Olivia - Jakob Wassermann - E-Book

Olivia E-Book

Jakob Wassermann

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Beschreibung

Ein Roman um eine junge Frau und die Liebe zum besten Freund ihres Vaters.

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Olivia

oder Die unsichtbare Lampe

Jakob Wassermann

Inhalt:

Jakob Wassermann – Biografie und Bibliografie

Olivia

Olivia, Jakob Wassermann

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849619480

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Jakob Wassermann – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 10. März 1873 in Fürth, gestorben am 01.01.1934 in Altaussee/Steiermark. Wassermann machte nach Absolvierung der Realschule notreiche Wanderjahre durch und lebte lange in Wien, dem Kreise Schnitzlers und Hofmannsthals nahe stehend. Er schrieb die Romane: »Melusine« (Münch. 1896), »Die Juden von Zirndorf« (das. 1897, neubearbeitete Ausg. 1906), »Die Geschichte der jungen Renate Fuchs« (Berl. 1900, 9. Aufl. 1906), »Der Moloch« (das. 1902), »Alexander in Babylon« (das. 1904) und »Caspar Hauser« (Stuttg. 1908); ferner die Novellen: »Schläfst du, Mutter?« (Münch. 1897), »Die Schaffnerin« u. a. (das. 1897). »Der niegeküßte Mund. Hilperich« (das. 1903), »Die Schwestern« (Berl. 1906) und die theoretische Schrift »Die Kunst der Erzählung« (das. 1904). Weitere Werke sind z.B. "Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens" (Roman, 1908), "Das Gänsemännchen" (Roman, 1915), "Christian Wahnschaffe" (Roman, 1919),  "Laudin und die Seinen" (Roman, 1925) und "Der Fall Maurizius" (Roman, 1928). W. zeichnet sich durch moderne Auffassung und scharfe Beobachtung des Lebens aus.

Wichtigste Werke:

Melusine (Roman, 1896)Die Juden von Zirndorf (Roman, 1897)Schläfst du, Mutter? (Novelle, 1897)Die Geschichte der jungen Renate Fuchs (Roman, 1900)Der Moloch (Roman, 1902)Der niegeküßte Mund (Erzählungen, 1903)Die Kunst der Erzählung (Abhandlung, 1904)Alexander in Babylon (Roman, 1905)Donna Johanna von Castilien (Erzählung, 1906)Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens (Roman, 1908)Die Gefangenen auf der Plassenburg (Erzählung, Erstausgabe 1909)Der goldene Spiegel (Novellenband, 1911)Geronimo de Aguilar (Erzählung, 1911)Faustina (1912)Der Mann von vierzig Jahren (Roman, 1913)Das Gänsemännchen (Roman, 1915)Christian Wahnschaffe (Roman, 1919)Die Prinzessin Girnara, Weltspiel und Legende (Schauspiel, 1919)Mein Weg als Deutscher und Jude (Autobiographie, 1921,)Imaginäre Brücken (Studien und Aufsätze, 1921)Sturreganz (Erzählung, 1922)Ulrike Woytich (Roman, 1923)Faber, oder die verlorenen Jahre (Roman, 1924)Laudin und die Seinen (Roman, 1925)Der Aufruhr um den Junker Ernst (Novelle, 1926)Das Gold von Caxamalca (Erzählung, 1928)Christoph Columbus, eine Biographie (1929)Selbstbetrachtungen. 1931Engelhart RatgeberDer Fall Maurizius (1928)Etzel Andergast (1931)Joseph Kerkhovens dritte Existenz (1934)

Olivia

I.

Im Hause des Professors Khuenbeck, eines angesehenen Wiener Arztes, war große Gesellschaft. Man hatte reich getafelt, die Unterhaltung war im besten Fluß, und wie auf viele andere Dinge kam die Rede auch auf die Kinder. Eine Dame, die vor kurzem das Töchterchen des Hauses flüchtig gesehen hatte, rühmte dessen besondere Schönheit und Lieblichkeit. Frau Khuenbeck lächelte geschmeichelt, einige andere Damen gaben ihr Verlangen kund, das Mädchen zu sehen, den Hinweis auf die späte Stunde ließen sie nicht gelten, und sie wandten sich an den Professor, der, unschlüssig und wie beschämt, nicht wußte, wie er die Bitte aufnehmen sollte. Indessen hatte Frau Khuenbeck, die einer eitlen Regung nicht zu widerstehen vermochte, einem der Dienstboten einen Wink gegeben und ging dann selbst in das Zimmer, wo ihre beiden Kinder schliefen, der zweijährige Ferdinand und die sechsjährige Olivia.

Schon saß Olivia auf dem Schoß des Dienstmädchens, die Augen voll Schlaf; es wurde ihr ein Atlaskleidchen angetan, die Haare wurden ihr gekämmt, weiße Strümpfe und weiße Schuhe kamen an die Beinchen, und so trug sie die Mutter in die strahlend erleuchteten Räume hinüber. Die Gäste scharten sich um Mutter und Kind; ein Laut der Überraschung und Befriedigung tönte ihnen entgegen. Olivia blickte voll Angst und Zagen in die vielen fremden Gesichter, deren Neugierde und Erstaunen ihr unbegreiflich waren.

Abseits von allen stand ein junger Mann und schaute still auf die Gruppe. Er dachte, daß der Professor dem Schauspiel ein Ende bereiten werde; da dies aber nicht geschah, rief er plötzlich mit scharfer, ja barscher Stimme aus: "Gnädige Frau, stecken Sie doch den armen Wurm wieder ins Bett; den Rummel wird er ohnedies bald genug kennen lernen."

Alle lachten; Frau Khuenbeck errötete und trug das Kind schnell hinaus.

Olivia hatte die Worte gehört und verstanden; sie bewahrte dem, der sie gesprochen, heimlichen Dank. Der junge Mann verkehrte oft im Hause; bald wußte sie seinen Namen; er hieß Robert Lamm und war damals noch ein unbeachteter Beamter im Ministerium.

Stets, wenn sie ihn sah, hatte sie dasselbe Dankgefühl; in Stunden kindlicher Bedrängnis tauchte ihr sein Bild als das eines Helfers auf. Er war die Verkörperung einer strengeren Schutzgottheit neben der sanften des Vaters.

Wenn der Professor an seinem Schreibtisch saß, geschah es oft, daß sich Olivia ins Zimmer stahl, sich ganz leise auf den Teppich zu seinen Füßen niederließ und in Büchern und in Heften blätterte, die auf dem Boden aufgeschichtet lagen. Meist bemerkte sie der Professor erst, wenn er die Feder weglegte und sich erhob; dann sagte er: "Du bist da, Kind?" und lächelte. Olivia war glücklich, daß es ihr gelungen war, ihn nicht zu stören.

Manchmal machte er kleine Spaziergänge im Park, dann nahm er Olivia mit und führte sie an der Hand. Verwundert betrachteten die Leute das schöne Kind. Olivia glaubte jedoch immer, daß sie nach dem Vater sahen, der so nachdenklich und voll Würde dahinschritt. Sie war stolz auf ihn.

Einst hatte Olivia die Mutter belogen. Sie war mit dem Fräulein im Prater gewesen und hatte gesagt, sie sei bei ihrer Tante, Frau von Scheyern, gewesen. Ihr Bruder Ferdinand hatte sie in aller Unschuld verraten. In der Entrüstung darüber forderte die Mutter, daß sie zur Strafe in einer Ecke knien sollte. Olivia weigerte sich aber mit solcher Leidenschaft, daß die Mutter immer mehr in Zorn geriet. Da kam der Professor in die Stube; ihn sehen und an seinen Hals stürzen, war für Olivia eins; sie wollte nicht knien, schluchzte sie und klammerte sich so krampfhaft an den Vater, daß der erschrockene Mann alle Mühe hatte, sie zu beruhigen.

Etwa ein Jahr nach diesem Vorfall, Olivia war damals elf Jahre alt, trat der Professor eine Erholungsreise nach Italien an. Olivia empfand seine Abwesenheit schmerzlich, und jeden Morgen setzte sie sich hin und schrieb ihm einen Brief. In Neapel wurde der Professor schwer krank und starb eines plötzlichen Todes.

Olivia begriff es nicht. Der Leichnam kam, die Beerdigung fand statt, viele Leute waren im Haus, die Mutter weinte, der Bruder, die Verwandten weinten, Olivia begriff es nicht. Für sie war der Vater immer noch verreist; sie glaubte und begriff nicht seinen Tod.

Tag für Tag setzte sie sich hin und schrieb ihm einen Brief. Sie teilte ihm die kleinen Ereignisse ihres Lebens mit, erzählte von der Mutter und von Ferdinand, sprach von ihren Vorsätzen, von ihrem Eifer, zu lernen, von ihrem Wunsch, etwas zu werden und ihm Ehre zu machen. Da sie aber keine Adresse wußte, sammelte sie alle Briefe in einer Mappe, – so lange, bis sie endlich begriff.

Die großen Einnahmen des Professors waren von dem luxuriösen Haushalt verschlungen worden; nach seinem Tod blieb nur ein bescheidenes Kapital übrig, und Frau Khuenbeck sah sich zur Sparsamkeit gezwungen.

Bei der Ordnung der Vermögensangelegenheiten und des neuen Lebens war es Robert Lamm, der der Witwe als Freund zur Seite stand. Frau Khuenbeck hatte einen an Furcht grenzenden Respekt vor ihm. Auf Ferdinands Erziehung übte er einen entscheidenden Einfluß, während er Olivias Tun und Lassen gleichmütiger zu betrachten schien.

Robert Lamm hatte in wenigen Jahren eine bedeutende Laufbahn zurückgelegt, die selbst von Übelwollenden seinen Verdiensten zugerechnet wurde. Er war Hofrat am Verwaltungsgerichtshof, hatte beneidete Auszeichnungen erhalten und genoß als juristischer Schriftsteller den Ruf einer Autorität.

Sein Wesen verkündete Mut und Entschlossenheit; er war der Schrecken ganzer Heere von Beamten, denn ihm war eine seltene Kraft eigen, nämlich eine Sache, die er für gut und gerecht hielt, durchzusetzen.

Von früh an atmete Olivia gern die Luft um diese ehrliche, furchtlose und derbe Persönlichkeit. Sie kam ihm herzlich entgegen, und er hatte immer ein herzliches Wort für sie. Während er mit der Mutter sprach, stand sie in seiner Nähe; lächelte er ihr zu, so ging sie hin und lehnte sich an seine Schulter.

Aber als sie zum Fräulein heranwuchs, wurde er förmlicher. Er hörte plötzlich auf sie zu duzen; Olivia erhob Einwände. Er verbeugte sich und sagte, wenn sie es ausdrücklich verlange und die gnädige Frau, er verbeugte sich gegen Frau Khuenbeck, es erlaube, werde er sie wieder duzen, doch dürfe es keine einseitige Freiheit bleiben, sie müsse ihn dann ebenfalls duzen. "Aber ich habe es ja immer getan!" rief Olivia erstaunt. – "Gewiß, nur paßt mir der Onkel nicht," erwiderte er mit einer Grimasse, "ich hasse die Onkels."

So nannte sie ihn also Robert und Du. Gleichwohl behielt er seine Förmlichkeit bei, die den Charakter spöttischer Galanterie annahm, als ihm manches an Olivias Lebensführung zu mißfallen begann. Sie war so eifervoll, so lernwütig, so auf Bücher versessen, so atemlos tätig, das mißfiel ihm; er äußerte sich nicht darüber, er wurde nur immer spöttischer und galanter.

Eines Abends kam er, als Olivia bei einem Buch saß. Er beugte sich über ihre Schulter, sah noch genauer hin, schüttelte den Kopf, und da ihn Olivia fragend anschaute, nahm er das Buch, blätterte, schüttelte abermals den Kopf und fragte endlich: "Wie alt bist du denn jetzt?"

"Siebzehn war ich," antwortete Olivia. Ihr Haar leuchtete wie Gold im Lichte der Lampe.

"Siebzehn Jahre, und Plato im Original!" rief der Hofrat aus. Sein Gesicht war so traurig, daß Olivia lachen mußte.

"Und womit sie ihren Kopf sonst noch plagt", mischte sich die Mutter ins Gespräch; "Mathematik und Philosophie und Literatur und Geschichte und Klavierspiel und Vorträge, wahrhaftig, mir schwindelt, wenn ich zusehe."

So oft nun der Hofrat da war, hatte er immer denselben Blick für Olivia, in dem zugleich Kritik und Bedauern lag. Der Blick sagte: was soll es dir nützen, Mädchen, Plato im Original zu lesen? Wozu schlingst du tote Wissenschaft in dich hinein? Was sollen dir die Scharteken?

Wahrscheinlich wußte er zu wenig von der Jugend, mit der Olivia aufwuchs; von ihrem Heißhunger nach neuem Stoff und neuer Form, nach Gehalt und Entfaltung. Dies Geschlecht mußte sich alles ertrotzen, Arbeit und Genuß, Urteil und Zukunft, wenn es den Erbübeln des Landes und der Rasse nicht erliegen wollte: der Frivolität und der Trägheit. Verloren sie in ihrem Trieb, sich hinzugeben, das Maß, so durften sie doch die Vorsichtigen verachten, die bequemen Romantiker, die feigen Hüter des Herkömmlichen.

Er wußte nichts von dieser Jugend, sah nicht Lebensfülle und hoffnungsvolles Werden, sondern Übergriff und Eitelkeit. Einst kam er zu Frau Khuenbeck und war enttäuscht, Olivia nicht zu treffen. Sie war ins Konzert gegangen. "Es ist das zweite in dieser Woche," sagte Frau Khuenbeck; "und einmal Theater, und einmal eine Bilderausstellung, und am Sonntag auf den Schneeberg. Sie ist nicht zu halten, ich weiß nicht, wo sie die Zeit und die Kraft zu allem hernimmt."

"Und das da auch noch," sagte der Hofrat, und deutete auf einen Tennisschläger und ein Paar weiße Schuhe, die auf einem Stuhle lagen.

"Ja, das auch," antwortete Frau Khuenbeck. Als sie das finstere Gesicht des Hofrats gewahrte, fügte sie rasch hinzu: "Aber es ist nicht Vergnügungssucht, wie Sie vielleicht meinen, es ist etwas anderes. Sie ist von allem, was sie macht, so voll und tut alles, was sie tut, so freudig, daß man es nicht übers Herz bringt, sie zu stören."

Diese Begründung war für den Hofrat ein Schall. Olivia war schön; das allein gab ihr Wert in seinen Augen. Alle Beflissenen waren häßlich; Bücher machten häßlich, Wissen machte häßlich, sich unter die Menschen zu drängen, machte häßlich. Auf Sportplätzen die Glieder verrenken, die Füße durch plumpes Schuhwerk verunstalten und mit groben Stoffen bekleidet sich den Unbilden des Wetters aussetzen, das nannte er ein unerquickliches Schauspiel. Der Schönheit floß alles zu, sie raubte der Natur nichts, sie ließ sich von ihr beschenken, Schönheit war einsam, war sich selbst genug, sich selbst Gesetz, und Olivia verging sich gegen das Gesetz.

Er erkaltete gegen Olivia, und seine Besuche wurden immer seltener.

Um diese Zeit wurde Olivia von einer heftigen Schwärmerei für einen genialen Kapellmeister und Komponisten ergriffen, der wie ein Feuer unter die Gilde der stadtansässigen Musiker gefahren war und das Publikum erst unterwarf, als es sich von seinem Staunen über ihn erholt hatte.

Er war mit dem Hofrat Lamm befreundet, und einmal begegnete sie den beiden, die in eifrigem Gespräch waren. Der Hofrat grüßte sie und blieb stehen; er machte sie mit dem vergötterten Manne bekannt. Sie wurde blaß, stammelte ein paar Worte, verstummte und ging dann weiter. Sie hatte seine Stimme gehört, und diese Stimme blieb ihr unvergeßlich. Die Stimme eines Menschen konnte sie beleidigen und enttäuschen, aber auch beglücken und bezaubern. Seine Stimme hatte ihre Seele tiefer angerührt als irgendeine zuvor.

Im Sommer weilte er auf seiner Besitzung an einem Gebirgssee. Olivia wußte die Mutter zu überreden, daß sie dort die Ferien verbrachten. An vielen Tagen, in Mondnächten wandelte sie andächtig die Pfade, auf denen er gegangen war. Seine persönliche Nähe suchte sie gar nicht; er war immer so versponnen, so verwühlt, so abgewandt; sie war zufrieden, wenn sie ihn einmal des Tages von ferne sah.

Eines Morgens gewahrte sie ihn zwischen Blumenbeeten. Er glaubte sich unbeobachtet; bei einem Strauß beugte er sich nieder, um zu riechen. Die Zärtlichkeit der Bewegung hatte für Olivia etwas Außerordentliches. Von da an schaute sie Blumen mit andern Augen an. Es mußten stets Blumen in ihrem Zimmer sein, zu jeder Zeit des Jahres. Sie begoß sie, pflegte sie, freute sich, wenn sie blühten, und trauerte, wenn sie welkten.

Als der Musiker eines frühen Todes starb, gab sie alles Geld, das sie besaß, für Blumen aus und schmückte mit ihnen sein Grab. Die unschuldige und wunschlose Leidenschaft hatte ihr Herz für Menschen noch empfänglicher gemacht.

Gelehrtes und Gelerntes verlor an Bedeutung gegenüber dem lebendigen Auf und Ab der Schicksale. Freunde zu gewinnen, mit Freunden zu sein, an Freunde sich auszuteilen, war Glück. So wurde sie vielfach in die Geschicke der Menschen verflochten, vielfach beansprucht. Manches, was im Spiel begonnen war, verwandelte sich in bitteren Ernst; Vertrauen wurde mißbraucht, Offenheit verkannt, Güte zurückgestoßen, Wahrheit in Lüge verkehrt. Aber auch dies war für Olivia ein Stück des großen Reichtums, waren angefaulte Früchte von dem Baum, der ein Übermaß der guten gab.

Wie liebte sie die Welt, das Leben, die Stunde! Sie freute sich jeden Morgen über ihr Erwachen, über den Himmel, die Luft, das Licht, die Zeit, über alles, was sie sich vorgesetzt hatte und was andere von ihr erwarteten, über ein Gespräch, das sie gestern geführt hatte, einen Spaziergang, den sie heute machen wollte, über ihren eigenen Körper, über jedes Ding in ihrer Stube.

Ihre beste Freundin, noch vom Gymnasium her, war Marianne von Friesheim, ein zartes, hochaufgeschossenes Mädchen von ernstem Wesen. Mariannes Vater war ein hoher Regierungsbeamter, Sektionschef und Exzellenz, und durch seine Verheiratung mit der Tochter eines ungarischen Magnaten einer der reichsten Männer des Landes.

Olivia kam beinahe täglich ins Haus, und alle, von der Exzellenz bis zum geringsten Dienstboten, bewunderten und verwöhnten sie. Wenn der Sektionschef ins Zimmer trat, wo sie war, ging ein Leuchten über sein rotes, grobes Gesicht; er setzte sich eine Weile zu ihr und plauderte mit ihr. Olivia hatte Sympathie für ihn; er schien ein gütiger Vater und ein wohlwollender Mensch zu sein.

Frau von Friesheim machte Olivia zur Vertrauten ihrer Sorgen. Ihr Sohn Eduard, ein junger Arzt, hatte seit einigen Monaten eine Beziehung zu einer Dame der Gesellschaft, deren mittelpunktloses und unberechenbares Wesen schon manchem ihrer Anbeter verhängnisvoll geworden war. Eduard, ohnehin verschlossenen Gemüts und von eigenwilliger Lebenshaltung, wurde durch den Umgang mit dieser Frau den Seinen vollends entfremdet. Nur an der Schwester hing er, und ihr hatte er auch vor kurzem mitgeteilt, daß es sein Vorsatz sei, die geliebte Frau zu heiraten. Hierüber war Frau von Friesheim sehr unglücklich, und als sie bemerkte, daß zwischen Eduard und Olivia ein freundschaftliches Verhältnis entstand, legte sie ihr nahe, sie möge alles aufbieten, um ihn dem gefährlichen Einfluß jener Frau zu entziehen.

Es war eine wunderliche Aufgabe; Olivia mußte lachen. Auf der anderen Seite war es der Sektionschef, der ebenfalls eine heikle Aufgabe für sie hatte. Marianne nämlich hatte eine Neigung zu einem jungen Maler gefaßt; Georg Ingbert war sein Name. Er stand noch ganz im Dunkeln, und wie es auch mit seinem Talent beschaffen sein mochte, Ehrgeiz oder Ungeduld, sich geltend zu machen, besaß er nicht. Er war im Gegenteil voll Gelassenheit, und dieser Gelassenheit war eine bei einem Mann seltene Anmut beigegeben, Anmut des Geistes, des Herzens und des Körpers. Wenn man ihn und Marianne sah, konnte man sie nicht anders als miteinander verbunden denken.

Während nun Frau von Friesheim die Liebe dieser beiden mit auffallender Nachsicht betrachtete, erblickte der Sektionschef ein Unglück für seine Tochter darin. Eduards Leidenschaft erschien ihm als eine flüchtige Verirrung, und er meinte, wenn man ihm nur Zeit lasse und nicht durch Widerstand seinen Trotz errege, werde die Vernunft siegen. Marianne sah er tiefer verstrickt; er kannte die Treue ihrer Natur und, bei aller Mildheit, die Kraft ihres Gefühls. Er schätzte die Künstler gering; die meisten waren Schmarotzer nach seiner Meinung. Und er forderte, Olivia solle Marianne dazu bringen, daß sie dem Maler entsage.

Olivia antwortete ihm, hierzu fühle sie sich nicht berechtigt, und als seine Versuche dringlicher wurden, bot sie viel Beredsamkeit auf, um ihn zu überzeugen, daß man zwei Menschen, die durch Bestimmung zusammengeführt worden, nicht voneinander reißen könne, ohne ihren Lebenskern zu verwunden. Er bestritt dieses, unerschöpflich in Gründen, Olivia blieb standhaft und entwaffnete ihn durch ihre heitere Ruhe; schließlich schien es, als bereite ihm das Wortgefecht an sich selber Freude und als vergesse er den ernsthaften Anlaß. Wenn er mit ihr rede, bekannte er einmal, komme es ihm allerdings vor, als sei es am besten, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, und doch dürfe es nicht sein, um keinen Preis werde er sich fügen. Olivia schaute ihn an, und als sie seinen finstern Blick sah, erschrak sie und wurde in ihrem bisherigen Urteil über ihn ein wenig irre.

Sie ging mit der Familie aufs Land, auch der Maler kam zu Besuch. Sie begleitete Ingbert und Marianne auf ihren Spaziergängen und ermunterte Eduard, mitzugehen, um jenen die Gelegenheit zu verschaffen, miteinander zu sprechen. In einem benachbarten Ort wohnte Anita Gröger, Eduards Geliebte, und er bat Olivia, sie möge die Frau kennen lernen. Sie ließ sich zu ihr führen, und er merkte ihr an, daß ihr die Frau nicht gefiel. Da er sie um Offenheit drängte, gestand sie es zu; die Frau sei ihr unheimlich, sagte sie. "Ich fürchte, Anita wird Sie nicht glücklich machen," äußerte sie ein anderes Mal zögernd. Eduard war bestürzt und kam immer wieder darauf zurück. Sie bereute ihre Voreiligkeit, doch sie hatte seinen eigenen Zweifeln Nahrung gegeben. Wenn er bei Anita gewesen war, suchte er Olivias Nähe; Anita begann ihr zu mißtrauen und quälte Eduard durch ihre Eifersucht. Es gab verschwiegene Zusammenkünfte zu zweien und zu dreien, lebhafte Auseinandersetzungen, Briefe wurden getauscht, und bald sah sich Olivia bedenklich verstrickt, da Eduards Herz sich ihr entschiedener zuwandte.

Nun mußte sie abwehren, und sie tat es begütigend. Es war ihr alles ein Spiel. Eduard war ihr im Innersten fremd; seine Freundschaft mochte sie aber nicht missen. Er war klug, ehrenhaft und verläßlich. Sie spürte, daß sie ihm ein Gleichnis gegen die andere war, und daß die andere dabei verlor. So stellte sie sich in den Schatten und floh, wenn er sie suchte. Ingbert merkte, was zwischen ihr und Eduard vorging. Sie wollte seinen Rat haben, doch er war zurückhaltend und hörte mit seinem reizenden Lächeln zu.

Eines Abends saß sie mit Ingbert am Waldrand; Marianne war bettlägerig, Eduard war für ein paar Tage verreist. Sie sprachen über die beiden, über die Eltern, über das Leben im Hause; plötzlich sagte Ingbert, der Zustand, in dem er sich befinde, schmerze ihn, er enthalte etwas Vergebliches und Künstliches, da er doch genau wisse, daß Marianne ihm niemals angehören würde. Als Olivia widersprechen wollte, legte er seine Hand auf ihre und fuhr fort, es sei kein Trost vonnöten, er beklage sich ja nicht, er klage auch nicht an; daß Herr von Friesheim gegen ihn eingenommen sei, begreife er, doch getraue er sich, den Kampf gegen ihn aufzunehmen; jede äußere Schwierigkeit sei überwindlich. Es liege nicht an dem; es liege an ihm selbst. Er sei der Freiheit versprochen, damit steige oder falle sein Stern.

"Fragen Sie nicht, warum es dann so weit gekommen ist," schloß er leise; "das Herz geht seinen Weg, das Schicksal geht einen andern Weg. Das Herz läßt sich verführen, die innere Stimme schweigt lange. Auf einmal aber spricht sie, und man steht sündig da und will doch nicht noch mehr sündigen."

Olivia wußte nichts zu erwidern. Sie ging ins Haus, setzte sich an Mariannes Bett und nahm ihre Hand. Wäre es nicht dunkel im Zimmer gewesen, Marianne hätte ihre Blässe und Erregung merken müssen. Ingbert war auf der Bank geblieben, man hörte ihn eines der alten Lieder singen, die er liebte und in entzückender Weise vorzutragen wußte. Marianne preßte Olivias Finger; Olivia hatte ein selig hinziehendes Gefühl; sie wünschte, Ingbert möge sie holen und mit ihr weit fortwandern.

Sie fragte sich, weshalb er sich Marianne nicht eröffnete, und wartete, daß sie sich gegeneinander aussprachen. Dies geschah aber nicht, und Olivia zürnte Ingbert. Doch wenn sie Marianne ansah, die so kindlich hoffte, verstand sie seine Unschlüssigkeit. Er hatte etwas so Gütiges an sich, daß man billigen mußte, was immer er tat, und bald wurde Olivia gewahr, daß ihre Gedanken an ihn zum Verrat an Marianne wurden.

Indessen kehrte Eduard von seiner Reise zurück und brachte zwei Freunde mit; auch Freundinnen Olivias und Mariannes kamen zu Besuch. Es entwickelte sich eine lebhafte Geselligkeit, Feste wurden gefeiert, Fahrten und Wanderungen unternommen. Eduard suchte bei jedem Anlaß Olivias Nähe, Ingbert und Olivia trieben wie durch eine unwiderstehliche Strömung einander im verborgenen zu; Marianne begann endlich zu ahnen und litt still, und Anita Gröger war der ruhlose Geist, der bisweilen verdüsternd durch die herzlich bewegte Kleinwelt zog.

Stiegen auch Schatten empor, für Olivia war alles noch ein Spiel. In der Luft von Leidenschaft und Begehren, Forderung und Abwehr, Spannung und Sehnsucht atmete sie gern, verlor sich aber keineswegs und übte sich in jeder Kraft, die das Lebensgefühl erhöhte. Hier eine Getäuschte, dort ein Schwankender, hier eine Verblendete, dort ein Entflammter, sie stand immer in der Mitte und regierte; sie knüpfte Fäden und löste Fäden, verpflichtete sich zum Schein, entzog sich, wenn Gefahr drohte, ganz nach ihrem Gefallen.

Gegen Ende des Sommers, als die Gäste schon abgereist waren, verabredeten sich die Geschwister und Ingbert und Olivia zu einem Ausflug in die Dolomiten.