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Die junge Ornella Ronchetti, Spross einer mächtigen Olivenbauern-Dynastie, stürzt vom Felsen der Burg Arco. Die Erklärung der Familie: Selbstmord. Rosina Gamper, die auf dem Landgut der Ronchettis Deckenfresken restauriert, hat daran so ihre Zweifel. Sie kratzt an der Fassade der Vorzeige-Familie und stößt auf tiefe Gräben und vergiftete Stimmung. Als Ornellas beste Freundin Marta spurlos verschwindet, ist Rosina nicht mehr zu halten. Doch ermitteln muss sie allein, denn mit Mario, dem Ex-Kardinal ihres Herzens, hat sie keine Zukunft. Oder doch?
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Seitenzahl: 303
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Katharina Eigner
Oliva del Garda
Gardasee-Krimi
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen
insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG
(»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © aleksa__ch / shutterstock.com und Sina Ettmer / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7938-0
Gib dem Menschen eine Aufgabe und er wird daran wachsen
Lieblingsspruch meiner Patentante Rosina
Erzählt von Bigoli, von Glitzer-Anzügen und Hanteln. Es geht um die Vorgeschichte, meine Ideenlosigkeit und die Flucht nach vorn. Rosina hat mich am Haken, überrascht mich und beginnt zu erzählen. Ich trinke Limoncello, schäme mich für meinen Vornamen und denke an Balkendiagramme. Dass ich alles aufschreibe, soll sie nie erfahren.
Bräuten stiehlt man nicht die Show. Von allen Benimmregeln für Hochzeitsgäste ist dies die Allerwichtigste.
Am schönsten Tag ihres Lebens darf die Hauptperson einer Hochzeit – zweifellos die Braut – von nichts und niemandem überstrahlt werden. Von keiner Schwiegermutter, die sich ins Epizentrum des Gruppenfotos drängt, von keinem Alleinunterhalter im Glitzer-Anzug und schon gar nicht von einem Mord.
Ich frage mich, ob die Hochzeit und der Ronchetti-Fall anders verlaufen wären, wenn es Rosina nicht gäbe. Beziehungsweise, ob man jene Vorkommnisse überhaupt als »Fall« bezeichnet hätte, wenn sie nicht eingegriffen und sie zu einem solchen gemacht hätte. Aber der Reihe nach.
Das Ermittler-Debut meiner besten Freundin Rosina lag erst wenige Wochen zurück (wir erinnern uns: Sie hatte den Raub des Susanna-Gemäldes und den Mord an Salvatore aufgeklärt). Und jetzt: Fall Nummer zwei. Mehrere Tote am Gardasee innerhalb eines Sommers, was sage ich: innerhalb eines Monats. Sollte mir das zu denken geben?
Die Häufung von Todesfällen in Rosinas Umgebung ist nicht zu übersehen. Für die Statistik wären ihre Fälle ein gefundenes Fressen; wo immer sie auftaucht, ist das Verbrechen nicht weit. Wir kennen uns zwar seit unserer Schulzeit in Salzburg, trotzdem ist mir ihre magnetische Wirkung auf Kriminalfälle bisher nie aufgefallen. Seit wir allerdings beide am Gardasee leben, lässt sich das nicht mehr ignorieren. Mord und Totschlag, Diebstahl, Raub: Die Kriminalistik umschwirrt meine beste Freundin wie eine Schmeißfliege, stets darauf bedacht, nicht erwischt zu werden.
Rosina hat – neben feinen Antennen und unschlagbarer Logik – noch zwei weitere Eigenschaften im Gepäck, um es mit dem Verbrechen aufzunehmen: den Blick für Details und Ausdauer.
»Das wirklich Wichtige sieht man immer erst auf den zweiten Blick«, sagte sie neulich an einem lauen Abend Anfang September, als wir vor ihrem Wohnmobil saßen. Sie hatte mich mit der Aussicht auf Bigoli con le sarde del Garda und einen Bericht über die Ronchetti-Hochzeit aus meiner Taschenwerkstatt gelockt, hatte mich also am Haken. Meistens hole ich mir aus Signora Baldinis Laden neben der Werkstatt gefüllte Focaccia oder Tramezzini. Mindestens zweimal pro Woche rühre ich eine fertige Risotto-Mischung an, und für den absoluten Notfall greife ich tief in die Tiefkühltruhe zur Fertigpizza. Obwohl ich seit fünf Jahren am Gardasee lebe, hat mich die italienische Küche noch nicht erreicht. Zumindest konsumiere ich sie bis jetzt nur passiv, wenn ich eingeladen werde. Fürs Kochen fehlt mir die Motivation, außerdem bin ich komplett ungeeignet für jegliche Form der Nahrungszubereitung. Rosinas Einladungen sind demnach die kulinarischen Highlights meiner Woche, zumal in Kombination mit einem Bericht über die Promi-Hochzeit, zu der sie am Tag zuvor geladen war. Und da ich ideenmäßig momentan sowieso auf der Stelle trat, saß ich brav und hungrig eine Stunde später bei ihr am Campingtisch und ließ mir die Bigoli schmecken. Ein typisches Pastagericht aus der Gardasee-Küche. Eingesalzen und in Öl konserviert kauft man die Gardasee-Sardinen am Bauernmarkt in Calmasino, und nur dort. Nach der Pasta hatte Rosina Perlhuhn mit Ricotta als Hauptgang und anschließend frische Feigen mit Marsala-Creme serviert, dazu gab es caffè.
Satt und zufrieden saß ich vor Rosinas neuer Residenz und war froh, mich zumindest heute Abend nicht mit meinen vertrackten Entwürfen herumschlagen zu müssen. Abendliche Kühle umfing mich gnädig; Balsam gegen die Temperaturen in meiner Werkstatt, die mich den ganzen Tag weich gekocht hatten. Statt an der idealen Umhängetasche zu tüfteln, mit der ich demnächst den Markt erobern wollte, sah ich dem Treiben am Seeufer zu. Surfer zerrten ihre Boards aus dem See, aus den Lokalen ringsum hörte man Gläser klirren, Sessel im Kies rücken und Besteck scheppern. Vor mir am Campingtisch brannte eine Zitronella-Kerze und vertrieb Tigermücken und Feuerwanzen. Ein typischer Spätsommerabend an Italiens größtem See.
Was für ein wunderbares Stückchen Erde, dachte ich und betrachtete Rosinas neues Zuhause. Dezente Lichterketten betonten die Kanten des schwarzen Wohnmobils und spendeten schummriges Licht. Das maßgeschneiderte Gefährt lag neben mir im Dunkeln wie ein ankerndes Schiff, bereit, noch bei Morgennebel in See zu stechen und Kontinente zu erobern. Stellte ich mir zumindest vor.
Im Inneren öffnete Rosina eine Tür und dann den Kühlschrank. Gläser klirrten. Als sie über die Stufen zurück nach draußen kam, schwenkte sie eine Flasche Limoncello in der einen, zwei winzige Gläschen in der anderen Hand. Sie nahm mir gegenüber Platz, betrachtete die Flasche zufrieden und öffnete sie schließlich mit großer Geste. Zitronenduft waberte mir entgegen.
Das wirklich Wichtige sieht man immer erst auf den zweiten Blick. Ich kam auf ihren Satz von vorhin zurück.
»Ich dachte, für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance?«, zitierte ich einen ihrer Grundsätze und drehte mein leeres Glas auf der Tischplatte. Meine beste Freundin, muss man wissen, ist die Großmeisterin des ersten Eindrucks. Sowohl was die eigene Erscheinung betrifft als auch bei der Beurteilung anderer. Eine ihrer Schwachstellen, würde ich sagen. Ihrem Scannerblick entgeht zwar kein Detail, aber für den zweiten Blick fehlt ihr meist die Geduld.
In Sachen Auftreten und Outfit dagegen überlässt sie nichts dem Zufall. Niemals. Rosina ist die Schaumgeborene des Stylings. Sie greift zielsicher zu den idealen Farben und Schnitten, kombiniert mühelos Muster und weiß, was ihr steht. Ich dagegen trage seit Jahren Jeans und schwarze T-Shirts mit mehr oder weniger originellen Aufdrucken. Alles andere ist mir zu kompliziert.
»Ach, das hast du dir gemerkt?« Rosina strich eine imaginäre Fluse von ihrem perfekt sitzenden Sommerkleid und betrachtete mich kritisch. Dann grinste sie und deutete auf mein Oberteil. »Schwarz geht immer« war in fetten Lettern drauf gedruckt. Über die Jahre waren die weißen Buchstaben allerdings ergraut und brüchig geworden. Vom Saum hing ein langer schwarzer Faden, den Stoff an der Schulter hatten hungrige Motten bearbeitet. Nicht gerade das Highlight meiner Garderobe, aber ein Klassiker, fand ich.
»Für die Werkstatt reicht’s«, murmelte ich und zuckte verlegen die Schultern. Ich kam mir vor wie Aschenputtel.
»Es würde auch dir nicht schaden, ein bisschen am ersten Eindruck zu arbeiten!« Sie beugte sich über den Campingtisch und füllte Limoncello in beide Gläser. Etwas skeptisch starrte ich auf das gelbe Getränk. Der Limoncello und ich sind nicht unbedingt beste Freunde; seit meinem ersten Kontakt mit dieser seifig schmeckenden Flüssigkeit mache ich einen großen Bogen darum, wann immer es geht.
»Hab ich mit den Zitronen aus Canale di Tenno angesetzt«, erklärte sie. »Na los, probier’!«
Also kein Entrinnen. Dies war nicht irgendein Limoncello, sondern ein Meilenstein. Die Flüssigkeit markierte ein abgeschlossenes Kapitel aus Rosinas Leben, war quasi ein Destillat ihrer Vergangenheit, und ich ahnte, dass sie ihn für einen besonderen Moment aufgehoben hatte. Dass dieser Moment ausgerechnet jetzt gekommen war, stimmte mich misstrauisch. Hatte sie mir etwas zu beichten? Womöglich das desaströse Ende einer gerade entflammten Liebe? Denn dass auf der Hochzeit gestern Abend etwas Besonderes vorgefallen war, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Ein weiteres Fiasko aus Rosinas Liebesleben war wesentlich wahrscheinlicher.
Vor nicht einmal einem Monat hatte sie ein entzückendes Häuschen samt Garten am Nordufer des Gardasees an einen Hochstapler verloren, war quasi in die Obdachlosigkeit geschlittert. Der Umzug in ihr Wohnmobil war die einzig logische Konsequenz gewesen. Diesen speziellen Limoncello zu trinken war also eine Art Vergangenheitsbewältigung: eine Sache abschließen und Platz machen für Neues. Sie hob das kleine Glas und prüfte die Farbe des Likörs.
»Merke: Man kann selbst einen guten Eindruck hinterlassen und trotzdem seine Umgebung kritisch betrachten. Hinter Fassaden blicken und sich nicht blenden lassen, verstehst du? Das eine schließt das andere nicht aus!«
Sich nicht blenden lassen – das war neu. Ich betrachtete sie kritisch. Rosina prostete mir zu, leerte ihr Glas auf ex und wartete gespannt.
»Na?« Sie nickte aufmunternd.
Ich starrte den Limoncello an wie einen Feind, den es zu vernichten galt, atmete tief durch, trank beherzt und – war überrascht. Statt synthetischem Zitronenaroma und klebriger Süße breitete sich fruchtige Milde auf meiner Zunge aus. Angenehm samtig und kein bisschen seifig. Dieser Limoncello war eine Offenbarung.
Rosina lächelte zufrieden. »Manchmal schlummern Überraschungen in Dingen, die du schon abgehakt hast. In der Liebe wie beim Limoncello.« Sie zwinkerte mir zu. »Du musst dich nur darauf einlassen.«
Ich ahnte, worauf sie abzielte: Lukas. Ich hatte mich vor Kurzem in den feschen Schweizer Gardisten verschaut und die Sache ernster genommen als er. Daher hatte ich auch erst spät bemerkt, dass ihm seine blonde Ex-Freundin, ein nordisches Gewächs mit Beinen bis zum Hals, in letzter Zeit auffallend oft »zufällig« über den Weg gelaufen war. Ich hatte kampflos aufgegeben und mich zurückgezogen. Aktuell dümpelte ich also in einem Mix aus Verzweiflung und Selbstmitleid und haderte mit meinem Liebesleben.
»Und selbst?«, wagte ich die Flucht nach vorn und stellte mein Glas einen Tick zu laut auf dem Tisch ab. »Ich meine, amoremäßig?«
»Das sieht dir wieder ähnlich.« Rosina musterte mich kopfschüttelnd. »Kneifen, wenn’s ans Eingemachte geht. So wird das nie was mit dir und der Liebe.«
»Eigentlich wolltest du mir etwas erzählen!«, versuchte ich, sie zum eigentlichen Thema zurückzulotsen. Rosina schenkte sich Limoncello nach, leerte auch dieses Glas auf ex und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Vom Gardasee klatschten kleine Wellen an die Mole.
»Vielleicht,« begann sie, hielt kurz inne und suchte nach den richtigen Worten, »wäre auf der Hochzeit gestern gar nichts passiert, wenn ich allein hingegangen wäre.« Rosina sah mich an. »Ohne Mario.«
Zur Erinnerung: Gemeint war Mario Ivic, seines Zeichens Ex-Kardinal, der seinen Job im Vatikan erst vor Kurzem an den Nagel gehängt und seinen Lebensmittelpunkt an den Gardasee verlegt hatte. Ein Mann der Kirche mit Vorliebe für Hanteln und Tätowiernadeln, sprich: ein Unikat. Gut ein Dutzend biblische Motive zierten seine gestählten Muskeln, die Presse in Rom feierte ihn als Revoluzzer, als Helden, der gegen den zähflüssigen Strom der katholischen Kirche schwamm. Mario Ivics weltliche Prinzipien harmonierten nicht mit Pomp und Pathos im Vatikanstaat, das sah sogar ein Blinder mit Krückstock, aber gerade darin lag die Faszination, die dieser Mann ausübte. Mario holte die Jugendlichen von der Straße, er war der Don Bosco des 21. Jahrhunderts. Ein Kardinal zum Angreifen. Er lud die Armen und Bedürftigen nicht zu sich, sondern suchte den Weg zu ihnen. Er pfiff auf Konventionen und Berührungsängste, streifte durch Roms verwahrloste Randbezirke und überschritt dabei sämtliche moralische Grenzen. Mario trainierte in verranzten Hinterhofstudios und war mit den Tätowierern der Stadt auf Du und Du. Er trank seinen caffè nicht hinter den sicheren Mauern des Vatikans oder bei hippen Baristas in Roms Zentrum, sondern bei zwielichtigen Typen mit Dreck unter den Fingernägeln und Fluppe im Mundwinkel. Jeder in Rom kannte IL TATUATO. Wo immer der trainierte Mittfünfziger mit den stechend blauen Augen auftauchte, zerbröselten soziale Barrieren wie jahrtausendealtes Gemäuer auf dem Forum Romanum und tauten eisige Mienen auf. Er brachte verstockte Gemüter zum Reden, ohne selbst viel zu sagen. Mario konnte gut zuhören, das war sein Geheimnis, und was man ihm anvertraute, behielt er für sich. Es war ein schmaler Grat zwischen Loyalität und Gesetzesbruch, auf dem er balancierte, aber das war ihm egal. Mario krempelte die Ärmel hoch, nutzte seine Verbindungen und half Bedürftigen, wo er konnte. Mit den Jahren hatte er ein soziales Netz geknüpft, das Jugendliche aus den Gewässern der Kriminalität fischte und ihnen Halt auf dem Weg in die Normalität gab. Mario Ivic war der Rockstar des Vatikans, ein Anker, der Halt gab. Auf einen Mann wie ihn konnte man zählen. IL TATUATO musste nicht predigen, um abtrünnige Schäfchen zurück auf die katholische Weide zu führen. Er setzte auf Taten statt Worte. Die Yellow Press liebte ihn, Herzen und Telefonnummern flogen ihm zu, und die PR-Abteilung des Vatikans hatte alle Hände voll zu tun, seine TV-Termine zu koordinieren und Groupies abzuwimmeln. Was irgendwann zum Problem wurde. Denn sogar das christlichste Handeln zieht Neid und Missgunst der Mitstreiter auf sich, wenn es von Erfolg gekrönt ist. Ein zutiefst menschliches Verhalten, das auch vor dem Stuhl Petri nicht Halt macht. So sehr sich die Ordensmänner gegen Kirchenaustritte stemmten und verzweifelt versuchten, den Glauben in das 21. Jahrhundert zu führen: Für eine Reform »à la Mario« waren sie noch nicht bereit.
Der Wind im Vatikan drehte. Man ließ IL TATUATO deutlich spüren, dass diese Art von Popularität nicht erwünscht war. Die Stimmung fror ein, Geldhähne für soziale Projekte wurden abgedreht. Man kann sagen, dass Mario ein Opfer seines eigenen Erfolgs wurde. Und so hatte er kurzerhand die Reißleine gezogen, seinen Dienst auf unbestimmte Zeit quittiert und war an den Gardasee gewechselt. Wo meine Freundin Rosina ihn beinahe überfahren und ihn dann für ein paar Tage in ihrem Wohnmobil aufgenommen hatte.
Den Kunstdiebstahl aus der Villa Martinelli hatten Mario und Rosina gemeinsam geklärt – eine heikle Angelegenheit, denn Herkunft und Erwerb des Bildes hätten den Besitzer in echte Schwierigkeiten bringen können. Das Ganze musste also ohne polizeiliche Hilfe über die Bühne gehen, die wenigen Eingeweihten – mich eingeschlossen – waren zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Trotzdem – man kennt das – waren kurz darauf Details an die Öffentlichkeit gedrungen und Informationen durchgesickert. Wobei der Diebstahl, gemessen an den mehr oder weniger prominenten Ermittelnden, in den Hintergrund rückte.
Man wusste nun, dass IL TATUATO in Riva weilte. Erste Pressevertreter belagerten seine neue Bleibe und waren scharf auf Interviews, denn die Frau an seiner Seite – Rosina – war attraktiv. Zu attraktiv, um nicht laut über ein Verhältnis mit dem Kirchenmann nachzudenken oder sie sogar zum Grund für seinen radikalen Schnitt mit dem Vatikan zu machen. Keine italienische Zeitung, nicht einmal das seriöseste Blatt, lässt sich eine handfeste Dornenvögel-Geschichte entgehen, und so ist auch meine beste Freundin seit Mitte August jenes Jahres eine kleine Berühmtheit am Nordufer des Gardasees. Die eine oder andere Zeitung interessierte sich sogar für den eigentlichen Fall und berichtete, dass »l’Austriaca«, die Restauratorin Rosina Gamper mit österreichischen Wurzeln, ein gestohlenes Gemälde aufgespürt hatte. Ohne polizeiliche Hilfe, dafür mit dem feschen Ex-Kardinal an ihrer Seite. Was die Gerüchteküche angeheizt hatte.
»Die brauchen etwas, um das Sommerloch zu füllen«, gab sich Rosina betont bescheiden, als ich ihr den Bericht unter die Nase hielt. Aber ich kannte sie besser: In Wirklichkeit schmeichelte ihr die wohlwollende Berichterstattung.
Mittlerweile ist viel Neues passiert, und Rosina kann eine Aufklärungsrate von fast 100 Prozent vorweisen und auf zig Fälle zurückblicken. Einige davon skurril, andere wiederum einfach nur unglaublich. Jedenfalls zu schade, um in Vergessenheit zu geraten, also habe ich beschlossen, sie für die Nachwelt festzuhalten. Nüchtern auf Zahlen heruntergebrochen ließe sich das mittels Balkendiagrammen erledigen: Morde, Diebstähle und Betrugsfälle am Gardasee, leicht verdaulich und für das Auge schnell zu erfassen, in quietschbunten Farben in eine Excel-Tabelle gehämmert. Aber mein Verhältnis zu Zahlen, Tabellen und der Mathematik war immer schon schwierig, also habe ich mich für eine andere Herangehensweise entschieden: Ich schreibe Rosinas Fälle auf. Dabei ist Tempo angesagt, denn das Verbrechen ist auf der Überholspur, und Rosina fallen die Morde schneller zu, als ich mitschreiben kann. Ich muss also auf dramaturgische Finessen verzichten weil mir schlicht die Zeit fehlt, alles auszuschmücken. Es geht nur darum, das Geschehene so gut es geht festzuhalten.
Rosina weiß übrigens nichts davon, und so soll es auch bleiben. Ich bin keine routinierte Schreiberin, kritzle nur hier und da nach meiner Arbeit in der Werkstatt etwas in mein Notizbuch, damit mir die Erinnerungen nicht entgleiten. Dabei versuche ich, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es sind also eher Notizen als Geschichten, die ich hier zu Papier bringe, und es wäre mir schrecklich peinlich, sie jemals vorlesen zu müssen. Öffentliche Auftritte oder gar das Vortragen von Texten sind nicht mein Ding, dazu fehlt es mir schlicht an Courage. Ganz abgesehen davon, dass mein exotischer Vorname eine glamouröse Autorenkarriere sowieso ausschließt. Ich weiß nicht, was in meinen Eltern damals vorgegangen ist, als sie mir diese Art von Stempel aufgedrückt haben. Kein Verlag der Welt wäre bereit, so einen Namen auf ein Buchcover zu drucken. Aber ich schweife ab. Zurück zu jenem Spätsommerabend in Riva del Garda und Rosinas zweitem Fall.
Erzählt von Oliven und Karma, von Klippen und einem großen Dichter. Es geht um Entscheidungen, um Abschied und Erleichterung, außerdem um Sozialprojekte, Knabberzeug und Insekten. Rosina trägt rot und ist trotzdem nicht der Mittelpunkt. Sie trinkt Dirty Martini und zitiert Rilke. Ich will helfen und nehme mich aus dem Rennen.
Das Kuvert mit der Einladung lag seit Wochen auf Rosinas Arbeitstisch. »Fast hätte ich vergessen hinzugehen«, gab Rosina zu, »ich war während der letzten Wochen schwer beschäftigt.«
Sie lehnte sich zurück und wartete auf meine Frage, womit. Aber den Gefallen tat ich ihr nicht, also fuhr sie, leicht pikiert, fort.
Eugenio Ronchetti, ein langjähriger Kunde, in dessen Villa sie schon Deckenfresken und den Altar der hauseigenen Kapelle restauriert hatte, lud zu einem Fest auf die Burg Arco. 50 handverlesene Gäste waren geladen, um im engsten Kreis die Hochzeit seiner Enkelin Bianca zu feiern.
»Nur 50?«, unterbrach ich sie beeindruckt, denn die Ronchetti-Hochzeit war seit Wochen das Thema am Nordufer des Gardasees, und viele B- und C-Promis hatten spekuliert, dabei sein zu dürfen. Anscheinend hatten sich sogar ein älterer, blond gelockter Showmaster aus Deutschland und ein Spross aus dem monegassischen Fürstenhaus angekündigt.
»Und du mittendrin–- was für eine Ehre!« Ich war beeindruckt.
Aber Rosina winkte lässig ab. »Besser, wenn ich geschwänzt hätte. Die Ronchettis sind eine alteingesessene Familie mit einem Stammbaum bis ins Mittelalter.« Sie verzog verächtlich den Mund. »Angeblich«, sagte sie und machte Gänsefüßchen mit Zeige- und Mittelfingern in der Luft. Rosina hielt zwar viel auf Traditionen, verachtete jedoch Angeber. »Unter ihren Vorfahren waren Raubritter und Geschäftsleute. Vor ein paar Generationen haben sie auf Landwirtschaft umgesattelt und leben seither vom Olivenanbau.«
Sie öffnete ein Säckchen mit gesalzenen Pistazien und leerte einiges davon in eine Keramikschale am Tisch.
»Die Ronchettis gehören zu den größten Olivenöl-Produzenten in Norditalien.« Rosina knackte ein paar Pistazienschalen und steckte die Kerne in den Mund. »In Sachen Marketing haben sie’s drauf«, knabberte sie, »das muss man ihnen lassen. Die Ronchettis sind Eins-A-Geschäftsleute. Die Ronchetti-Öle werden sogar in den Buckingham-Palast geliefert.«
»Ins britische Königshaus?«, wunderte ich mich. »Oliven auspressen und in Flaschen füllen – das bekommen andere auch hin. Was machen die Ronchettis so Besonderes? Die können doch auch nur mit Wasser kochen.«
»Da merkt man wieder, dass du für Lebensmittel nichts übrig hast. Auspressen und abfüllen – ein bisschen komplizierter ist es dann schon.« Rosina seufzte vielsagend. »Auf das Wesentliche heruntergebrochen stimmt das zwar«, gab sie zu, »aber die Ronchettis sind halt gute Strategen und Netzwerker. Eugenio kennt Gott und die Welt.«
»Der, der dich eingeladen hat?«
Rosina nickte. »Das Familienoberhaupt. Il Capo, sozusagen. Hat die Familie fest im Griff. Eugenio hat den familieneigenen Landsitz ausgebaut und renoviert. Ein schönes Haus, Jahrhunderte alt, aber dort fließt keine gute Energie.« Sie seufzte und griff erneut in die Schale mit den Pistazien.
»Warum nicht?«
Rosina ließ sich mit der Antwort Zeit, öffnete eine Schale nach der anderen und starrte jede einzelne Pistazie an. Als ob die Antwort auf diese komplexe Frage in einer von ihnen versteckt wäre. Eine Motte umschwirrte das Licht und flatterte gefährlich nahe an die Zitronella-Kerze heran.
»Weil die Familie kein Glück hat«, sagte Rosina schließlich und starrte auf das Insekt, das die Gefahr nicht erkannte. »Nicht im wirtschaftlichen Sinn, die Geschäfte laufen wie geschmiert. Aber das Schicksal schlägt bei den Ronchettis häufiger zu als bei anderen.« Sie sah mich an. »Zu viel Drama für eine einzige Familie, wenn du mich fragst.«
Die Motte verbrannte mit einem leisen Zischen in der Flamme.
»Ein Familien-Fluch?«
»Blödsinn!« Rosina wischte Pistazien-Krümel vom Tisch. »Wer an Flüche und bösen Zauber glaubt, ist nur zu faul für Ursachenforschung.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Aber wenn in einer Familie nur der messbare Erfolg zählt, vergiftet das auf Dauer die Atmosphäre. Die Ronchettis haben alles ihrem Erfolg untergeordnet. Ihr Leben ist bestimmt von Selbstdarstellung, Verkauf und Ellbogentechnik. Und das hat Ornella auf Dauer nicht mehr verkraftet.«
»Wer?« Ich griff jetzt ebenfalls in die Schale – leer.
»Ornella Ronchetti. Die Schwester der Braut.« Rosina griff zum Säckchen und schüttete erneut Pistazien in das kleine Gefäß.
»Die ist ganz anders gestrickt als ihr Großvater. Ornella hat Kunstsinn und Empathie. Ein wirklich feiner Charakter. Fällt praktisch aus der Reihe. Das hat natürlich zu Reibereien mit dem Familienoberhaupt geführt. Eugenio ist ein Patriarch. Ein Diktator, wenn man so will, der die Fäden innerhalb der eigenen Familie zieht und keine Meinung zulässt außer der eigenen. Wer sich nicht für das Geschäft interessiert, ist draußen.«
Rosina schob ein Häufchen Pistazienschalen hin und her.
»Bianca ist aus demselben Holz wie ihr Großvater geschnitzt«, fuhr sie fort, und ihre Stimme kühlte sogleich um einige Grad ab. »Sie weiß um ihren Platz in der Gesellschaft. Sind mir zutiefst unsympathisch, die beiden. Außerdem ist es schwachsinnig, auf einer Burgruine zu heiraten, da gibt es weiß Gott geeignetere Orte. Mauern mit einer dermaßen blutigen Vergangenheit haben ganz schlechtes Karma. Kein guter Start für ein lebenslanges Bündnis.«
Rosinas Verhältnis zu Hochzeiten kannte ich ja bereits. Ein amtlich besiegelter Liebesschwur auf Lebenszeit war – zumindest im Fall meiner besten Freundin – immer schon der Quell aller Probleme. Was ihr eigenes Liebesleben betraf, sowieso, aber neuerdings auch ermittlungstechnisch. Der Susanna-Fall nahm ebenfalls auf einer Hochzeit seinen Anfang, man erinnert sich. Vielleicht wäre es also das Klügste gewesen, dem Fest einfach fernzubleiben, schlussfolgerte ich.
»Wenn du weder die Braut noch das Familienoberhaupt leiden kannst – warum bist du dann hingegangen?«, fragte ich also verständnislos, erntete aber nur tadelndes Kopfschütteln.
»Du meinst, ich hätte kneifen sollen? Dem Schicksal einfach aus dem Weg gehen und hoffen, dass es nicht ausschert und mir nachläuft?«
Ich zuckte halbherzig die Schultern. »Wäre eine Möglichkeit gewesen.«
»Ganz kurz habe ich das tatsächlich gedacht.« Sie nickte. »Aber glaubst du, das, was ich dir gleich erzählen werde, wäre dann nicht passiert?« Eine rhetorische Frage; sie ließ mir gar keine Zeit zum Antworten. »Ich glaube eher, es war andersherum. Nämlich, dass das Schicksal mich extra zu dieser Hochzeit hin gelotst hat. Es hat mich gerufen.«
Die Mauern des Castello di Arco, zumindest das, was davon übrig ist, thronen auf steilen Felswänden oberhalb des Städtchens Arco.
Befestigte Anlagen an strategisch günstigen Orten waren schon immer heiß begehrt, daher rissen sich Einheimische blauen Geblüts den Berg mit der fabelhaften Aussicht unter den Nagel und nutzten ihn schon um das Jahr 1000 als Burg. Federico von Arco machte den Besitz vor mehr als 800 Jahren durch seine Familie mit Brief und Siegel amtlich. Die Burg war im Lauf der Jahre im Besitz der Ghibellinen, der Scaliger und des Grafen Meinhard von Tirol, fiel aber wie eine Pralinenschachtel, die mehrmals weiter verschenkt wird und irgendwann wieder zum Ausgangspunkt zurückfindet, wieder an das Adelsgeschlecht der Grafen Arco. Die glamourösen Zeiten der Burg sind allerdings Geschichte.
Zwischen einem Steineichen-Wäldchen und dem Sarcatal ragt der Turm der ehemaligen Anlage in die Luft wie ein Zahn. Der kümmerliche Rest des einst bedrohlich gefletschten Gebisses, das Eroberer einschüchterte, an dem sie abprallten oder in dessen Verlies sie zermalmt und weich gekaut wurden. Von der trutzigen Burg, in der adelige Damen und Herren sich die Zeit beim Schachspiel vertrieben, der Heilige Georg einen Drachen getötet und ein anmutiges Weib Rosengirlanden arrangiert haben soll, ist kaum etwas übrig. Nur mehr ein Turm und Fresken im Inneren der Ruine, die vom früheren Leben innerhalb des Gemäuers erzählen. Schloss Arco ist das Wahrzeichen der gleichnamigen Stadt und ein beliebtes Motiv auf Bildern und Stichen. Albrecht Dürer hat die geschichtsträchtigen Mauern im 15, Jahrhundert auf einem Aquarell verewigt, das sogar im Pariser Louvre hängt. Überhaupt hat das Castello di Arco kreative Geister magisch angezogen.
»Ich weiß ein graues Schloss am See«, zitierte Rosina mit dunkler Stimme und starrte auf die flackernde Kerze am Tisch,
»drin tiefe Gänge führen.
Mir ist, an allen Türen
Muss ich, du meine ferne Fee
Dein Faltenrauschen spüren
Im grauen Schloss am See.«
Die Wellen klatschten leise an die Mole. Ich ließ die Worte nachhallen, sah aber keine Verbindung zu Rosinas Erzählung. »Schon mal gehört?«, hakte sie nach.
»Ja«, log ich, »Eichendorff?«
»Da sieht man wieder, dass du von Literatur keine Ahnung hast. Gott sei Dank entwirfst du Taschen und gehörst nicht zur schreibenden Zunft.«
Ich dachte an meine Notizhefte und ließ das unkommentiert.
»Rainer Maria Rilke«, stellte sie klar. »Der hat einige Male seine Mutter am Gardasee besucht, als sie hier auf Kur war. Und da hat er eben ein Gedicht über Schloss Arco verfasst.«
»Nimm’s mir nicht übel«, sagte ich, »aber ist das nicht ein bisschen zu pathetisch? Ich meine, du warst auf einer Promi-Hochzeit, nicht auf einer Geister-Beschwörung!« Sie hatte mich lange genug zappeln lassen, fand ich. Zeit für Fakten.
Rosina musterte mich scharf. »Gute Geschichten peitscht man nicht vor sich her wie ein Rennpferd, die brauchen Zeit, Umwege und Details am Wegrand. Also hetz mich nicht und hör aufmerksam zu!«
»Botschaft angekommen«, ächzte ich, »ich bin ganz Trommelfell.«
Dass Rosina die Hochzeit nur besucht hatte, weil sie dem Ruf des Schicksals gefolgt war, stimmte natürlich nicht ganz. In Wahrheit war es die erste Gelegenheit, sich ganz offiziell an der Seite von IL TATUATO zu präsentieren. Irgendeine glückliche Fügung hatte dafür gesorgt, dass sich Rosinas und Marios Wege kreuzen, oder besser gesagt: dass zwei Welten aufeinander prallen. Es gibt quasi nichts, was die beiden gemeinsam haben. Hier die Restauratorin mit dem Hang zu Medizinern, Glamour und Selbstdarstellung, dort der Geistliche mit Kontakten zur Unterwelt, der die Welt verbessern will. Zwei Pole, die einander zwangsläufig abstoßen und aus rein naturwissenschaftlicher Sicht nie erreichen können. Aber nicht alles im Leben lässt sich mit Gesetzen der Physik erklären. Manchmal braucht die Logik eine Verschnaufpause und winkt andere Kräfte heran, um das Steuer zu übernehmen. Die Liebe, zum Beispiel. Oder irgendeine Vorstufe davon. Amor hatte noch keinen Pfeil auf Mario und Rosina geschossen, aber er überlegte gerade, ob die beiden als Zielscheibe taugten. Ob es sich lohnte, für zwei stetig auseinanderdriftende Teilchen einen Pfeil aus dem Köcher zu fischen und den Bogen zu spannen. Ich mag zwar in eigener Sache keine Romantik-Expertin sein, aber die Schwingungen zwischen meiner besten Freundin und dem Ex-Kardinal nahm sogar ich wahr. Etwas bahnte sich an, so viel war sicher. Nur was?
»Signora Gamper und Begleitung« war auf der Einladung gestanden. Rosina interpretierte das als reine Vorsichtsmaßnahme der Ronchettis, die im Laufe der Jahre Einblick in ihr Privatleben erhalten hatten. Genauso gut hätten sie auch auf das Kuvert drucken können: »Komm, mit wem auch immer du gerade zusammen bist, Hauptsache du lässt die Finger von Männern, die fix vergeben sind, und machst keinen Ärger.«
Mario und Rosina hielten den Status ihrer Beziehung zwar geheim, sogar vor mir, erschienen aber trotzdem zusammen auf der Hochzeit. Wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen: Rosina wollte die Gelegenheit nutzen, sich wieder einmal mit Ornella zu unterhalten, die vor ihrem Großvater und dem Familienbetrieb nach Verona geflüchtet war. Und Mario war quasi beruflich im Einsatz, denn Eugenio Ronchetti hatte ihn gebeten, die Trauung vorzunehmen.
»Was?«, unterbrach ich Rosina, als sie es mir erzählte. »Das glaub ich einfach nicht!«
Rosina zog die Brauen zusammen. »Warum sollte ein Geistlicher kein Sakrament spenden?«
»Ist normalerweise seine Aufgabe, klar, aber …«, ich suchte nach den richtigen Worten, »Eugenio Ronchetti verkörpert genau das, wogegen Mario ankämpft! Reichtum, Macht und gewinnorientiertes Denken! Ich dachte, deshalb hat er den Vatikan verlassen? Ich dachte, Mario ist ein Idealist?«
»Wer sagt denn, dass sich das geändert hat?« Rosina sammelte einzelne Pistazienschalen ein und warf sie in die Schüssel.
»Außerdem ist er kein Kardinal mehr!«, haute ich das nächste Argument raus, merkte aber, dass es nicht überzeugend klang.
Rosina starrte mich an. »Mario ist dem Heiligen Stuhl nicht mehr direkt unterstellt, aber das Priesteramt hat er nicht niedergelegt. Was bedeutet, dass er immer noch predigen darf. Oder eben eine Trauungszeremonie abhalten. Ein Mechaniker darf auch weiterhin Reifen umstecken, wenn er vorübergehend ohne Arbeitgeber ist.«
Ein seltsamer Vergleich, fand ich, sagte aber nichts.
»Außerdem: Nur weil man zwei Menschen traut, wirft man nicht seine Ideale über Bord«, redete Rosina weiter. »Die Ehe ist ein Sakrament und somit Teil von Marios Arbeit. Außerdem war das Ganze …«, sie zupfte an ihrem Kleid herum und räusperte sich, »eher ein Deal.«
Ich wurde misstrauisch. »Ein Deal?«
Rosina wackelte verlegen mit dem Kopf. »Eugenio Ronchetti hat Wind davon bekommen, dass IL TATUATO am Gardasee ist, also hat er ihn für die Trauungszeremonie angeheuert, um ein bisschen mit ihm anzugeben. Marios Ideale sind ihm egal, für Ronchetti war das Ganze doch nur ein Gag. Eine Möglichkeit, seine Promi-Gäste zu beeindrucken. ›Das enfant terrible des Vatikans führt eine Trauung durch, und ihr dürft live dabei sein!‹, war die Botschaft. Sag jetzt nichts, ich weiß: Das hat einen fahlen Beigeschmack. Ich war auch nicht gleich Feuer und Flamme. Aber Mario hat das Ganze nicht ohne Hintergedanken gemacht, kannst du dir schon denken! Der Mann ist schließlich nicht blöd.«
Ich überlegte, welchen noblen Zweck Mario wohl verfolgt hatte. Bestimmt etwas mit karitativem Hintergrund.
»Er hat Ronchetti um Kautionsgelder für inhaftierte Jugendliche gebeten?«, versuchte ich es.
»Knapp daneben, aber gar keine schlechte Idee!« Rosina grinste. »Ich sage nur: Jugendzentrum.«
Es dauerte ein bisschen, aber dann verstand ich.
»Er hat Eugenio Ronchetti um Geld angehauen, weil Rom keine Sozialprojekte mehr finanziert?«
»Exakt. Eigentlich wollte Mario am Gardasee seine Ruhe haben. Ein bisschen Kraft tanken, bevor er die nächste Etappe in Angriff nimmt, aber er hat eine Ausnahme gemacht. Als Gegenzug für die Trauung wollte Mario die Firma Ronchetti als Sponsor gewinnen. Um weiterzumachen, wo er in Rom aufhören musste. Notgedrungen.«
»Er wollte Ronchetti als Sponsor gewinnen?«, fragte ich misstrauisch. »Ist der Deal etwa geplatzt?«
Rosina wand sich ein bisschen. »Das Ganze ist auf Schiene, aber noch nicht amtlich, also …«, sie legte den Zeigefinger an den Mund, »die Chancen stehen jedenfalls gut, dass Ronchetti einen vierstelligen Betrag springen lässt.«
Ich pfiff leise durch die Zähne. Rosina fegte die letzten Schalen von der Tischplatte in die hohle Hand und kippte sie in das Keramikgefäß.
»Für bedürftige Kinder und Jugendliche zu spenden macht sich immer gut in der Öffentlichkeit. Und in lockerer Atmosphäre öffnen sich Geldtaschen leichter als bei einem Termin im Büro.«
»Er hat die anderen Hochzeitsgäste ebenfalls um Spenden gebeten?«
»Sicher.« Rosina nickte. »Sogar mit Erfolg!«
»Kluger Schachzug.« Anscheinend schlummerte ein Organisationstalent in dem zurückhaltenden Kirchenmann. »Zumal Ronchetti vor seinen Promi-Gästen sicher nicht als Geizkragen dastehen wollte«, fügte ich hinzu.
»Exakt. Kann ich jetzt weitererzählen?«
Für die Trauung waren am ehemaligen Turnierplatz der Burg Sesselreihen arrangiert und ein quadratisches Podest aus Holz aufgebaut worden. Ein weißer Baldachin, an vier Eckpfeilern über dem Bretterboden befestigt, bauschte sich im Wind. Rosina, vorerst allein unter den Gästen, weil Mario sich auf die Trauung vorbereitete, sah sich um. Die Deko ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um ein Familienfest der größten Olivenöl-Produzenten der Region handelte: Girlanden aus Rosen und Olivenzweigen rankten sich um den Baldachin. Das Podest war aus Olivenholz gezimmert. Auf den Stehtischen standen Schalen mit aufgemalten Oliven, in denen Olivenöl und Brotstücke als Häppchen bereitlagen, und an den Lehnen der Sessel hingen – Überraschung – Kränze aus Olivenzweigen. In großen Terrakotta-Töpfen, locker zwischen Stehtischchen und am Rand der Sesselreihen verteilt, standen Olivenbäume, um deren Stämme weiße Schleifen gebunden waren.
Rosina, in rotem schulterfreiem Schlauchkleid und hochhackigen Pumps, stand leicht pikiert an einem der Tischchen. Bisher hatte sie Ornella nirgends entdeckt und mit ihr plaudern können. Die anderen Gäste waren zu Small Talk nicht bereit gewesen, überhaupt schien es, als würde niemand Notiz von ihr nehmen. Eugenio Ronchetti hatte sie kurz begrüßt und einem französischen Schauspieler vorgestellt, dann aber wieder sich selbst überlassen. Dermaßen offensichtlich war sie noch nie am gesellschaftlichen Abstellgleis geparkt worden. Rosina straffte sich. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit hätte sie sich schon erwartet, schließlich trug sie als Einzige ein kirschrotes Kleid, was ja bekanntlich Signalwirkung hat, nicht nur in der Tierwelt. Das Kleid war am Bein geschlitzt, ihre gebräunten Schultern hatte Rosina dezent mit Bronzepuder betont und die langen Haare in Hollywoodwellen gelegt. An ihren Handgelenken klimperte leise, wie zur Untermalung des zurückhaltenden Gemurmels ringsum, zarter Goldschmuck. Keine Frau also, die man übersieht geschweige denn einfach so als Randerscheinung stehen lässt.
Sie stöckelte missmutig über den Rasen und bestellte sich an der eigens aufgebauten Bar einen Dirty Martini. Ein Cocktail, der polarisiert. Man liebt ihn oder hasst ihn – es gibt kein Dazwischen. Franklin D. Roosevelt hat zwar angeblich damit auf das Ende der Prohibition angestoßen, trotzdem hat es der schmutzige Mix in keinen Bond-Film geschafft oder sonst jemals Berühmtheit erlangt. Der Mix aus Wermut, Gin und Olivenlake – direkt aus einem Olivenglas in den Drink gekippt – ist der gebrauchte Slip unter den Cocktails. Schmutzig, weil er ohne gründliches Abseihen eher trüb und unappetitlich daherkommt und zudem würzig riecht. Manche ekeln sich davor, Cocktail-Gourmets ist er sogar ein Dorn im Auge. Niemand beansprucht das Urheberrecht für sich. Dirty Martini bestellt man nur, wenn keiner hinschaut. Oder wenn Oliven das Motto der Party sind.
Rosina nahm den Spieß mit drei grünen Oliven vom Glas, nippte an dem herzhaft-salzigen Getränk und sah sich um. Einige der Gäste kamen ihr bekannt vor: eine rothaarige Endfünfzigerin, wahrscheinlich die Ex-Schwägerin von König Charles, unterhielt sich gerade angeregt mit einem Designerduo aus Sizilien. Der großgewachsene, blond gelockte Showmaster fachsimpelte mit einem kleinen österreichischen Politiker über Samt-Anzüge. Kein Zweifel: Eugenio Ronchetti hatte die gesellschaftliche Crème de la Crème eingeladen, und Rosina fragte sich, warum zum Henker sie selbst Teil dieser illustren Runde war. Beziehungsweise, ob auf der Einladung eher »Monsignore Ivic und Begleitung« hätte stehen sollen. Sie überlegte, warum Mario überhaupt eine Einladung bekommen hatte, wenn er doch die Trauung vollziehen sollte. Ob sie nur Mittel zum Zweck gewesen war, damit Ronchetti an Mario herankam. Vielleicht sollte die Anrede auf dem Kuvert eine Botschaft transportieren, schließlich war nicht einmal ihr Vorname erwähnt. Sie war Monsignore Ivics Begleitung, nicht mehr.
Rosina betrachtete den Olivenöl-Magnaten, der mit seinem Schwiegersohn in spe vor dem Baldachin stand. Kein Zweifel, wer hier das Sagen hatte.
Rosina fühlte sich deplatziert; Mario hatte keine Zeit für sie, und unter den Gästen waren weder Ärzte noch andere gut aussehende Herren ohne Begleitung, was ihre Laune gleich noch ein paar Stockwerke tiefer sacken ließ. Sie beschloss, den aufkeimenden Kummer wegzuspülen, und sah sich um.
Kellner mit weißen Handschuhen und Fliege am Kragen huschten lautlos von Tisch zu Tisch und boten Limetten-Sprizz und Spumante an. Ramazzotti Rosato, Rosinas Lieblingsgetränk, war nicht dabei, also kippte sie, mittlerweile nicht mehr pikiert, sondern sauer, erst den Dirty Martini und dann einen Spumante nach dem anderen weg.
Erzählt von Baldrian, Nervosität und Kontaktaufnahme, von Sneakers, Charisma und Blumenmädchen. Die Temperatur sinkt, Rosina macht ein Geständnis und ich rede ihr ins Gewissen. Es geht um Sitzreihen, Stufen und Höhenangst. Mario macht sich Sorgen und eine Braut steht am Abgrund.
Es wurde heißer. Einige Hochzeitsgäste tupften sich Stirn und Nacken, fächelten sich Luft zu und drängten sich unter den Sonnenschirmen an den Stehtischchen zusammen.