essen in der Hand. Hinter ihm wartete ein weiterer Wächter im Gang. Paul stand auf. Der Mann stellte das Tablett kommentarlos neben der Tür auf den Boden und ließ Paul dabei nicht aus den Augen. An der Uniform erkannte Paul ein Wappen und darunter einen Schriftzug. Gendarmería de Chile. Die chilenische Strafvollzugsbehörde. Er musste sich also in einem der Staatsgefängnisse befinden.
»Warum halten Sie mich hier fest? Was wirft man mir vor?«
Der Gendarm machte wortlos kehrt.
Paul machte einen Schritt auf ihn zu. »Hey, ich rede mit Ihnen!«
Der Uniformierte legte seine Hand auf seinen Schlagstock und sah über die Schulter. »Atención, chico.«
Paul wechselte auf Spanisch. »Sie haben kein Recht, mich festzuhalten. Ich will sofort einen Anwalt sprechen.«
Der Wächter drehte sich um und verzog feindselig den Mund. Gelbe Zähne kamen zum Vorschein.
»Haben Sie mich gehört?«, fragte Paul. »Ich kenne meine Rechte. Holen Sie mir einen Anwalt, oder das wird diplomatische Konsequenzen haben!«
Der Gelbzahnige kam näher und baute sich vor ihm auf. »Was hast du gesagt?«, fragte er und bleckte mit den Zähnen.
Paul ließ die Höflichkeitsform ebenfalls fallen. »Du hast mich schon verstanden.«
Der Wächter sah ihn geringschätzig an. »Was denkst du eigentlich, wer du bist, du kleiner Wichser? Du hältst jetzt mal ganz schnell die Klappe, kapiert?«
Paul machte einen Schritt auf ihn zu, sodass nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen lagen. Abgestandener Schweiß stach ihm in die Nase. »Wie hast du mich genannt?«
Der Gelbzahnige zog den Schlagstock hervor. »Ich nenne dich, wie ich will, Arschloch.« Er zeigte mit dem Knüppel auf das Bett. »Und jetzt setzt du dich schön brav hin und wartest, bis wir wiederkommen. Wenn ich in der Zwischenzeit nur den kleinsten Mucks von dir höre, mache ich dich mit dem Prügel hier bekannt, alles klar?«
Der zweite Gendarm trat durch die Tür. Auch seine Hand lag auf dem Schlagstock.
Aber Paul dachte nicht daran, sich einschüchtern zu lassen. »Ihr wollt es also auf die harte Tour?«
Der Wächter fixierte ihn mit einem herausfordernden Blick.
»Na fein, das könnt ihr haben. Ich sag euch jetzt, wie das läuft. Ich bin im diplomatischen Dienst, oyes? Ich habe genug Beziehungen, um euch das Leben sehr, sehr schwer zu machen. Also entweder steht in fünfzehn Minuten ein Anwalt in meiner Zelle, oder ich werde dafür sorgen, dass das euer letzter Arbeitstag war. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Der Wächter sah zu seinem Kollegen. »Habe ich ihm nicht gesagt, dass er die Klappe halten soll?«
Der andere sagte: »Doch, hast du.«
Gelbzahn hob den Schlagstock und stieß ihn gegen Pauls Brust. Paul sah ihm an, dass er kurz davor stand zuzuschlagen. Starre Augen, zusammengepresster Kiefer, leichter Schweißfilm auf der Stirn. Das war kein Bluff. Aber Paul war nicht bereit, klein beizugeben. Die Anspannung und die aufgestaute Frustration der letzten Stunden schwang in Wut um.
»Glaubst du wirklich, du kannst mir mit deinem lächerlichen Stock Angst machen? Da musst du schon ein bisschen mehr bieten, mein Freund.«
Gelbzahn ließ ein krächzendes Lachen hören. Er sah erneut zu seinem Kollegen. Dieser stimmte mit ein.
Dann wandte er sich wieder um und legte den Kopf schief. Unvermittelt hob er den Stock und holte zum Schlag aus.
In einer reflexartigen Bewegung schnellte Pauls Hand nach oben und griff danach. »Denk nicht mal dran.«
Das Gesicht des Gelbzahnigen wurde feuerrot, und er schrie etwas Unverständliches. Sein Kollege kam hinzu und warf sich gegen Paul.
Sie fielen gemeinsam zu Boden.
Paul prallte schmerzhaft mit der Schulter auf. Er versuchte, sich wiederaufzurichten, aber die beiden Wachen waren bereits über ihm und ließen Stockhiebe auf ihn niederprasseln. Paul wollte sie abwehren, bekam die Schläger aber nicht zu fassen. Ein Stoß in den Bauch ließ ihn sich zusammenkrümmen. Ihm stockte der Atem. Laut fluchend schlugen die Männer weiter auf ihn ein. Paul verdeckte sein Gesicht mit den Armen und zog die Beine an, um den Bauch zu schützen.
»Das reicht«, sagte Gelbzahn schließlich, und die Hiebe hörten auf.
Die beiden Wächter traten einen Schritt zurück.
Paul sah auf. Gelbzahn stand mit einem dreckigen Grinsen über ihm. Dann spuckte er vor ihm auf den Boden und verließ die Zelle. Sein Kollege folgte ihm.
Die Tür wurde geschlossen, und die Riegel schnappten ein.
Paul blieb für eine Weile liegen. Jeder Zentimeter seines Oberkörpers schmerzte. Er stemmte sich mit der Hand vom Boden auf. Mit der anderen tastete er seine Brust ab. Die Schläge waren hart gewesen, aber nicht stark genug, um ihm ernsthaften Schaden zuzufügen. Er rappelte sich langsam auf.
Auf dem Gang war es wieder still geworden. Paul ging leicht gekrümmt zu einer polierten Metallplatte, die als Spiegel diente, und besah sein Gesicht. Es war unversehrt. Die Gendarmen hatten sich auf seinen Oberkörper beschränkt. Vermutlich, um keine offensichtlichen Spuren zu hinterlassen.
Paul blieb einen Augenblick stehen und starrte die Tür an. Dann fiel sein Blick auf das Tablett, das Gelbzahn auf den Boden gestellt hatte. Mitsamt dem Essen warf er es gegen die Wand. Das Blechgeschirr klirrte und fiel scheppernd zu Boden.
»Verdammt!«, knurrte er und trat eine Schale zur Seite, die auf ihn zugerollt kam.
Dann ließ er sich mit einem Stöhnen auf die Pritsche sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
❊ ❊ ❊
Einige Zeit später – es war vielleicht eine Stunde vergangen oder auch zwei – wurde die Zellentür erneut geöffnet.
Paul sprang auf. Zwei Männer erschienen in der Tür. Es waren nicht dieselben wie zuvor.
»Besuch für Sie«, sagte der Größere der beiden und zog Handschellen aus einer Gürteltasche. »Umdrehen und Hände auf den Rücken.«
Paul unterdrückte den Impuls, sich zu widersetzen. Der Wächter legte ihm Handschellen an und führte ihn durch weitläufige Gänge aus grauem Beton.
Sie erreichten einen Raum, in dem sich ein einzelner Tisch mit vier Stühlen befand. Die Möbel waren am Boden festgeschraubt. Der Wächter bedeutete Paul, sich zu setzen. Er nahm ihm die Handschellen ab, während sein Kollege an der Tür stand und ihn aufmerksam beobachtete.
Die Gendarmen verschwanden wieder in den Gang und schlossen die Tür. Nachdem ihre Schritte verhallt waren, wurde es still. Paul setzte sich und wartete ab. Die Schmerzen in Brust und Rücken hatten sich zu einem dumpfen Druck entwickelt, der sich wie ein Bleimantel um seinen Oberkörper schlang. Mehrere großflächige Blutergüsse zogen sich über seinen Rücken.
Nach etwa fünf Minuten öffnete sich die Tür. Ein Mann mit Anzug und Aktenkoffer betrat den Raum. Er sah nicht nach einem chilenischen Beamten aus. Eher wie ein Europäer. Er kaum auf Paul zu und reichte ihm die Hand.
»Guten Tag, mein Name ist Robert Leng. Ich hoffe, man hat Sie gut behandelt?«
Paul stand auf und ignorierte die Begrüßungsgeste. »Was geht hier vor?«
Leng zog die Hand zurück. »Bitte setzen Sie sich.« Er stellte seinen Aktenkoffer ab und nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. Paul tat es ihm gleich.
Der Mann hatte einen festen Blick. Seine Nase stand etwas vor, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Tom Cruise verlieh. Nur war sein Gesicht schmaler als das des Schauspielers. Und er hatte einen deutlich dunkleren Teint, der angeboren oder aus dem Sonnenstudio sein konnte. Definitiv kein Chilene, aber sicher auch kein Europäer.
»Ich habe gehört, es hat Probleme gegeben? Eine Auseinandersetzung mit den Wächtern?«
»Kann man so sagen«, erwiderte Paul. »Wer sind Sie?«
Leng reichte Paul eine Visitenkarte. Sie wies ihn als Anwalt einer Kanzlei namens Lourdes aus. »Ich bin Pflichtverteidiger. Ich wurde heute Morgen über Ihre Verhaftung informiert. Ich bin hier, um Ihnen rechtlichen Beistand zu leisten. Das heißt nicht, dass wir dadurch automatisch Ihre Verteidigung übernehmen. Wenn Sie lieber einen anderen …«
»Nein, ist schon gut«, unterbrach ihn Paul. »Sagen Sie mir lieber, was mir vorgeworfen wird.«
»Man hat Sie noch nicht darüber informiert?«
Paul schüttelte den Kopf.
»Haben Sie schon mit jemandem gesprochen?«
»Nein.«
Leng nickte. »Das ist schon mal gut. Sie sollten nichts ohne Rechtsbeistand sagen. Es werden schwerwiegende Vorwürfe gegen Sie erhoben.«
Paul hob fragend die Hände. »Was denn?«
Der Anwalt öffnete seinen Koffer und holte einige Unterlagen daraus hervor. Er legte sie auf den mit Rostflecken übersäten Tisch und schlug die oberste Mappe auf.
»Wie ich verstanden habe, sind Sie Verhandlungsführer für die Förderung von Tiefseerohstoffen und hatten gestern eine Präsentation im hiesigen Hafen. Die Besatzung des vor Anker liegenden Förderschiffs war für diese Präsentation ebenfalls zugegen.« Er sah auf. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass eines der Besatzungsmitglieder auf dem Cerro Concepción tot aufgefunden wurde. Sein Name war Dr. Eduard Maining.«
»Was?« Paul konnte nicht glauben, was er hörte. Sein Magen fühlte sich auf einmal an, als würde darin ein zentnerschwerer Klumpen liegen. »Das kann doch nicht sein. Ich meine, was ist geschehen?«
»Er wurde mit einem Messer angegriffen«, sagte der Anwalt. »Alles Weitere ist noch unklar.«
»Wann ist das passiert?«
»Vorgestern Nachmittag. Die Polizei hat die Information zurückbehalten, da man davon ausgeht, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Raubmord handelt.«
»Weshalb?«
»Laut einer Zeugenaussage ist Dr. Maining kurz vor seinem Tod von einem anderen Mann verfolgt worden. Dem Toten fehlten weder die Brieftasche noch andere Wertgegenstände. Nur das Handy lag zertrümmert auf dem Boden. Man konnte die Daten auf der Speicherkarte extrahieren. Der Nachrichtenverlauf hat gezeigt, dass sich das Opfer kurz vor der Tat ganz in der Nähe verabredet hatte.«
»Mit wem?«
Leng zog ein Blatt aus seinen Akten. »Mit Ihnen.«
Der Klumpen in Pauls Bauch wuchs zur Größe einer Abrissbirne heran. »Das kann nicht sein, wie haben uns nie irgendwelche Nachrichten geschrieben.«
Der Anwalt schob ihm das Blatt rüber. »Das ist der Chat, den die Polizei auf Mainings Handy gefunden hat. Er wurde mit der Handynummer geführt, die auf Ihren Namen gemeldet ist.«
Paul nahm das Blatt entgegen. In der Kopfzeile befand sich das Wappen der Carabineros de Chile mit den zwei überkreuzten Gewehren. Darunter das Datum vom 16. Oktober und einige wenige Zeilen, die offenbar einen Chatverlauf wiedergaben:
E. Maining, 11:15 Uhr:Paul, ich muss dringend mit Ihnen sprechen. Ich bin auf etwas gestoßen, das Sie sich ansehen müssen. Treffen Sie sich mit mir um vier Uhr im Restaurant Fauna. Das hat Priorität. Sagen Sie niemandem etwas.
P. Margis, 12:08 Uhr: Lieber Herr Maining, ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert? Können Sie mir einen Anhaltspunkt geben, worum es geht? Vier Uhr im Fauna sollte gehen.
E. Maining, 12:09 Uhr: Nein, das sag ich Ihnen lieber persönlich. Es wird aber Ihre Pressekonferenz von morgen betreffen. Ich warte auf Sie.
P. Margis, 12:13 Uhr: Gut, ich werde da sein.
Paul legte das Papier wieder auf den Tisch. »Das habe ich nicht geschrieben.«
Der Anwalt bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. »Sind Sie sich sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher!« Paul war lauter geworden als beabsichtigt.
Leng machte sich eine Notiz. »Haben Sie Ihr Handy zu irgendeinem Zeitpunkt aus den Händen gegeben oder unbeaufsichtigt gelassen?«
»Nein, ich trage es immer bei mir. Ich habe es auch niemandem geliehen.«
»Könnte es jemand unbemerkt entwendet haben?«
Paul dachte kurz nach. Vorgestern war er voll und ganz mit den Vorbereitungen der Pressekonferenz beschäftig gewesen. Er hatte andauernd telefoniert. »Nein«, sagte er. »Außerdem ist mein Handy passwortgeschützt.«
»Passwörter sind schneller geknackt, als man denkt«, erwiderte der Anwalt. »Haben Sie eine Idee, worum es bei dem Treffen gegangen sein könnte?«
»Nein. Wie gesagt, ich wusste nicht mal, dass sich Maining überhaupt mit mir treffen wollte.«
Der Anwalt nickte. »Ihr Handy wird von der Polizei untersucht. Falls sich jemand daran zu schaffen gemacht hat, werden wir das herausfinden. Momentan sind Sie der Hauptverdächtige. Das Handy von Dr. Maining wurde nicht zufällig beschädigt, sondern bewusst unbrauchbar gemacht. Aufgrund der Nachrichten darauf hätten Sie ein gutes Motiv dafür.«
»Aber das macht doch keinen Sinn«, wandte Paul ein. »Dann wäre es doch viel logischer gewesen, es einfach mitzunehmen.«
»Im Affekt handeln Straftäter nicht immer logisch.«
Paul stand auf. Er konnte nicht länger sitzen bleiben. »Das darf doch einfach nicht wahr sein!«
Er machte ein paar Schritte auf und ab und fuhr sich durch die Haare. Seine Hände waren schweißnass.
Der Anwalt folgte ihm mit dem Blick. »Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass es noch weitere Informationen gibt, die in Bezug auf Ihre Person relevant sind. Informationen, die für die Untersuchungen sehr wichtig sein könnten.«
Paul hielt inne. Ihm sackte das Herz in die Hose. Er sah Leng an, der ihn lauernd betrachtete.
Shit!
Konnte es sein, dass der Anwalt etwas über ihn erfahren hatte, was er gar nicht wissen durfte? Das wäre verdammt ungünstig. Aber wie hätte er in der kurzen Zeit dahinterkommen sollen? Paul versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er möglichst neutral.
»Es könnte sein, dass Maining noch eine weitere Nachricht an Sie geschickt hat, möglicherweise handschriftlich«, sagte Leng. »Haben Sie Kenntnis davon?«
Paul atmete innerlich auf. Der Anwalt wusste nichts. »Keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Was für eine Nachricht sollte das sein?«
»Das wissen wir noch nicht. Haben Sie irgendeinen Brief oder eine Notiz erhalten, die Sie vielleicht noch nicht beachtet haben?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Robert Leng lehnte sich vor. »Herr Margis, es ist wichtig, dass Sie mir nichts verschweigen. Die Fakten sprechen im Moment gegen Sie. Wenn Sie wollen, dass wir Ihnen helfen, dann dürfen Sie mir keine Informationen vorenthalten.«
Paul stützte sich auf die Stuhllehne und sah den Anwalt herausfordernd an. »Ich habe keine Nachricht von Maining erhalten. Weder elektronisch, noch schriftlich noch sonst irgendwie.«
Leng nickte und ließ sich wieder in den Stuhl sinken.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Paul.