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Ohnmacht in der Demokratie E-Book

Nikolai Huke

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Beschreibung

Die Demokratie ist durch ein nur begrenzt eingelöstes allgemeines Gleichheits- und Partizipationsversprechen gekennzeichnet: Viele Menschen fühlen sich politisch handlungsunfähig und haben den Eindruck, kein Gehör zu finden oder nicht repräsentiert zu werden. Am Beispiel der Situation von Geflüchteten in Deutschland zeigt Nikolai Huke die Ursachen und Folgen dieser Schieflage auf. Die Konfrontation mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen im privaten Alltag, in Behörden und in der Arbeitswelt, so die These, erfahren Subalterne als Ohnmacht. Politisches Engagement erscheint ihnen infolgedessen wenig erfolgversprechend. Demokratische Partizipation wird dadurch sozial selektiv und die Demokratie grundlegend unterminiert.

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Nikolai Huke (Dr. phil.), geb. 1983, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er forscht unter anderem zu Demokratie, politischer Teilhabe, autoritärem Populismus, sozialen Bewegungen, Prekarität und Migration. Ab 2016 war er für vier Jahre an der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprojekt »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« koordinierte, aus dem die Publikation »Ohnmacht in der Demokratie« entstand.

Nikolai Huke

Ohnmacht in der Demokratie

Das gebrochene Versprechen politischer Teilhabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

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Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Nikolai Huke

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5682-4

PDF-ISBN 978-3-8394-5682-8

EPUB-ISBN 978-3-7328-5682-4

https://doi.org/10.14361/9783839456828

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Danksagung

1Einleitung

2Das gebrochene Versprechen politischer TeilhabeErscheinungsformen von Ohnmacht in der Demokratie

2.1Ohnmacht gegenüber dem eigenen Ausschluss aus dem Volk. Was die Ideologie des autoritären Populismus über ungleiche politische Teilhabe in der Demokratie verrät

2.2Ohnmacht gegenüber verhärteten Staatsapparaten. Staatstragende Demokratieverständnisse und die Frage der strategischen Selektivität

2.3Ohnmacht gegenüber begrenzten Einfluss- und Wahlmöglichkeiten. Liberale Demokratie und das Problem sozial selektiver Responsivität

2.4Ohnmacht gegenüber einer verzerrenden Öffentlichkeit. Ungleiche Artikulationschancen als Achillesferse deliberativer Demokratie

2.5Ohnmacht gegenüber der eigenen Anteilslosigkeit. Radikaldemokratische Konfliktorientierung und das Einfordern politischer Gleichheit als gesellschaftliche Privilegien

2.6Das gebrochene Versprechen politischer Teilhabe als existenzielle Gefahr für Demokratie

3Der Ohnmacht der Subalternen auf der SpurWarum Ungleichheit politisch häufig unsichtbar bleibt

3.1Verworfene Erfahrungen, sprachlose Subjekte. Postkoloniale und poststrukturalistische Theorien der Subalternität

3.2Blockierte Erfahrungen, beschädigte Subjekte. Ohnmacht ausgehend von der Kritischen Theorie denken

3.3Internalisierte Verhältnisse, angepasste Subjekte. Reproduktionstheoretische Perspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu und John H. Goldthorpe

3.4Fehlendes Bewusstsein, desorganisierte Subjekte. Subalternität bei Antonio Gramsci

3.5Überfordernde Situationen, hilflose und resiliente Subjekte. Ohnmachtserfahrungen und ihre Folgen in psychologischen und pädagogischen Ansätzen

3.6Widersprüchliche Erfahrungen, eigensinnige Subjekte. Theorien subalterner Handlungsfähigkeit

3.7Ohnmacht und Grenzen politischer Handlungsfähigkeit von Subalternen in der Demokratie

4Alltägliche Ohnmacht, alltagsfremde DemokratieErfahrungen, die ungleiche Artikulations- und Teilhabechancen (re)produzieren

4.1Zukunftsunsicherheit – »Mit einem Fuß immer im Flieger«

4.2Soziale Isolation – »Auf sich gestellt«

4.3Ein überfordernder und nicht zu bewältigender Alltag – »Ich vergesse ganz viel«

4.4Behördlich verwaltetes Leben – »Immer wieder Steine in den Weg gelegt«

4.5Gewaltsames Othering – »Jeden Tag geschubst, angerempelt, teilweise bespuckt«

4.6Chancenlosigkeit – »Utopisch, dass er eine Chance hat, zu bestehen«

4.7Ungleichheit, die unüberwindbar und unveränderbar erscheint – »Irgendwann empfindet man das ja als normal«

4.8Abhängigkeit von Hilfe – »Keine Chance, wenn sie nicht Leute vor Ort haben, die ihnen helfen«

4.9Verhältnisse, die ohnmächtig machen. Was die Situation von Geflüchteten über ungleiche politische Teilhabechancen in der Demokratie verrät

5Das Versprechen politischer Teilhabe als unabschließbares ProjektOhnmachtserfahrungen als Auftrag, Demokratie und Alltag fortlaufend zu demokratisieren

6Literatur

Danksagung

Bei der Arbeit am vorliegenden Buch haben mich zahlreiche Menschen unterstützt, wofür ich ihnen herzlich danken möchte. Peter Birke, Lisa Marie Borrelli, Thomas Böwing, Julika Bürgin, Lisa Carstensen, Axel Gehring, Fabian Georgi, Tobias Haas, Philipp Höfener, Friedel Huke, Katharina Huke, Renate Huke, Stefan Kerber-Clasen, Anna Köster-Eiserfunke, Victoria Luh, Mouna Maaroufi, Julika Mücke, Sebastian Muy, Maximilian Pichl, Moritz Rinn, Werner Schmidt, Tim Schumacher, Sarah Sott, Hanna Wert und Lorenz Wiese haben einzelne Kapitel vorab gelesen und zahlreiche hilfreiche Kritikpunkte und Ergänzungen formuliert. Paula Classen und Mia Schepe verdanke ich eine sorgfältige Korrektur des Manuskripts. Für spannende Literaturhinweise danke ich Ruedi Epple, Fabian Georgi, Jakob Graf, Oke Horstmann, Sebastian Klauke, Bettina Lösch und Felix Syrovatka. Besonders herzlich bedanke ich mich bei Hans-Jürgen Bieling, Doreen Bormann und Julia Buchner für die kollegiale Zusammenarbeit im Team des Forschungsprojekts »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« am Standort Tübingen.

1Einleitung

»Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Es gibt keine Ohnmacht! Und ich sage es noch einmal, Deutschland hat die lebendigste Demokratie dieses Kontinents.« (Ziegler 2017)

 »Wir haben unsere Stimme erhoben. […] Wir haben unser demokratisches Recht genutzt, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. […] Aber es bringt nichts.« (Tahir K. zit.n. Frisius 2019)

»Der Mensch ist frei, demokratisch über sich selbst zu herrschen«, so lässt sich in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau ein konstitutiver Widerspruch gegenwärtiger Demokratien beschreiben, »doch überall fühlt er sich ohnmächtig«. Demokratie soll allen Bürger*innen eine gleichberechtigte Teilhabe sichern. Jede*r hat eine Stimme – und alle Stimmen zählen gleich viel, so ließe sich das Grundprinzip knapp und etwas verkürzt beschreiben. Politische Entscheidungen können dadurch von jedem Individuum beeinflusst und mitgeprägt werden. Ohnmacht – im Sinne von »Schwäche, Machtlosigkeit, Unmöglichkeit zu handeln« (DUDEN 2021) – ist in diesem Sinne ausgeschlossen: »Es gibt keine Ohnmacht!«. Der demos ist, so die Annahme, eine Ansammlung mündiger und politisch handlungsfähiger Bürger*innen, deren Stimme zählt und die sich aktiv und erfolgreich an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen können. Empirisch nehmen viele Menschen ihre eigene Situation jedoch deutlich anders wahr. Selbst dort, wo Menschen sich aktiv politisch engagieren bleibt am Ende vielfach der Eindruck: »Aber es bringt nichts« (vgl. auch Huke 2016). Anspruch und empirische Realität der Demokratie fallen mit Blick auf Ohnmachtserfahrungen sehr deutlich auseinander. »Achselzuckende Resignation« (Nachtwey 2016: 145), »innere Kapitulation« (Biebrich und Kuhl 2004: 58) und »Demokratiedistanz« (Stocker 2014) prägen bei Teilen des demos den Umgang mit politischen Entscheidungsprozessen.

Dieser Rückzug aus der Politik ist eng mit sozialer Ungleichheit verwoben. Insbesondere »untere soziale Schichten«, so zeigt etwa Armin Schäfer, haben zunehmend »geringe Aufstiegshoffnungen und wenden sich resigniert von der Politik ab […]. Die im Wettbewerb Unterlegenen verzichten auf politische Partizipation, weil sie nicht mehr glauben, durch Politik ihre Lage verbessern zu können. An die Stelle des Protests gegen Ungleichheit treten Resignation und politische Apathie« (Schäfer 2008: 38). Das »Gefühl der Exklusion, so könnte man daraus schließen, ist bei vielen kein Ansporn zur aktiven Veränderung des eigenen Status quo, sondern eher ein Grund zur Resignation« (dimap 2017: 28). Die soziale Spreizung der Partizipation hat dabei im Zeitverlauf seit den 1970er Jahren deutlich zugenommen (Schäfer 2013a). Entsprechende Unterschiede in der politischen Beteiligung führen dazu, »dass nicht alle Interessen die gleiche Chance haben, im Entscheidungsprozess berücksichtigt zu werden« (ebd.: 553). In der Folge »verstärkt sich der Einfluss von einkommensstarken Haushalten, während zugleich die Gefahr einer Vernachlässigung der Belange einkommensarmer Haushalte zunimmt« (Volkert 2008: 56). Demokratie verspricht »Gleichheit für alle […], [ist] in Wahrheit jedoch mit wachsender Ungleichheit konfrontiert« (Foroutan 2019: 22). Die Prozessierung der Konflikte auf dem Terrain des Staates wird nicht nur »strategisch« (Jessop 1999) selektiver, sondern auch sozial: Es dominieren nicht nur bestimmte Handlungsroutinen den politischen Umgang mit ungleichen alltäglichen Lebensbedingungen, sondern auch bestimmte Teile des demos – jene, die sich alltäglich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position selbst als anspruchsberechtigt und handlungsfähig erleben. Das Versprechen gleicher demokratischer Teilhabe existiert offensichtlich nur in gebrochener Form, als selektiv eingelöster Anspruch. Es ist in mehrfachem Wortsinne gebrochen: Es ist ›nicht eingelöst worden‹, aber auch bruchstückhaft und bricht sich an gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen.

Ohnmachtserfahrungen und eine damit einhergehende Distanz zu politischen Prozessen sind jedoch nicht allein auf sozioökonomisch marginalisierte Teile des demos beschränkt, sondern auch über diese hinaus gesellschaftlich weit verbreitet. So glauben etwa dem Sachsen-Monitor aus dem Jahr 2017 zufolge nur 20 Prozent der Befragten, dass Regierungen soziale Ungleichheit abbauen. Gleichzeitig halten 94 Prozent das für einen sehr oder eher wichtigen Aspekt von Demokratie (dimap 2017: 20). 72 Prozent der Befragten glauben, dass die Politiker*innen »nur die Stimmen der Wähler [wollen], die Ansichten der Wähler interessieren sie nicht«. Jeweils 68 Prozent stimmen den Aussagen »Wir haben keine echte Demokratie, weil die Wirtschaft und nicht die Parlamente das Sagen« haben; »Leute wie ich haben so oder so keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut« und »Wichtige politische Fragen kann ich gut verstehen und einschätzen« voll oder eher zu. Dass die meisten Politiker*innen sich darum kümmern, »was einfache Leute denken« halten hingegen nur 21 Prozent für voll oder eher zutreffend (ebd.: 27). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, »ob erhebliche Teile der Gesellschaft überhaupt noch politisch repräsentiert werden« (Thaa 2009: 75).

Die Frage, wie und unter welchen Bedingungen sich Exklusion, Ungleichheit und Marginalisierung in Resignation, Apathie, Kapitulation und Demokratiedistanz übersetzen, ist für Demokratie vor diesem Hintergrund eine drängende und existenzielle. Es überrascht daher, dass sie bisher in der demokratietheoretischen Debatte kaum eine systematische Rolle spielt. Zwar bekräftigen quantitative Studien immer wieder die Existenz des Problems politischer Apathie und seine manifesten Ausprägungen. Bei der Debatte um Krisen der Demokratie wird jedoch anschließend der Blick zumeist auf Institutionen der liberalen Demokratie und die Frage ihrer Legitimität gerichtet (Merkel 2015). Die subjektive Dimension, das heißt warum und unter welchen Bedingungen sich Menschen bewusst oder unbewusst gegen eine politische Partizipation in der Demokratie entscheiden, bleibt unbeachtet. Das Problem, so scheint es, ist nicht in erster Linie, dass Demokratie offensichtlich in der Wahrnehmung der Bürger*innen keine gleichberechtigte Teilhabe sichert, sondern dass staatliche Herrschaft nicht mehr auf ausreichend Zustimmung stößt und dadurch instabil wird. In der Tendenz sind die staatlichen Institutionen – und nicht die Subjekte des demos und ihre Ohnmachtserfahrungen – das Zentrum, von dem aus über Probleme der Demokratie nachgedacht wird. In der Folge steht in der Demokratieforschung meist eher die Frage im Mittelpunkt, wie die Legitimität der bestehenden Institutionen gestärkt und wiederhergestellt werden kann – während sie die Frage ausblendet, was die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür wären, nicht nur dem Anspruch nach, sondern auch real eine gleiche Teilhabe aller zu ermöglichen.

Das vorliegende Buch nimmt demgegenüber einen Perspektivwechsel vor. Es stellt alltägliche Erfahrungen von Ohnmacht in den Mittelpunkt, fragt nach deren politischen Konsequenzen und erweitert vor diesem Hintergrund theoretisch den Blickwinkel auf Demokratie. Das Versprechen demokratischer Gleichheit, so zeigt diese Perspektive einer »subjektorientierte[n] Gesellschaftstheorie« (Candeias 2011: 6), bricht sich im Alltag kontinuierlich an gesellschaftlicher Ungleichheit. Resignation, Apathie, Kapitulation und Demokratiedistanz stellen sich als biographischer Effekt iterativ wiederholter Ohnmachtserfahrungen in unterschiedlichen Lebensbereichen her – sei es im privaten Alltag, in Behörden oder in der Arbeitswelt. Ursache der Ohnmachtserfahrungen sind gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse entlang vielfältiger »Achsen der Ungleichheit« (Klinger et al. 2007), durch die relevante Teile des alltäglichen Lebens nicht nur dem demokratischen Zugriff weitgehend entzogen, sondern hierarchisch und autoritär geprägt sind (z.B. die Arbeitswelt). Im Alltag machen Menschen – je nach sozialer Position in unterschiedlicher Art und Weise – dadurch immer wieder die Erfahrung, dass ihre Bedürfnisse nicht zählen und dass sie kaum einen oder keinen Einfluss auf die sie umgebenden Verhältnisse haben.

Demokratie ist somit kein Zustand, sondern muss als umkämpfter »gesellschaftliche[r] Prozess der Demokratisierung« (Lessenich 2019: 37) gedacht werden, als »beständiger Kampf um Berechtigung, […] um die Öffnung und Schließung, Ausweitung und Einschränkung sozialer Berechtigungsräume, der auf diversen Schauplätzen stattfindet und sich entlang vielfältiger Konfliktlinien vollzieht« (Lessenich 2019: 37). Ein demokratiepolitisch zentraler Aspekt in diesen Kämpfen sind die Ohnmacht und die Handlungsmöglichkeiten derjenigen, die institutionell (noch) nicht repräsentiert werden – etwa, weil sie, wie Geflüchtete, staatlicherseits nicht als Teil des demos gezählt werden:

»So wurden die bürgerlichen Rechte par excellence, die Selbstbestimmungsrechte über die eigene Person, im Verlauf der Geschichte der Moderne nur langsam und Schritt für Schritt verallgemeinert: Ob nun Meinungs- oder Religions, Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit, die Freiheit zum Vertragsabschluss oder der Berufswahl: Sie alle waren lange Zeit nur bestimmten Bevölkerungsgruppen vorbehalten, wurden zu allen demokratiehistorischen Zeiten immer wieder eingeschränkt.« (Lessenich 2019: 41)

Ohnmachtserfahrungen erschweren es, dass »private soziale Bedürfnisse in kollektive politische Forderungen verwandelt [werden]« (Espinar und Abellán 2012: 147). Menschen, die sich politisch perspektiv- und chancenlos fühlen, so zeigen exemplarisch etwa Menz und Nies (2019), tendieren dazu, ihre Ansprüche präventiv zurückzunehmen. Ein Teil der vielfältigen Bedürfnisse des demos wird dadurch nicht nur politisch nichtrepräsentiert, sondern zudem öffentlich weitgehend unsichtbar. Es entstehen »demokratieferne Räume« (Richter und Bösch 2017) und Lebenswelten, die von demokratischen Aushandlungsprozessen weitgehend entkoppelt sind. Zwischen alltäglichen Erfahrungen und Politik tut sich eine Kluft auf, die Demokratie existenziell zu gefährden droht (Deppe 1993: 45). Auf der einen Seite verstärkt sich das Gefühl, die Demokratie habe mit dem eigenen Leben nicht oder nur wenig zu tun. Auf der anderen Seite verlieren staatliche Institutionen an Kontakt zu alltäglichen Lebensrealitäten, werden weniger responsiv (Elsässer 2018) und verhärten sich (Huke 2017). Beide Dynamiken verstärken sich potenziell wechselseitig und wirken als Teufelskreis (Huke und Wigger 2019). Der für eine lebendige Demokratie zentrale Prozess einer kontinuierlichen Erneuerung und »Demokratisierung der Demokratie« (Marchart 2015) gerät ins Stocken oder kommt sogar vollständig zum Erliegen.

Warum, so fragt das Buch vor diesem Hintergrund, erfahren sich Menschen als ohnmächtig und außerstande, politisch Gehör zu finden und Einfluss zu nehmen? Welche gesellschaftlichen Bedingungen rufen Ohnmachtserfahrungen hervor? Was bedeutet es für ein Verständnis von Demokratie, dass ein Teil der Menschen sich politisch ohnmächtig fühlt? Welche Folgen resultieren daraus für ein theoretisches Verständnis von Demokratie? Wie muss Demokratie gedacht werden, wenn mündige und politisch handlungsfähige Bürger*innen nicht a priori vorausgesetzt werden können, sondern erst ein Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse sind? Wie kann politische Handlungsfähigkeit aller – und damit eine gleichberechtigte demokratische Teilhabe – gesichert und durchgesetzt werden? Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden dadurch, in ihren empirischen Konsequenzen für alltägliche Lebensbedingungen, zu einem zentralen Moment der Analyse.

Als empirische Grundlage, um nachzuvollziehen, wie und unter welchen Bedingungen sich Exklusion, Ungleichheit und Marginalisierung in Resignation, Apathie, Kapitulation und Demokratiedistanz übersetzen, dienen qualitative Interviews mit professionellen Beratungsstellen, Behörden, Ehrenamtlichen, Gewerkschaften und politischen Aktivist*innen über den Alltag von Geflüchteten in Deutschland, die im Rahmen des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« geführt wurden. In ihnen werden vielfältige Modi der alltäglichen Produktion politischer Ohnmacht sichtbar. Die Erfahrungen der Geflüchteten, so eine Grundthese des Buchs, zeigen in verdichteter Form, wie alltägliche Erfahrungen und Lebensbedingungen die Möglichkeiten politischer Partizipation einschränken. Sie machen wie in einem Brennglas sichtbar, auf welche Weise Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Alltag politische Handlungsfähigkeit und mit dieser auch Demokratie grundlegend unterminieren sowie achselzuckende Resignation, innere Kapitulation oder Demokratiedistanz begünstigen.

Auch wenn Geflüchtete empirisch im Mittelpunkt dieses Buchs stehen, ist es in erster Linie kein Buch über Geflüchtete. Ziel ist es nicht, die Situation von Geflüchteten in Deutschland und deren Besonderheiten im Vergleich zu anderen Gruppen in der Gesellschaft hervorzuheben. Es geht vielmehr darum, die Geflüchteten als Teil der Gesellschaft in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, was die Erfahrungen von Geflüchteten exemplarisch über den Zustand der Demokratie und insbesondere Ohnmachtserfahrungen und Grenzen politischer Handlungsfähigkeit verraten. Wie es eine Interviewpartnerin in einem Dokumentarfilm von Anne Frisius formuliert, sind

»diese Menschen […] von allen Problemen betroffen, die alle deutschen Staatsbürger auch haben und zusätzlich […] kommen noch […] [zahlreiche] Ebenen von Problemen hinzu. Also wenn man etwas tun will für Menschen auf Arbeitssuche, wenn man etwas tun will für Frauen: Das betrifft Geflüchtete alles in gleichem Maße.« (Frisius 2019)

Zwar weist die Situation von Geflüchteten eine Reihe von Besonderheiten auf (z.B. Staatsbürgerschaft, Aufenthaltsstatus), sie enthält jedoch in zugespitzter Form viele der Konflikt- und Problemlagen, die auch – in je unterschiedlicher Intensität und Art und Weise – den Alltag anderer Teile der Bevölkerung charakterisieren: »Mangelnde Anerkennung, fehlende Chancengleichheit und nicht gegebene Teilhabe […] betreffen […] weit mehr Menschen« (Foroutan 2019: 48). Die in den empirischen Kapiteln nachgezeichneten, von Geflüchteten gemachten Erfahrungen, so wird deutlich, erweitern auch das Verständnis für die Situation anderer innerhalb der Demokratie von Ausschluss bedrohter Gruppen – auch wenn sie sich nicht immer vollumfänglich übertragen lassen.

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert: Der erste Abschnitt rekonstruiert fünf Perspektiven auf Volksherrschaft oder Demokratie: vom autoritären Populismus über staatstragende und liberale Verständnisse von Demokratie bis hin zu deliberativen und radikaldemokratischen Ansätzen. Zentral für die Rekonstruktion ist die Frage, welche Formen der politischen Ungleichheit für die jeweiligen Verständnisse implizit oder explizit konstitutiv sind – und wie diese mit Ohnmachtserfahrungen verbunden sind. Welche Ohnmachtserfahrungen lassen sich aus der jeweiligen Perspektive in der Demokratie beobachten? In welchem Verhältnis stehen sie zu sozialer Ungleichheit entlang gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse? Wie wirken Ohnmachtserfahrungen und welche Dynamiken werden durch sie ausgelöst? Am Beispiel jedes Demokratieverständnisses wird jeweils ein spezifischer Teufelskreis sichtbar, in dem sich Ohnmachtserfahrungen und Krisenprozesse der Demokratie wechselseitig verstärken. Ohnmacht, so zeigt das Kapitel damit übergreifend, ist für Demokratie und politische Gleichheit eine existenzielle Bedrohung.

Der daran anschließende zweite Abschnitt rekonstruiert in einer theoretischen Spurensuche die politischen Effekte von Ohnmacht. Er zeigt, wie gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in alltäglichen Situationen für bestimmte Gruppen in der Bevölkerung systematisch bestimmte Erfahrungen hervorbringen: Kein Gehör zu finden und die eigenen Erfahrungen innerhalb der herrschenden Diskurse nicht ausdrücken zu können; den Dynamiken der Gesellschaft scheinbar machtlos gegenüberzustehen; immer wieder die Erfahrung zu machen, auf eine bestimmte soziale Position innerhalb der Gesellschaft verwiesen zu werden; auf sich selbst zurückgeworfen zu sein und keinen kollektiven politischen Ausdruck für die eigenen Erfahrungen zu finden oder aufgrund fehlender Handlungsressourcen in konkreten Situation ohnmächtig zu sein, woraus auf Dauer eine resignative Grundhaltung entsteht. Situationen sind dabei jedoch nicht durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse determiniert, sie weisen stets ein Moment der Spontaneität und Unberechenbarkeit auf, das Spielräume für eigensinniges Handeln lässt. Die innerhalb der Demokratie beobachteten Ohnmachtserfahrungen verweisen damit nicht nur auf institutionelle Probleme der Prozeduralisierung von Volksherrschaft, sondern werfen grundlegende Fragen in Bezug auf die Möglichkeit politischer Gleichheit in einer von Ungleichheit durchzogenen Gesellschaft auf.

Der dritte Abschnitt zeigt am Beispiel der Situation von Geflüchteten in Deutschland daran anschließend empirisch, wie Ohnmachtserfahrungen entstehen und mit welchen politischen Konsequenzen sie verbunden sind. Grundlage sind 64 qualitative problemzentrierte Interviews, die im Rahmen des durch das BMBF geförderten Verbundprojekts »Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland« geführt wurden. Das Leben von Geflüchteten, so wird deutlich, ist vielfach ein ausgegrenztes, ungleich behandeltes, abgewertetes, unverstandenes, fremdes, vereinzeltes, überfordertes, perspektivloses, gefährdetes, verunsichertes, abhängiges und ausgeliefertes. Die Möglichkeiten einer politischen Artikulation der eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse werden dadurch systematisch eingeschränkt. Demokratische Teilhabe, so wird deutlich, wird dort erschwert, wo die Zukunft unsicher und unberechenbar ist; wo Menschen isoliert und auf sich allein gestellt sind; wo Alltagsbewältigung alle Ressourcen bindet; wo Menschen sich nur noch als Objekt und Spielball erleben, weil ihr Leben von bürokratischen Entscheidungen und zeitlichen Routinen abhängt; wo Menschen tagtäglich als ›Andere‹ markiert und abgewertet werden oder sich als chancenlos erleben; wo gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse normal und unveränderbar erscheinen oder wo Menschen von externer Hilfe abhängig sind, um ihre eigenen Probleme zu lösen.

Der vierte Abschnitt reflektiert die empirischen Befunde demokratietheoretisch und zeigt abschließend, warum Ohnmachtserfahrungen einen zentralen Ort innerhalb demokratietheoretischer Debatten verdienen. Mit Blick auf die Ohnmachtserfahrungen, so die These, wird sichtbar, dass gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse jenseits des eng begrenzten Raums der demokratischen Freiheit und Gleichheit kontinuierlich antidemokratische Effekte produzieren. Demokratie wird dadurch selektiv und partikular. Für einen Teil des demos werden fundamentale Rechte und Prinzipien der Demokratie immer wieder außer Kraft gesetzt. Demokratie und politische Gleichheit müssen daher als zukunftsgerichtete Bewegungen gegen alltägliche Ohnmacht verstanden werden.

2Das gebrochene Versprechen politischer TeilhabeErscheinungsformen von Ohnmacht in der Demokratie

Als Demokratie werden Organisationsformen des Politischen bezeichnet, die eine »Volksherrschaft oder Selbstregierung des Volkes« (Bieling 2015: 63) zu gewährleisten versuchen. Begrifflich »vereint Demokratie das griechische dēmos (Volk) mit kratein (herrschen)« (Dörre 2019: 23). Idealtypisch steht Demokratie für möglichst gleichberechtigte Chancen der Subjekte des demos, politische Entscheidungen zu kontrollieren und mitzugestalten (Beetham 1992: 40). Was jenseits dieser allgemeinen Begriffsbestimmungen konkret unter dem Begriff der Demokratie zu verstehen ist, ist eine Frage, die historisch und auch gegenwärtig unterschiedlich beantwortet wurde und wird (Bieling 2015: 63). An der Diagnose von Rödel et al. (1990: 7), dass das »Problem der Gegenwart […] nicht ein Mangel an rhetorischer Anerkennung demokratischer Legitimationsformeln, sondern die Wahllosigkeit ihrer Beschwörung« (ebd.) sei, scheint sich in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert zu haben. Die Bandbreite von Akteuren, die für sich in Anspruch nehmen, Demokratie zu verkörpern, reicht von basisdemokratischen sozialen Bewegungen (z.B. Occupy oder den Indignados in Spanien) bis zu autoritären Populisten (z.B. der Fidesz in Ungarn) oder dem Militär (z.B. beim Putsch gegen Evo Morales in Bolivien im Jahr 2019). Unter dem Begriff der Demokratie wird dadurch ein breites Spektrum von Praktiken und Institutionen verhandelt (Little 2010: 972). Eine zentrale Gemeinsamkeit der sehr unterschiedlichen Verständnisse von Volksherrschaft der verschiedenen Akteure ist ein gewisses Versprechen politischer Teilhabe oder zumindest Repräsentation. Die Interessen und Forderungen des Volks sollen generell die Richtung politischer Entscheidungen vorgeben, politische Entscheidungen sollen an den Bevölkerungswillen rückgekoppelt werden (Elsässer 2018: 24). Dabei verlangt das der Demokratie zugrunde liegende Gleichheitsprinzip, »dass die Anliegen aller Mitglieder die gleiche Chance haben, im politischen Prozess berücksichtigt zu werden – ungeachtet der Unterschiede zwischen ihnen« (ebd.: 12). Politische Gleichheit gilt »als das fundamentalste Prinzip einer demokratischen Ordnung« (Bödeker 2012: 39), sie impliziert ein »Versprechen des Staates, die Bedürfnisse und Interessen seiner Bürger im gleichen Maße zu berücksichtigen« (ebd.: 5).

Über die Frage »Was stimmt nicht mit der Demokratie?« (Ketterer und Becker 2019) sind in den vergangenen Jahren vielschichtige Debatten geführt worden (Celikates 2010; Crouch 2008; Eberl und Salomon 2016; Mouffe 2011; Rancière 2010; Ritzi 2014; Schäfer 2008; Streeck 2013; Book et al. 2020b). Im impliziten Dialog mit diesen Debatten – ohne sie jedoch im Einzelnen zu rekonstruieren – wird im folgenden Kapitel die Frage der Ohnmacht als Problem der Demokratie in den Mittelpunkt gestellt. Politische Ohnmacht, so die These, zeigt sich in fünf zentralen Erscheinungsformen: Als Ohnmacht gegenüber dem eigenen Ausschluss aus dem Volk (Kapitel 2.1), gegenüber verhärteten Staatsapparaten (Kapitel 2.2), gegenüber begrenzten Einfluss- und Wahlmöglichkeiten (Kapitel 2.3), gegenüber einer verzerrenden Öffentlichkeit (Kapitel 2.4) und gegenüber der eigenen Anteilslosigkeit (Kapitel 2.5). Um die verschiedenen Formen der Ohnmacht herauszuarbeiten, werden mit dem autoritären Populismus sowie staatstragenden, liberalen, deliberativen und radikaldemokratischen Demokratietheorien fünf Verständnisse von Volksherrschaft skizziert – und in Bezug auf das mit ihnen verknüpfte, jeweils in spezifischer Form gebrochene Versprechen politischer Teilhabe hin untersucht. Sie werden dazu mit empirischen Befunden ungleicher politischer Teilhabe konfrontiert.

Dabei wird sichtbar, dass zwischen Ohnmacht und Ungleichheit ein enger Zusammenhang besteht. Ohnmachtserfahrungen entstehen entlang gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, patriarchalen Geschlechterverhältnissen oder kapitalistischen Klassenbeziehungen. Sie treten signifikant häufiger bei Frauen auf, bei denjenigen, die von Rassismus betroffen sind oder bei Armutsbetroffenen und prekär Beschäftigten: »Die postulierte […] Gleichheit der mit gleichen Rechten ausgestatteten Bürger wird durch […] Ungleichheit systematisch untergraben und das zugrunde liegende Versprechen auf gleiche Teilhabe permanent gebrochen« (Voigtländer 2015: 16). Demokratie, so der Verdacht, scheitert alltäglich daran, ihre eigene Existenzbedingung – nämlich politische Gleichheit – zu (re)produzieren.

Eine politische Handlungsfähigkeit der Individuen, aus denen sich der demos zusammensetzt, kann dadurch nicht per se als gegeben vorausgesetzt werden. Sie ist eine Frage der – je nach sozialer Position in der Gesellschaft spezifischen – materiellen Lebensbedingungen und alltäglichen Erfahrungen. Die Folgen des gebrochenen Versprechens politischer Teilhabe für die Demokratie sind gravierend: Während auf der einen Seite Bedürfnisse nicht nur nicht repräsentiert, sondern teilweise nicht einmal mehr als politische Forderungen artikuliert werden, werden auf der anderen Seite die staatlichen Institutionen immer selektiver responsiv. Es entstehen miteinander verwobene Teufelskreise, in den sich politische Ohnmacht und institutionelle Verhärtungen wechselseitig verstärken. Demokratie wird dadurch existenziell gefährdet (Kapitel 2.6).

2.1Ohnmacht gegenüber dem eigenen Ausschluss aus dem Volk. Was die Ideologie des autoritären Populismus über ungleiche politische Teilhabe in der Demokratie verrät

Eine erste Erscheinungsform von Ohnmacht in der Demokratie zeigt sich besonders ausgeprägt mit Blick auf autoritär-populistische Ideen politischer Legitimität, die zwar auf das Volk verweisen, ohne dabei jedoch demokratisch zu sein (Book et al. 2020a): Die Ohnmacht gegenüber dem eigenen Ausschluss aus dem Volk. Diese Form der Ohnmacht entsteht dadurch, dass in einer von Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogenen Gesellschaft die Definition des demos und die Frage, welche Forderungen zählen und welche nicht, immer schon ein machtvoller und sozial selektiver Prozess ist. Diejenigen, die in diesem Zuge ausgeschlossen werden, deren Stimmen nicht zählen, haben aufgrund der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nur begrenzt die Möglichkeit, ihren eigenen Ausschluss zu problematisieren und die Grenzlinien, die ihn hervorrufen und aufrechterhalten, erfolgreich zu destabilisieren. Die komplementäre Regierungstechnik zu dieser Form der Ohnmacht ist Usurpation des Volkwillens durch die politische Führung, die die vielfältigen Einzelwillen des demos gewaltsam auf die Simulation eines homogenen Volkswillens reduziert.

In autoritär-populistischen Diskursen wird Volksherrschaft als Ausdruck eines als homogen verstandenen Volkswillens oder Willens der Mehrheit des Volkes durch die politische Führung gefasst. Es wird eine Identität von Regierenden und Regierten suggeriert, durch die die politische Führung unvermittelt als Stimme des Volkes sprechen zu können scheint (Bettarini et al. 2013: 164-165; Demirović 2018: 36; Dörre 2018: 47). Mit dieser Begriffsbestimmung geht in der Regel das Staatsprojekt eines plebiszitären Autoritarismus einher, das in einem schleichenden Prozess Verfahren zur Ermittlung eines empirischen Mehrheitswillens und intermediäre Verfahren der liberalen Demokratie außer Kraft setzt (Sadurski 2018: 69). Den plebiszitären Elementen kommt dabei in erster Linie nur noch die Funktion zu, bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse per Akklamation zu bestätigen (Rödel et al. 1990: 140; Enyedi 2016). Rechte, die einen effektiven Einspruch gegen die politische Führung ermöglichen (z.B. Demonstrations- oder Koalitionsfreiheit), werden hingegen eingeschränkt (Gonzales 2017: 148). Leitbild ist eine »identitäre[…] Verschmelzung des Volkes mit seiner Regierung« (Rödel et al. 1990: 140).

Obwohl er sich als Volksherrschaft begreift, ist das Versprechen demokratischer Teilhabe im autoritärem Populismus weitgehend inexistent. Es wird nur in verkümmerter Form im Sinne gefühlter Repräsentationsbeziehungen aufgerufen. Politik besteht nicht in der Aushandlung politischer Interessenskonflikte, sondern darin, dem ›wahren‹ Willen des Volkes, der vermeintlich über einen ›gesunden Menschenverstand‹ erspürt und unmittelbar artikuliert werden kann, zum Ausdruck zu verhelfen (Huke 2018). Der Wille des Volkes kann allein dadurch gewährleistet werden, dass die politische Führung im Sinne des ›wahren‹ Interesses des Volkes spricht. Da der Volkswille vermeintlich unmittelbar ersichtlich ist, bedarf Volksherrschaft keiner »kommunikative[n][…] Verkehrsformen und Verfahren« (Bieling 2015: 63) und intermediären Mechanismen (z.B. Wahlen und parteipolitischer Repräsentation) mehr. Ob der imaginierte Volkswille mit dem realen empirischen Mehrheitswillen der Bevölkerung übereinstimmt, ist im autoritären Populismus weitgehend nebensächlich. Nicht der empirische Volkswille begründet somit die politische Praxis, sondern die politische Praxis definiert den Volkswillen.

›Illiberale Demokratie‹ und ›wahre Demokratie‹ für die nationale Volksgemeinschaft erweisen sich auf den zweiten Blick daher rasch als Chiffren für antidemokratischen Autoritarismus (Enyedi 2016; Botsch 2017): Demokratie wird durch ein homogenes und vor-empirisches Verständnis eines (gefühlten) Volkswillens eliminiert. Moderne Gesellschaften, so eine über unterschiedliche theoretische Grundprämissen weitgehend geteilte Annahme gegenwärtiger Demokratietheorien, können »nicht als ein kollektiver Akteur in Erscheinung treten, sondern [sind] in sich vielfältig gespalten und durch konkurrierende Interessenlagen und Identitäten gekennzeichnet […], deren politische Artikulation spezifischer kommunikativer Verkehrsformen und Verfahren bedarf, um demokratischer Qualitätsstandards gerecht zu werden« (Bieling 2015: 63). Der Willen des Volkes entzieht sich dadurch notwendig einer einheitlichen Repräsentation: »Die Position der Macht, die ehedem der Monarch und zuletzt der unselige Führer verkörperten, und die durch den Rückbezug auf eine ehrwürdige Tradition, das Gottesgnadentum oder auch den Mythos der Einheit von Volk und Führer gerechtfertigt worden war, bleibt heute symbolisch leer« (Rödel et al. 1990: 43). Im autoritären Populismus werden die vielfältigen und sich einer Repräsentation entziehenden Einzelwillen, aus denen sich der demos zusammensetzt, diskursiv auf einen homogen gefassten ethnos reduziert, dem ein einheitlicher Wille zugeschrieben wird. Das ›Volk‹ wird »zu einer imaginären Gemeinschaft, zu einer moralischen Kategorie und zu einem verehrungswürdigen Objekt« (Flecker et al. 2005: 4), wodurch kein Raum für Interessenkonflikte vorhanden ist. Die Bevölkerung wird »als passives Opfer übermächtiger Gegner« (ebd.: 22) konstruiert, die autoritär-populistische Führung erstrahlt vor dieser Kontrastfolie in einem messianischen Licht.

Die Idee eines homogenen Volkswillens lässt sich nur aufrechterhalten, wenn all diejenigen Bedürfnisse, Forderungen und Subjekte, die nicht mit diesem übereinstimmen, ausgeschlossen, delegitimiert und unsichtbar gemacht werden. Autoritärer Populismus ist dadurch notwendigerweise durch Exklusion, Ungleichheit und eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten charakterisiert. Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse und ihre alltäglichen Ausdrucksformen (z.B. soziale Ungleichheit, rassistische Diskriminierung, patriarchale Gewalt) werden diskursiv legitimiert und dadurch gesellschaftlich normalisiert (d.h. demokratischen Aushandlungsprozessen entzogen): »Um Zweifeln an der eigenen Privilegiertheit entgegenzutreten, wird zunehmend auf ein rassistisches, sexistisches und schichtspezifisches [klassistisches] Repertoire zurückgegriffen, um in einer Gesellschaft, die sich eigentlich der Norm der Gleichheit verschrieben hat, die eigene hierarchische Position zu erhalten und zu begründen« (Foroutan 2019: 155). Autoritärer Populismus richtet sich dabei sowohl unmittelbar gegen diejenigen, die gleichberechtigte Teilhabe einfordern, als auch gegen all jene Aushandlungsprozesse und -politiken der liberalen Demokratie, die eine Ausweitung von Gleichberechtigung und eine Infragestellung als normal erscheinender Privilegien ermöglichen (ebd.: 192).

Im Zuge der offensiven Verteidigung der real existierenden gesellschaftlichen Ungleichheit wird das demokratische Versprechen gleicher Partizipation und Teilhabe ausgesetzt (Foroutan 2019: 44). Diejenigen, die als politische Gegner eingeordnet werden (z.B. »Feminazis«, »linksgrün Versiffte«, »Merkelianer«, »Gutmenschen« usw.) oder nicht dem biologistischen Verständnis von Staatsbürgerschaft entsprechen werden als »Ausländer« oder »Volksverräter« rhetorisch aus dem demos ausgeschlossen und zu »Feinden« erklärt (ebd.: 123; Huke 2018, 2019a). Rassistische Stereotype werden ein »entscheidende[s] Erkennungsmerkmal der Zugehörigkeit« (El-Tayeb 2003: 133) zum Volk. Rechte, die eine Teilhabe vulnerabler Gruppen sichern (z.B. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsregelungen), werden von autoritär-populistischen Akteur*innen systematisch angegriffen und – wo möglich – abgebaut (Gonzales 2017: 148). Teil dieser Politik der Feindschaft sind »›quasi-paranoide‹ Misanthropie« (Thompson und Horton 1960: 191) auf der einen und narzisstische Selbstüberhöhung (Yendell et al. 2018) auf der anderen Seite, die ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber dem sozialen Umfeld zur Folge haben (Huke 2019b). Neben Rassismus sind auch eine »starke Identifikation mit dem Leistungsprinzip […] [und] die Stigmatisierung jener als ›arbeitsscheu‹, die auf Sozialleistungen angewiesen sind« (Flecker et al. 2005: 23) sowie die Abwertung von Frauen (Sauer 2017) Kernelemente des autoritären Populismus. Sein Kennzeichen ist damit ein selektiver Volksbegriff, in dem nur diejenigen Subjekte und Forderungen, die politisch opportun erscheinen (und auch diese nur, solange sie politisch opportun erscheinen), zum Volk gezählt werden.

Politische Gleichheit ist in diesem Verständnis von Volksherrschaft selbst für diejenigen, die rhetorisch ins Volk eingeschlossen werden, nur Simulation: Über den Volkswillen entscheiden im Zweifelsfall stets diejenigen, die die politische Führung innehaben. Als legitime demokratische Artikulation gilt allein die politische Position der Führung – die gleichzeitig stets den ›wahren‹ Volkswillen repräsentiert. Der »autoritative[…] Glauben an ›wahre Einsichten‹ und ›richtige Lösungen‹« (Rödel et al. 1990: 104) tritt an die Stelle der – im Institutionengefüge der repräsentativen Demokratie implizit institutionell verankerten – grundlegenden Einsicht der Aufklärung, dass »menschliche Vernunft fallibel und die Anwendung vernünftiger Prinzipien in gesellschaftlichen Konfliktlagen uneindeutig ist« (Rödel et al. 1990: 104). An die Stelle von pluraler Konfliktaushandlung und Deliberation als Leitprinzipien treten »Einhelligkeit und Homogenität, die sich immer als fiktiv erweist und auf Akten des Ausschlusses basiert« (Mouffe 2015: 35). Zentrales Element von Politik wird die »Möglichkeit der ›Vernichtung‹, der ›Ausscheidung‹ des ›Anderen‹ und des ›Heterogenen‹« (Rödel et al. 1990: 137). Die Option »der Gewaltanwendung bis hin zur Auslöschung des Gegners, der als Feind gesehen wird, ist in diese Form des Antagonismus mit eingepreist« (Foroutan 2019: 192). Autoritärer Populismus ist daher ein »unverhohlener Angriff auf […] die liberale, offene, plurale Demokratie […], mit dem revisionistischen Ziel der Etablierung einer Vorstellung von Einheitlichkeit, die in der Vergangenheit gesucht wird – ›als alles noch klarer war‹« (ebd.: 115).

Grafik 1: Teufelskreis aus imaginiertem Volkswillen und der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Ausschluss aus dem Volk

Quelle: Eigene Darstellung

Indem der Volkswille exklusiv und explizit exkludierend konzipiert wird, wird eine Artikulation all derjenigen Erfahrungen, die im gleichen Atemzug verworfen werden, systematisch erschwert. Sie erscheinen als illegitim, schädlich oder anmaßend. Interessenkonflikte werden durch Vorgaben des wahren Volkswillens ›von oben‹ desartikuliert. Neben bestimmten Erfahrungen werden auch Teile des demos aus dem Volkskörper ausgeschlossen und zu Feinden erklärt. Die politische Teilhabe der Betroffenen wird dadurch – je nachdem wie stark autoritär-populistische Positionen in der Öffentlichkeit repräsentiert sind – erschwert oder sogar verhindert. Ergänzend werden repressive Staatsapparate gegen oppositionelle Positionen mobilisiert. In der Folge entsteht ein Teufelskreis zwischen der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Ausschluss aus dem Volk und der Usurpation des Volkwillens durch die politische Führung. All jene, die sich nicht im imaginierten Volkswillen wiederfinden – oder von diesem sogar explizit zu ›Anderen‹ erklärt werden, werden marginalisiert oder ausgeschlossen. Indem sie abgewertet und jenseits des Volks verortet werden, erscheint ihre politische Teilhabe als nicht oder kaum legitim. Je stärker dieser Exklusionsprozess entlang von Macht- und Herrschaftsverhältnissen gelingt, umso weniger wird sichtbar, wie selektiv der von der politischen Führung propagierte vermeintliche Volkswille de facto ist. Je weniger die Ausschlussmechanismen sichtbar werden, als umso legitimer erscheint die politische Führung, was wiederum den Ausschluss all derjenigen befördert, die im autoritären Populismus nicht zum Volk gezählt werden.

2.2Ohnmacht gegenüber verhärteten Staatsapparaten. Staatstragende Demokratieverständnisse und die Frage der strategischen Selektivität

Eine zweite Erscheinungsform der Ohnmacht in der Demokratie zeigt sich mit Blick auf Demokratieverständnisse, die Demokratie durch die bestehenden staatlichen Institutionen verkörpert sehen – und daher als »staatstragend« (Huke und Schlemermeyer 2012) bezeichnet werden können: Die Ohnmacht gegenüber verhärteten Staatsapparaten. Diese Form der Ohnmacht ist der Effekt eines Machtungleichgewichts zwischen dem Staat und den Individuen des demos: Die staatlichen Institutionen treten den Einzelnen nicht als Ermöglichungsbedingung der eigenen politischen Artikulation, sondern als entfremdete Macht gegenüber, auf die kaum ein oder kein Einfluss besteht. Die Möglichkeiten, die Institutionen zu verändern oder zu demokratisieren scheinen verstellt. Die komplementäre Regierungstechnik dieser Form der Ohnmacht sind verhärtete staatliche Institutionen, die starken Eigenlogiken folgen, diese jedoch dadurch verschleiern, dass sie sich als Verkörperung nicht nur des Volkswillens, sondern auch der Demokratie inszenieren. Demokratie wird damit durch den Staat usurpiert.

In staatstragenden (oder »wehrhaften«) Demokratieverständnissen ist es anders als im autoritären Populismus nicht die politische Führung, sondern es sind die bestehenden staatlichen Institutionen und bürokratischen Verfahrensweisen, die Demokratie (bzw. Volksherrschaft) verkörpern. Demokratie ist hier »vor allem eine die individuelle Freiheit gewährende und sichernde Ordnungsstruktur« (Bieling 2015: 66). Sie weist eine »genuine Nähe zu staatlichen Institutionen« (Eigenmann und Studer 2015: 84) auf, während die Selbstbestimmung des demos »einem etatistischen Herrschaftskalkül untergeordnet« (Demirović 2013: 208-209) wird. Als demokratische Ordnungsstruktur wird »eine nationalstaatlich verfasste, parlamentarisch-repräsentative Herrschafts- und Regierungsform verstanden, die über bestimmte politische Prozedere und Institutionen umgesetzt wird« (Lösch 2013: 125). Grundgesetz, Mehrheitsregel, Parteiensystem, Parlamentarismus und liberale Freiheitsrechte gelten als hinreichende und »vermeintlich endgültige Beantwortung der demokratischen Frage« (Rödel et al. 1990: 38). Die Institutionen werden dadurch »versteinert und untransformierbar gemacht« (Mouffe 2015: 46). Die Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die in sie eingeschrieben sind, werden einer demokratischen Aushandlung entzogen (ebd.). Folge sind »Momente der Fremdbestimmung und der politischen Entmündigung« (Rödel et al. 1990: 121). Politik folgt den institutionellen »Imperative[n] eines abstrakten Normensystems, das nur in einem sehr vermittelten und vielfach gebrochenen Sinne durch ›das Volk‹ legitimiert ist« (Dubiel 1986: 34).

Die politische Partizipation des demos spielt in staatstragenden Demokratieverständnissen für Machtausübung eine relativ marginale Rolle (Little 2010: 973). Demokratie wird »fast gänzlich mit dem Rechtsstaat« (Mouffe 2015: 21) identifiziert, während dem »Element der Volkssouveränität« (ebd.) nur eine nachgeordnete Bedeutung eingeräumt wird oder es sogar »aufgegeben worden zu sein scheint« (Mouffe 2011: 3-4). Nicht der demos und dessen politische Teilhabe, sondern der Staat und seine Institutionen verkörpern die Demokratie. Dem Personal in den staatlichen Institutionen kommt »die Aufgabe zu, die Werte und Prinzipien zu verkörpern, die vor aller demokratischen Disposition unbedingte Geltung beanspruchen« (Rödel et al. 1990: 13).1 Die Frage demokratischer Legitimität wird durch die Identifikation von Demokratie mit dem Staat

»auf den staatlichen Kopf gestellt. Es sind nicht mehr die politischen Institutionen, die sich vor ihren Bürgern rechtfertigen müssen. Die Bürger selbst sind vielmehr legitimationspflichtig, wenn sie die staatlichen Organe mit Erwartungen und Forderungen konfrontieren, die in deren vordemokratisch eingestanzten Wert und- Leistungskatalogen noch nicht vorkommen. Diese Legitimationspflicht äußert sich in Geboten der Verfassungs- oder Staatstreue.« (Rödel et al. 1990: 13-14)

In der Folge werden all jene zum Problem, die den Staat – jenseits der für Opposition vorgesehenen innerstaatlich institutionalisierten Prozeduren – kritisieren und in Frage stellen – auch die »unordentlichen, aber unbedingten Demokraten« (Rödel et al. 1990: 44), die eine Demokratisierung der Demokratie einfordern oder zivilen Ungehorsam gegen autoritäre Entwicklungen leisten:

»Noch die erstaunlich stabile und erfreulich freiheitliche parlamentarisch-repräsentative Demokratie der Bundesrepublik erweist ihre Streitbarkeit immer wieder in der Abgrenzung gegen Weimar und in der Ausgrenzung von ›Staats‹- und ›Verfassungsfeinden‹, von ›Extremisten‹ und ›Radikalen‹, mit der Tendenz, nicht nur verfassungskonformes Handeln, sondern eine staatstreue Gesinnung einzufordern, und mit der Gefahr, den öffentlichen Streit der Meinungen, das Lebenselixier einer freiheitlichen Demokratie, in die Fesseln von Loyalitäts, Mäßigungs- und Ausgewogenheitspflichten zu schlagen.« (Rödel et al. 1990: 24)

Nur diejenigen

»sollen gleich sein, denen die selbsternannten Hüter der institutionellen politischen Ordnung Treue zur Verfassung oder zum Staat bescheinigen. Den anderen aber wird das Recht genommen, gleiche Rechte zu haben. […] Mag sich die Verfolgung von ›Verfassungsfeinden‹ auch zunächst nur an Handlungen orientieren und den aggressiven Kampf gegen die Verfassung oder eine strafbare Tätigkeit voraussetzen, so treibt die Logik eines Verfassungsschutzes von oben ihre Zensurmaßnahmen alsbald in die Sphäre des Meinens und markiert etwa Systemkritik oder auch bereits die bloße Rede von politischer Zensur oder Berufsverboten als verfassungsfeindlich.« (Rödel et al. 1990: 171)

Die Öffentlichkeit ist somit durch das politisch vorkonfiguriert, was für die staatlichen Institutionen und innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen legitimerweise sagbar ist und was nicht. Werden staatliche Institutionen als »elitär zu verwaltende, wehrhafte Bollwerke [konzipiert], die verhindern sollen, daß der Wille des Volkes jemals ungefiltert auf die Ebene staatlicher Entscheidungen durchschlägt« (Rödel et al. 1990: 17), so droht eine »›Demokratie ohne demos‹, in der die staatlichen Dispositive sich selbst regieren […]. Über Expertentum, Verrechtlichung und die Konstruktion von Sachzwängen wird der politische Konflikt in einen ›postpolitischen‹ Konsens überführt, in dem Widersprüche und soziale Gegensätze weitgehen negiert werden« (Nachtwey 2016: 92). Institutionell verfestigt sich dadurch ein »Gegensatz zwischen denjenigen, die in Wort und/oder Tat die Politik machen und den übrigen, die sie erleiden« (Bourdieu 1987: 699).

Stillschweigend geben staatstragende Demokratieverständnisse »den Bereich der realisierten Möglichkeiten als den aller potenziellen Möglichkeiten aus[…] und [schließen] auf diese Weise den Bereich des politisch Denkbaren ab[…]« (Bourdieu 1987: 719-720). Zivilgesellschaft wird in erster Linie als Appendix der Staatsapparate gedacht. Ihre Aufgabe ist es nicht, Konflikte – gegen die staatlichen Institutionen – artikulierbar zu machen, sondern sie soll als »komplementäre Kraft« (Engels 2004: 2) gesellschaftliche Kohäsion und den »Zusammenhalt in unserer Gesellschaft« (ebd.: 3) befördern. Zivilgesellschaftliches Engagement wird dadurch domestiziert (Biesta 2011: 142). Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und zivilgesellschaftliches Engagement werden gezielt in den Dienst des Staates gestellt und »geradezu von ›oben‹ verordnet. […] In diesem Zuge verliert die Zivilgesellschaft ihr demokratisierendes Potential, denn es handelt sich um gewährte Partizipation« (Lösch 2013: 111). Erwünscht ist lediglich Engagement, dass sich aus dem »politischen Geschäft […] heraushält« (van Dyk und Misbach 2016: 219).2 Zivilgesellschaftliche »Organisationen, Aktivitäten und Beteiligungspraktiken [werden in diesem Zusammenhang] zu einem Bestandteil einer neuen Herrschaftsarchitektonik« (Demirović 2013: 204). Es entsteht ein »zivilgesellschaftliches Regierungsdispositiv« (ebd.), das staatliche Formen der Machtausübung stützt und stabilisiert. Die Bürger*innen werden dadurch an den Staat gebunden, die Akzeptanz der politischen Ordnung wird gestärkt (Ransford 1968: 582).

Für die politische Teilhabe des demos halten staatstragende Konzeptionen von Demokratie eine regelmäßige Kontrolle (und gegebenenfalls den Austausch) des Führungspersonals durch freie und gleiche Wahlen für ausreichend (Beetham 1992: 47):

»[I]n its real form democracy amounts at best or as an ideal goal to the minimal practice in which each citizen-individual exercises an equal vote of equal value in choosing representatives for a parliament that will decide policy for all those in the state. Then the citizen goes home to attend to her private affairs. The elected representatives in a parliament make the laws for all.« (Davidson 2015: 19)

Die »Bürgerinnen und Bürger gestalten ihre politischen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse also nicht unmittelbar […], sondern […] mittels periodisch wiederholter Wahlentscheidungen« (Engels 2004: 1). Das politische System wird wesentlich »auf seinen repräsentativen Teil reduziert. […] Wahlrecht, Parteien, Parlament, Regierung etc. [bilden] den Schwerpunkt demokratischer Legitimation« (Ottersbach 2015: 289). Politische Teilhabe wird »eingeengt auf Partizipation in den Institutionen des politischen Systems« (Geiling 2013: 368), die von professionellen Politikdienstleistern dominiert werden (Fenichel Pitkin und Shumer 1982: 44). Politik wird wesentlich auf »die parlamentarische Auseinandersetzung und auf den Kampf der Parlamentsparteien untereinander« (Agnoli 1968: 28) reduziert. Es scheint, »als könnten Parteien, Parlamente und repräsentative Verfahren nicht hinweggedacht werden, ohne daß jegliche demokratische Ordnung entfiele« (Rödel et al. 1990: 44).

Als ideale*r Staatsbürger*in gilt die Figur eines »›pflichtbewussten Bürger[s]‹ [dem es] […] besonders wichtig [ist], immer wählen zu gehen, niemals Steuern zu hinterziehen, Gesetze und Bestimmungen zu befolgen, notfalls Militärdienst zu leisten und zu verfolgen, was seine Regierung tut« (Bödeker 2012: 13). Der*die Staatsbürger*in weiß dabei,

»daß er sich nicht mit allen Maßnahmen der Politik und mit allen Politikern zufrieden zu geben braucht. Er verfügt gegenüber der öffentlichen Gewalt und deren Polizeivollzugsbeamten über ein ›bestimmtes Maß an Würde‹. Er besitzt das kostbare Recht, personelle Veränderungen vorzunehmen – sofern diese von den Führungsgruppen selbst vorgeschlagen werden.« (Agnoli 1968: 47)

Wird Demokratie mit den bestehenden staatlichen Institutionen identifiziert, wird damit in zweierlei Hinsicht Ohnmacht hervorgerufen: Erstens werden all jene Bedürfnisse, Interessen und Forderungen, die nicht auf dem Terrain des Staats repräsentiert werden – und möglicherweise auch nicht innerhalb der bestehenden Institutionen repräsentierbar sind – unsichtbar gemacht und tendenziell de-legitimiert. Die institutionellen Verfahren der repräsentativen Demokratie kennzeichnet eine spezifische Härte. Als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse etablieren sie unterschiedliche Artikulationschancen für verschiedene gesellschaftliche Bedürfnisse, Interessen und Forderungen. Die »strategische Selektivität« (Jessop 1999) der Institutionen begünstigt bestimmte Positionen und erschwert es bei anderen, diese zu artikulieren. Demokratie ist damit stets partikular und unabgeschlossen. Zweitens werden all jene, die vom Staat nicht als legitimer Teil des demos anerkannt werden, aus einer politischen Konfliktaushandlung ausgeschlossen. Historisch waren davon unter anderem Frauen betroffenen, gegenwärtig sind vor allem das Staatsbürger*innenschaftsrecht und die durch dieses konstituierten stratifizierten Bürger*innenschaftskategorien (von ›Illegalisierten‹ über ›Geduldete‹ bis hin zu ›Deutschen‹) zentral. Relevanten Teilen der Bevölkerung bleibt dadurch eine politische Teilhabe innerhalb der – staatlich konstituierten – Verfahrensweisen der repräsentativen Demokratie weitgehend verschlossen.

Der erste Effekt lässt sich als Problem der strategischen Selektivität (Jessop 1999) der Staatsapparate – und der institutionellen Ordnung der Demokratie – fassen. Staatliche Institutionen sind politisch nicht neutral, sondern (re)produzieren ungleiche gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Gesellschaftliche Interessen werden, wenn sie auf das Terrain des Staates überführt werden, verdichtet und verschoben. Der Staat bietet für einige Interessen privilegierte Zugänge und Artikulationsmöglichkeiten, während er sich für andere nur begrenzt als anknüpfungsfähig erweist (Georgi und Kannankulam 2012: 3). Innerhalb seiner Apparate sind nicht alle Interessen gleichermaßen repräsentiert und repräsentierbar. Hierarchien, bürokratische Mechanismen und vorausgesetzte Expertise wirken als Selektionsinstrumente, die auswählen, wer legitimerweise politisch teilhaben – und Interessen artikulieren – kann und wer nicht (Fenichel Pitkin und Shumer 1982: 44). Da die staatlichen Institutionen auf gesellschaftlicher Ungleichheit begründet sind, sind sie »durch sedimentierte Formen von Machtverhältnissen bestimmt« (Mouffe 2007: 46). Als »materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« (Poulantzas 2002: 159) sind sie »Ausdruck der vorherrschenden Hegemonie« (Mouffe 2015: 22). Die staatlichen Institutionen stabilisieren dadurch gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse eher, als sie zu durchbrechen (Eigenmann und Studer 2015: 100; Book et al. 2020b).3 Demokratische Institutionen und Verfahren lassen sich vor diesem Hintergrund als »konflikthafte Praxen [begreifen], die die notwendigen Kompromisse zwischen den konfligierenden sozialen Kräften verstetigen« (Sauer 2019: 60). Repräsentation organisiert die bestehenden »sozialen Ungleichheiten, Konflikte und Auseinandersetzungen in politisch stabilen Formen und Institutionen« (Sauer 2019: 60). Die staatlichen Institutionen ermöglichen dadurch »die Entlastung und Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse; unter Bedingungen sozialer Ungleichheit leisten [sie] einen Beitrag zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse« (Eigenmann und Studer 2015: 97).

Der Staat – und diejenigen, die in ihm agieren – entwickeln jedoch auch eigene Dynamiken, die Trennungslinien zum demos etablieren. Den bürokratischen Praktiken und institutionalisierten politischen Prozeduren wohnen Eigenlogiken und Sachzwänge inne, durch die sie kontinuierlich dazu tendieren, sich gegenüber dem demos zu verselbstständigen (Huke 2017).4 In der Folge erweisen sich etwa Parteimitgliedschaft und die Kandidaturen für politische Ämter als hochgradig sozial stratifiziert (Elsässer 2018: 59). Parlamente und Parteien lassen sich

»kaum als Orte einer deliberativen Entscheidungsfindung betrachten. Die Abgeordneten kennen die konkreten Lebensverhältnisse derer, die sie angeblich repräsentieren, also die Angehörigen des Volkssouveräns, kaum. Mit etwas Geschick und Anpassung können sie über Jahrzehnte im Parlament verbleiben und können für diesen Positionserhalt öffentliche Mittel einsetzen, die sie als Abgeordnete erhalten. Sie leben von der Politik, nicht für die Politik, und sie sind deswegen vielfach von den Entscheidungen der Fraktions- und Parteispitzen abhängig.« (Demirović 2013: 202)

Die staatlichen Institutionen bieten dadurch nicht nur die Chance repräsentiert zu werden, sondern (re)produzieren systematisch Ohnmachtserfahrungen – für diejenigen, die nicht repräsentiert werden und nicht das Gefühl haben, sich innerhalb der bestehenden institutionellen Ordnung politisch beteiligen zu können (Fenichel Pitkin 2004: 339). Der Staat wird von ihnen »nicht mehr nur [als] enteignete und entfremdete, sondern vielfach auch feindliche Institution angesehen, die für die Durchsetzung eigener Interessen kaum mehr genutzt werden kann« (Menz et al. 2013: 48). Der demos wird passiviert und den staatlichen Entscheidungen ausgeliefert (Fenichel Pitkin 2004: 339). Bürger*innen, »die sich kaum noch von den politischen Eliten verstanden und respektiert fühlen, ziehen sich nachweislich aus den demokratischen Beteiligungsverfahren zurück« (Jörke 2011: 15). Sie bleiben »aus der Verwaltung und Regelung ihrer eigenen öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen« (Agnoli 1968: 43). Die institutionalisierten Entscheidungsmechanismen können somit relativ ungestört ausgeführt werden (Finifter 1970: 406). Die politische Willensbildung ist vor diesem Hintergrund »kein originäres Recht der großen Mehrheit der Bevölkerung […], sondern [wird] ›nachträglich‹ […] im Nachvollzug der von Führungsgruppen angebotenen Alternativen ins Volk hineinprojiziert« (Agnoli 1968: 15).

Der zweite Effekt verweist auf das Problem der Staatsbürger*innenschaft. Demokratie und Bürger*innenrechte entstanden in einem von Rassismus, sozioökonomischer Ungleichheit und patriarchalen Strukturen geprägten Kontext (Bhambra 2019: 47). Zunächst von politischer Teilhabe ausgeschlossene Gruppen wie Besitzlose, Frauen oder Schwarze wurden dadurch erst nachträglich infolge sozialer Kämpfe inkludiert, wodurch sich die »Idee der Gleichheit radikalisiert und universalisiert« (ebd.: 44; vgl. auch Köster-Eiserfunke et al. 2014). Politische Partizipationsrechte sind jedoch in staatstragenden Demokratieverständnissen eng an die Nationalität und einen entsprechenden Pass gekoppelt (Davidson 2015; Geisen 2015: 65). Der Pass trennt dadurch diejenigen, die teilhaben können von denjenigen, die nicht dazugehören (Davidson 2015: 26). Mit dem »Ausschluss und der Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten von politischer Partizipation [wird] gegen das politische Gleichheitsprinzip […] verstoßen« (Geisen 2015: 78). Staatsangehörigkeit wird dabei vielfach – zumindest auch – »als Ausdruck einer besonderen Kultur- und Wertegemeinschaft verstanden« (ebd.: 73), wodurch das Verständnis des demos ethnisiert (d.h. im Sinne von ethnos verstanden) wird. So existierte in Deutschland »mit dem ius sanguinis noch bis 2000 der Gedanke einer Abstammungsgemeinschaft« (Scherschel 2018: 125).5 Dieses identitäre Verständnis von Staatsbürger*innenschaft erweist sich als relativ fest verankert, auch da es »durch politische, mediale und pädagogische Diskurse immer wieder erneut eingeschrieben [wird]« (Scherr 2015: 49). In stark durch Migration geprägten Stadtvierteln sind dadurch große Teile der erwachsenen Bevölkerung von demokratischer Teilhabe weitreichend und dauerhaft ausgeschlossen. Es entsteht eine Gruppe von

»Personen, die in den Grenzen eines Nationalstaates leben, die entsprechenden staatsbürgerlichen Rechte [aber] nicht im vollen Umfang in Anspruch nehmen kann […]. Dies trifft ganz besonders für Fluchtmigranten zu. Sie leben unter Umständen über Jahre in den Aufnahmegesellschaften, sind aber in formeller Hinsicht nicht an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt, die ihr Leben beeinflussen.« (Scherschel 2018: 125)

Eine demokratische Verfassung, so zeigt dieses Beispiel, »ist kein Garant für eine demokratische Gesellschaft. Auch in demokratischen Staaten bleibt Teilen der ständigen Wohnbevölkerung – verfassungskonform – das Recht an der Teilnahme an politischen Verfahren verwehrt« (Eigenmann und Studer 2015: 83). Wie Stephan Lessenich feststellt, ist der förmliche Ausschluss von der Wahlbeteiligung bei »rund elf Millionen Menschen nicht-deutscher Staatsbürgerschaft, die Ende 2018 hier lebten, […] keineswegs als marginal zu bezeichnen, sondern betrifft eine starke, zwangsläufig schweigende Minderheit« (Lessenich 2019: 44). Äußere und innere Grenzen sichern Räume der politischen Exklusion. Das staatliche Verständnis von Demokratie schließt de facto »durch die äußere Grenze diejenigen aus, die nicht zum politischen Gemeinwesen gehören. Sie hat aber auch innere Grenzen, die diejenigen exkludiert, die zwar im politischen Gemeinwesen leben, diesem aber nicht als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger angehören« (Lösch 2013: 126). Politische Exklusion stellt sich nicht nur über

»staatliche Grenzen und die mit ihnen einhergehenden Ausprägungen staatlich-rechtlicher Subjektivitätsformen [her], sondern darüber hinaus auch in ähnlicher Weise [über] […] die Differenz- und Fremdheitskonstruktionen, mit denen innerhalb einer nationalstaatlich gerahmten Gesellschaft Unterscheidungen zwischen als vollwertig geltenden Normalbürgerinnen und Normalbürgern und denjenigen hervorgebracht und reproduziert werden, die als defizitäre Subjekte gelten und in Positionen relativer Machtlosigkeit verwiesen sind.« (Scherr 2015: 55)

Grafik 2: Teufelskreis aus sich verhärtenden Institutionen und politischer Apathie

Quelle: Eigene Darstellung

Inszenieren sich staatliche Institutionen als Verkörperung der Demokratie, werden innerhalb des Staates nicht oder nur selektiv repräsentierte Bedürfnisse und Forderungen des demos unsichtbar gemacht oder sogar – dort wo sie sich gegen die bestehende Ordnung richten – delegitimiert und repressiv eingeschränkt. Staatsbürger*innenschaft und strategische Selektivitäten der Institutionen gehen gleichzeitig mit ungleichen Artikulationschancen einher. In der Folge entsteht ein Teufelskreis aus Ohnmacht und Verhärtung. Je weniger ein gesellschaftliches politisches Gegengewicht zu den staatlichen Institutionen vorhanden ist, umso wahrscheinlicher wird es, dass Repräsentant*innen sich »der Schwerkraft des politischen Felds völlig ausliefern und dabei die Interessen der Repräsentierten aus dem Blick geraten« (Geiling 2013: 370). Je stärker sich politische Teilhabe auf Wahlen konzentriert, umso mehr läuft Demokratie Gefahr, »dass eine isolierte politische Klasse ohne Rückhalt in der Bevölkerung regiert« (Engels 2004: 1). Auch eine »›Kolonisierung‹ des Staates durch die Interessen von Unternehmen und Verbänden […], so dass wichtige politische Entscheidungen heute außerhalb der traditionellen demokratischen Kanäle gefällt werden« (Mouffe 2011: 3) wird durch politische Apathie in der Bevölkerung wahrscheinlicher. Staatliche Institutionen drohen sich in der Folge zu ›verhärten‹ (Agnoli 2003), wodurch die Kluft zwischen gesellschaftlich vorhandenen und institutionell repräsentierten Interessen vertieft und auf Dauer gestellt wird. Je weniger responsiv Institutionen werden, umso mehr wird politische Apathie befördert. Die strategische Selektivität dessen, was staatlich repräsentiert und repräsentierbar ist, verschärft sich. Da es nur noch schwerer gelingt, sich in politische Entscheidungen einzuschreiben und Ohnmachtserfahrungen gegenüber verhärteten Staatsapparaten verstärkt werden, wird ein weiterer Rückzug aus der Politik von Teilen des demos wahrscheinlich – was potenziell eine weitere Verhärtung der staatlichen Apparate nach sich zieht.

2.3Ohnmacht gegenüber begrenzten Einfluss- und Wahlmöglichkeiten. Liberale Demokratie und das Problem sozial selektiver Responsivität

Mit Blick auf liberale Demokratieverständnisse (Brown 2003), die individuelle Wahlentscheidungen in den Mittelpunkt stellen, zeigt sich eine dritte Erscheinungsform von Ohnmacht in der Demokratie: Die Ohnmacht gegenüber begrenzten Einfluss- und Wahlmöglichkeiten. Wahlen und politische Entscheidungen suggerieren zwar gleiche Beteiligungsmöglichkeiten für alle, de facto erweist sich die Responsivität von Politik – also die Art und Weise, wie und ob sie auf bestimmte Forderungen reagiert – als sozial selektiv. Die politische Beteiligung an Wahlen weist ebenfalls eine soziale Schieflage auf. Den vermeintlich gleichberechtigten Teilhabechancen über Wahlen und demokratische Repräsentation stehen also real ungleiche Möglichkeiten gegenüber, politische Entscheidungen zu beeinflussen und mit den eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen innerhalb der Institutionen repräsentiert zu werden. Die darin sichtbar werdende politische Ungleichheit ist für die Betroffenen schwer zu durchbrechen, da sie institutionell über die Funktionsprinzipien der repräsentativen Demokratie abgesichert wird. Repräsentation generiert vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit eine »Illusion sozialer Gleichheit« (Sauer 2019: 61). Sie bringt gleichzeitig »die BürgerInnen im Akt der Repräsentation zum Zustimmen zu und zum Verstummen gegenüber sozialer Ausgrenzung und Ungleichheit« (ebd.). Diejenigen, deren Stimme im politischen Prozess weniger zählt, haben dadurch nur begrenzt die Möglichkeit, ihre Exklusionserfahrung in öffentliche politische Kritik (z.B. andere Wahlprogramme) zu übersetzen. Die komplementäre Regierungstechnik zu dieser Form der Ohnmacht ist der Diskurs vermeintlich freier und gleicher Individuen, der von kontinuierlich Ungleichheit und Ohnmacht produzierenden gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen absieht – und diese verschleiert.

Liberale Demokratieverständnisse stellen anders als staatstragende Konzeptionen die Individuen des demos und deren politische Entscheidungen in den Mittelpunkt. Grundlage der liberalen Demokratie, argumentiert Foroutan (2019), ist etwa in Deutschland ein pluralistisches Gleichheitsversprechen. Unabhängig von individuellen Eigenschaften und Eigenheiten wird den Einzelnen die Möglichkeit eingeräumt, in politische Konflikte und deliberative Aushandlungsprozesse eintreten zu dürfen und über Ziele und Zukunft der Politik mitzuentscheiden. Kernelemente sind »Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe« und das »Ziel, möglichst alle Bürger*innen in zentralen gesellschaftlichen Prozessen und Positionen zu repräsentieren« (ebd.: 30). Ermöglicht wird dies durch in der Verfassung gewährte Grund, Freiheits- und Partizipationsrechte, die durch Rechtsstaatlichkeit, das Gewaltmonopol des Staates und – so die Theorie – eine gesetzmäßig agierende staatliche Verwaltung abgesichert werden. Die liberale Demokratie etabliert dadurch in ihrem eigenen Selbstverständnis einen Raum, in dem »Machtverhältnisse in Frage gestellt werden und kein Sieg endgültig sein kann« (Mouffe 2015: 31-32). Das zentrale Element der liberalen Demokratie besteht nicht »in der Abwesenheit von Herrschaft und Gewalt […], sondern in der Etablierung einer Reihe von Institutionen, durch die diese eingegrenzt und herausgefordert werden können« (ebd.: 37). Zwischen den politischen Prozessen, in denen sich die Individuen als gleiche Marktinidividuen begegnen, und ökonomischen, sozialen und kulturellen Ungleichheitsverhältnissen besteht in der liberalen Vorstellung eine Sphärentrennung (Fraser 1990: 65). Machtungleichgewichte innerhalb der Gesellschaft geraten dadurch aus dem Blick (Elsässer 2018: 43; Fraser 1990: 64).

Liberalen Konzeptionen von Demokratie liegt eine individualistische Vorstellung rationaler Subjekte zugrunde: »[A]ll human and institutional action [is framed] as rational entrepreneurial action, conducted according to a calculus of utility, benefit, or satisfaction against a microeconomic grid of scarcity, supply and demand, and moral value-neutrality« (Brown 2009: 40). Die Individuen werden dabei als freie Subjekte verstanden: »This mode of governmentality […] convenes a ›free‹ subject who rationally deliberates about alternative courses of action, makes choices, and bears responsibility for the consequences of these choices« (ebd.: 43). Der staatsbürgerschaftliche Idealtyp ist nicht wie in staatstragenden Ansätzen der »pflichtbewusste Bürger«, sondern der (neo)liberale Aktivbürger (bzw. die (neo)liberale Aktivbürger*in):

»The model neoliberal citizen is one who strategizes for her- or himself among various social, political, and economic options, not one who strives with others to alter or organize these options. A fully realized neoliberal citizenry would be the opposite of public-minded; indeed, it would barely exist as a public. The body politic ceases to be a body but is rather a group of individual entrepreneurs and consumers.« (Brown 2009: 43; vgl. auch Woolford und Nelund 2013: 304)

Politische Teilhabe bedeutet vor diesem Hintergrund, dass Staat und die Subjekte des demos marktrational handeln (Brown 2009: 48). Alle Individuen haben hierfür vermeintlich die gleichen formalen Wahlmöglichkeiten (z.B. in Wahlen eine Entscheidung zwischen Parteien – oder für Nichtwahl – zu treffen oder sich aktiv politisch zu beteiligen). Kollektive Entscheidungen setzen sich idealtypisch aus individuellen Entscheidungen zusammen, die Pluralität des demos zwingt die Einzelnen zu Verständigungsprozessen (Thaa 2009: 69; Sauer 2003: 159). Über ihre Wahlentscheidungen und deren parteipolitische Repräsentation sind die Individuen im Staat präsent, ohne selbst präsent zu sein (Fenichel Pitkin 2004: 335). Zwischen den Wahlen behält der demos die negative Macht, Regierende zu beeinflussen, zu bewerten und in Frage zu stellen (Thaa 2009: 69). Konflikte zwischen Regierten und Regierenden müssen dabei »zwar möglich sein, sollten aber im Regelfall nur selten vorkommen« (Elsässer 2018: 25).

Empirisch zeigt sich gegenüber der liberalen Idealvorstellung einer Sphärentrennung zwischen Politik und Gesellschaft, dass der gesellschaftliche »Untergrund sozialer Ungleichheit« (Sauer 2019: 61) das liberale Versprechen gleicher Wahlmöglichkeiten kontinuierlich destabilisiert.6 Der Figur des rationalen, kontinuierlich zwischen unterschiedlichen Optionen wählenden (neo)liberalen Aktivbürgers stehen weitverbreitete politische Passivität und Apathie gegenüber (Campbell 1962: 9). Die formalen Möglichkeiten politischer Partizipation weisen – selbst dort, wo sie Gleichberechtigung zu garantieren beanspruchen – offensichtlich »unsichtbare Grenzlinien« (Ottersbach 2015: 292) auf, durch die sie nur sehr selektiv genutzt werden. Entsprechende Grenzlinien verlaufen entlang gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. So ist nicht nur die Partizipation und Repräsentation von Armutsbetroffenen oder prekären Segmenten der Bevölkerung schwächer ausgeprägt, auch Frauen und potenziell von Rassismus betroffene Menschen sind quantitativ und qualitativ deutlich schwächer repräsentiert (Sauer 2011a: 33; Thompson und Horton 1960: 195; Hofstetter und Buss 1988; Bödeker 2012; Spannagel 2017: 92; Stocker 2014: 16; Norris und Inglehart 2001: 126; Sauer 2019; Hoecker und Scheele 2008; Mikuszies et al. 2010). Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse übersetzen sich nicht nur in ungleiche Repräsentation, auch die Responsivität politischer Entscheidungen weist eine starke soziale Schieflage auf (Elsässer 2018: 58; Zimmermann und Boeckh 2018: 800). Dadurch bleibt »der Wille bestimmter sozialstruktureller Gruppen innerhalb der Bevölkerung dauerhaft beziehungsweise systematisch unbeachtet« (Elsässer 2018: 26). Die Erfahrung vieler Menschen, in der Politik kein Gehör zu finden, hat vor diesem Hintergrund »eine empirisch belastbare Grundlage« (ebd.: 12; vgl. auch Spannagel 2017: 93).

Privateigentum, kapitalistische Akkumulation und Klassenverhältnisse, aber auch patriarchale Geschlechterverhältnisse und rassistische Differenzlinien stellen kontinuierlich Ungleichheit her und verhindern eine gleichberechtigte Teilhabe an demokratischen Prozessen (Sauer 2001; Eberl und Salomon 2016; El-Tayeb 2016). Jenseits eines eng gefassten Raums des Politischen bestehen somit »hierarchische Strukturen und tradierte Befehls- und Gehorsamsverhältnisse, also Zustände verminderter Freiheit fort[…]« (Rödel et al. 1990: 181). Politische Gleichheit wird durch die ungleiche Ressourcenverteilung innerhalb der Gesellschaft unterminiert, durch die sich die Möglichkeiten, jenseits von Wahlen Einfluss auf politische Prozesse nehmen zu können, grundlegend – entlang gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse – unterscheiden (Beetham 1992: 48; Engels 2004: 31; Spannagel 2017). Formale politische Gleichheit kann »mit so eklatanten Unterschieden in der Ressourcenausstattung und der politischen Beteiligung einhergehen, dass das Gleichheitsversprechen der Demokratie zur Illusion verkommt« (Schäfer 2013a: 547). Je nach sozialer Position verfügbare Ressourcen »beeinflussen nicht nur die Möglichkeiten, politisch Einfluss zu nehmen, sondern auch die Bildung des erforderlichen Selbstvertrauens sich politisch zu beteiligen und sich für seine Interessen einzusetzen« (Ottersbach 2015: 293). Marginalisierten und von Ungleichheit betroffenen Gruppen fehlen häufig »die Ressourcen und das Drohpotenzial, um im Verteilungskonflikt auf gesellschaftliche und staatliche Akteure und Institutionen Einfluss zu nehmen und gegebenenfalls Druck aufzubauen« (Voigtländer 2015: 247). In der Folge sind »das politische Interesse, die Wirksamkeitsüberzeugung und die Bereitschaft zur politischen Partizipation bei Angehörigen der Unterschicht deutlich geringer sind als bei denjenigen der Mittel- und Oberschicht« (Ottersbach 2015: 293; vgl. auch Groh-Samberg und Lohmann 2014: 188; Spannagel 2017: 93). Ökonomische und politische Ungleichheit verstärken sich wechselseitig (Mead 2004: 671).

Die Möglichkeit individuell an freien und gleichen Wahlen zu partizipieren, garantiert daher offensichtlich noch keine politische Gleichheit. Umso stärker die Erfahrung ist, politische Prozesse nicht beeinflussen zu können, umso geringer ist die Bereitschaft, politisch aktiv zu werden (Campbell 1962: 18). Betroffene erfahren sich, statt als aktiver Teil des demos, »als den Entscheidungen der Politiker in Regierung und Parlament Unterworfene« (Voigtländer 2015: 234). Das eigene Schicksal scheint einer aktiven Gestaltung entzogen (Mc Dill und Ridley 1962: 207). Politik wird als etwas Lebensfernes wahrgenommen, das nicht durch eigenes Handeln aktiv beeinflusst werden kann (Sauer et al. 2018; Demirović 2013: 198; Engels 2004: 28). Sie erscheint als ein »sich selbst genügendes System, das keinerlei Bezugspunkte zum eigenen Leben aufweist« (Lösch 2013: 122). Keine der zur Wahl stehenden politischen Optionen verspricht im Alltag spürbare positive Konsequenzen (Campbell 1962: 18). Es dominiert die Erfahrung, dass eine »Stimmabgabe nicht den gewünschten Einfluss auf die politischen Entwicklungen hat« (Jörke 2011: 15). Da »[p]olitische Partizipation […] das Mittel [ist], mit dem Bürger/-innen ihre Interessen gegenüber ihrer Regierung kenntlich machen und deren Umsetzung einfordern« (Bödeker 2012, S. 39) ist anzunehmen, dass »die ungleiche Verteilung politischer Partizipation eine direkte Auswirkung auf die Berücksichtigung von Interessen hat« (Bödeker 2012: 39).

Armutsbetroffene und prekäre Segmente der Bevölkerung – zu denen insbesondere auch Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund zählen – haben in den letzten Dekaden an Einfluss auf die und Repräsentation innerhalb der Politik verloren (Elsässer 2018; Schäfer 2015; Voigtländer 2015: 25-26; Schäfer 2013b; Stocker 2014: 4). Die soziale Spreizung der Partizipation nimmt seit den 1970er Jahren deutlich zu (Schäfer 2013a). Unterschiede in der politischen Beteiligung führen dazu, »dass nicht alle Interessen die gleiche Chance haben, im Entscheidungsprozess berücksichtigt zu werden« (ebd.: 553). Parteien werden gleichzeitig »sozial immer homogener – sie sind heute oftmals ein ›Tummelplatz von nach ihrer Bildung und sozialen Stellung besonders ressourcenstarken Bürgerinnen und Bürgern‹« (Elsässer 2018: 14; vgl. auch Bödeker 2012: 31). Sie entwickeln sich zunehmend von Mitgliederorganisationen zu professionellen Politikdienstleistern. Ihr Handeln wird

»marktförmiger […]. Sie sehen sich selbst […] als Wettbewerber, die – beraten von Kommunikationsstrategen und Marketingexperten mit nicht zu leugnenden Sonderinteressen – um ›Deutungshoheit‹ ringen, mediengerechte ›politische images‹ […] aufbauen und so versuchen, ihre Wahlchancen zu maximieren.« (Linden und Thaa 2009: 10)