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"Ombra" erzählt die Geschichte einer Wiederkehr aus großer Todesnähe: Im Sommer 2019 wird bei Hanns-Josef Ortheil eine schwere Herzinsuffizienz festgestellt. Die anschließende Operation verläuft nicht ohne Komplikationen, es folgt der lange Aufenthalt in einer Rehaklinik. Das Leben des höchst produktiven Autors, der sich selten schont, steht am Scheideweg – der Körper hat die Herrschaft übernommen und lässt nicht mit sich verhandeln. Doch in das Gefühl der Ohnmacht und Angst hinein kehrt allmählich das Schreiben zurück. Stück für Stück setzt Hanns-Josef Ortheil in seinem wohl persönlichsten Buch aus Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen sein Leben neu zusammen. Wer ist er gewesen vor der Krankheit? Und wer kann er danach einmal sein?
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Seitenzahl: 331
Über das Buch
»Ombra« erzählt die Geschichte einer Wiederkehr aus großer Todesnähe: Im Sommer 2019 wird bei Hanns-Josef Ortheil eine schwere Herzinsuffizienz festgestellt. Die anschließende Operation verläuft nicht ohne Komplikationen, es folgt der lange Aufenthalt in einer Rehaklinik. Das Leben des höchst produktiven Autors, der sich selten schont, steht am Scheideweg – der Körper hat die Herrschaft übernommen und lässt nicht mit sich verhandeln. Doch in das Gefühl der Ohnmacht und Angst hinein kehrt allmählich das Schreiben zurück. Stück für Stück setzt Hanns-Josef Ortheil in seinem wohl persönlichsten Buch aus Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen sein Leben neu zusammen. Wer ist er gewesen vor der Krankheit? Und wer kann er danach einmal sein?
Über den Autor
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
HANNS-JOSEF ORTHEIL
OMBRA
Roman einer Wiedergeburt
LUCHTERHAND
Für meine Trias
Ombra (italienisch)
Der Schatten (sembrare l’ombra di se stesso – wie der Schatten seiner selbst aussehen); der Verdacht, Argwohn, Zweifel; die Verdüsterung, Finsternis; der Schutz, der Schirm (vivere nell’ ombra – in der Verborgenheit leben)
(Dizionario Italiano-Tedesco)
Eine Ombra ist ein Glas Weiß- oder Rotwein, das man zur Stunde des Aperitifs zu sich nimmt, um sich von der Mittagshitze zu erholen.
(Alessandra De Respinis: Cicchettario)
Ombra mai fu …
(Arie aus der Oper Xerxes von Georg Friedrich Händel)
AMFRÜHEN Abend. IchkönntedurchsnaheGeländestreunen,wieichesvoreinemJahrnochhäufiggetanhabe.Jetztaberistallesanders,dennichscheuedieeinsetzendeDunkelheit.Sobaldichwenigersehe,schleicheichvorsichtigherumundtrauemirkeinelängerenWegezu.
Es könnte etwas passieren. Ich könnte straucheln, stürzen, was auch immer.
Von den ersten Morgenstunden an denke ich diesen Satz: Es könnte dir etwas passieren. Ich fühle mich nicht mehr sicher, denn ich bin durch einen Todestunnel gegangen.
Ich kämpfe gegen die vielen Irritationen an, aber die alte Angst, von der ich dachte, sie sei längst besiegt, ist so massiv wie noch nie wieder da. Die Angst, nicht mehr weiterzuwissen. Plötzlich von einem Dunkel verschlungen zu werden. Bis zur Reglosigkeit zu erstarren. Während einer Zugfahrt zu sterben, ohne dass es einer bemerkt.
Was ist mit dem Herrn dort drüben? Warum sitzt er so schief?, fragt das Kind. Und dann schauen Mutter und Kind nach und erkennen: Der Herr auf Platz 55 lebt nicht mehr, der Zug schaukelt einen Leichnam hin und her. Ist der Mann jetzt im Himmel?, fragt das Kind. Ja, sagt die Mutter, so wie er aussieht, ist er im Himmel.
NACHTS. ICHkann nicht schlafen. Lese, gehe in die Küche, höre Musik, kehre ins Bett zurück, lese weiter, grüble lange, gehe wieder in die Küche.
Mein Hirn ist durcheinander, und ich weiß nicht, wie ich Ordnung hineinbringen könnte. Die Herzoperation liegt erst einen Monat zurück. Sie dauerte fünf Stunden, und danach lag ich im Koma, aus dem ich fast nicht mehr erwacht wäre.
Was auf der Intensivstation in den darauf folgenden Wochen geschah, weiß ich nicht mehr genau. Ich habe nur Bruchstücke im Kopf, Geräusch- und Filmszenen, Besuche und Begegnungen – alles wie im Polaroid-Format, verwackelt, matt, unscharf.
Wenn ich mich bloß genauer erinnern könnte! Das würde helfen! Momentan kehren nur Augenblicke zurück, die ich kurz durchlebe und meist sofort wieder vergesse.
Ich nehme einen Stift in die Hand, zögere und bemerke, dass der Stift meinen Gedanken nicht folgt. Ich kann ihn nicht wie sonst leicht und rasch bewegen, er streikt und wirkt schwer und massiv. Ich lege ihn fort, lenke mich ab und vergesse, dass ich schreiben wollte.
Gehe ich ein paar Schritte aus dem Haus, weiß ich draußen nicht mehr, was ich dort suchte. Den Türschlüssel habe ich anscheinend im Haus gelassen. Zum Glück ist die Gartentür zur hinteren Terrasse noch offen. Warum?! Ach ja, ich habe vergessen, sie zu schließen.
Nicht einmal die einfachsten Handlungen gelingen. Beim Teekochen erhitze ich Wasser in einem Kocher und lasse das heiße Wasser so lange stehen, bis es abgekühlt ist.
Beim Klavierspielen versagt das Zusammenspiel beider Hände, ich kann sie nicht koordinieren, sie kommen sich in die Quere und treten auf wie störrische, autonome Solisten, die sich keinem Zusammenspiel unterordnen und von denen jeder vergessen zu haben scheint, was der andere vorhat.
Ich fühle mich hilflos und amputiert.
Stark ist die anhaltende Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Bett. Dort allerdings würde ich sofort einschlafen und die Nacht danach wieder hellwach verbringen.
Was ist bloß mit mir los? Am schlimmsten sind die Tagträume, die mich wieder in die Kindheit zurückschicken. Was habe ich in der Kindheit zu suchen?
Mein verletzter, armselig herumzappelnder Körper erinnert mich an den kleinen Körper des frühen Lebens. An seine Vorsicht, seine Zurückhaltung, sein Tasten und Ausprobieren. Ich sehne mich nach einer rettenden, haltenden Hand und gäbe etwas, die meiner Mutter wieder zu spüren. Sich an die Hand nehmen lassen, ein paar ruhige, sichere Schritte gehen. Mit ihr zusammen auf einer Bank sitzen. Nichts könnte mir passieren. Ich wäre aufgehoben, den ganzen Tag lang.
Manche Fantasien haben etwas Erotisches. Ich sehe meine junge Mutter als schöne, lebenslustige Frau, die gerade geheiratet hat. Der erotische Impuls ist spürbar, er überträgt sich sogar auf Menschen und Dinge, die plötzlich wie aus dem Nichts sehr nahe und gegenwärtig sind, als wollten sie mir helfen.
Warum ist das so? Warum träume ich davon, ausgerechnet mit Fanny Ardant in Paris unterwegs zu sein und mit ihr ein Glas Wein zu trinken?! Weil sie eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Mutter auf deren Jugendfotografien hat? So leicht durchschaubar steuern mich momentan meine Träume! Machen sie sich über mich lustig oder tun sie so, als wären sie für Doktor Freud komponiert?
Dabei weiß ich nicht viel über Doktor Freud. Ich habe nie eine psychoanalytische Therapie kennengelernt. Und die Geschichte meiner Erkrankung möchte ich, so gut es geht, aus eigener Kraft rekonstruieren.
VON BERUF bin ich ein Schreiber. Im erweiterten Sinn sogar ein Schriftsteller. In diesen beiden Rollen habe ich seit Jahrzehnten viele Bücher veröffentlicht. Geschrieben habe ich bereits seit meinem achten Lebensjahr. Schon damals fast täglich. Kurze Geschichten und Beobachtungen. Prosagedichte. Kleine Szenen. Mein Vater hat dieses kindliche Schreiben angeregt und betreut. Die Stunden mit ihm waren Höhepunkte der Kindertage.
Wenn ich jetzt nicht alle Kräfte gegen den Verfall mobilisiere, überleben meine vitaleren Lebensgeister nicht. Ich werde meine liebsten Beschäftigungen, Schreiben und Klavierspielen, aufgeben, und meine Fantasie wird sich darauf beschränken, ein neues Reisgericht zu erfinden.
Nach einem halben Jahr werde ich von früh bis spät auf der Terrasse sitzen, im Gespräch mit der Katze, die mich manchmal besucht und auf einem Stuhl neben mir einige Zeit in der Sonne verbringt. Ich werde zu einem Wrack mutieren, das langsam zerfällt. Dieser Zerfall steht mir täglich vor Augen.
Es wird einige Zeit dauern, bis Sie wieder der Alte sind, sagte Herzspezialist Diabelli. – Wie lange, Herr Doktor? – Mindestens ein Jahr, wenn nicht mehr. – Das ist nicht Ihr Ernst! – Leider doch. – Nein, es muss schneller gehen! Ich werde es Ihnen beweisen!
Einen Monat nach der Herzoperation habe ich mit der Beweisführung begonnen. Um mir und anderen zumindest nach außen hin zu zeigen, dass ich wieder der Alte bin.
Dabei ahne ich längst, wie sehr ich mir etwas vormache. Selbst bei einem glücklichen Ausgang der Geschichte werde ich nicht mehr der Alte, sondern ein ganz anderer sein. Einer, der durch das Dunkel gegangen, davon gezeichnet ist und kaum noch weiß, wer er einmal war.
Wer also war ich? – Das ist eine der leitenden Fragen. Und es gibt weitere: Wo überall war ich unterwegs, während sich die Katastrophe anbahnte? Was habe ich getan, woran gearbeitet und gedacht, was erlebt? Wann überraschten mich die ersten kleinen Signale und Stiche? Und: Was zum Teufel waren die Ursachen und Hintergründe der sich heimlich und hinterrücks anschleichenden Erkrankung?
Nach den Details dieser Geschichte will ich forschen, um Halt und Orientierung zu finden. Ich werde mich auf meine schwarze Couch legen, die Augen schließen, die Hände auf der Brust zusammenfalten und in Szenen meiner letzten Jahre zurückblenden.
Daneben jedoch werde ich davon berichten, was gerade mit mir geschieht: vom Livestream der Tage, den kleinen Ereignissen, dem Kampf um das Weiterleben.
MEIN GEGENWÄRTIGES Zuhause ist das Haus meiner Eltern im Westerwald. Dorthin habe ich mich zurückgezogen, es ist zugleich auch das Haus meiner Kindheit auf dem Land. Ende der fünfziger Jahre erbaut, liegt es versteckt auf einem großen Waldgrundstück. Zumindest dort fühle ich mich geborgen und sicher.
Meine drei Nächsten haben mich hierher gebracht. Seit ich in die Klinik eingewiesen wurde, waren sie in meiner Nähe. Sie haben mich Tag für Tag besucht und viele Stunden an meinem Krankenbett verbracht. Als ich im Koma lag und nicht ansprechbar war, hat mich ihre Nähe am Leben erhalten. Ich habe immer gespürt, dass sie da waren, sie waren die Trias, die mich begleitete.
Jetzt aber haben wir uns getrennt, ich wollte es so. Sie sollen nicht weiter ihre Zeit damit verbringen, mich zu betreuen. Geht es mir schlecht, werden sie wiederkommen. So haben wir es vereinbart. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Morgen ist Montag, mein erster Tag in der Rehaklinik. Die Behandlung verläuft ambulant und soll von morgens zehn bis in den frühen Abend dauern. Viel mehr weiß ich nicht, nur dass ich abends nach Hause fahren und dort übernachten darf. Jedenfalls vorläufig, solange mir nichts passiert und mein Zustand sich nicht verschlechtert.
DIE REHAKLINIK liegt in der Nähe. Von meinem Elternhaus fahre ich etwa dreißig Minuten mit einem Regionalzug. Danach sind es nur noch fünf Gehminuten zur Klinik. So hat man es mir gesagt.
Im Regionalzug bleibe ich stehen, aus Angst, nicht rechtzeitig aufstehen zu können. Obwohl die meisten Sitzplätze leer sind, klammere ich mich an eine Stange und schaue möglichst unbeteiligt aus dem Fenster. Niemand soll denken, es gehe mir nicht gut. Mir geht es gut, ja, mir geht es sogar sehr gut, ach was, mir geht es fantastisch. Solche Sprüche habe ich eintrainiert, samt dem dazu passenden Lächeln.
Seit der Operation habe ich fünfzehn Kilo Gewicht verloren. Wochenlang habe ich kaum etwas gegessen – und wenn, dann nur ausgesuchte Speisen, von denen ich vorher geträumt habe.
Seltsamerweise gelingt das: im Hungerzustand von einer Wunschmahlzeit zu träumen. Meist sind es Speisen, an die kein Mensch außer mir denkt. Man könnte sie zum Gegenstand einer Betrachtung machen: Wieso träumt mein geschreddertes Hirn von frischem Seetang mit Sesam? Von winzigen Oktopusstücken? Von Tsatsiki mit klein geraspelten Gurken?
Da ich nicht mehr schreiben kann, murmle ich solche Fragen in mein Diktiergerät. Ich schalte es ein, nenne Datum und Uhrzeit und danach ein Thema: Details derErnährung/Vorlieben/Speisen und Getränke. Wenn ich meine Texte abhöre, spricht eine fremde Stimme mit mir: rau, kratzend, in den Pausen angestrengt Luft holend. Manchmal halte ich sie für die Stimme eines überbeanspruchten Arztes. Habe ich mich in meinen eigenen Arzt verwandelt?
Die fünf Minuten vom Zielbahnhof bis zur Klinik fallen mir schwer. Immer wieder bleibe ich stehen und tue so, als musterte ich den Himmel. Wolken, Wetter, Vogelflug. Beobachtet mich jemand? Nein, ausgeschlossen. Hier kennt mich zum Glück keiner. Verwandte und Bekannte leben in einiger Entfernung. Noch nie bin ich länger in dieser kleinen Stadt gewesen.
IN DER Klinik reihe ich mich in die lange Schlange vor der Rezeption ein. Die meisten Klinikbesucher tragen Sportbekleidung mit besonders bunt und sauber blitzenden Sportschuhen. Nicht schlecht, das lenkt ab von der müden Physis und macht einen guten Eindruck.
Als ich endlich dran bin, stellt die junge Frau an der Rezeption ihre Fragen: Haben Sie Ihre Medikamentenliste dabei? Und die unterschriebene Honorarvereinbarung? Und mindestens zwei Handtücher? Und bequeme Sportbekleidung? – Ja, habe ich! – Prima! Hier ist Ihr Behandlungsplan für die ersten Tage samt der Leistungsdokumentation! – Was ist das? – Die Absolvierung jeder Behandlungseinheit wird von der Sie behandelnden Person schriftlich als erfolgte Leistung bestätigt. – Aha, ich verstehe. – Prima! Sie begreifen schnell! Ziehen Sie sich jetzt um und warten Sie im Foyer! Sie werden von einer Assistentin abgeholt und durch die Klinik geführt! Einen schönen Tag – und viel Erfolg!
Im Männerumkleideraum stehen lauter nackte Herren herum. Daran muss ich mich erst gewöhnen. Ich versuche, sie nicht anzublicken, und beginne mein Umkleidemanöver hinter einer Säule. An ihr kann ich mich festhalten, wenn ich ins Schwanken gerate. Einige Herren pfeifen vor sich hin, manche unterhalten sich auch gekonnt: Noch zehn Tage! – Nur noch zehn? Das schaffst du spielend! – Hoffen wir es.
Als ich meine Siebensachen in einem Spind verstaut habe, werde ich auch angesprochen: Neu hier?! – Ja, mein erster Tag. – Schlaganfall oder Herzinfarkt? – Weder noch. Herzoperation. – Was Kompliziertes? – Ja, kann man sagen. – Gute Besserung! – Danke.
Ich will die Männerumkleide verlassen, da wird es gefährlich. Ein ernst wirkender Mensch mit schütterem Haar hält mir die Tür auf und fragt: Kenne ich Sie irgendwoher? – Nein, bestimmt nicht. – Doch. Ich kenne sie, aber ich weiß nicht, woher. – Ausgeschlossen. – Machen Sie Musik? Habe ich Sie mal auf einer Bühne gesehen? – Aber nein. – Sind Sie häufiger im Fernsehen? – Nicht, dass ich wüsste. – Was sind Sie denn von Beruf? – Ich bin Eisenbahnlandwirt. – Im Ernst? – Ja, ich lebe in einem Bahnwärterhaus an der Bahn. Ich kontrolliere den Zugverkehr und bewirtschafte die Grundstücke an der Strecke. – Mit Schafen und Ziegen, wie in alten Bahnwärterzeiten? – Nicht ganz. Aber mit Eichhörnchen, Vögeln, Schmetterlingen, Schlangen, Katzen … – Das hört sich abenteuerlich an. – Ja, ist es. – Und warum sind Sie hier? – Einmal im Jahr tue ich was für die Kondition. Sportgymnastik. Lockeres Training. – Sehr vernünftig. – Na ja, man tut, was man kann. – Bis später. – Bis dann.
So viele Fragen habe ich lange nicht mehr beantwortet. Ich habe einen trockenen Mund und hole mir Wasser aus einem Wasserspender, von denen an jeder Ecke ein Exemplar steht. Man füllt ein kleines Glas, einmal, zweimal – und stürzt den Inhalt herunter. Als verabreichte man sich eine Mundspritze.
Manche Patienten schlürfen den Inhalt auch langsam in sich hinein. Andere kosten das Wasser, als wäre es guter Wein. Eine Frau hält das Glas gegen das Licht und lässt die Sonnenstrahlen hineinfunkeln. Das gefällt mir, aber ich traue mich nicht, sie zu imitieren. Mir sollte etwas anderes einfallen.
ICH SETZE mich in die Empfangslounge und warte auf die Assistentin. Noch nie habe ich frühmorgens einen solchen Sportdress wie jetzt getragen. Dunkelblau, mit glitzernden Turnschuhen. Vor Jahren habe ich sie während eines kurzen Kaufrauschs im römischen Flughafen Fiumicino erworben und danach nie mehr angezogen. Sie wirken lächerlich, übertrieben modisch, als buhlten sie um Aufmerksamkeit. Da ich keine anderen Sportschuhe besitze, habe ich mich versuchsweise mit ihnen liiert. Ich beachte sie kaum, hoffentlich tun es auch die anderen Patienten nicht.
Ich erkenne die Assistentin gleich. Sie geht schneller als die Pflegerinnen und hält eine dünne Mappe in der Rechten. Vor der Lounge bleibt sie stehen und mustert die Gesellschaft der Wartenden. Wer von Ihnen ist Doktor Ortheil? fragt sie laut. Ich stehe, so schnell es geht, auf und gebe ihr die Hand. Ich heiße Ortheil, flüstere ich. – Sind Sie vom Fach?, fragt sie weiter. – Welches Fach meinen Sie? – Kardiologie? Anästhesie? Chirurgie? – O nein, ich bin kein Arzt. – Welcher Doktor sind Sie denn? – Das erzähle ich Ihnen später.
Schon wieder ist mir etwas peinlich, und ich vermute, dass der Aufenthalt in der Rehaklinik ein Peinlichkeitsparcours werden wird. Die Gesellschaft der Wartenden starrt mich an, als wäre ich ein verschrobener Wissenschaftler, der ein seltenes Spezialwissen lehrt. Pneumatheorie. Psychogenetik von Pflanzen. Ich sehe, wie sie innerlich von mir abrücken. Mit dem wollen wir nichts zu tun haben. Der ist unheimlich. Besser, wir setzen uns nicht zusammen mit ihm an einen Esstisch.
In Ordnung, sagt die Assistentin, dann zeige ich Ihnen mal das Erdgeschoss. Da wären als Erstes die Umkleide- sowie die Waschräume und vor allem unser beliebtes Bistro, in dem Sie Ihre täglichen Mahlzeiten zu sich nehmen. – Die Umkleide- und Waschräume kenne ich bereits, antworte ich, das Bistro dagegen noch nicht. – Gut, dann führe ich Sie in unser Gourmetparadies!
Dort sitzen bereits größere Gruppen beim Frühstück. Ah, es gibt Frühstück!, sage ich, als wäre ich Zeuge einer Offenbarung. – Wir bieten einfaches oder großes Frühstück an. Außerdem ein Lachs- oder ein Bauernfrühstück. Natürlich führen wir auch Müsli in den verschiedensten Variationen. – Großartig!, sage ich, obwohl ich längst weiß, dass ich keine dieser Frühstücksvarianten herunterbringen werde.
Ich habe nämlich nicht den geringsten Appetit, schon der Bistrogeruch macht mir zu schaffen. Wahrscheinlich werde ich den ganzen Tag Wasser trinken und höchstens etwas Obst essen. Welches Frühstück mögen Sie denn?, fragt die Assistentin. – Das Bauernfrühstück!, antworte ich und tue begeistert. Etwas mit Eiern, Bratkartoffeln und Speck! Eine Kraftzufuhr für hart arbeitende Jungs! Ich komme nämlich vom Land. Viele meiner Vorfahren waren Gastwirte!
Die Assistentin schaut mich etwas verunsichert an. Ein Doktor, der vom Land kommt und frühmorgens ein Bauernfrühstück verschlingt? Jedem das Seine, antwortet sie, und ich bemerke, dass ihr vor Bauernfrühstücken graut. Ich vermute, sie löffelt täglich ein Joghurtmüsli mit Obstsalat. – Sie mögen wohl eher ein gutes Müsli?, wage ich zu fragen. – Falsch geraten, antwortet sie, ich esse meist ein Rührei mit Tomaten und Toast.
Wir bewegen uns hin zu den Aufzügen. Rührei mit Tomaten und Toast – das macht mich sprachlos, und mir fällt keine freundliche Antwort ein. Es ist aber noch schlimmer. Ich denke ernsthaft darüber nach, was ich mir unter Rührei mit Tomaten und Toast vorzustellen habe.
Mein Hirn sträubt sich gegen ein passendes Bild. Liegen die Tomaten nun neben dem Rührei oder sind sie ins Rührei verwoben – und wo zum Teufel sind die Toastscheiben platziert? Mein Hirn hat die uralten, gewohnten Bilder nicht mehr gespeichert, ich muss sie erst wieder in Erinnerung rufen und wie ein Designexperte zusammensetzen.
Fühlen Sie sich fit?, fragt die Assistentin vor den Aufzügen. – Topfit!, antworte ich und probe mein Ich-bin-total-gesund-Lächeln. – Prima! Dann gehen wir lieber zu Fuß! Das ist sowieso gesünder!
Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich die vielen Treppen nicht mühelos bewältigen werde. Nach Ihnen!, sage ich beschwingt und greife heimlich nach dem Geländer. Hoffentlich dreht sie sich nicht um und bemerkt, wie schwerfällig ich mich die Stufen hinaufschleppe. Vor zwei Wochen konnte ich noch keine hundert Meter ohne Hilfe gehen. Als ich aus der Herzklinik entlassen wurde, habe ich es gerade mal bis zum Auto geschafft.
Die vielen Stufen bis zum ersten Stock nehme ich aber erstaunlich leicht. Oben bleibe ich stehen, als hätte ich einen Berggipfel bestiegen. Mir ist schwindlig. Um abzulenken, trete ich ans Fenster und schaue hinunter auf den Hof. Dort stehen in Reih und Glied die vielen Kleintransporter, die sich auf die Wege zu den Häusern der kranken Patienten machen, um sie morgens abzuholen und abends nach Hause zu fahren.
Was für ein schönes Bild!, flüstere ich, alle silbergrau, mit roten Streifen, wie kleine Pralinen zum In-die-Tasche-Stecken!
Die Assistentin schaut mich wieder verunsichert an. Statt die silbergrauen Kleintransporter zu bestaunen, führt sie mich eilig durch das Stockwerk. Es gibt Vortrags- und Trainingsräume sowie Lounges, in denen man darauf wartet, zu den regelmäßigen ärztlichen Kontrollen aufgerufen zu werden.
Auf jedem Beistelltisch liegt HERZ heute in vielen Exemplaren. Ist das die Fachzeitschrift? frage ich. – HERZheute ist die Zeitschrift der Deutschen Herzstiftung!, antwortet die Assistentin. – Ich ahne, dass ich mich in diese Zeitschrift während meiner Wartezeiten viel zu lange vertiefen werde. Sollte ich?! Oder könnten mich die Extrembilder der vielen operierten Herzen belasten?
Irgendwann werde ich meine eigenen Lektüren und Bücher mitbringen und mit einem kleinen Rucksack unterwegs sein. Dazu Hefte und Stifte – das Leben um mich herum giert danach, eingefangen und protokolliert zu werden! Ich könnte es zumindest versuchen, unauffällig und heimlich.
Verstehe, sage ich, selbstbewusster geworden, und zucke zusammen, als ich wieder den irritierten Blick der Assistentin bemerke. Sie kann nicht ahnen, dass ich mich gerade an meine ältesten Aufgaben erinnere: Menschen und Dinge genau zu beobachten und über sie zu schreiben! Das habe ich seit der Kindheit fast täglich getan, darin bin ich Experte. Ich glaube allerdings nicht, dass ich schon bald dazu fähig sein werde.
In der ersten Zeit nach der Operation habe ich überhaupt nicht mehr an das Schreiben geglaubt. Tag und Nacht lag ich auf dem Rücken, starrte gegen die Decke, spürte den festen Zugriff der Atemmaske und dachte: Es ist vorbei! Nie mehr wirst du schreiben oder Klavierspielen!
Die depressiven Schübe waren so stark, dass mir sogar das Reden überflüssig erschien. Wozu noch sprechen? Und vor allem worüber? Nichts interessierte mich, und ich begriff zum ersten Mal, wie sich eine Depression anfühlt. Sie löscht alle vitalen Impulse und verdunkelt die Welt Stück für Stück, so dass man seinen Lebensraum schrumpfen sieht. Wo gehöre ich hin? Ins letzte, gerade noch übriggebliebene Loch! Dort werde ich vor mich hin vegetieren, bis zum gnädigen Ende!
Natürlich spreche ich darüber nicht und folge der Assistentin lieber in den zweiten Stock, wo wir weitere Vortrags- und Therapieräume besichtigen.
Im dritten befindet sich das Hochleistungszentrum. Dort betreuen lauter wendige Sporttherapeuten einzelne Patienten, die eine halbe Stunde oder auch länger in die Pedale treten, auf Laufbändern unterwegs sind oder Gewichte stemmen.
Hier werden Sie Ihr Ausdauertraining mit EKG-Monitoring absolvieren, sagt die Assistentin und grüßt fast jeden der gut gelaunten Kollegen. Das ist eine fantastische Riege, erzählt sie, an denen werden Sie Ihre Freude haben. Für jeden Patienten schnüren sie ein individuelles Trainingsprogramm, Sie werden überrascht sein. Haben Sie früher regelmäßig trainiert? – Leider nein, antworte ich, ich habe meinem Körper nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Ich sehe sofort, dass die Assistentin mich für diese Sätze am liebsten zur Rechenschaft ziehen würde. Nichts ist ihr wohl so fremd wie die Vernachlässigung des eigenen Körpers.
Ich verstehe nicht, wie man seinen Körper vernachlässigen kann, sagt sie nach einer kleinen Pause. – Ich verstehe es auch nicht, antworte ich. Es war unverantwortlich, und es endete mit einem Desaster. Fast wäre ich gestorben. – Um Himmels willen!, sagt die Assistentin. Haben Sie zu viel gearbeitet? – So könnte man es nennen, antworte ich, ich habe mich einem Schreibrausch hingegeben. Sechs Bücher und über zweitausend Seiten in drei Jahren! – Mein Gott, was sind Sie denn von Beruf? – Ich habe mehrere Berufe. Ich bin Schriftsteller, Professor für Literarisches Schreiben, Pianist, Vortragskünstler und im Nebenberuf Eisenbahnlandwirt. Jeden dieser Berufe liebe ich. Wenn wir Zeit hätten, könnte ich Ihnen die Zusammenhänge erklären. Vielleicht später einmal.
Die Assistentin hält mich für eine seltsam rare Erscheinung, ich erkenne es an ihrem erstaunten Blick. So etwas habe ich noch nie gehört, sagt sie, davon müssen Sie mir mehr erzählen, unsere Psychologin wird sicher auch ihre Freude an Ihnen haben. – Werde ich von einer Psychologin betreut?, frage ich. – Wenn Sie es darauf anlegen sogar alle paar Tage! Aber eins möchte ich noch wissen: Was lehrt ein Professor für Literarisches Schreiben?! – Tja, ganz einfach: Er lehrt Schreiben an einer Universität! Die meisten meiner Studenten wollen Schriftsteller werden. Ich lese ihre Texte Woche für Woche, lektoriere sie und gebe ein paar Ratschläge. – Oh! Lesen Sie auch Texte von Laien?
Ich ahne, was mir im schlimmsten Fall bevorsteht. Die Assistentin schreibt selbst, oder sie hat eine Freundin, die schreibt, oder sie möchte einen Schreibkurs belegen, notfalls per Fernstudium. Wenn ich jetzt einen Fehler mache, erhalte ich an jedem Morgen Texte zum Lesen und Korrigieren, und das nicht nur von ihr, sondern von der Hälfte aller Klinikmitarbeiter.
Texte von Laien lese ich leider nicht, sage ich entschlossen, und mir fällt sofort auf, dass die Assistentin wider Erwarten erleichtert wirkt. – Sonst hätten Sie wohl keine freie Minute!, sagt sie. – Ich hatte eigentlich noch nie freie Minuten, antworte ich, darin besteht ja mein Unglück. – Hier bei uns werden Sie lernen, wie man sich freie Minuten verschafft! – Ich bin gespannt, antworte ich.
Dann naht der Abschied. Wenn Sie wollen, schenke ich Ihnen eins meiner Bücher, flüstere ich, sagen Sie mir bitte, welches, Sie finden die Titel leicht im Netz! Aber sprechen Sie bitte darüber mit niemandem. Ich möchte unerkannt bleiben. Ein harmloser, stiller Patient, der nur eines will: ungestört gesund werden, so schnell wie möglich!
Wir stehen einander gegenüber, und ich möchte der Assistentin die Hand geben. Da fällt ihr eine letzte Frage ein: Lesen Sie aus Ihren Büchern auch vor? – Ja, tue ich, aber ohne Zirkus und Brimborium. Ich lese sie in angemessener Betonung, und ich bin damit einigermaßen zufrieden. – Ah ja! Wie wäre es, wenn Sie auch hier bei uns vorlesen würden? – Hier? Vor den Patienten? – Nicht nur! Vor Patienten und Pflegerinnen, vor dem ganzen Haus! – O nein, auf keinen Fall! Sagen Sie niemandem, dass ich schreibe oder lehre oder vortrage. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, antworte ich, dass ich Eisenbahnlandwirt bin. – Das glaubt Ihnen aber keiner! Sie sehen nicht aus wie ein Landwirt. – Das kann ja noch werden! – Und ein paar Stücke auf dem Klavier möchten Sie auch nicht spielen?! – Das noch viel weniger, antworte ich, momentan bringe ich kein einziges Stück zusammen, meine beiden Hände spielen nicht mehr koordiniert.
Da lächelt die Assistentin. Ich heiße Camille, sagt sie und reicht mir ihre Karte. Wenn Sie etwas brauchen, können Sie mich jederzeit anrufen. – Danke! Das werde ich tun, antworte ich mit seltsam trockenem Mund, ich gehe jetzt ins Gourmetparadies, eine Apfelschorle wird mir guttun. Bis bald. – Bis bald, antwortet sie und lächelt noch immer.
Dann aber fliegt sie davon. Eine schmale Gestalt mit weißen Sportschuhen in einem weißen Kittel, dessen geöffnete Hälften sie umflattern wie Flügel im Wind.
IM BISTRO bin ich allein. Ich setze mich mit der Apfelschorle ans Fenster und studiere meinen Behandlungsplan. Was ist als Nächstes dran? Blutabnahme, Blutdruckmessen, EKG, eine erste gründliche Untersuchung. Die Chefärztin ist im Urlaub und wird durch einen älteren Kollegen vertreten. Danach gibt es eine halbstündige Pause, in der ich etwas essen sollte. Essen? Aber was?
Am Nachmittag werde ich mich in eine Entspannungsgruppe einreihen und zum Abschluss des Tages ein anderthalbstündiges Aufbau- und Ausdauertraining absolvieren. Zur Freude der Sporttherapeuten.
Bereits jetzt, kurz vor Mittag, bin ich sehr müde. Ließe man mich gewähren, führe ich nach Hause und legte mich sofort ins Bett. Alles, was ich tue, und sei es noch so unauffällig und schlicht, strengt mich an. Warum?!
Ich vermute, dass ich überdreht konzentriert bin. Nicht sensibel, sondern hochsensibel und vielleicht noch mehr. Meine langsamen Bewegungen tragen dazu bei, ich gehe umher, als wären mehrere empfindliche Sonden gleichzeitig in Aktion. Sie melden und registrieren alles in meiner Umgebung, bis ins kleinste Detail. Licht, Temperatur, Farben, Worte und Klänge.
Eigentlich sind das gute Bedingungen für mein Schreiben. Mir gelingt die Umsetzung der Wahrnehmungen in Schrift aber nicht. Das ist ein Elend. Meine Beobachtungen lassen sich einfach nicht speichern. Nach kaum einer halben Stunde habe ich sie wieder vergessen und laufe den nächsten hinterher.
Manchmal flüstere ich noch ein paar Sätze in das Diktiergerät meines Smartphones. Beim Abhören kommen sie mir aber läppisch und ungenau vor, so dass ich sie sofort wieder lösche. Nur unkommentierte O-Töne in meiner Umgebung lasse ich vorerst gelten. Drei Minuten Geräuschkulisse. Zum Beispiel jetzt, hier, im Bistro!
Ich schalte das Gerät ein und zähle die vergehenden Sekunden still mit. Das also ist mein Dasein. Stummes Horchen und Warten. Ein Schluck aus einem Glas. Ein Räuspern.
Der Körper hat die Herrschaft übernommen, er lässt nicht mehr mit sich verhandeln. Ich werde ihm jetzt dienen müssen, und er wird mir höchstens erlauben, täglich ein paar Zeilen zu kritzeln.
Selbst das Telefonieren strengt mich an, so dass meine Gesprächspartner erschrecken. Was ist los? Geht es dir nicht gut? Solche Fragen möchte ich auf keinen Fall hören. Also lieber keine Telefonate.
Am besten, ich rühre mich nicht. Als Kind habe ich oft minutenlang leblos auf einem Stuhl gesessen. Wenn ich das Haus nicht verlassen durfte und mit der Mutter allein war.
Jetzt haben mich diese Kindheitsmanieren eingeholt. Als hätte ich nicht ein Leben lang alles getan, um ihnen zu entkommen. Denk an etwas anderes! Trink dein Glas langsam aus und bereite dich auf die ersten Untersuchungen vor! Was wird der behandelnde Arzt dich fragen? Bist du vorbereitet? Was könntest du berichten oder erzählen, um ihn abzulenken?
Du möchtest kein Patient sein, der nur Daten und Werte liefert. Die Geheimsprachen der Ärzte haben dich von Anfang an irritiert. Sie wurden erfunden, um die Patienten im Ungewissen zu lassen und sie zu Statisten zu degradieren.
DER CHEFÄRZTIN-STELLVERTRETER kennt mich. Er hat mehrere meiner Bücher gelesen und liebt vor allem die mit italienischem Ambiente. Während Blut abgenommen, Blutdruck gemessen und das EKG initiiert wird, erzählt er von seinen Reisen. Florenz, Siena, Rom, Venedig.
Einerseits bin ich erleichtert. Ihm wird nicht auffallen, wie schwach ich noch bin. Halb Italien vor Augen wird er mir einen glänzenden Einstieg ins Rehaleben attestieren. Ein Patient mit erstaunlichen Genesungssymptomen! Kaum einen Monat nach einer schweren Operation bereits munter und aufgeschlossen! Keine Anzeichen von Erschöpfung und nicht die geringsten depressiven Verstimmungen!
Andererseits ahne ich, dass sich aus diesem Raum rasch eine frohe Kunde verbreiten könnte: Unter uns weilt ein veritabler Schriftsteller! Mit dem man sich über Gott und die Welt fabelhaft unterhalten kann! Ganz zu schweigen vom realen Leben, in dem er als begnadeter Erzähler Tag für Tag über sich hinauswächst!
Bevor ich das Zimmer wieder verlasse (hat man mich überhaupt untersucht, reisten wir nicht vielmehr an den italienischen Küsten entlang?), wechsle ich vom launigen ins ernste Genre – und sage: Herr Doktor, eines noch. Ich möchte unerkannt bleiben! In dieser Klinik bin ich kein Schriftsteller! Ich bin ein Eisenbahnlandwirt vom nahen Land! – Der Chefärztin-Stellvertreter lächelt, als überhörte er gnädig, was ich gesagt habe. Er nickt und fragt: Darf ich Sie auch an unsere Psychologin überweisen? Ich vermute, Sie möchten sich das ersparen, oder? In Ihrem Fall bringt es doch nichts.
Hat er recht?! Mein erster Impuls sagt, ja, hat er. Um Psychologie und erst recht um Psychoanalyse habe ich, wie schon gesagt, immer weite Bögen gemacht. Jetzt jedoch ist das anders. Ich bin neugierig geworden, ja, ich wüsste nur zu gern, was mich eine Psychologin so alles fragen könnte und wie so ein Gespräch sich gestaltet.
Ehrlich gesagt habe ich nicht die geringste Ahnung von Psychologie, antworte ich. Gerade deshalb bin ich an einem Gespräch interessiert. – Wie Sie wünschen, antwortet der Chefärztin-Stellvertreter, dann setze ich Sie auf die Liste.
Wir geben uns die Hand, und ich biete meinem Gegenüber an, sich eines meiner Bücher als Dank für die aufmerksame Behandlung auszuwählen. – Oh, das wäre aber nicht nötig gewesen.
Als ich das Zimmer verlasse, ist mir erneut schwindlig. Unbeobachtet stütze ich mich gegen die Wand, atme durch und schließe die Augen. Was fehlt dem Jungen?, wird meine Mutter gefragt. – Nichts, er hat sich nur leicht überanstrengt, antwortet sie. – Kann man ihm helfen? – Danke, nein, ich kümmere mich um ihn, ich weiß, was er braucht.
Ich setze mich auf einen Stuhl im Flur und warte auf das Entspannungstraining. HERZ heute beantwortet Fragen von Herzkranken: Was ist von der EKG-Messung mit der Apple Watch zu halten? Oder: Ist eine Pulmonalvenenisolation bei einem Puls von 102 ratsam?
Ich lege das Heft beiseite und gehe zum Wasserspender. Ein kleines Glas, ein zweites, ein drittes, ich habe schon wieder einen trockenen Mund. Als hätte ich heute bereits zwei lange Vorträge gehalten. Habe ich das?!
Da kommt eine junge Sporttherapeutin auf mich zu (diesmal im hellblauen Kittel). Gehören Sie zur Entspannungsgruppe? – Ja, ich warte hier auf die Sitzung! – Dann kommen Sie bitte mit, Herr Professor, wir fangen gleich an, die anderen Patienten befinden sich schon im Übungsraum!
ETWA DREI Stunden später sitze ich im Zug nach Hause. Ich habe mich fünfundvierzig Minuten bemüht, auf meinen Körper zu lauschen. Erst sollte mein rechter Arm schwer werden, dann mein linker, danach das rechte Bein, dann das linke. Einige Mitpatienten sind eingeschlafen. Mein Körper jedoch hielt dagegen. Was ließ sich mit den Füßen anstellen, rechts, links, und was mit Bauch und Rücken?
Rein gar nichts habe ich während dieses Trainings gespürt und mir eingeredet, dass es darauf nicht ankommt. Viel wichtiger ist das seltsame Erlebnis unendlich gedehnter Zeit. Schon nach fünf Minuten schaute ich heimlich auf die Uhr, in der Hoffnung, es wären bereits zwanzig vorbei.
Die Restzeit schwamm ich in Gedanken im Mittelmeer. Wäre es nicht ein guter Einfall, den Körper mit einem langen Strandaufenthalt zu ködern?! Er gibt mir frei und erspart mir die Rehawochen – und wir fahren zusammen nach Italien und gehen am Meer stundenlang auf und ab …
Nach dem Entspannungstraining dachte ich: Herr, ich habe genug! Der Text der Bach-Kantate kam mir plötzlich in den Sinn, und ich hätte fast begonnen, die ersten, mir vertrauten Takte zu summen. Wäre ich bloß nicht derart müde gewesen! Anscheinend wirkten die Entspannungsübungen nach und trieben mir alle noch vorhandenen Energien aus.
Was tun? Darf ich die Klinik als eingeschriebener Patient nach Gutdünken verlassen? Ich trank wieder etwas Wasser, setzte mich erneut auf einen Stuhl und schloss kurz die Augen. Das jedoch war ein Fehler, denn mir entging, dass Camille auf dem Flur unterwegs war.
Hallo, da sind Sie ja wieder!, rief sie mir zu. Sie haben jetzt das Aufbau- und Ausdauertraining, stimmt’s? Kommen Sie mit, ich gehe mit Ihnen nach oben und stelle Sie meinen jungen Kollegen vor! Ich lächelte und erhob mich, und dann gingen wir einige Stufen hinauf in den obersten Stock, wo sich die jungen Kollegen die Hände rieben, mich verkabelten, meine Tret-, Lauf- und Stemm-Leistungen an einem Monitor verfolgten und mich nach zwei Stunden verabschiedeten: Das wird schon! Ein sportliches Ass sind Sie nicht! Aber Sie geben sich Mühe – und nur das zählt! Dürfen wir uns eines Ihrer Bücher wünschen?! Wir haben gehört, Sie lassen da mit sich reden.
Im Zug schlafe ich endlich ein. Ich träume davon, Fahrrad auf einer schmalen Straße am Meer entlangzufahren. Es gibt keine Steigungen, niemand ist hinter mir her oder kontrolliert mich, und Cecilia Bartoli singt in meine Kopfhörer Ombra mai fu, Händels Arie über das Glück eines Menschen, der im Schatten einer Platane liegt. Ich höre, radle und treibe davon. Als ich erwache, habe ich meinen Zielbahnhof verpasst und bin drei Stationen zu weit gefahren, bis in die nächste Kreisstadt. Erst in einer Stunde kann ich wieder zurück.
Ich setze mich in das kleine Bahnhofsrestaurant. Die Speisekarte?!, fragt mich die Kellnerin. – Nein, danke, ich habe gerade gegessen. – Bier oder Sprudel? – Gibt es auch Kölsch? – Aber ja, sogar null Komma drei! – Nein, bitte nicht. Null Komma zwei, so wie in Köln! – Ich bringe null Komma drei – und Sie trinken halt null Komma zwei …
Als das Kölsch vor mir steht, hole ich das Smartphone hervor, schalte die Videofunktion ein und flüstere leise: Das erste Kölsch nach der Operation! Mal sehen, wie es schmeckt!
Wie viele Kölsch haben Sie in Ihrem Leben getrunken?! – Ernsthaft, Frau Therapeutin?! – Ja, schätzen Sie mal! – Gibt es von Doktor Freud eine Kölsch-Diagnose samt Therapievorschlag?! – Natürlich, die gibt es! Nun beichten Sie schon!
Ich nippe an dem vollen Glas. Ich stelle es ab und betrachte es wieder und wieder. Dann schalte ich die Videofunktion erneut ein und flüstere: Das Kölsch ist verdorben. Ich kann es nicht trinken.
IN DEN Nächten sitze ich oft allein in der Küche meines Elternhauses. Ich zünde eine Kerze an und überlege, welche Musik ich hören sollte. Auch auf Töne und Klänge reagiere ich hochempfindlich. Die meisten Stücke ziehen mich in einen Strudel von sentimentalen oder tieftraurigen Regungen, so dass ich das Hören rasch abbrechen muss.
Möglich ist höchstens eine Musik, die nirgends um den Zuhörer buhlt, ihn auf Distanz hält und ganz mit sich selbst beschäftigt ist. Eine Musik, die sich Aufgaben stellt. Die in sich kreist und nichts preisgibt. Etwas konzentriert Hermetisches also.
Ich habe es mit vielen Kompositionen versucht und schließlich Bachs Kunst der Fuge entdeckt. Als ich die Eröffnung hörte, wusste ich sofort, dass es das Richtige ist. Frei schwebende Töne, balancierend, als loteten sie das Gehirn aus. Kein Laut und Leise. Leuchtende Pfade, atemlos gegangen, ein mildes Licht. Keine Sonnen oder andere Wetter. Ein zur Ruhe gekommener Kosmos.
Obwohl ich Tee nicht besonders mag, trinke ich Tee. Seit meine Freunde von meiner Krankheit wissen, schenken sie mir laufend neue Sorten. Einer schlug vor, eine Lehre bei einem Teemeister zu durchlaufen. Andere schenkten mir Bücher über den Teeweg. Ich nehme den ersten Schluck und lese einige der angenehm schlichten Empfehlungen, die ihn eröffnen: Nimm dir Zeit. Atme durch. Entspanne die Schultern.
Asiatische Lehr- und Konversationsbücher sind Lektüren, die ich gegenwärtig bevorzuge. Unerträglich sind Erzählungen mit mehreren Handlungssträngen, komplizierten Charakteren und dramatischen Umbrüchen. Ich kann ihnen nicht folgen und gebe nach zwei, drei Seiten resigniert auf. So viel Leben und Welt! – Ich bin das nicht mehr gewohnt und kann es nicht stemmen.
Lieber also die asiatischen Maximen und Reflexionen, übersichtlich, nachvollziehbar: Herr Jedermann kam voller Unruhe zum Meister. Dieser bat ihn, Platz zu nehmen, dann fragte er ihn: Womit befasst du dich? – Herr Jedermann antwortete: Ich bemühe mich, weniger Fehler zu machen, aber es gelingt nicht. – Da sagte der Meister zu ihm: Du bist in Ordnung und kannst wieder gehen.
Ich lese solche Konversationen mehrmals und versuche, sie auf meine Situation anzuwenden. Manchmal gelingt es, und es kommt zu seltsamen Überschneidungen. Als schickte mich ein Schluck grüner Tee, bitter, stark, belebend, auf den Weg, während sich die Meister zurechtmachen, mich zu begleiten. Komm mit, wir helfen dir! Erzähl uns, was dir durch den Kopf geht!
Auch mit meiner Kleidung habe ich auf die neuen Herausforderungen reagiert. Ich sitze in einem grauen T-Shirt und einer dunkelblauen Trainingshose am Küchentisch. Seit ich die Rehaklinik besuche, trage ich zu Hause meist Sportkleidung. Als sollte das Trainieren nicht mehr aufhören.
Nachts orientiert es sich spirituell, ab dem frühen Morgen eher körperbetont, mit Hilfe von Leibesübungen der alten Schule. Auch dafür frage ich möglichst schlichte Lehrbücher um Rat und vertiefe mich in ihr gelassenes, weises Gemurmel: Beim Aufwärmen solltest du die großen Gelenke über den gesamten Bewegungsradius mobilisieren, das regt die Bildung von Gelenkschmiere an!
So etwas passt und sitzt! Gelenk- und Gehirnschmieren sind die Stoffe, nach denen Körper und Geist sich gegenwärtig strecken und recken. Sie bilden sich durch einfache Übungen. Stück für Stück will ich meinen halb erstarrten Organismus beleben, bis er fähig ist, ganz aus eigener Kraft wieder lange Wege zu gehen.
Momentan ist das unmöglich. Nach meinem Morgentraining und zwei Tassen Tee schleppe ich mich zum Bahnhof und absolviere in der Rehaklinik ein achtstündiges Übungsprogramm. Mittags trinke ich Apfelsaftschorle und esse ein Eis. Vanille, Schokolade, zwei Kugeln. Danach fühle ich mich so gesättigt, als hätte ich ein aufwendiges Mittagessen zu mir genommen.
Die Kugeln kauern in einer Waffel. Wenn ich sie entgegennehme, schaue ich mich nach dem nächsten Bistro-Ausgang um. Unmöglich, dass ich mich mit einer Waffel und zwei Kugeln Eis durch das Bistro bewege. Ich würde auffallen, und die anderen Gäste würden sich an die Stirn tippen und leise flüstern: Das ist der verrückte Professor! Er lehrt angeblich Schreiben und spielt auch Klavier! Uns aber will er nichts vortragen! Dafür ist sich der Pinkel zu fein!
Niemand isst im Bistro der Rehaklinik noch Eis. Dabei lauert ein stattliches Aufgebot von Sorten in einer Vitrine, perfekt angestrahlt. Sie dämmern vor sich hin, legen sich abweisende Eiskrusten zu und ziehen sich immer mehr in sich zusammen. Bald ist Schluss damit!, sagt die Bedienung und schaut mich an, als hätte ich perverse Lüste: Wer isst im Spätherbst schon Eis?! – Kein Mensch außer mir, antworte ich, und dann lächeln wir beide. Sie wirkt gelassen, ich jedoch erscheine verkrampft. Leider kann ich ihr nicht erklären, dass Eis am Mittag meine einzige Nahrung ist. Sie glaubt, dass ich es als Dessert verspeise, wie ein Kindskopf, der sich die primitiven Kindersehnsüchte noch immer nicht abgewöhnt hat.
Verdammt, ich habe mir die Kindersehnsüchte nicht abgewöhnt, murmle ich mitten in der Nacht vor mich hin, höre weiter Bachs Kunst der Fuge und blicke die brennende Kerze an. Abrakadabra, antwortet die Kunst der Fuge, ich beginne jetzt mit den vierstimmigen Gegenfugen, der Comes tritt als Umkehrung des Dux auf den Plan! – Tut mir leid, antworte ich, ich verstehe kein Wort! – Die Kunst der Fuge