Ökoroutine - Michael Kopatz - kostenlos E-Book

Ökoroutine E-Book

Michael Kopatz

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Beschreibung

Dieses Buch macht Schluss mit umweltmoralischen Appellen! Wir können verantwortungsvoll leben, ohne uns täglich mit Klimawandel oder Massentierhaltung befassen zu müssen. Wir machen 'Öko' einfach zur Routine! Konzeptionell ist das einfach: Mülltrennung, Sparlampen, Effizienzhäuser – alles längst akzeptiert oder in Reichweite. Was wir zur Durchsetzung brauchen, sind neue, innovative Standards – damit Geräte länger halten, die Tierhaltung artgerechter wird oder Zusatzstoffe aus Lebensmitteln verschwinden. Ein Ideenbuch für alle Lebensbereiche.

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Michael Kopatz
Ökoroutine
Damit wir tun, was wir für richtig halten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2016 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Grafiken: Alice Lohmöller, www.arteundmehr.comFachlektorat: Verena Kern; Lektorat: Laura Kohlrausch, oekom verlagKorrektorat: Maike SpechtInnenlayout, Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96006-123-6
Mit freundlicher Unterstützung von:Stiftung »Forum für Verantwortung«, Klaus Wiegandt und der Vereinigung der Freunde des Wuppertal Instituts e. V.
Für Wolfgang
Inhalt
Vorwort
GeleitwortAlles bereits gesagt
Kapitel 1Einstieg: Die Lasagnestory
Kapitel 2Warum nicht geschieht, was geschehen muss
Der reservierte Staat
Ungezügelter Kapitalismus
Wettbewerbsdruck
Wettbewerb zwischen Kommunen
Wachstum
Macht & Lobbyismus
Kapitel 3Warum wir nicht tun, was wir für richtig halten
Neigung zur Expansion
Der Vergleich
Unzufriedenheit, Gier & Selbstbeherrschung
Werbung & Kommerzialisierung
Routinen & Shifting Baselines
Wir treffen ungern Entscheidungen und verdrängen
Expertendilemma
Rolle der Medien
Die Mär vom verantwortungsvollen Konsumenten
Niemand will der Dumme sein
Kapitel 4Essen
Respektloser Umgang mit Nutztieren
Landwirtschaft & globale Erwärmung
Subventionen
Fleischexport
Gefährliche Keime
Grundwasser
Mineralwasser
Vom Abweg zum Mehrweg
Ökoroutine: Bio für alle!
Kapitel 5Wohnen
Der Wenigereffekt
Suffizient neu bauen
Frische Luft ins Haus
Fair zum Mieter
Ökoroutine: Nichtbau
Flächenmoratorium
Kapitel 6Strom
Der Wenigereffekt
Ökoroutine: Verbrauchsziele statt Sparziele
Der Weg zum Ökostrom
Kapitel 7Kaufen
Die Menschen hinter dem Müll
Murks: Vorzeitiger Produktzerfall
Ökoroutine gegen Überflusskonsum
Kapitel 8Unterwegs
Sportlich: Das Rad
Belastend: Kraftwagen
Clever: Bahn & Bus
Menschheitstraum: Fliegen
Ökoroutine für enkeltaugliche Mobilität
Kapitel 9Arbeiten
Mehr Arbeit, höherer Ressourcenverbrauch
Die Kurze Vollzeit als Leitbild der Ökoroutine
Widerstände und Mythen
Strategien und Maßnahmen für eine Arbeitswelt der Kurzen Vollzeit
Die »Ganze Arbeit«
Lebenskunst
Die Kurze Vollzeit befördert den ökologischen Wandel
Kapitel 10Wirtschaftsförderung 4.0
Überblick
Die Grundlagen
Produktion
Hilfe und Kooperation
Teilen und Tauschen
Geld
Unternehmen
Zuständigkeiten, Aufgaben und Akteure
Warum soll der Staat sich einmischen?
Stolpersteine
WF4.0 statt TTIP
Kapitel 11Ökoroutine als politisches Konzept
Ökoroutine statt Ökodiktatur
Bildung. Was man darüber wissen sollte
Ökonomie der Menschlichkeit
Geldströme lenken
Fairness
Wo bleibt die Freiheit?
Yes, we can? Traut Euch!
Anmerkungen
Für Recherche und Ratschlage danke ich
Anja Humburg, Eva Kaspar, Franziska Brückner,
Julia Kurth, Kathrin Ramke, Laura Pütz, Maximilian Preute,
Miriam Kuhnke, Stephan Baur, Wolfgang Sachs.
Für Kommentare, Hinweise und Korrekturen danke ich
André Holtrup (Institut Arbeit und Wirtschaft),
Bernhard Burdick (VZ NRW),
Christiane Beuermann (WI, Wuppertal Institut),
Daniel Fuhrhop (Autor Verbietet das Bauen!),
Dirk Flege (Allianz pro Schiene e. V.),
Frederic Rudolph (WI), Gregor Waluga (Landtag NRW),
Melanie Lukas (WI), Oscar Reutter (WI),
Ralf Schüle (WI), Stefan Thomas (WI),
Tilman Santarius (Germanwatch) , Timo Lange (Lobbycontrol)
und ganz besonders: Kurt Berlo (WI).
Vorwort
Wenn es um Klimawandel, Umweltzerstörung, Naturverbrauch und andere zentrale Zukunftsfragen geht, ist man stets mit demselben Sachverhalt konfrontiert: Das Wissen über die Probleme ist außerordentlich verbreitet, aber fast niemand handelt so, wie es seinem Wissen entsprechen würde. Das allerdings ist völlig normal: Da wir alle in einer Welt mit widersprüchlichen Anforderungen leben, lernen wir, uns widersprüchlich zu verhalten. Und da wir zudem in einer nichtnachhaltigen Welt leben, die nichtnachhaltige Weisen des Reisens, der Ernährung, des Arbeitens, des Wohnens gegenüber nachhaltigen bevorzugt und subventioniert, ist es wenig verwunderlich, wenn Menschen sich nichtnachhaltig verhalten, obwohl sie wissen, dass das »eigentlich« schlecht ist.
Aber das »eigentlich« hat keinen Ort in den Zeitvorgaben kapitalistischer Hyperkonsumgesellschaften, in denen es von allem immer schneller immer mehr geben soll. Denn diese Gesellschaften drehen sich ausschließlich um die reine Gegenwart und suchen die Spanne zwischen Bedürfnis und Befriedigung so weit zu verkürzen, dass tatsächlich am Ende weder Vergangenheit noch Zukunft zählen, sondern nur das schiere verantwortungslose und daher zukunftsfreie Jetzt. Glücklich, wer darin leben darf. Wer nicht, hat eben Pech gehabt.
Wir haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten gleichwohl zwei tief greifende Verhaltensveränderungen gesehen, die – obwohl niemand das für möglich gehalten hätte – Alltagsroutinen radikal verändert haben. Die eine betrifft das Rauchen. Wer wie ich in den 1960er-Jahren Kind gewesen ist, erinnert sich an stundenlange Autofahrten mit zwei in aller Selbstverständlichkeit ketterauchenden Eltern auf den Vordersitzen; kein Fernsehfilm, keine Diskussion, kein Restaurant, keine Wartezeit ohne Zigaretten. Heute ist das, und das nur aufgrund einer schlichten ordnungspolitischen Maßnahme, völlig anders. Kaum jemand kommt noch auf die Idee, im Auto zu rauchen, wenn Kinder mitfahren, öffentliche Räume sind rauchfrei, die Vorstellung, dass im Restaurant am selben Tisch zur selben Zeit gegessen und geraucht wird, erscheint total abwegig. Hier hat sich ein Verhaltensstandard in dramatisch kurzer Zeit nachhaltig verändert, und zwar politisch gesteuert.
Eine noch tiefgreifendere Veränderung eines Verhaltensstandards erleben wir, seit es sogenannte Smartphones gibt, die das kommunikative Verhalten von Menschen, ja ihre Wahrnehmungsweisen und ihre Sozialität tief greifend beeinflusst haben, ohne dass es dafür eines ordnungspolitischen Anstoßes bedurfte.
Was ich mit diesen beiden sehr unterschiedlichen Beispielen hervorheben möchte, ist dasselbe, was Michael Kopatz in seinem wichtigen Buch umtreibt: Verhalten ist weder durch Wissen bestimmt noch durch Tradition determiniert, sondern jederzeit veränderbar: Entscheidend für diese Veränderung ist aber nicht Aufklärung, sondern eine ihrerseits veränderte Praxis.
Deshalb entwirft er ein Rahmenwerk für eine Gesellschaft, in der »Öko« nicht die sonderbare und jeweils erklärungs- und legitimationsbedürftige Abweichung vom normalen, also nichtnachhaltigen Verhalten ist, sondern der normale, erwartbare Verhaltensstandard. Und er zeigt, wie eine solche Welt nicht nur aussehen würde, sondern mithilfe welcher ordnungspolitischen Maßnahmen – von der soften Präferenzverschiebung über den Subventionsabbau bis zur harten gesetzgeberischen Initiative – sie auch herzustellen wäre. Damit macht Kopatz etwas Überfälliges und, wie man beim Lesen mit wachsender Faszination bemerkt, ganz und gar Sinnvolles: Er hält sich nicht lange bei ökokatastrophischen Befunden und verwundertem Lamentieren über mangelnde Veränderungsbereitschaft auf, sondern zeigt anschaulich, wohin sich eine moderne Gesellschaft bewegen muss, wenn sie Nachhaltigkeit als selbstverständliche Routine etablieren möchte. Tatsächlich liefert er ein Manual zur ökologisch vernünftigen Transformation einer ökologisch ganz und gar unvernünftigen Praxis der Gegenwart und damit sehr viele Stichworte und Ansätze, um eine oft fantasielos und puritanisch anmutende Nachhaltigkeitspolitik zu inspirieren – um Zukunft wiederzugewinnen.
Harald Welzer im Mai 2016

GeleitwortAlles bereits gesagt

In der Nachhaltigkeitsbewegung suchen viele Menschen nach Antworten. Wo sie auch hinschauen, sehen sie ökologische Katastrophen: globale Erwärmung, Anstieg der Meeresspiegel, Überfischung, Plastikmüll in den Weltmeeren, Artensterben, Abholzung der Tropenwälder, Überdüngung, Massentierhaltung. All das ist seit Langem Realität. Die heutigen Problemanalysen ähneln indes verblüffend denen der 1970er-Jahre. Der Klimawandel war zwar seinerzeit noch nicht als Problem erkannt, die damaligen Beobachtungen lassen sich gleichwohl ohne Weiteres auf unsere Zeit übertragen. Dasselbe gilt für den Suffizienzdiskurs, der mittlerweile eine Renaissance erlebt. Manchmal wird dabei der Eindruck erweckt, man habe eine neue Entdeckung gemacht. Wer aber einen Blick in Ivan Illichs Standardwerk »Selbstbegrenzung« von 1980 wirft oder die dreiseitige Abhandlung »Die Vier E’s« von Wolfgang Sachs aus dem Jahr 1993 liest, wird feststellen: Weder die Diagnose noch die Therapievorschläge haben sich nennenswert geändert.
Von neuen Büchern erhoffen sich viele Leser neue Lösungen. Leider zählt es zu den unangenehmen Wahrheiten, dass es kaum noch neue Lösungskonzepte gibt. Doch bei der nachhaltigen Entwicklung geht es genau genommen auch nicht um die Entdeckung einer bahnbrechenden Patentlösung, denn eigentlich wurde schon alles gesagt – aber sehr vieles noch nicht getan.
Das festzustellen ist jedoch kein Anlass, nun für immer zu schweigen. Tatsache ist nämlich auch: Veränderungen finden statt, sie fallen aber nicht vom Himmel. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau kam nicht von heute auf morgen in die Welt, weil die Männer plötzlich vernünftig wurden. Es lag auch nicht daran, dass jemand eine neue Strategie vorgelegt hat. Frauen haben sich die Rechte, die heute selbstverständlich sind, erkämpft. Generationen haben an diesem Prozess der Veränderung mitgewirkt. Der Schlüssel ist Beharrlichkeit – und ein langer Atem.
Selbst kleine Veränderungen brauchen mitunter viel Zeit. Die Idee der ökologischen Steuerreform beispielsweise wurde jahrzehntelang diskutiert. Die Umsetzung war schließlich nur durch das anhaltende Engagement von Menschen aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft möglich. Nicht anders ist es bei den erneuerbaren Energien: Ihr Boom begann erst vor wenigen Jahren, darauf hingewirkt haben Vordenker wie Hermann Scheer allerdings schon lange zuvor.
Dieses Buch gibt nicht vor, eine revolutionäre Entdeckung zu präsentieren. Eines ist aber doch neu: Ökoroutine drückt sich nicht vor unbequemen Botschaften. Der sofortige Stopp für den Neubau von Straßen, die Begrenzung der Fliegerei oder auch der Agrarwendefahrplan, die hier vorgeschlagen werden, gelten als radikal, ja sogar utopisch. Doch wenn wir darüber schweigen, machen wir uns etwas vor. Klimaschutz und Ressourcengerechtigkeit lassen sich nicht nebenbei mit einigen technischen Neuerungen erledigen. Vor uns steht ein tief greifender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel. Ökoroutine macht klar: Wir können das schaffen, wenn wir uns Zeit geben und den Bezugsrahmen schrittweise verändern, wenn wir uns Gelegenheitsstrukturen schaffen. Im Mittelpunkt dieses Buches steht deshalb die Therapie, nicht die Diagnose. Ökoroutine nimmt den soziokulturellen Wandel in den Blick, nicht die Technik. Es geht um konkrete Maßnahmen, nicht um ferne Ziele. Ökoroutine gibt die Hoffnung nicht auf, dass geschehen kann, was geschehen muss. Damit wir tun, was wir für richtig halten.

Kapitel 1Einstieg: Die Lasagnestory

Lebensmittelskandale gehören inzwischen zum Alltag. Der Wirbel um Pferdefleisch in der Lasagne war da schon fast verwunderlich. Der Betrug war Anfang 2013 durch Untersuchungen in Großbritannien und Irland aufgeflogen; wenig später hatte sich der Skandal um falsch deklarierte Fleischprodukte auf die ganze EU ausgeweitet. Die britische Lebensmittelbehörde stellte fest: In 11 von 18 getesteten Lasagnen der Firma Findus betrug der Pferdefleischanteil zwischen 60 und 100 Prozent.
Wie Recherchen ergaben, stammte das Fleisch aus rumänischen Schlachtbetrieben. Über Zwischenhändler gelangte es nach Zypern und in die Niederlande zu einem französischen Handelsbetrieb. Dieser verkaufte Hunderte Tonnen Pferd als Rind an einen französisch-luxemburgischen Lasagne-Hersteller, und von dort aus landeten Produkte mit illegal untergemischtem Pferdefleisch in mindestens 13 Ländern Europas.
Die Produkte waren in allen großen Supermärkten zu finden. Allein in Deutschland waren Rewe, Aldi-Nord, Aldi-Süd, Eismann, Edeka, Kaiser’s, Lidl, Metro, Tengelmann und Konsum Leipzig betroffen. Und nicht nur in der Lasagne tauchte Pferdefleisch auf – auch in Gulasch, Ravioli und Tortellini konnte es nachgewiesen werden.1 Die Bilanz: Mindestens 124 Betriebe in Deutschland sind mit Rindfleisch beliefert worden, das möglicherweise falsch deklariert war.
Wo liegt jetzt der Skandal? Zunächst einmal ist die Pferdefleischstory ein Lehrstück für die mitunter blindwütige Empörungsbereitschaft der Medien. Bei nüchterner Betrachtung wird klar: Für die Gesundheit stellt Pferdefleisch keine Gefahr dar, es ist sogar ein guter Eisenlieferant und besonders mager. Verpönt ist es vor allem aus historisch-kulturellen Gründen – und diese haben offenbar ausgereicht, um sich täglich zu ereifern. Über den eigentlichen Skandal haben die erregten Gemüter jedoch nicht diskutiert: dass selbst die Produktion einer einfachen Lasagne sich über zig Nationen erstreckt. Durch die Globalisierung sind die Produktionsmethoden gleichermaßen zentralisiert und diversifiziert worden. Verstrickte Produktions-, Verarbeitungs- und Lieferketten haben ein System organisierter Verantwortungslosigkeit geschaffen. Schon der Weg des Fleischanteiles in der Lasagne von der Schlachtung bis zur Weiterverarbeitung erstreckt sich über halb Europa; dasselbe gilt für die Herstellung von Futtermitteln für die Tierhaltung sowie für Züchtung, Haltung und Transport.
Wenn man sich vor Augen führt, dass selbst Brezeln als Teiglinge in chinesischen Fabriken hergestellt werden, um sie dann in München aufzubacken, liegt die Vermutung nahe, dass sich die Fertigung von Nudeln, Tomatensauce, Gewürzen und anderen Produkten zumeist über mehrere Kontinente ausdehnt. Die extreme Diversifizierung der Produktion ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Wir wissen es spätestens, seit Stefanie Böge ihre Joghurt-Geschichte veröffentlichte. Anfang der 1990er-Jahre hatte die Wissenschaftlerin ausgerechnet, welche Strecke ein Becher Jogurt zurückgelegt hat, bevor er beim Verbraucher landet: Es waren mehr als 9 000 Kilometer.2
Und so durchzieht eine schlichte Aussage die verschiedenen Kapitel der Ökoroutine: Wir wissen es längst. Schon seit zwei Jahrzehnten wissen wir, dass die Unternehmen immense Transportketten aufbauen, um sich gegenüber der Konkurrenz behaupten zu können oder die Rendite des Anlegers zu maximieren. Seither haben sich die Verhältnisse eher noch verschlimmert: Spezialisierung, Fertigungstiefe und umständliche Lieferketten haben zu- und nicht abgenommen, Transportketten sind länger und nicht kürzer geworden – zum Nachteil von Umwelt und Allgemeinwohl.
Können Politiker da nur tatenlos zusehen? Bleiben nur Appelle an die Vernunft des Einzelnen, doch bitte regional erzeugte Waren zu erwerben? Für sich genommen, ist es ganz einfach: Eine Lasagne lässt sich leicht in der eigenen Küche zubereiten. Bis auf bestimmte Gewürze kann man alle Zutaten aus der Region beziehen, und das auch aus ökologischer Landwirtschaft. Auch Unternehmen und Restaurants könnten das Schichtnudelgericht zu fast 100 Prozent regional und ökologisch zubereiten.
Abbildung 1   Der Pferdefleischbetrug offenbart ein System organisierter Verantwortungslosigkeit. Verstrickte Produktions-, Verarbeitungs- und Lieferketten sind heute der Normalfall. Verantwortungsvolle Produktionsmethoden verlangen das Gegenteil: kurze Transportwege, regionale und nachhaltige Erzeugung, kurze Wertschöpfungsketten, faire Löhne. Foto: exclusive-design, fotolia.com
Woran hakt es also? Warum scheint die Regiopasta eine ferne Utopie zu sein? Weil der Markt sich so entwickelt, wie es die Rahmenbedingungen vorgeben. Wir lassen es zu, dass Transporte über Tausende Kilometer extrem billig sind, weil wir die Maut nicht vorausschauend anheben oder Kerosin endlich besteuern. Wir bauen Straßen und Flughäfen aus, statt die Expansion zu begrenzen. Wir akzeptieren, dass Waren zu Dumpinglöhnen hergestellt werden. Wir nehmen hin, dass billig vor Qualität geht, dass Lebensmittel aus Biolandbau die Ausnahme sind und nicht die Regel. Wir akzeptieren, dass sich die Produktion unserer Nahrungsmittel in der Hand von Finanzjongleuren befindet, die keinen Gedanken an die Gesundheit der Kunden, die Klimawirkung ihrer Produktion und die Arbeitsverhältnisse in den Betrieben verschwenden. Wenn sie es doch tun, dann nur, weil es zum Nachteil für ihre Rendite sein könnte.
Die »Europa-Lasagne« zeigt: Die systemischen Probleme unserer Wirtschaft und Gesellschaft manifestieren sich sogar in einem banalen Schichtnudelgericht aus der Truhe. Man muss nur den Schleier der Skandalrhetorik in den Medien lüften, schon werden rasch die prinzipiellen Zusammenhänge erkennbar. Die von politischer Seite verkündeten »Aktionspläne«, um etwa die Kontrollen zu verschärfen oder ein »Frühwarnsystem« zu etablieren, lenken allenfalls vom Grundproblem ab und sollen letztlich nur zeigen, dass man etwas getan hat. An den verheerenden Umständen der Lebensmittelglobalisierung ändert sich dadurch jedoch nichts.
Man könnte die Schultern zucken und darauf verweisen, dass die Konsumenten doch selbst schuld seien. Wer eine Tiefkühllasagne für 1,49 Euro in den Backofen schiebt, kann über eine unappetitliche Herstellung nicht ernsthaft erstaunt sein. Sollte nicht jedem klar sein, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn Lebensmittel immer billiger werden, während zugleich die Preise allgemein steigen? Während diese Zeilen geschrieben werden, senkt ein Discounter übrigens vermutlich noch mal den Preis für seine Tiefkühllasagne auf 1,29 Euro.
Doch es wäre zu einfach, die Verantwortung allein beim mündigen Konsumenten zu verorten. Tatsächlich ist dieser Befund fatalistisch, irreführend und fahrlässig. Auch gut verdienende und gebildete Bürger greifen zum Billigprodukt. Sie verlassen sich, nicht zu Unrecht, auf den Staat, der mit seinen Lebensmittelkontrollen dafür sorgt, dass keine bedenklichen Waren verkauft werden. Zudem hat Stiftung Warentest den Kunden beigebracht, dass billige Produkte oftmals genauso gut oder besser sind als teure. Der Verbraucher weiß, dass viele Markenhersteller identische Waren gleichzeitig unter einem Billiglabel verkaufen. Andere verdrängen schlichtweg die Fakten, wissen vor lauter medial geäußerten Expertenmeinungen nicht mehr, was sie glauben sollen, oder denken: »Ist doch egal, auf mich kommt es nicht an.« Es gibt viele Gründe, warum wir nicht tun, was wir für richtig halten. Sie werden im ersten Kapitel beschrieben und machen anschaulich, dass die Zeit für das Konzept der Ökoroutine gekommen ist.
Preisdumping ist das Ergebnis eines radikalen Wettbewerbs, der zu niedrigen Standards führt. So niedrig, wie der Gesetzgeber es erlaubt. Der Konkurrenzdruck animiert zudem die Hersteller, selbst niedrigste Vorgaben zu unterwandern. Wenn schon Discounter sich gegenseitig aufrufen, mit dem Dumping Schluss zu machen, heißt das für uns ganz klar: Jetzt ist die Grenze des Erträglichen erreicht, wenn nicht längst überschritten. Hinter vorgehaltener Hand plädieren etliche Unternehmer bereits heute für Vorgaben von oben: Nur so ließen sich Auswege aus der Abwärtsspirale finden (s. »Manager fordern radikalere Vorgaben der Politik«).
Und tatsächlich sind hohe Qualität, verantwortungsvolle Produktionsmethoden und faire Löhne möglich. Sie kommen nur nicht von allein in die Welt. Sie werden auch nicht von Konsumenten an der Ladentheke initiiert. Notwendig sind systemische Problemlösungen. Also Konzepte, die das Problem an der Wurzel packen. Sprich: Ökoroutine als politisches Konzept (Kapitel 11). Am Lasagne-Problem lässt sich das Grundverständnis der Ökoroutine aufzeigen. Ein erster Ansatzpunkt liegt bei den Transportzeiten. Statt Straßen, Seehäfen und Startbahnen weiter auszubauen und damit zu längeren Produktionsketten einzuladen, sind die Ausgaben auf die reine Erhaltung und Sanierung von Straßen und Flughäfen zu beschränken. Wenn sich in der Folge die Verkehrsströme verlangsamen, ist das ein gewünschter Effekt (s. »Limit für Autobahnen«).
Ein weiterer Ansatzpunkt sind die Transportkosten. Dieselsteuer und Maut können erhöht werden, Kerosin besteuert (s. »Geldströme lenken«). Ein Straßenbaustopp verhindert die weitere Expansion des Lkw-Verkehrs. Das verlangsamt den Transport womöglich, erst recht in Verbindung mit einem Überholverbot für Lkws. Noch ein Hebel ergibt sich in Hinblick auf die Tiertransporte. Dafür gibt es bereits strenge Regeln, zum Beispiel müssen die Tiere nach spätestens 29 Stunden Fahrt abgeladen werden. Diese Qual ermöglicht Transporte bis in die Türkei. Eine Begrenzung auf zwölf Stunden wäre im Sinne des Tierschutzes angebracht und stärkt zugleich die regionale Wertschöpfung. Sodann gilt es, die Tierhaltung zu verändern: Anspruchsvolle Standards für artgerechte Haltung könnten schrittweise etabliert werden, bis nach 20 Jahren EU-weit der Biostandard erreicht ist. Genehmigungen von weiteren Großschlachthöfen und Megaställen sollten unterbleiben (s. »Ökoroutine: Bio für alle!«).
Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Gestaltungsmöglichkeiten, um die Regeln für Warenhandel und Finanzmärkte zu beeinflussen. Das ist zwar kein leichtes Unterfangen, doch bei den Verhandlungen über Freihandelsabkommen wie TTIP zwischen den USA und der EU hat Deutschland beträchtlichen Einfluss, der genutzt werden könnte, um für einen ökofairen Rahmen zu sorgen. Dringend notwendig ist zudem die Regulierung der Kapitalmärkte. Hier soll keine Revolution vorgeschlagen werden, sondern die Rückkehr zum Ordnungsrahmen der 1970er-Jahre, welcher die Auswüchse der Spekulanten zuungunsten sicherer Kapitalmärkte verhindert hat. Dabei ließe sich endlich die seit Langem geplante Robin-Hood-Steuer für den Aktienhandel einführen. Finanztransaktionen würden dann mit durchschnittlich 0,05 Prozent besteuert werden, die Mittel würden der Armutsbekämpfung und dem Klimaschutz zugutekommen (s. »Ökonomie der Menschlichkeit«). All diese Maßnahmen schaffen Anreize für kurze Transportwege, regionale und nachhaltige Erzeugung, kurze Wertschöpfungsketten und faire Löhne. Das ist die Logik der Ökoroutine.
Der Nachhaltigkeitsdiskurs ist nach wie vor geprägt vom Glauben an die Macht des Konsumenten. In der Umweltbewegung wird über das »richtige« Verhalten so viel geredet wie über das Wetter. Produzenten nehmen dieses Argument dankbar auf, verlagert es doch alle Verantwortung zum Konsumenten. Auch die Politik wiederholt permanent das Mantra vom umweltbewussten Verhalten und kann sich so vor unbequemen Entscheidungen drücken. Ökoroutine setzt hier einen Kontrapunkt. Im letzten Kapitel findet sich zum politischen Konzept der Ökoroutine eine ausführliche Erläuterung (siehe Kap. 11, »Ökoroutine als politisches Konzept«). Es löst sich von umweltmoralischen Appellen und sorgt mithilfe von Standards und Limits dafür, dass sich der Wandel zur Nachhaltigkeit in weiten Teilen verselbstständigt. Unsere Technologien und Herstellungsverfahren werden so schrittweise naturverträglicher und effizienter und unsere Verhaltensweisen genügsamer. Ökoroutine basiert auf einer Koevolution von Technik und Kultur. Beispielsweise sorgen Standards dafür, dass Autos immer klimafreundlicher werden; Straßenbau- und Tempolimit beeinflussen unser Verhalten. Solche politischen Vorgaben lassen sich freilich nur ins Werk setzen, wenn die Wählerinnen und Wähler sie mittragen. Doch die zurückliegenden Erfahrungen zeigten, dass Ökoroutine uns in der alltäglichen Lebensführung entlastet.
Routinen prägen unseren Alltag. Ganz unbewusst profitieren wir dabei von Dutzenden Regeln und Standards, etwa auf dem Weg zur Arbeit: Der Wecker ist sicherheitstechnisch geprüft, die Kleidung darf bestimmte Schadstoffe nicht beinhalten, ebenso der Kaffee. Dessen Packung ist standardisiert, wie auch die Kennzeichnungen über die Zutaten und Nährstoffe auf dem Toastbrot. Das Auto wurde nach ISO-Norm hergestellt. Die Produzenten haben dabei zahlreiche staatliche Vorgaben beachtet. Auf dem Arbeitsweg beachten wir zahlreiche Vorgaben der Straßenverkehrsordnung; das Auto hat ein amtliches Kennzeichen. Die Arbeit selbst ist reglementiert durch Tariflohn, gesetzliche Arbeitszeiten und Sicherheitsvorschriften. All das wird selten als Zwangssystem empfunden, es ist Routine. In der gleichen Form ermöglicht uns das Konzept der Ökoroutine, das zu tun, was wir für richtig halten, ohne im Alltag darüber nachzudenken.

Kapitel 2Warum nicht geschieht, was geschehen muss

Die globale Erwärmung ist eines der drängendsten Krisenphänomene unserer Zeit. Um sie zu bremsen, müssen die Treibhausgas-Emissionen drastisch reduziert werden, vor allem der Ausstoß von Kohlendioxid. Darin sind sich Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft einig. Zwar gibt es bereits zahlreiche Maßnahmen zum Klimaschutz – Deutschland investiert etwa in den Ausbau von Ökostrom aus Wind und Sonne und hat Förderprogramme zur energetischen Gebäudesanierung aufgelegt –, doch gemessen an der Größe des Problems, sind die bisherigen Bemühungen unzureichend. Wir sind auf dem Weg zu einem achtsamen Umgang mit dem Planeten ins Stocken geraten.
Um die Erderwärmung – wie gerade in Paris beschlossen – auf höchstens zwei Grad zu begrenzen, dürfte jeder Bundesbürger im Jahr 2050 nur noch eine Tonne Kohlendioxid jährlich verursachen. Im Moment stehen wir bei knapp zehn Tonnen pro Jahr. Seit 2009, als die Wirtschaft durch die Finanzkrise einbrach und deshalb die Emissionen zurückgingen, geht es mit dem Klimaschutz nicht mehr so recht voran. Auch der Ressourcenverbrauch entwickelt sich nicht rückläufig, sondern verharrt auf unvermindert hohem Niveau.
Abbildung 2   Die Kohlendioxidemissionen Deutschlands gehen seit einigen Jahren nicht weiter zurück.3 LULUCF: Land use, land-use change and forestry
Dass es beim Klimaschutz nicht so recht vorangeht, hat viele Gründe, die im nächsten Kapitel erörtert werden. Festzuhalten ist hier nur so viel: Offensichtlich wird es immer schwerer, den angestrebten Minderungspfad fortzuschreiben. Österreich beispielsweise lag mit seinen Treibhausgas-Emissionen einmal deutlich unter zehn Tonnen je Einwohner. In der Euphorie der Klimaverhandlungen versprachen sie 1997 in Kyoto, ihren Kohlendioxidausstoß um 13 Prozent zu reduzieren. Tatsächlich kam es zu einer Zunahme von elf Prozent. Alle Anstrengungen der letzten Jahre haben gerade einmal bewirkt, dass man zwischen Bregenz und Wien beim Klimaschutz wieder auf dem Niveau von 1995 ist.
Mehr und mehr drängt sich der Eindruck auf, dass uns das Schwere erst noch bevorsteht. Es ist wie bei einer Diät. Die ersten Kilos fallen schnell, aber dann wird es immer schwerer, und zudem droht der Jo-Jo-Effekt. Viele Unternehmen haben längst in effizientere Technologien investiert, um Energie und damit auch Kosten zu sparen. Einfach verglaste Fenster gibt es kaum noch, viele Dächer sind bereits isoliert und Millionen Sparlampen montiert. Doch die niedrig hängenden Früchte zu ernten genügt nicht. Um den Ressourcenverbrauch zu verringern und die globale Erwärmung zu begrenzen ist es mit einer Diät nicht getan. Notwendig ist eine dauerhafte Ernährungsumstellung.

Der reservierte Staat

Keine Frage, zu viel Bürokratie kann die Effizienz und Effektivität der Wirtschaft einschränken, kann Kreativität und Innovationskraft behindern. Doch was wäre das rechte Maß für ordnungspolitische Maßnahmen? Wie stark soll sich der Staat in das Marktgeschehen einmischen? Die Bandbreite möglicher Antworten reicht vom Nachtwächterstaat, der sich auf den Schutz des Privateigentums und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschränkt, bis zum Sozialstaat, der weitreichende Regeln vorgibt, wie etwa das Mindesteinkommen.
Kapitalismus und freie Marktwirtschaft gelten seit dem Niedergang der osteuropäischen Wirtschaft als das überlegene Regime. Der Kommunismus des Ostblocks war geprägt durch Planwirtschaft und starke politische Steuerung. Diese Überregulierung schien verantwortlich für die Misswirtschaft zu sein. Das Scheitern der kommunistischen Systeme gab ab den 1990er-Jahren all jenen Auftrieb, die für einen Rückzug des Staates aus dem marktwirtschaftlichen Geschehen plädierten. Doch wer für einen starken Staat ist, muss nicht gegen den Kapitalismus sein: Seit den Finanzkrisen der vergangenen Jahre hat sich in den Industriestaaten wieder eine eher kritische Haltung zur Deregulierung entwickelt.
Die zurückliegenden Erfahrungen mit der freien Marktwirtschaft lassen es schwer vorstellbar erscheinen, dass sich mit noch weniger Regeln ein Mehr an Nachhaltigkeit bewirken lässt. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die schrittweise Abschaffung der Marktregeln ein Nachteil für Klimaschutz und Ressourcengerechtigkeit war. Nun währt der Diskurs über die Frage »Wie viel Staat muss sein?« schon seit Jahrhunderten. Um darin die Ökoroutine zu verorten, sollen hier einige Vordenker verschiedener nationalökonomischer Grundströmungen Erwähnung finden.
Adam Smith
Eine der Grundannahmen der heute vorherrschenden Wirtschaftswissenschaft geht auf Adam Smith (1723–1790) zurück. In seinem Werk »Wohlstand der Nationen« beschrieb Smith den Egoismus des Einzelnen als die Triebfeder der Ökonomie: »Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil trachten.« Jeder denkt also an sich und sorgt dabei unbewusst – wie von einer unsichtbaren Hand geleitet – für das Gemeinwohl.
Liberale Wirtschaftswissenschaftler leiten daraus ein radikales Freiheitspostulat ab: Maximale Freiheit fördere den Schaffensprozess des Einzelnen und diene der Gemeinschaft. So wird seit Jahrzehnten die fortschreitende Deregulierung der Märkte gerechtfertigt, um den Unternehmen und Anlegern möglichst viele Freiheiten zu gewähren. Allerdings ist diese Analyse fragmentarisch. Adam Smith selbst hielt nicht den »Wohlstand der Nationen« für sein Hauptwerk, sondern die »Theorie der ethischen Gefühle«. Moralisches Handeln beschrieb er darin als unabdingbar für nachhaltigen Wohlstand: Tugenden seien die Grundlage eines gesunden Kapitalismus.4 Auf diesen Smith berufen sich die kritischen Ökonomen.
Gewiss gehört Egoismus zur menschlichen Natur. Doch daneben und darüber hinaus haben Menschen viele andere Motivationen, die den Tugenden zuzurechnen sind: Solidarität, Loyalität, Sympathie, Selbstlosigkeit usw. Gäbe es solche Motive nicht und Egoismus wäre tatsächlich der einzige Antrieb, dann müsste jeder jedem mit tiefstem Misstrauen begegnen. Solidarität zwischen Arbeitnehmern etwa im Arbeitskampf funktioniert aber nur durch gegenseitiges Vertrauen.
Genauso gibt es Unternehmer, die nicht nur ihren persönlichen Nutzen maximieren wollen, sondern auch Visionen für die Gesellschaft haben und an das Gemeinwohl denken. Ein berühmtes Beispiel lieferte Henry Ford. Er wollte ganz sicher seinen persönlichen Wohlstand vermehren, so wie es das Postulat der Wirtschaftsliberalen vorsieht. Doch Ford hat nicht nur viel Geld verdient, er war auch fair zu seinen Arbeitnehmern. Er verdoppelte die Gehälter seiner Mitarbeiter und verkürzte die wöchentliche Arbeitszeit von 48 auf 40 Stunden. Die Mitarbeiter sollten sich später selber einen Ford leisten können.5 Verantwortungsvolles Unternehmertum wird in der klassischen Ökonomie nicht bedacht, wenn sie für ein Maximum an Freiheit für den Einzelnen und ein Minimum an Regeln argumentiert. Richtig ist, dass sich die Unternehmen heutzutage unter den Bedingungen eines knallharten Wettbewerbs kaum noch in der Lage sehen, das zu tun, was sie für richtig halten. Viele fordern daher selbst politische Vorgaben (s. »Manager fordern radikalere Vorgaben der Politik«). Hier setzt das Konzept der Ökoroutine an. Es schafft Raum für unternehmerische Tugenden.
Hayek und Friedmann
In zentralwirtschaftlicher Planung sah Friedrich August von Hayek (1899–1992) die Grundlage für besorgniserregende Radikalisierungen. In seinem Werk »Der Weg zur Knechtschaft« beschrieb er sozialistische Bestrebungen als Wegbereiter für den Nationalismus. Diese Analyse leitet direkt über in Hayeks Forderung, staatlichen Interventionismus und die Planwirtschaft zurückzudrängen. Allerdings – und das wird häufig übersehen – war Hayek nicht der Meinung, das habe um jeden Preis und in jeder Hinsicht zu geschehen. Hayek sprach sich für sozialpolitische Maßnahmen aus, etwa für die Einführung eines Mindesteinkommens. Damit trug er der Erkenntnis Rechnung, dass Menschen sich nur entfalten können, wenn sie von der Sorge um die grundlegenden materiellen Bedürfnisse entlastet werden.6
Für Milton Friedman (1912–2006) manifestieren sich Rolle und Einfluss des Staates in der Staatsquote. Diese Kennzahl zeigt den Anteil der Staatsausgaben an der wirtschaftlichen Gesamtleistung einer Volkswirtschaft auf. Sie liegt in Deutschland bei 44 Prozent und in Frankreich bei 57 Prozent.7 Friedman fand, dass zehn Prozent genügen würden. Im Sozialstaat sah er ein teures Monster. Führerschein, Ärztelizenzen und Schulpflicht gehörten abgeschafft. Absurd seien staatliche Altersversorgung und Mindestlohn.8 Der Wirtschaftsprofessor aus Chicago gilt als Schlüsselfigur für den Trend zum Ausverkauf staatlicher Unternehmen und zum Abbau von Regelwerken. Zunächst, in den 1980er-Jahren, verfolgten nur Ronald Reagan und Margaret Thatcher9 seine Ideen. Später machte sich in fast allen Industriestaaten eine Art Liberalisierungseuphorie breit. Milton Friedman dürfte sich auch über das Ende des Goldstandards10 gefreut haben: Seiner Überzeugung nach sollte der Staat nur durch die Ausweitung der Geldmenge zu wirtschaftlichem Wachstum beitragen.
Keynes
Bis zu Reagan und Thatcher waren die Thesen John Maynard Keynes (1883–1946) Leitbild der Wirtschaftspolitik gewesen. Keynes vertrat die Einschätzung, dass Regierungen in wirtschaftlich schweren Zeiten die Konjunktur durch staatliche Ausgaben und gegebenenfalls auch Schulden stützen sollten. In wirtschaftlich besseren Zeiten sollten die Schulden wieder getilgt werden. Gegen Mindestlohn und eine relativ hohe Staatsquote hätte Keynes wohl nichts einzuwenden gehabt. Schon seit jeher berufen sich daher die Gewerkschaften auf den britischen Ökonomen. Denn Lohnzurückhaltung ist laut Keynes gerade in der Krise unangebracht – schließlich können die Menschen dann weniger kaufen. Die zurückgehende Nachfrage schadet den Unternehmen, die weniger Umsatz machen. Schädlich ist es demnach auch, wenn sich die Sparkonten füllen: Die Güternachfrage sinkt und damit die Produktion.
Ökoroutine beruft sich an vielen Stellen auf Keynes. Der weitsichtige Ökonom hat schon damals über wichtige Themen nachgedacht, die uns heute noch beschäftigen. Seine Überlegungen sind beispielsweise relevant, wenn es um wöchentliche Arbeitszeiten, Grenzen des Wachstums, Suffizienz, Freihandel und Regionalgeld geht.

Ungezügelter Kapitalismus

Eine zumindest kurze Auseinandersetzung mit unserem volkswirtschaftlichen System ist unvermeidlich, wenn man darüber nachdenkt, warum wir nicht tun, was wir für richtig halten. Seit der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise wird der Kapitalismus wieder kritischer beurteilt. Doch hat uns der freie Wettbewerb zweifellos wachsenden Wohlstand beschert. Kapitalismus an sich ist nicht gut oder böse. Er ist ein System, dessen Intention die Geldvermehrung ist – Moral spielt dabei zunächst keine Rolle.
Beispielsweise war der Kapitalismus Treiber des Sklavenhandels zwischen Afrika und Nordamerika. Die Wohlhabenden in Großbritannien investierten ihr Geld an der Börse in Sklavenhändlergesellschaften oder gaben es einer Bank. Die Bank wiederum gab den Menschenhändlern ein Darlehen. Es winkte eine üppige Rendite: Die Sklavenhändler verkauften ihre Waren an der afrikanischen Goldküste. Von dort deportierten sie Menschen nach Amerika, wo sie sie als »Ware« verkauften und im Gegenzug Rohstoffe und nicht zuletzt Gold aufnahmen und zurück nach Europa schifften. Das war globale Marktwirtschaft in ihren Anfängen. Kapitalismus kann tödlich sein.
Das Konzept der Ökoroutine mag an vielen Stellen radikal wirken, es brütet gleichwohl nicht über der Frage, ob es besser wäre, den Kapitalismus abzuschaffen. Manche mögen davon träumen, doch aussichtsreich und umsetzungsrelevant ist diese Diskussion über »dafür oder dagegen« nicht. Vielmehr soll es hier um die Frage gehen, welche marktwirtschaftlichen Bedingungen einen achtsamen Umgang mit Ressourcen behindern oder begünstigen und den sozialen Frieden erhalten. Die Entwicklungen der zurückliegenden Jahrzehnte zeigen deutlich, dass Kapitalismus extrem unterschiedliche Ausprägungen und Effekte haben kann. Auch von Land zu Land gibt es große Unterschiede, etwa in den USA, Deutschland und Schweden.
Bedeutsam erscheint in der Betrachtung der Wirtschaft rückblickend der Mauerfall. Bis dahin gab es noch den Systemgegner Kommunismus, es galt also zu vermeiden, dass sich die Menschen in den westlichen Demokratien zum Gegensystem hingezogen fühlten. Mit der sozialen Marktwirtschaft ist das in Deutschland gelungen. Doch nach der Wende gab es keinen Grund mehr, bei der Geldvermehrung weiterhin das Gemeinwohl zu beachten.11
Geld und Zins
Im September 2015 hat die UN-Vollversammlung in New York die neuen »Sustainable Development Goals« beschlossen. Die Entscheidung ist ein Meilenstein: In den kommenden 15 Jahren soll der Umbau in Richtung Nachhaltigkeit weltweit gelungen sein. Ein großes Ziel – doch es gibt zahlreiche Faktoren, welche die Fahrt noch bremsen.
Ein zentraler Bremsfaktor ist die gegenwärtige Geld- und Zinswirtschaft. Die Diskussion darüber kam nicht erst mit der wachstumskritischen Bewegung Ende der 2000er-Jahre auf. Es ist vielmehr ein Diskurs, der sich schon seit Jahrtausenden hinzieht: Schon die Bibel befasst sich an verschiedenen Stellen mit den gesellschaftlich negativen Eigenschaften des Zinses. Wohl deswegen war Zinsen zu nehmen den Christen lange untersagt. Wer sich nicht daran hielt, musste mit einer Strafe rechnen. Da nur wenige geneigt waren, ohne Zinsen Geld zu verleihen, wurden Kredite meist bei Juden aufgenommen. Auch diesen verbot das Alte Testament zwar die Zinswirtschaft, doch es blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, denn der Geldverleih »zählte zu den wenigen Tätigkeiten, die Juden im mittelalterlichen Zentraleuropa ausüben durften«.12 Auch im Islam gilt bis heute das Zinsverbot.
Geld und dessen unendliche Vermehrung zwingt unser Wirtschaftssystem zum Wachstum. Wenn beispielsweise ein Start-up-Unternehmen sich bei einer Bank Geld leiht, um Entwicklung, Fertigung, Marketing usw. zu finanzieren, muss der Verkauf des Produktes nicht nur die Kosten für die Löhne, Mieten und Materialien einspielen. Das Unternehmen hat darüber hinaus den fälligen Kreditzins zu erwirtschaften. Es muss also mindestens im Umfang des zu entrichtenden Zinses wachsen. Wie kann es sein, dass der Gesamtheit aller Unternehmen dies gelingt? Das ist nur möglich, wenn ständig Geld zufließt.13
Anfang der 1970er-Jahre gab man die Bindung der Geldmenge an Goldreserven komplett auf. Bis dahin war es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu keiner Finanzkrise gekommen, doch nun konnten Zentralbanken die Geldmenge uneingeschränkt vergrößern.14 Diese kontrollieren sie allerdings nur indirekt über den Leitzins. Auch die normalen Hausbanken vermehren die Geldmenge. Und so steht letztlich unendlich viel Geld zur Verfügung, um das beständige Wachstum der Unternehmen zu ermöglichen.
Der systemisch angelegte Wachstumszwang wäre womöglich unproblematisch, wenn nur solche Betriebe ihre Produktion ausweiten würden, die keine klimaschädlichen Emissionen produzieren und endliche Ressourcen verbrauchen. Bei allen anderen bremst der durch Zins bedingte Wachstumszwang, dass der Wandel zu einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung Fahrt aufnimmt.
Natürlich ist das Thema Geld viel komplizierter als hier dargestellt. Dennoch gibt es verschiedene Konzepte, wie sich die Geldwirtschaft und letztlich auch der Kapitalismus reformieren und steuern lassen. Eines davon ist das sogenannte Vollgeld. Ein anderes, ergänzendes, das Regionalgeld, welches bereits in der Praxis angewendet wird (s. »Geld«).
Freihandel
Getragen von der Idee, der freie Markt befördere das Wohl der gesamten Menschheit, wurden die Regeln für den internationalen Waren- und Kapitalverkehr schrittweise abgebaut. Diesen Prozess nannten die Experten später »Globalisierung«. Das Phänomen wurde bisweilen beschrieben wie ein Naturereignis. Als Grund wurden zum Beispiel die gesunkenen Transportkosten oder die Beschleunigung der Kommunikation genannt. Doch zum Fundament der Globalisierung zählt auch die Beseitigung von Regeln. Zunächst mag das tatsächlich seine Vorzüge mit sich gebracht haben. Doch inzwischen entsteht der Eindruck, dass es etwa bei der geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen der EU und den USA nicht mehr um das Wohl der Menschen, sondern vielmehr um die Interessen der Anleger geht. Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass TTIP ein Bremsfaktor für eine dauerhaft umweltgerechte Entwicklung ist. Das Kernargument der Befürworter und Initiatoren lautet, das Abkommen fördere das Wirtschaftswachstum. Das sei gut für den Wohlstand und damit auch gut für die Menschen. Untermauern sollen dies wirtschaftswissenschaftliche Studien, die allerdings sehr umstritten sind. Doch nehmen wir einmal an, die optimistischen Szenarien träfen tatsächlich ein. Die prognostizierten Wachstums- und Beschäftigungseffekte wären dennoch so gering, dass sie für die Bürgerinnen und Bürger in Europa unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen. Oder wie soll man ein zusätzliches Wachstum von 0,1 Prozent sonst bezeichnen?
Zugleich ist offenkundig, dass unsere Überflussgesellschaft überhaupt nicht mehr Wohlstand benötigt, sondern allenfalls eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. Und was wäre der Preis für diesen wachstumspolitischen Schluck aus dem Freihandelsfläschchen? Europa und Amerika würden ihre bestehenden Standards, gleich, ob gut oder schlecht, gegenseitig unbefristet anerkennen. Eine Verbesserung der Standards wäre nicht mehr möglich.
Die Befürworter des Freihandels werben mit harmlosen Beispielen für den Abbau von bürokratischen Hemmnissen für die Unternehmen, wie etwa die unterschiedlichen Normen für den Dachhimmel oder die Blinker von Autos. Bei einheitlichen Standards müssten die Komponenten nicht doppelt entwickelt und produziert werden. Sie verschweigen die geplante Vereinheitlichung von sozialen und ökologischen Standards. Die Amerikaner müssten dann mit Produkten leben, deren Vorschriften nicht den amerikanischen Ansprüchen genügen. Umgekehrt hätten die Europäer Hormone im Fleisch zu akzeptieren.
Das Grundproblem ist ein unterschiedlicher Umgang mit Umwelt- und Gesundheitsrisiken: Das Vorgehen der Europäischen Union basiert auf dem Vorsorgeprinzip. So müssen die Unternehmen für jeden Stoff nachweisen, dass von ihm keine beträchtlichen Gefahren ausgehen, bevor er zugelassen werden kann. In den USA ist der Ansatz genau andersherum: Dort spricht man beschönigend von »wissenschaftlich basierten Bewertungsgrundsätzen«. Risiken für bestimmte Stoffe werden akzeptiert, bis eine von ihnen ausgehende beträchtliche Gefahr nachgewiesen ist. Aus diesen Gründen ist eine große Zahl von Stoffen in der EU verboten, während sie in den USA zugelassen sind. Nach allem, was über die geheimen TTIP-Verhandlungen bisher bekannt geworden ist, wird sich daran jedoch wohl auch in naher Zukunft nichts ändern.15
Aber auch auf anderen Gebieten brächte das Freihandelsabkommen Probleme für eine nachhaltigere Zukunft mit sich: Wenn sich die Freihändler auf einen niedrigen Standard einigen, gibt es erst mal kein Zurück. Möchte eine von beiden Seiten die Standards anheben, ginge das nur, wenn der Handelspartner zustimmt. Als wäre es ohnehin nicht schon schwer genug, auf europäischer Ebene beispielsweise Standards für verantwortungsvollere Tierhaltung zu etablieren, müsste nun auch noch die Zustimmung der USA eingeholt werden. Dort sind wiederum Heerscharen von Lobbyisten mit nichts anderem befasst, als strengere Vorgaben zu bekämpfen. Die Transformation zur Nachhaltigkeit würde somit von der Zustimmung der Vereinigten Staaten abhängig gemacht. Dasselbe gilt bereits bei anderen Abkommen, etwa bei CETA zwischen der EU und Kanada. Strengere Vorgaben, ob für die Landwirtschaft oder die Automobilindustrie, rücken so in weite Ferne.
Abbildung 3   Wir leben im totalen Überfluss und sollen durch den Abbau von »Handelsbarrieren« noch wohlhabender werden. Foto: Anja Roesnick, fotolia.com
So populär die Diskussion über das TTIP-Abkommen ist, so wenig nimmt die Öffentlichkeit die Vorgaben der Welthandelsorganisation (WTO) wahr. Vor zwanzig Jahren gegründet, regelt sie weltweit die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen von inzwischen 160 Nationen. Kernziel ist der Abbau von Handelshemmnissen wie beispielsweise Subventionen oder anderen Methoden, mit denen Staaten versuchen, ihre Wirtschaft vor der Konkurrenz im Ausland zu schützen. Fördergelder für eine Solarfabrik sind mit den WTO-Regeln ebenso wenig vereinbar wie Vorgaben zur lokalen Wertschöpfung. In Kanadas südöstlicher Provinz Ontario sollten beispielsweise mindestens 40 bis 60 Prozent der Arbeitskräfte und Materialien aus der Regionen stammen. Nur dann kamen die Lieferanten in den Genuss der Fördergelder.16 Das gut gemeinte Konzept, Klimaschutz und soziale Sicherung miteinander zu verbinden, endete mit Klagen aus Japan und der Europäischen Union. Die Bestimmungen entsprachen nicht den Regeln für Freihandel und wurden zurückgenommen, und die Investoren entzogen den Solarfabriken in Ontario ihr Kapital.17
In ihrem Buch »Die Entscheidung« hat Naomi Klein mit vielen Beispielen dokumentiert, wie die Förderung der erneuerbaren Energien allenthalben über die WTO sabotiert wird: Die Vereinigten Staaten klagen gegen ein chinesisches Programm zur Förderung der Windenergie; China klagt gegen die Europäische Union, die Amerikaner gegen Indien, Indien gegen Amerika und so weiter.18 Wenn man bedenkt, dass allein zwischen 2009 und 2011 die staatlichen Subventionen für die Kohlenstoffindustrie von 312 Milliarden Euro auf unvorstellbare 523 Milliarden Euro gestiegen sind,19 stellt sich der Eindruck ein, hier wird mit zweierlei Maß gemessen.
Eigentlich soll der Freihandel den Wohlstand der Menschen mehren oder zumindest dafür sorgen, dass wir ein gutes Leben führen können. Dieses Ziel ist womöglich aus dem Blick geraten: Wir leben im totalen Überfluss und sollen durch den Abbau von »Handelsbarrieren« noch wohlhabender werden. Zudem unterwandern Schiedsgerichte den Klimaschutz. Das muss nicht so bleiben – Regeln kann man ändern. Statt weitere Freihandelsabkommen bräuchte man eine ökofaire Reform der Welthandelsorganisation. Solange das nicht gelingt, ist Nichtstun die bessere Alternative (s. »Regeln für den Freihandel«).
Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte
Die Gewinnerwartungen der Anleger zwingen Unternehmen zum Wachstum. Dieser Zwang hat sich seit den 1980er-Jahren dank gelockerter Regeln für den Kapitalmarkt beständig erhöht. Er ist in seiner gegenwärtigen Verfassung einer der zentralen Bremsfaktoren für nachhaltige Entwicklung.
Ausgehend von den USA und Großbritannien, haben die Industrieländer den Kapitalverkehr liberalisiert und die nationale Kontrolle von Anlageprodukten und Finanzmarktakteuren – also von Banken, Investmentbanken, Pensionsfonds, Investmentfonds, Hedgefonds, Private-Equity-Fonds – geschwächt oder ganz fallen gelassen. Veräußerungsgewinne hat man von der Steuer befreit und den Spielraum für Aktienrückkauf und variable Managervergütungen erweitert sowie Mehrfach- und Höchststimmrechte abgeschafft. Finanzmarktakteure verlegten ihren Sitz zunehmend offshore, wo sie keinen Genehmigungs- oder Transparenzpflichten und keinen Vorschriften über Eigenkapitaldeckung der maximal zulässigen Risiken unterliegen. Das Kreditgeschäft musste nicht mehr vom Investmentbanking getrennt werden. Investmentbanken konnten dadurch auf beiden Seiten des Marktes zugleich agieren und Insiderwissen über die Akteure beider Seiten sammeln, das ihnen einen nie da gewesenen Machtvorsprung gab. Banken können Geschäfte auf Tochtergesellschaften auslagern, sodass sie außerhalb ihrer Bilanz und der für sie geltenden Restriktionen bleiben. Zahlreiche weitere Kontrollmechanismen haben die Staaten abgeschafft und den Exzess der Finanzmärkte in Gang gebracht.20 Besonders kritisch wird es, wenn Spekulationen über Kredite finanziert werden, weil die Zinsen niedriger sind als die zu erwartenden Börsenwerte. Das erhöht nochmals den wirtschaftlichen Wachstumszwang.21 Insgesamt hat die Finanzmarkt-Deregulierung nicht nur die Wirtschaftskrise 2008 heraufbeschworen,22 sondern auch ein sozial und ökologisch verantwortungsvolles Handeln der Unternehmen behindert.
Inzwischen ist der Hochfrequenzhandel an den Börsen gang und gäbe. Im Takt von hundertstel Sekunden entscheiden Computerprogramme auf der Grundlage von Algorithmen, welche Aktien gekauft oder verkauft werden. Die Machenschaften der Spekulanten sind selbst von Experten kaum noch zu durchschauen. Symptomatisch für den undurchsichtigen Handel sind die sogenannten Darkpools, bank- und börseninterne Handelsplattformen für den anonymen Handel mit Finanzprodukten.
2008 erlaubte die EU den rein elektronischen Handel, um mehr Wettbewerb unter den Börsen zu schaffen. Doch seitdem entstanden auch sehr spezielle elektronische Handelsplätze, zu denen nur wenige Menschen Zugang haben. An sich soll die Börse Angebot und Nachfrage transparent machen. Darkpools und Hochfrequenzhandel bewirken das Gegenteil: Außenstehende erfahren nicht, wer hier was zu welchem Preis handelt. Die Händler bieten anonym Aktien zum Kauf an. Ein anonymer Verkäufer kann seine Angebote weltweit in verschiedenen Darkpools platzieren. Interessenten geben Gesuche auf, ohne zu wissen, ob gerade solche Aktien angeboten werden. Eine Software bringt dann Gebote und Gesuche zusammen. Anders als bei normalen Börsen erfährt so keiner, dass überhaupt ein Handel stattgefunden hat.23
Shareholder-Value versus Public-Value
Gerade passend zur Finanzkrise kam der Film »Der große Ausverkauf« in die Kinos. Die Dokumentation berichtet über die Folgen der zunehmenden Privatisierung auf der ganzen Welt. Zu sehen sind teilweise haarsträubende Geschichten: rasant steigende Energie- und Wasserpreise, Zerfall der britischen Eisenbahn und elendige Zustände in Krankenhäusern. Wie im Rausch haben Politiker weltweit und auch in Deutschland Gemeingüter zur Daseinsvorsorge an den Meistbietenden veräußert.
Seit den 1980er- und 1990er-Jahren haben viele Kommunen ihre öffentlichen Dienstleistungen in den Bereichen Energie, Verkehr, Wasser, Gesundheit, Abfall und Wohnen privatisiert. Dabei ging man davon aus, die bürokratische Führung der Daseinsvorsorge sei träge, aufwendig und nicht kundenorientiert. Daher setzte sich zunächst die Überzeugung durch, private Unternehmen arbeiteten deutlich effizienter als die öffentliche Hand, seien flexibler, lieferten bessere Qualität und seien zugleich günstiger.
Übersehen hat man in der Euphorie, dass auch ein öffentliches Unternehmen effektiv und effizient wirtschaften kann, wenn man die Rahmenbedingungen dafür schafft. Mancherorts genügte es, den Kommunalbetrieb in eine GmbH umzuwandeln. In der Konsequenz haben Kaufleute die doppelte Buchführung eingeführt, es gab ordentliche Gewinn-und-Verlust-Rechnungen, der Bürger wurde zum Kunden, und es gab keine Verbeamtungen mehr. Über den Aufsichtsrat sicherte sich die Politik indes ein Mitspracherecht über die großen Linien der Unternehmensentwicklung. Sobald die Unternehmen profitabel wurden, flossen die Gewinne an die Gemeinden. So weit war alles gut. Doch kaum waren die Unternehmen fit für den Markt, ging der große Ausverkauf los, mit all seinen beklagenswerten Resultaten. Man hat nicht nur privatisiert, sondern verkauft, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren. Das galt als klug und war doch töricht und litt an der Selbstüberschätzung, dass sich private Investoren durch gut ausgeklügelte Verträge zur Gemeinwohlorientierung verpflichten ließen. Doch Anleger wollen Gewinne: Der Kapitalmarkt entscheidet über das Wohl und Wehe eines börsennotierten Unternehmens, nicht die Politik. Aktienfonds versprechen ihren Anlegern enorme Gewinne, die sie dann von den Unternehmen einfordern. Die Rendite zählt, nicht selten kurzfristig und um jeden Preis. Seither haben wir uns daran gewöhnt, dass selbst gesunde Unternehmen Tausende Arbeitnehmer auf die Straße setzen, um die Rendite zu steigern.
Es liegt in der inneren Logik des Shareholder-Wesens, dass Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung und unfaire Arbeitsbedingungen hingenommen werden, um den Gewinn zu steigern. Man kann den Vorständen kaum einen Vorwurf daraus machen. Viele habe dennoch etwas für den Klimaschutz getan. Beispielsweise haben die deutschen Stahlproduzenten bereits umfangreich in effiziente Technologien investiert. Aber in der Regel wird erwartet, dass sich die Maßnahme in zwei bis drei Jahren rechnet. Alles, was darüber hinausgeht, wird nur gemacht, wenn der Gesetzgeber es verlangt, denn der Anleger möchte nicht auf seine Rendite warten.
Schlaglicht: Die Chefs von Shareholder-Unternehmen können sich nicht beliebig für das Gemeinwohl engagieren. Das musste schon Henry Ford feststellen. Er wollte, dass sich jeder amerikanische Farmer sein berühmtes »Model T« leisten konnte. Der Wagen sollte so billig werden, dass auch seine eigenen Angestellten den Wagen kaufen konnten. Darum hat er auf Gewinne verzichtet und mit dem Geld ständig neue Fabriken bauen lassen. So hat er die Preise durch Massenfertigung gesenkt, von 850 auf 500 Dollar. […] Später setzte er sich dafür ein, dass sein Unternehmen der Gesellschaft und den Menschen dient. Er hat, anstatt Gewinne anzuhäufen, die Löhne seiner Arbeiter immer weiter angehoben, obwohl er am Markt weit billigere Arbeitskräfte finden konnte. Im Jahr 1920 haben die Brüder Dodge Ford deswegen verklagt. Sie hielten zehn Prozent der Anteile an der Ford Motor Company. Diese beiden Minderheitsaktionäre verlangten, dass Henry Ford höhere Dividenden an seine Aktionäre auszahlen sollte. Ford erklärte dem Gericht prompt, dass er das nicht tue und auch in Zukunft nicht tun wolle. Das Gericht hat den Dodge-Brüdern recht gegeben und ein weitreichendes Urteil gefällt: Der Zweck eines Unternehmens liege allein darin, seine Eigeninteressen zu verfolgen. Ford, dem immerhin mehr als die Hälfte des Unternehmens gehörte, musste seinen Aktionären Dividenden auszahlen.24

Wettbewerbsdruck

Ist die Welt durch die Liberalisierung von Staatsbetrieben besser geworden? Ja, sagen die Befürworter und verweisen auf die Vorzüge des befreiten Telefonmarktes. In der Zeit des Monopols sei Telefonieren teuer und der Service schlecht gewesen. Durch die Liberalisierung habe sich das geändert, Telefonieren sei billig und der Service besser geworden. Das lässt sich nicht bestreiten. Doch ein weiteres Beispiel dieser Art ist kaum zu finden.
Schon beim Postmonopol für Pakete und Briefe sind die Resultate weniger überzeugend: Zum einen sanken die Preise für Warensendungen nach Beendigung des Monopols weniger deutlich als erwartet, zum anderen wirkt sich der Wettbewerb im Pakethandel negativ auf unsere Gesundheit, Lebensqualität und den Klimawandel aus, denn jedes Paketunternehmen fährt nun sämtliche Stadtteile und Regionen ab. In ein und dieselbe Siedlung fahren am Tag rund fünf Paketwagen. Damit vervielfacht sich die Belastung mit Schadstoffen und Lärm. Auch die gesamte Infrastruktur, etwa die Verteilstellen und Fahrzeuge, potenziert sich um den Faktor fünf. Mehr Wettbewerber sind also nicht automatisch zum Vorteil für den Kunden und schon gar nicht für die nächsten Generationen.
Zudem muss sich jeder Betrieb gegenüber seinen Wettbewerbern behaupten. Angenommen, der größte Sportartikelhersteller der Welt würde sein gesamtes Angebot schrittweise auf ökofaire Produkte umstellen. In der Folge würden Laufschuhe und Sportbekleidung deutlich teurer, viele Konsumenten würden zur Konkurrenz wechseln. Weil das absehbar ist, würden die Aktionäre eine solche Strategie nicht unterstützen.
Wenig zimperlich wären die Anleger wohl auch gewesen, wenn einer der großen Energieversorger Deutschlands bereits Mitte der 1990er-Jahre angekündigt hätte, fortan nur noch in Strom aus Sonne und Wind zu investieren. Ein dramatischer Einbruch an der Börse wäre vermutlich die Folge gewesen. Warum auch soll ein Energieversorger mit viel Geld die Effizienz in Haushalten verbessern, wenn es der Wettbewerber nicht tut? Damit versetzt sich das Unternehmen objektiv in einen Nachteil. In der Folge zieht der Kapitalmarkt sein Geld ab. Gegenüber dem Kapitalmarkt lässt sich nur sehr begrenzt nachhaltiges Engagement vertreten. Der unheilvolle Wettbewerbsdruck hindert Unternehmen, das zu tun, was moralisch geboten wäre.
Bei RWE beispielsweise sind es nicht zuletzt die kommunalen Anteilseigner, die am Kohlepfad des Unternehmens so lange wie möglich festhalten wollen. Inzwischen geht die überkommene Strategie des Essener Energiekonzerns nicht mehr auf, das Kohlegeschäft garantiert keine üppigen Gewinne mehr. Nun klagen die betroffenen nordrhein-westfälischen Kommunen über ausbleibende Dividenden, die ihre ohnehin überschuldeten Haushalte weiter belasten, und bekämpfen die Vorschläge der Bundesregierung zum schrittweisen Ausstieg aus der Kohle – obwohl sie damit nur den überfälligen Strukturwandel hinauszögern.

Wettbewerb zwischen Kommunen

Viele Städte befinden sich in einer vergleichbaren Lage. Welcher Bürgermeister traut sich schon, den motorisierten Individualverkehr in der Stadt zu begrenzen? »Dann fahren die Menschen aus dem Umland doch zum Einkaufen in die Nachbarstadt«, lautet das Argument. Das wäre schlecht für den Einzelhandel, schlecht für die Wirtschaftslage, schlecht für den Arbeitsmarkt. Mit der gleichen Begründung werden immer mehr Grünflächen für Gewerbe und Einfamilienhäuser erschlossen. So sollen die wichtigsten kommunalen Einnahmen – die Gewerbesteuer und der kommunale Anteil an der Einkommenssteuer – gebunden und die Abwanderung ins Umland verhindert werden. Dies geschieht mit der Rechtfertigung: »Wenn wir das nicht anbieten, macht es die Nachbargemeinde.« Die lockt ohnehin mit Dumpingpreisen für Grundstücke und niedrigeren Gewerbesteuern.
In ihrem zerstörerischen Wettstreit schrecken die Städte und Gemeinden auch nicht vor dem Aus- und Neubau von Straßen und Flughäfen zurück. Jeder Entscheidungsträger ist sich zwar durchaus bewusst, dass der zunehmende Flugverkehr die globale Erwärmung beschleunigt und ganze Landstriche »verlärmt«. Aber das Risiko, durch Nichtstun den Anschluss zu verpassen, scheint zu groß. Es ist ein Rennen, bei dem die Beteiligten am Ende nur verlieren können – es sei denn, sie treffen interkommunale Absprachen oder die bundespolitischen Rahmenbedingungen ändern sich.
Wie schwer es fällt, sich dem Wettbewerbsdruck zu entziehen, veranschaulicht eine Schildbürgergeschichte vom »Bergischen Städtedreieck«. Eigentlich möchten die Städte Remscheid, Solingen und Wuppertal kooperieren. Doch bei der Frage, an welchem Standort ein großes Factory-Outlet-Center entstehen soll, entzündet sich ein erbitterter Streit. Anstatt sich zu verständigen, klagen die drei Städte gegeneinander und verstricken sich in einen grotesken Wettlauf um scheinbare Vorteile, der schließlich zum Bau von drei Einkaufszentren führt. Dabei stehen die kleinen Einzelhändler in den Innenstädten durch den Versandhandel längst unter großem Druck. Doch die Nulloption – den Verzicht auf ein neues Outlet-Center auf der grünen Wiese – haben die Stadtväter gar nicht erst in Erwägung gezogen und damit die Problemlage für alle aktiv verschärft.25
Wettbewerb zwischen Staaten, Schülern und Arbeitnehmern
Auch Staaten gehen in Konkurrenz zueinander – mit teils verheerenden Folgen. Von einem »race to the bottom«, einem »Abwärtswettlauf«, sprechen die Ökonomen, wenn im globalisierten Wettbewerb die Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards immer weiter gesenkt werden. In den Medien allgegenwärtig sind Berichte über Unternehmen mit fantastischen Börsenwerten und minimalen Steuerausgaben. Auf der Suche nach der Steueroase spielen sie die Nationen gegeneinander aus.
Der internationale Wettbewerbsdruck macht sich bis in den Alltag von Schülern bemerkbar. Möglichst früh, möglichst effektiv und umfangreich sollen sie sich das notwendige Wissen aneignen, um später mithalten zu können. Unterricht schon im Kindergarten: Warum nicht? Abitur in zwölf Jahren? Muss sein, damit junge Menschen eher und länger arbeiten können. Englisch in der Grundschule? Wer etwas auf sich hält, wird seinen Kindern diese Möglichkeit sichern. Betrachtet man Deutschland im internationalen Vergleich, ist sogar noch viel Luft für Leistungssteigerung. In China und Japan werden Kinder schon im Vorschulalter für die Karriere gedrillt. All das muss sein, lassen die Wirtschaftsverbände und Unternehmen aller Länder verlautbaren. Wer nicht mitzieht, bleibt beim Kampf ums Wachstum auf der Strecke. So betrachtet, ist »lebenslanges Lernen« keine Formel für ein gutes, angenehmes Leben voller Herausforderungen, sondern verkommt zum Zwang. Stress, Mangel, Zeitnot, Zwiespalt und falsch verstandener Ehrgeiz sind die Kennzeichen des Bildungswettkampfes.
Aus derselben Wettbewerbslogik ergeben sich auch ständig steigende Anforderungen für die Arbeitswelt. Einen gesellschaftlichen Diskurs um Arbeitszeitverkürzungen gab es zuletzt in den 1980er-Jahren. Seither geht es um Verdichtung, längere Arbeitszeiten und Wochenendarbeit (s. Kapitel »Arbeiten«).
Um für steigende Umsätze und Wirtschaftswachstum zu sorgen, werden immer häufiger verkaufsoffene Sonntage und Moonlightshopping eingeführt. Die Resonanz ist groß, keine Kommune möchte da außen vor bleiben. Viele Geschäfte haben längst bis 22 Uhr oder gar die ganze Nacht geöffnet. Wenn Lidl, Netto und Aldi am selben Standort sitzen, muss nur einer seine Öffnungszeit von 20 auf 22 Uhr verlängern, und sofort ziehen alle mit. Dass die Ansiedlung von drei Discountern auf engstem Raum ungefähr so sinnvoll ist wie drei Postfilialen in einer Dorfstraße, kommt den Stadtplanern selten in den Sinn.
Manager fordern radikalere Vorgaben der Politik
Wettbewerb ist eine gute Sache, wenn es denn ethische Spielregeln gibt. Wie jeder Fußballfan weiß, gäbe es ohne klare Regeln, Schiedsrichter, Rote und Gelbe Karten ein Hauen und Stechen und vermutlich kein ansehnliches Spiel – weder für die Zuschauer noch für die Akteure auf dem Feld. Aber wenn die Richtung vorgegeben ist, kann selbst der härteste Konkurrenzkampf die Transformation zur Nachhaltigkeit fördern.
In vielen Unternehmen haben die Verantwortlichen das bereits erkannt. Längst nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand fordern sie einen strengeren Ordnungsrahmen, um beim Thema Nachhaltigkeit voranzukommen. Es klingt fast unglaublich, aber acht von zehn Managern aus der Wirtschaft wünschen sich »radikalere Vorgaben von der Politik«, ergab eine Umfrage der Vereinten Nationen und der Unternehmensberatung Accenture unter 1 000 Konzernchefs aus 100 Ländern. Damit die Idee der Nachhaltigkeit nicht nur auf sporadische Fortschritte beschränkt bleibt, sondern sich zu einem kollektiven Transformationsprozess entwickelt, braucht es nach Überzeugung der Manager klare ordnungspolitische Entscheidungen auf globaler, nationaler und lokaler Ebene.26
Abbildung 4   Acht von zehn Managern aus der Wirtschaft wünschen sich »radikalere Vorgaben von der Politik«. In anonymen Befragungen fordern sie einen strengeren Ordnungsrahmen, um beim Thema Nachhaltigkeit voranzukommen.27
Bei der Ökodesignrichtlinie der Europäischen Union gelingt dies schon recht gut: Seit 2009 gibt die EU über diese Richtlinie Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung elektrischer Geräte vor (s. »Die Ökoroutine für Strom«). Als kürzlich neue Standards für die Effizienz und Haltbarkeit von Staubsaugern ausgearbeitet wurden, waren Vertreter von Umweltinstituten, Industrieverbänden, der EU-Kommission und den betroffenen Unternehmen wie Hoover, Vorwerk, Miele und Bosch-Siemens beteiligt. Einige wollten ambitionierte Vorgaben, andere besonders hohe Standards. »Die Industrie beklagt sich nicht«, stellte die FAZ fest.28 Im Gegenteil, die Unternehmen können gut damit leben, dass Standards fortlaufend verbessert werden. Unterm Strich profitieren sie von dem Anreiz, ihre Produkte kontinuierlich verbraucher- und umweltfreundlicher zu machen.

Wachstum

Unsere Wachstumslogik stellt das Nachhaltigkeitspostulat grundsätzlich infrage. Um für beständiges Wirtschaftswachstum zu sorgen, subventionieren wir vieles, das problematisch oder schädlich ist, wie Massentierhaltung, Flugverkehr, Diesel und Dienstwagen. Selbst die Klimaverhandlungen scheiterten über viele Jahre letztlich am Wachstumsdogma: Die Vertreter aller Nationen hatten schlichtweg Angst, eine entschlossene Klimapolitik könne ihr Wirtschaftswachstum gefährden.
Während ärmere Länder dabei auf ihren Entwicklungsbedarf für eine Befreiung aus der Armut verweisen, steht bei den Industrieländern die Annahme im Vordergrund, durch ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt lasse sich das Problem der Arbeitslosigkeit lösen, zumindest jedoch die Zahl der Arbeitsplätze stabilisieren. Wachstum soll die Schulden reduzieren, Inflationsverluste ausgleichen, die sozialen Sicherungssysteme finanzieren und vieles mehr. Nur wenige Entscheidungsträger in der Bundespolitik können oder wollen sich eine Wirtschaft ohne Wachstum vorstellen.
Die fatale Wachstumsabhängigkeit
Tatsächlich ist es keine leichte Sache, sich von der Wachstumslogik zu lösen. Wir sind vom Wachstum abhängig. Verdrängen ist aber kein Ausweg, denn die Wachstumsfrage ist die größte Herausforderung der gesamten internationalen Nachhaltigkeitspolitik. Bleibt sie ungelöst, lässt sich kaum ein Regelwerk etablieren, mit dem die Vergeudung von Zink, Indium, Kohle, Öl, Gas usw. zu begrenzen ist.
Alle Vorgaben, die das Wachstum dämpfen könnten, sind bisher tabu: Die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs beispielsweise könnte den Absatz der Automobilindustrie gefährden. Das gilt gleichermaßen für eine strenge CO2-Vorgabe für Pkw. Schon die bescheidene Luftverkehrsabgabe wird kritisch gesehen, weil die Flughäfen dadurch angeblich nicht mehr so schnell wachsen. Noch mehr gilt die Einführung einer Kerosinsteuer als wachstumsfeindlich.
Aus denselben Gründen lässt man lieber von einer Ressourcensteuer die Finger, werden nicht genug Zertifikate aus dem CO2-Handel genommen, gibt es keine strengen Vorgaben für artgerechte Tierhaltung, schleppt sich die Einführung der Transaktionssteuer hin, meiden wir nachdrückliche Regeln für Banken, Lohnerhöhungen und vieles mehr. Selbst so einfache Maßnahmen wie das Tempolimit auf Autobahnen scheitern an der Umsetzung, weil es möglicherweise das Wachstum der Autohersteller verlangsamt. Der erlittene Imageverlust wäre womöglich so gewaltig, dass das Interesse am deutschen Automobil zurückginge.
Was würde passieren, wenn …
Man stelle sich vor, unsere Städte und Regionen wiesen keine weiteren Gewerbegebiete aus, keine Neubaugebiete und bauten keine neuen Straßen; der Hamburger Hafen legte alle Erweiterungspläne zu den Akten. Was würde passieren, wenn wir einen neuen Fernseher oder das neue Handy nur noch dann kauften, wenn das alte Gerät kaputt ist, und wenn wir das bei allen Gegenständen im Haushalt täten?
Dann könnten die Unternehmen weniger verkaufen und weniger Menschen beschäftigen. Der Markt für Fernseher und Handys würde vermutlich rapide zurückgehen. Arbeitsplätze gingen in der Produktion verloren, überwiegend in Herstellerländern wie China oder Südkorea. In Deutschland wären Arbeitsplätze im Handel gefährdet.
Was wäre, wenn die Visionen der Carsharing-Optimisten wahr würden und es eines Tages nur noch halb so viele Autos in Deutschland gäbe wie derzeit? Was, wenn China zugleich als Leitziel vorgäbe, dass nur jeder achte Haushalt über ein eigenes Auto verfügen darf? Geschähe dieser Wandel innerhalb von zehn Jahren, wären die Folgen vermutlich niederschmetternd.
Für die Beschäftigten bei VW, BMW und Co. ist es schon bedrohlich, wenn die Absatzzahlen nicht wachsen, während zugleich die Produktivität zunimmt. Denn Jahr für Jahr werden weniger Menschen benötigt, um die gleiche Menge Güter herzustellen. Im Schnitt liegt die Produktivitätsrate in Deutschland bei 1,5 Prozent im Jahr. Von 1 000 VW-Mitarbeitern müssten also jährlich 15 gekündigt werden, wenn die Zahl der produzierten Golfmodelle stagnierte.
Schon heute können die Hersteller Wachstum eigentlich nur noch im Ausland oder mit neuen Geschäftsmodellen generieren. Halbierte sich der Absatzmarkt für Autos in Deutschland, käme es zu dramatischen Einbrüchen. Carsharing ist daher der Albtraum für die deutsche Autowirtschaft. Die Hersteller machen jetzt zwar gute Miene zu der Entwicklung und fungieren selbst als Anbieter, aber die Hoffnung ist, dass die Begeisterung am Auto-Teilen sich in Grenzen hält.
Ohne Alternativkonzept zum Wachstumsmodell steigen die Arbeitslosenzahlen, die sozialen Sicherungssysteme sind gefährdet. Es käme zu sozialen Unruhen. Wie es läuft, wenn es mit dem Wachstum nicht klappt, kann man seit einigen Jahren in den Krisenländern der EU beobachten. Die Menschen in Irland, Griechenland und Spanien leben seit 2008 in einer sozialen und wirtschaftlichen Notlage. Die Zahl der Haushalte ohne Arbeitseinkommen hat sich dort verdoppelt. Erst seit 2015 zeichnet sich in manchen Ländern eine langsame wirtschaftliche Erholung ab.
Gleichwohl werde Wachstum allein nicht ausreichen, um die Schieflage zu überwinden, meint die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD.29 Dafür sind die Arbeitslosenzahlen einfach zu hoch: In Griechenland erreichte die Arbeitslosenquote Mitte 2014 in der Altersgruppe bis 24 Jahre knapp 60 Prozent. In Spanien betrug der Anteil 54 Prozent, in Italien 43 Prozent und in Portugal 36 Prozent.30 Indes steht die nächste Krise schon vor der Tür. Es ist nun dringend an der Zeit, ein Wirtschaftsmodell zu konzipieren und politische Rahmenbedingungen zu entwickeln, welche die fatale Wachstumsabhängigkeit mindern.
Grundströmungen der Wachstumsdebatte
Seit den Ölkrisen in den 1970er-Jahren wird weltweit über die möglichen Grenzen des Wachstums diskutiert. Gerade in den Industrie- und Schwellenländern basiert wirtschaftliches Wachstum auf einem immensen Ressourcenverbrauch. Gewaltige Mengen an Klimagasen werden infolgedessen emittiert. Allerdings ist es inzwischen – dank zahlreicher Effizienzmaßnahmen – gelungen, den Ressourcenverbrauch vom Wachstum abzukoppeln. Während das Bruttoinlandsprodukt in den letzten Jahrzehnten rasant wuchs, stagnierte der Verbrauch.
Die große Frage ist derzeit: Kann die notwendige Reduktion um 60 bis 80 Prozent gelingen, wenn zugleich die Wirtschaft weiter wächst wie gehabt? Hier streiten sich die Geister. Manche sagen, das sei nur mit einer schrumpfenden Wirtschaft möglich.31 Andere meinen, Wachstum werde es auf Dauer nicht mehr geben.32 Wieder andere behaupten, die Wirtschaft müsse nur »ergrünen«, dann könne beides gelingen: Wachstum und Nachhaltigkeit.33 Von manchem wird sogar die These vertreten, die ökologischen Probleme ließen sich nur durch Wachstum lösen.34
Demgemäß kennzeichnen drei Strömungen die Diskussion: Die erste plädiert für Nullwachstum in den Industrieländern, besonders den OECD-Staaten. Klimaschutz sei zum Scheitern verurteilt, solange die Welt nach immer weiterem Wachstum strebt; Wachstum sei notwendigerweise mit fortschreitender Naturzerstörung verbunden. Wir müssten daher die wirtschaftlichen Aktivitäten drosseln. Grüne Technologien hätten bisher den Ressourcenverbrauch nur stabilisiert, und nur die Option Nullwachstum stelle sicher, dass zukünftig Effizienzgewinne in absolute Reduktion mündeten.
Abbildung 5   Der Firmenname »Mehr & Mehr – eine Lebensphilosophie« steht symbolisch für eine expansive Konsumkultur und ihre Bedeutung für wirtschaftliches Wachstum.
Die Vertreter der zweiten Strömung meinen, auch so lasse sich die Krise nicht bewältigen. Sie sprechen sich für Schrumpfung aus, denn die Fördergrenzen von Öl und anderen endlichen Ressourcen liege viel näher, als die meisten ahnen. Wenn man betrachte, mit welcher Dynamik weltweit der Ressourcenverbrauch in Asien und Südamerika zulege, sei klar: Nur wenn die Industriestaaten schrumpfen, könnten arme Länder noch wachsen, und dies auch nur noch in begrenztem Umfang.
Am populärsten ist allerdings die dritte Perspektive: grünes Wachstum. Die Grenzen der Produktion und des Konsums ließen sich demnach nahezu unbegrenzt ausweiten, und falls das eines fernen Tages einmal nicht mehr möglich sei, hätten wir bis dahin schon längst alternative Technologien entwickelt; die globale Erwärmung sei mit grünen Technologien zu stoppen. Fast alle Parteien Deutschlands lassen sich dieser Strömung zuordnen – auch die Grünen.
Kann grünes Wachstum den Klimawandel stoppen?