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Vom weißen Blatt zum Buch
Hanns-Josef Ortheil, Schriftsteller und Professor für Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim, entwirft in Nach allen Regeln der Kunst ein schillerndes, anregendes Panorama seiner über dreißigjährigen, unkonventionellen und erfrischend gegenwartsbezogenen Lehre.
Vom berüchtigten weißen Blatt ausgehend, lädt er anhand von inspirierenden Schreibaufgaben zu einer weiten Reise durch die Ländereien des Erzählens ein – von der Skizze und ersten Entwürfen bis hin zur Erzählung oder der Arbeit am Roman. Anhand von Seitenblicken auf andere Texte und Bücher entsteht nebenbei auch eine breit angelegte Recherche nach den unterschiedlichen Facetten literarischer Formen und Kreativität.
Auf verblüffende Weise bezieht Ortheils Lehre nicht vermutete Vorgaben anderer Künste wie Musik, Malerei, Fotografie oder Film in das literarische Entwerfen und Planen mit ein. Nicht zuletzt ist sein Buch eine faszinierende Erzählung über den Umgang mit jungen oder älteren Schreibtalenten, die sich bedingungslos für das eigene Schreiben entschieden haben – und bietet dadurch viele Anregungen für alle, die diesen kreativen Schaffensprozess selbst erleben möchten.
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Seitenzahl: 415
Hanns-Josef Ortheil
Nach allen Regeln der Kunst
Schreiben lernen und lehren
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.
Original Ausgabe © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co.KG Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum/laif, Köln
eISBN 978-3-458-77965-0
www.insel-verlag.de
Walther von Stolzing: Wie fang’ ich nach der Regel an?
Hans Sachs: Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann!
Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg
Schreiben lernen heißt sich in die Schule der Demut begeben. Danach ist Zeit genug den Autor zu spielen.
Robert Pinget: Kurzschrift. Aus Monsieur Traums Notizheften
Studieren aber muss man immer und überall.
Quintilian: Lehrbuch der Redekunst
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Motto
I Vorgeschichten
Ein Buch schreiben?
Wie alles begann
Ein Buch schreiben!
II
Im Gehäuse des Schreibens
1
Der Tisch und der Stuhl
Ikonen und Stationen des Schreibens
1
– Caravaggio malt den Schreibraum des heiligen Hieronymus
Die Ursuppe und das Album
Grundbestandteile und Zutaten der Ursuppe
Ikonen und Stationen des Schreibens
2
– Petrarca findet in einem Studiolo das einsame Leben und ein geselliges Leben anderer Art
Buchstaben, Wörter, Sätze, Handschriften
Stillagen, Stilübungen, Schreibweisen
III
Im Gehäuse des Schreibens
2
Rhetorik und Stilistik
Frühmorgendliches Planen und Schreiben/ Die Bedeutung der Lebenskunst
Ikonen und Stationen des Schreibens
3
– Die klösterliche Zelle
Frühmorgendliche Schreibanfänge
Traumprotokolle/ Traumtagebücher
Ikonen und Stationen des Schreibens
4
– Der Schreiber Heti
Briefe an die jungen Dichter
IV
Schreiben studieren
Die Architektur des Studiums – Das Training und die Werkstatt
Fragen der Studierenden
1
– Der Dichter und das Phantasieren
Ikonen und Stationen des Schreibens
5
– Die Erfindung der Inspiration
Die Geburt der Poetik aus dem Geist der Philosophie
Das poetologische Denken und Sprechen
Texte lektorieren
Fragen der Studierenden
2
– Von anderen Texten lernen
V In Umgebungen schreiben
Die Stadt, die Straße – Annäherungen an das Erzählen
Notieren und erzählen
Die Stadt, die Plätze, der Genius loci
VI
Sensorien
Die Entwicklung der Lehre
Sensorisches Schreiben
1
– Schreiben und Kunst
Sensorisches Schreiben
2
– Schreiben und Zeichnen
Sensorisches Schreiben
3
– Schreiben und Fotografieren
Sensorisches Schreiben
4
– Schreiben und Musik
VII
Erzählen
Erzählungen schreiben
Die Entdeckung des Schreibprofils
Fragen der Studierenden
3
– Der Umgang mit Schreibprofilen
VIII
Kulturjournalistisches Schreiben
Junger Kulturjournalismus
Kulturjournalistische Profilbildungen
Gespräche und Werkstattgespräche
Eine Zeitschrift und ein Festival
Vorlesen und Vortragen
Schreiben in den Sozialen Medien (Facebook, Twitter, Instagram etc.)
Fragen der Studierenden
4
IX
Schreiben auf Reisen
Die Erweiterungen von Lehre und Schreiben
Exkursionen
1
– Reisen und Schreiben
Abenteuer- und Forschungsreisen
Von Reisen erzählen
Exkursionen
2
– Raumbezogenes Schreiben im
TAL
Die Pilgerreise
Die Methoden der Bildungsreise
Exkursionen
3
– Zeichenbezogenes Schreiben in einem Bàcaro Venedigs
Reisen als Selbstbegegnung
Aufzeichnungen von unterwegs
Exkursionen
4
– Personenbezogenes Schreiben in Paris
X Einen Roman schreiben
Fragen der Studierenden
5
– Romanarbeit
Die Inhalte des Skizzenbuchs
Faszinosa
Recherchieren
Die Critique génétique
Fragen der Studierenden
6
Franz Kafka beginnt seinen Roman
›
Der Proceß
‹
Heinrich Böll sucht den Überblick
John von Düffel arbeitet an einem Roman
Fragen der Studierenden
7
Erzählstränge im Drehbuchformat
XI
Nachgeschichten
Fragen der Studierenden
8
Coda
1
– Ein kurzer Rückblick
Coda
2
– Kleine Zeittafel
Ab
1965
Ab
1978
1989
WS
1990
/
1991
1990
-
1995
1993
-
1996
1995
-
1999
1999
2000
2000
/
2001
ff.
2001
2003
2003
-
2010
2005
2006
2007
-
2012
2007
2008
2008
-
2011
2008
/
2009
2009
2009
ff.
2011
2011
-
2017
2014
2015
/
2016
2016
/
2017
2017
-
2020
2017
/
2018
2018
/
2019
2019
2020
-
2024
2021
2023
-
2026
XII
Notes
I
Vorgeschichten
II
Im Gehäuse des Schreibens
1
III
Im Gehäuse des Schreibens
2
IV
Schreiben studieren
V
In Umgebungen schreiben
VI
Sensorien
VII
Erzählen
VIII
Kulturjournalistisches Schreiben
IX
Schreiben auf Reisen
X
Einen Roman schreiben
XI
Nachgeschichten
XII
Ein Kosmos der Lehre
Ergänzende Literatur (Eine Auswahl)
Weiterführende Literatur (Eine Auswahl)
XIII
Dank
Abbildungsverzeichnis
Informationen zum Buch
Nach allen Regeln der Kunst
I
Im Frühjahr 2020 will ich aus dem Süden nach Hildesheim fahren, so wie seit dreißig Jahren. Ich habe bereits gepackt und die Bücherration zusammengestellt, die ich jedes Mal mit auf die Bahnreise nehme. In Hildesheim unterrichte ich am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität, bleibe einige Tage und fahre danach wieder zurück.
Ich bin an diese Rhythmen gewöhnt, ich habe sie sozusagen im Blut. Die gedankliche Vorbereitung, das Packen, die Zugfahrt, der Unterricht – daraus besteht ein großer Teil meines Lebens. Er kreist um Themen des Schreibens: Wie und was schreiben? Woher die Impulse beziehen? Welche innovativen Wege einschlagen?
Die Tage in Hildesheim akzentuieren diese Fragen immer von neuem, deswegen mag ich den Unterricht – die Konzentration, die Wege in die Ideenkammern, das Notieren und Entwerfen, die Suche nach überzeugenden Antworten auf die genannten Fragen.
Während der Bahnfahrt lese ich studentische Texte, gehe meine Aufzeichnungen der letzten Tage durch und blättere in den Büchern, aus denen ich vorlesen oder zitieren werde. Nach der Ankunft fahre ich mit dem Fahrrad zur Domäne Marienburg, einem mittelalterlichen Bischofssitz außerhalb der Stadt auf den flachen, niedersächsischen Feldern. Dort liegt der kulturwissenschaftliche Campus der Universität mit seinen Instituten und Fächern: Literatur, Theater & Medien, Kunst, Musik, Kulturpolitik und Philosophie.
Nach einer halben Stunde Fahrt erreiche ich das alte Pächterhaus und öffne die Tür des Arbeitszimmers. Ich packe meine Bücher und Aufzeichnungen aus und lasse Musik laufen, oft ist es Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Die Hildesheim-Lehre und Bachs Kunst der Fuge gehören zusammen, denn diese Musik handelt in meinen Ohren von den kreativen Szenen, die ich im Blick behalten möchte: ein Motiv, ein Thema, die Eröffnung, seine Fortführung und Variation, weitere Motive und Themen, die heiklen Momente ihrer Bearbeitung.
Im Frühjahr 2020 jedoch werden meine Aufenthalte im Norden jäh durch den Beginn der Pandemie unterbrochen. Anfangs spiele ich die plötzlich aufflammende Bedrohung herunter und rede mir ein, dass ich bald wieder nach Hildesheim fahren werde. Dann aber stellt sich heraus, dass ich lange Zeit nicht dorthin reisen kann.
Der Bruch hinterlässt Spuren. Ich fange an, aus der Ferne an Hildesheim zu denken, und suche in meinen Archiven nach Notaten und Aufzeichnungen aus den letzten Jahrzehnten. Je häufiger ich das Erinnerungsmaterial durchgehe, desto stärker wächst die Lust, die daran anknüpfenden Überlegungen festzuhalten. Mit ihrer Hilfe könnte ich meine Ideen zum Kreativen und Literarischen Schreiben fixieren. So entsteht die Idee, ein Buch über meine Hildesheim-Lehre zu schreiben.
Im Sommer 1990 erscheint in der Wochenzeitung Die Zeit die Ausschreibung einer Stelle für Kreatives Schreiben im Studiengang Kulturpädagogik/Deutsch an der Universität Hildesheim. Bewerberinnen oder Bewerber »sollten auf diesem Gebiet Erfahrung aufweisen und auch in der modernen deutschen Literaturgeschichte und/oder in der modernen Ästhetik ausgewiesen sein«.
Kurze Zeit später schicke ich meine Unterlagen an den Rektor der Universität und werde danach zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Es findet am 27.September 1990 in Hildesheim statt. Zwei Professoren und ein Mitglied des Akademischen Mittelbaus sind anwesend und befragen mich nach Lehre und Forschung.
Damals bin ich fast vierzig Jahre alt. Ich habe nach dem Studium der Philosophie, Literatur-, Musik-, Kunst- und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Mainz, Göttingen, Rom und Paris über den Deutschen Roman zur Zeit der Französischen Revolution promoviert und danach zwölf Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hochschulassistent am Deutschen Institut der Mainzer Universität gearbeitet.
1979 ist im S.Fischer-Verlag mein erster Roman (Fermer) erschienen, in den Folgejahren habe ich Bücher über Mozarts Briefe, den expressionistischen Lyriker Wilhelm Klemm, eine Monografie über Jean Paul sowie zwei Essaybände zur Ästhetik der Gegenwart veröffentlicht. Weitere Romane (Hecke, Schwerenöter und Agenten) sind 1983, 1987 und 1989 erschienen. Außerdem habe ich in den vorangegangenen Jahrzehnten viele kulturjournalistische Texte in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften publiziert: Feuilletons, Kritiken, Glossen oder Porträts.
Überblickt man diese Veröffentlichungen, scheine ich für die Hildesheimer Stelle gut geeignet. Unterrichtserfahrung habe ich auf dem Gebiet des Kreativen Schreibens ebenfalls. Ich bin 1988Writer in residence an der Washington-Universität in St.Louis gewesen und habe dort viele Facetten des amerikanischen Creative Writing kennengelernt. Auch während der Mainzer Jahre habe ich in den universitären Unterricht Übungen im Kreativen Schreiben einfließen lassen und darüber hinaus am Projekt eines Studiengangs gearbeitet, das von den Fächern Germanistik und Publizistik aufgebaut und gestaltet werden sollte. Das Konzept sah vor, Literarisches und Journalistisches Schreiben miteinander zu verbinden und Redaktionen der Mainzer Sendeanstalten von Fernsehen und Rundfunk (ZDF, 3sat, SWR) in die Lehre einzubeziehen. So hätte ein ideales Experimentierfeld für Texte entstehen können, die in den Medien präsentiert worden wären. Dieses Konzept wurde jedoch nie verwirklicht, da es nicht genug Befürworter im Professorengremium fand. Nach dem Scheitern dieser Pläne hatte ich die Universität Mainz verlassen und als freier Schriftsteller gearbeitet.
Als ich im Sommer 1990 die Ausschreibung der Stelle für Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim entdecke, erscheint sie mir wie ein Angebot für die Umsetzung meines in Mainz unverwirklicht gebliebenen Projekts. Wenige Tage nach dem Hildesheimer Bewerbungsgespräch erhalte ich eine positive Rückmeldung des Rektorats – meine Bewerbung war erfolgreich. Ich fahre zum zweiten Mal nach Hildesheim, um mich mit meinen zukünftigen Kolleginnen und Kollegen über die Details der Lehre abzusprechen. In den Gesprächen mit den Lehrenden des Instituts für deutsche Sprache und Literatur erfahre ich genauer, was man von mir erwartet.
Der Diplomstudiengang Kulturpädagogik ist damals eine in der deutschen Hochschullandschaft einmalige Konstruktion. Sie erlaubt den Studierenden, Literatur, Theater, Medien, Kunst oder Musik als künstlerisch-wissenschaftliche Fächer in Theorie und Praxis gleichzeitig zu studieren. Literatur zum Beispiel wird als Literaturtheorie oder Literaturgeschichte von Literaturwissenschaftlern unterrichtet, während der Unterricht in Kreativem Schreiben die Praxis des Schreibens in den Vordergrund rückt.
Die Konzeption des Studiengangs Kulturpädagogik erinnerte mich durch ihre Verbindung von Theorie und Praxis an die Gespräche, die ich früher oft mit befreundeten Künstlern geführt hatte. Sie studierten an einer Kunstakademie, wobei das Studium aus einer handwerklichen, praxisbezogenen Ausbildung in einer frei gewählten Kunstsparte (Bildhauerei, Malerei, Fotografie etc.) bestand, die durch theoretische und wissenschaftliche Studien ergänzt wurde.
In Kunstakademien existierte eine lange Tradition dieser Verbindungen von praktischem und theoretischem Wissen, die sich aus ihren ersten Gründungen während der italienischen Renaissance in Florenz und Rom herleiten ließen. Damals waren gesellschaftlich anerkannte und hoch geschätzte Künstler zu Lehrern geworden, die jeweils eine Klasse von Schülern betreuten.
Diese Künstler hatten ihr jeweils eigenes Kunstverständnis in die Lehre eingebracht und nicht selten als »Meister« gewirkt, denen die Studierenden mehr oder minder direkt nachgeeifert hatten und gefolgt waren. Die Praxis der handwerklichen Techniken war dabei umgeschlagen in ein theoretisches Wissen, das gleichsam eine Sprache dafür gefunden hatte, was in der Praxis geschehen und entstanden war (vgl. Künstler in der Lehre).
Ob und wie Kunst »lehrbar« sei, war dabei häufig diskutiert worden. Meist wurden Fragen danach so beantwortet, dass man die Lehre vor allem als Lehre von praktischen Fertigkeiten in den Techniken der Künste verstand. Diese waren durchaus lehrbar, während andererseits klar war, dass keine Lehre auf direktem Weg zu »Kunst« führen würde. Hier kam es auf Begabungen und Talente der einzelnen Studierenden an, die bei frühzeitiger Erkennung und Förderung höchstens entwickelt werden konnten. Dafür gab es jedoch weder Methoden noch Regeln; Weiterführungen in dieser Richtung blieben den Fähigkeiten und Einsichten der einzelnen Lehrenden überlassen und führten nur in Ausnahmefällen zu nachvollziehbaren Ergebnissen.
Die Frage nach Lehrbarkeit stellte sich im Blick auf das Schreiben noch dringlicher. War Schreiben lehrbar? Dass künstlerische Fertigkeiten in zum Beispiel Akt-, Porträt- oder Landschaftszeichnen lehrbar waren, bestritt niemand. Auch dass pianistische Fertigkeiten lehrbar waren, war unbestritten. Was aber verstand man unter literarischen? Auf diese grundsätzliche Frage gab es keine naheliegenden Antworten, zumal damit nicht einmal genaue Vorstellungen darüber verbunden waren, was man sich unter literarischen Fertigkeiten überhaupt vorzustellen hatte.
Wenn ich mir selbst die Frage nach der Lehrbarkeit des Schreibens stellte, konnte ich vorerst nur meine eigenen Qualifikationen sondieren. Was also konnte ich lehren? Und in welchen Gebieten verfügte ich über Kenntnisse und Fertigkeiten, die lehrbar waren?
Die weitaus größten Erfahrungen im Umgang mit Schreiben und Schrift hatte ich nicht durch literaturwissenschaftliche Studien, sondern durch das eigene literarische, essayistische und kulturjournalistische Schreiben erworben. Als wen oder was musste ich mich also in Zukunft in der Lehre betrachten? Als der, der ich damals vor allem war – als Schriftsteller! Dementsprechend würde ich meinen Unterricht ausrichten und gestalten – weder als Didaktiker noch als Literaturwissenschaftler, sondern als Schriftsteller, der seit seiner Kindheit eigene Texte geschrieben und über die Praktiken des Schreibens oft nachgedacht hatte.
Anfang der neunziger Jahre gab es in Deutschland nichts Vergleichbares, auf das ich mich hätte beziehen können. Ein Schriftsteller als Lehrer des Schreibens an einer deutschen Universität – das war damals ein Nullpunkt, von dem aus ich Schritt für Schritt ein Lehrprogramm entwerfen konnte. Es handelte sich um ein interessantes Experiment, für das mir alle Freiheiten eingeräumt wurden. Ich konnte lehren, was und wie auch immer ich wollte, und niemand hätte mir Vorhaltungen gemacht, wenn ich mit Drachensteigenlassen in Theorie und Praxis oder mit Überlegungen zur Ästhetik von Gemüsekulturen begonnen hätte.
Verlassen konnte ich mich vorerst auf eine relativ einfache Fertigkeit, die ich in Jahrzehnten autodidaktisch ausgebildet hatte. Ich meine das fast tägliche Notieren und Skizzieren von Ideen, Projekten, Schreib- oder Lebensvorhaben – nicht verbunden mit festen Absichten, Zielen oder praktischen Zwecken, sondern entstanden als Reflex auf eine Lust und Freude am Schreiben.
Seit ich im Frühjahr 2020 plante, die Grundelemente meiner Hildesheimer Lehre vorzustellen, dachte ich darüber nach, wie ich dieses Buch anlegen sollte. Ich ging meine vielen Aufzeichnungen mehrmals durch und sortierte sie chronologisch und nach Themengebieten. Die meisten dieser Texte bestanden aus kurzen Protokollen dessen, wovon ich in den Seminaren und Übungen gesprochen hatte. Ich hatte sie unmittelbar nach den Sitzungen notiert und meist auch festgehalten, womit ich in der nächsten Sitzung weitermachen wollte. Daneben enthielten sie konkrete Schreibaufgaben, die ich Woche für Woche erfand.
Alle Themenfelder ausführlich in diesem Buch zu behandeln, erwies sich als unmöglich. In erster Linie ging es um die Besonderheiten der Hildesheimer Aufgabenstellungen, in zweiter um theoretische Überlegungen zum Thema Kreativität. Die größte Schwierigkeit bestand darin, dem Text einen Charakter zu verleihen, der sich an die konkrete Lehre anlehnte und sie nachvollziehbar machte. Ein akademischer Ton wäre dem nicht gerecht geworden, hätte er doch nichts von der freien, oft sprunghaften und manchmal auch assoziativen Art vermittelt, die den Unterricht geprägt hatte.
Angemessener erschien mir ein Ton, der dem mündlichen Vortrag in den Seminaren entsprach. Dabei war ich nicht selten spontanen Impulsen gefolgt, die sich aufgedrängt und eine hoffentlich spürbare Frische in den Unterricht gebracht hatten. Sie ergaben sich durch die Lektüre von Gegenwartsliteratur aller Art, deren Eindrücke ich seit den Studienjahren in gesonderten Notizheften festhielt. Die Inspirationen, die von diesen Notizen in den Unterricht eingingen, gehörten unbedingt in das geplante Buch. Sie hatten die Lehre gegenwartsbezogen gestaltet und thematisch mit den ästhetischen Diskursen der letzten Jahrzehnte verbunden.
Aus all diesen Gedankengängen ergaben sich einige Folgerungen und Vorsätze. Ich wollte erstens möglichst konkret und anschaulich schreiben, ohne viel Fachvokabular zu bemühen. Der Text sollte zweitens aus kleinen Molekülen oder Bausteinen bestehen, deren Kombination einen Eindruck von dem Verlauf der Hildesheimer Lehre in vielen aufeinanderfolgenden Semestern vermittelte. Drittens wollte ich die Darstellung wie eine Einführung in das weite Panorama der Ideenwelten anlegen, die beim Nachdenken über das Thema Schreiben entstehen. Leserinnen und Leser, die davon wenig wissen oder ahnen, sollten so einbezogen werden, dass sie Impulse ihres eigenen Schreibens mit bestimmten Momenten dieser Überlegungen verbinden können.
Um das zu ermöglichen, wollte ich mit dem reinen Nichts, dem weißen Blatt Papier, beginnen und danach sukzessiv zeigen, welche Aufgaben, Intentionen und Techniken dazu beitragen, dieses Blatt zu beschreiben oder zu verwandeln. In gewissem Sinne könnte dieses Buch daher wie eine Fortsetzungsgeschichte erscheinen, die mit dem weißen Nichts und seinem Zauber beginnt und sich allmählich hin zu unterschiedlichen Erzählformen entwickelt, bis es mit Romanprojekten endet.
Der rote Faden besteht dabei aus einem Spektrum unterschiedlicher Prosaformate, die sich auf historische und gegenwärtige Vorbilder beziehen. Über lyrische und dramatische Formen habe ich in Hildesheim nur am Rande gesprochen, diese Genres werde ich daher vernachlässigen. Stattdessen will ich viele Überlegungen zu kreativen Prozessen einbeziehen, die in den anderen Künsten (Musik, Film, Theater, Bildende Kunst) eine bedeutende Rolle spielen.
Über die bisher wenig beachtete Verbindung des Schreibens mit den Techniken dieser Künste habe ich oft nachgedacht. Die Wurzeln für dieses Interesse liegen in meiner Kindheit. Ich habe eine pianistische Ausbildung erhalten und war in der Jugend häufig mit Musikern, Künstlerinnen und Künstlern, Film- und Medienleuten zusammen, von deren Arbeitsweisen ich viel gelernt habe (siehe meine Bücher Musikmomente und Kunstmomente).
Das Buch, an das ich dachte, sollte Inspirationen für das Schreiben mit der Dokumentation der Hildesheimer Schreibpraxis so verbinden, dass ein freier und nirgends verpflichtender Kursus (eine Art Gradus ad Parnassum) entstand. Dieser Kursus sollte gut nachvollziehbar sein, als Anregung für das jeweils eigene Schreiben der Leserinnen und Leser.
Im Schlussteil wollte ich abschließend dokumentieren, wie sich die Studiengänge des Kreativen und Literarischen Schreibens in Hildesheim entwickelten und das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft entstanden ist. Auch aus dem Studium dieser Entwicklungsgeschichte werden sich viele Anregungen für das eigene Schreiben beziehen lassen.
II
Fangen wir mit dem scheinbar Einfachsten an. Das Schreiben beginnt mit dem Sitzen auf einem Stuhl an einem Tisch. Es ist der Tisch, an den man im besten Fall Tag für Tag zurückkehrt, um an ihm zu arbeiten. Dadurch kann sich ein heimatliches Moment entwickeln, egal, wo er sich befindet. Außerdem kann dieses Moment auch etwas von Zuflucht und gewollter Isolation haben.
In seiner Umgebung ist es zumeist totenstill. Wenn man von ihm aufschaut, nimmt man ein nahes, weites oder auch fernes Bild wahr. Was ist zu erkennen? Eine Wand, ein Fenster ins Freie oder sogar der Ausblick auf eine Straße oder in eine Landschaft? Das alles macht die Ausgangskonstellation des jeweiligen Schreibens aus: ein (meist) kleiner Stuhl, ein anfänglich leerer Tisch, der mögliche Blick in die Umgebung.
Die Schreibenden sitzen, fixiert an diesen Tisch, sie schauen und ziehen sich während des Schreibens in die äußerste Nähe zu sich selbst und den wenigen Dingen um sie herum zurück. Heimat, Zuflucht, Rückzug – das sind einige psychische Dispositionen vor jedem Schreiben.
Schauen und hören wir noch genauer hin. Die Tischplatte kann ein großes Rechteck sein, auf dem einige kleinere Rechtecke von weißen Blättern und Seiten liegen. Alles beginnt mit Rechtecken, meist in DIN-Verhältnissen.
Die Einsamkeit vor dem ersten Schreiben ist oft schwer erträglich. Sind die Schreibenden wirklich derart allein? Um sich von diesem schwer erträglichen Zustand abzulenken, schmücken viele den Tisch mit Erinnerungsstücken aus ihrem Leben, die sie von weit her dorthin gebracht haben. Das verstärkt den Eindruck einer gesuchten Nähe zum Schreiben, die dazu beitragen könnte, die Kälte der weißen Blätter und die Distanz zu ihnen zu überbrücken.
So gesehen, entwickelt sich der Tisch zu dem, was ich ein Imaginarium nenne. Es besteht aus Szenen und Bildern, es ist eine Kammer für Erinnerungen und Geschichten, die das Schreiben begleiten, halten, anfeuern oder verlangsamen. Wie auch immer – das Schreiben beginnt nicht in einem leeren, sondern in einem längst besetzten, ja sogar eingerichteten Raum.
Im ersten Kapitel des Buches Mit dem Schreiben anfangen habe ich davon berichtet, wie einige bekannte Schriftsteller mit diesem Imaginarium umgegangen sind. Berühmt geworden sind die Gegenstände, die Thomas Mann auf seinem alten Mahagonischreibtisch versammelt hatte. Und gleich mehrmals hat der französische Schriftsteller Georges Perec (1936-1982) in seinen Essays die Tisch-Ordnungen auf seinem Schreibtisch beschrieben.
Die Fotografin Herlinde Koebl wiederum hat in ihrem Buch Im Schreiben zu Haus Fotografien des Arbeitsalltags von zweiundvierzig meist älteren Schriftstellerinnen und Schriftstellern präsentiert, mit denen sie sich über ihr Schreiben unterhalten hat. So erkennt man den Schreibraum Peter Handkes: Ein kleiner Tisch vor einem Fenster, ein bequemer Stuhl, eine Leselampe, das ist alles. Auf Fotografien anderer Schreibräume findet man in der Nähe des Schreibtischs einen weiteren Tisch, eine Ablage oder sogar mehrere Ablagen, wodurch – oft zusammen mit einer Hausbibliothek – eine Art »Anbau des Gehäuses« entsteht, die dem Schreiben laufend neue Nährstoffe und Quellen in Form von Büchern zuführt.
Ein solcher Arbeitsraum war etwa die Schreibstube Jurek Beckers. Ein großer, alter Schreibtisch – und im rechten Winkel dazu ein weiterer, kleiner, zwei Schritte entfernt eine Ablage, weitere Tische im Raum und eine Bibliothek an einer breiten Wand.
Auch den Lektor und Autor Klaus Siblewski haben die Schreibräume von diesmal jüngeren Schriftstellerinnen und Schriftstellern so sehr beschäftigt, dass er mit ihnen in einem Buch mit dem Titel Es kann nicht still genug sein. Schriftsteller sprechen über ihre Schreibtische ausführliche Gespräche nicht nur über den Aufbau dieser Räume, sondern auch darüber geführt hat, wie sie sich in diesen Räumen bewegen und längere Arbeitsphasen verbringen.
In vielen Fällen ist zu erkennen, dass die auf dem Tisch postierten Dinge gleichsam Begleitarmaturen des Schreibens sind. Sie zitieren Vergangenheiten des Erlebten und bilden so eine intime Zone inmitten der Prozesse des Schreibens, die sich von ihrer Vergangenheit absetzen und pure Gegenwart werden wollen.
Der türkische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk war von den kleinen Gegenständen auf seinem Arbeitstisch sogar derart fasziniert, dass er ihn immer wieder fotografierte: eine Tasse, kleine Teller mit Speisen, Zeitungsausschnitte, weiße Blätter mit Entwürfen und Korrekturen, eine Unmenge weiterer Details. Diese Fotografien hat er in einer Ausstellung und einem Buch mit dem treffenden Titel Der Trost der Dinge vorgestellt, in dem er auch über die diversen Antriebe seines Fotografierens nachgedacht hat: Ich fotografiere meinen Schreibtisch, meine Katze, ein Bild in einem Buch, das ich gerade lese, Werke in einem Museum, auf dem Bosporus vorbeifahrende Schiffe, Momente aus dem Alltagsleben meiner Frau. Ich bin immer wild entschlossen, mir nichts entgehen zu lassen. (S.175)
Orhan Pamuk ist ein vom Schreiben, Zeichnen und Fotografieren geradezu besessener Autor. Von ihm kann man lernen, was Aufmerksamkeit für Schreibende eigentlich bedeutet: Ich will auch an gewöhnlichen Tagen gewisse Details nicht vergessen, ein bestimmtes Licht, irgendetwas. Wenn ich solche Fotos später betrachte, mache ich dazu oft Eintragungen in mein Tagebuch. (S.175)
Im Falle Pamuks ist das Fotografieren die zentrale Methode zum Festhalten der täglichen Welten, die ihm begegnen. Er liegt auf der Lauer, wenn ihn ein Detail dieser Welt anblitzt und fasziniert. Seine Fotografien bestehen aus Bildern solcher einfachen Faszinosa, die das Rohmaterial für eine Weiterbearbeitung bilden. Sie erfolgt zunächst durch das Schreiben und Festhalten des Rohmaterials in einem Notiz- oder Tagebuch. Es wird eingehender betrachtet, untersucht, umkreist – allmählich dehnt es sich aus und geht Verbindungen mit anderen Faszinosa ein.
Was passiert, wenn ein einfaches Faszinosum sich meldet – darüber denken wir später genauer nach. Vorerst bleiben wir auf unserem Stuhl an unserem Tisch. Er ist längst mit Gegenständen besetzt, wie wir festgestellt haben.
Der Raum um uns herum kann aber auch akustisch besetzt sein, nämlich dann, wenn wir vor dem Schreiben oder während des Schreibens Musik hören. In den meisten Fällen wird es Musik sein, die wir bereits kennen und auf deren Wirkungen wir uns daher verlassen können. Unbekannte und wahllos eingestreute Musik könnte uns ablenken, irritieren oder jenen Zustand erschweren, den wir anstreben – den der äußersten Konzentration, des Sich-Fixierens auf das Vorhaben des Schreibens, von dessen jeweiligen Zeichen und Themen wir anfänglich nicht unbedingt viel ahnen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass auch bekannte Musik ablenken kann – zu Beispiel, wenn sie aus mehreren Stimmen, viel Gesang, Chören oder großem Orchesterklang besteht. All diese Eindrücke führen von jenem schmalen Spalt weg, durch den sich die Hirnimpulse zwängen müssen, um einen Zustand des Stillstands und der Hingabe an jene Momente zu bewirken, in denen der Stift ansetzt und das Papier berührt. Passender könnte einstimmige Musik sein, die nicht durch starke Melodien verführt, sondern selbst etwas Statisches, kaum Bewegliches hat. Gitarren- oder Lautenmusik bietet nicht selten ideale Klangmomente in sonst stillen Räumen, in denen die von außen eindringenden Stimmen sich zurückhalten oder verdrängt werden sollen.
Mitsamt der Imaginaria von Raum und Musik bilden Tisch und Stuhl ein Gehäuse, in das wir Schreibenden uns zurückziehen. Konzentriert lassen wir den sonstigen Alltag verschwinden und wenden uns von außen nach innen. Das genau ist die Wende, die das Schreiben verlangt. Sich von den bekannten Umgebungen ab- und zu Umgebungen der Ideen und Fantasien hinzuwenden. Das Gehäuse dichtet diese Vorgänge ab und bietet uns eine stille Insel, auf der wir mit uns allein sind. Jetzt gilt es – das weiße Blatt Papier starrt uns an und verlangt Aufmerksamkeit.
Bevor wir überlegen, wie wir auf diesen anspruchsvollen Moment reagieren könnten, sollten wir uns kurz in den anderen Künsten umsehen. Gibt es im Verlauf ihrer Werkprozesse ähnliche Einsamkeiten und Fluchten? Das Schreiben im Gehäuse erschien uns im wörtlichen Sinn als eine »Festsetzung«. Wir sitzen unbeweglich, nichts regt sich außer der Hand und den Fingern, die übrigen Körperteile bleiben meist unbeteiligt. In den meisten anderen Künsten dagegen sind die Werkprozesse mit einer zum Teil großen Bewegungsfreiheit und mit Gegenständen verbunden, die direkter zur jeweiligen Arbeit gehören und keineswegs bloß libidinös besetzte Reliquien aus der Vergangenheit sind.
In der bildenden Kunst gibt es das Atelier mit seinen vielen Utensilien wie etwa Palette, Pinsel oder Leinwand, in dem man sich während der Arbeit nach Lust und Laune bewegt. In der Musik gibt es das Instrument, auf dem man in einem Probenraum oder zusammen mit einem Orchester spielt. Im Theater und beim Film schließlich öffnen sich die weitesten Räume, schauspielend können wir kleine oder weite Strecken zurücklegen, auf innere und äußere Reisen gehen. All diese Künste haben also Übergangsmodi erfunden, um aus dem Alltag in Momente der künstlerischen Gestaltung zu finden. Man taucht den Pinsel in eine Farbe, man zupft an der Saite eines Musikinstruments, man spricht ein paar Worte vor sich hin, räuspert sich, zieht sich um, macht einige Posen und Gesten, wird zu einer Figur.
Solche Übergangsmodi (oder Proben) tragen dazu bei, sich der eigentlichen künstlerischen Tätigkeit in kleinen Schritten zu nähern. Sie liefern den Probanden nicht der Einsamkeit aus, sondern beschäftigen ihn mit Werkzeugen und Begleitpersonen, mit denen zusammen er etwas gestalten kann. Dem gegenüber erscheint das Schreiben als eine radikale Wendung nach innen, wo es außer umhegten Ideen oder Fantasien vorerst keine weitere Begleitung gibt.
Ikonen des Schreibens sind Gemälde, Skulpturen oder Fotografien, die Schreibszenen in unverwechselbarer, einzigartiger und sich einprägender Weise darstellen. In unsere Überlegungen zu den Ideenwelten des Schreibens blende ich hier und da besonders eindrucksvolle Beispiele ein, die typische Schreibszenen so vor Augen führen, dass wir sie nicht mehr vergessen.
Die erste Ikone oder Station des Schreibens führt uns in die Villa Borghese in Rom, wo sich ein Gemälde von Caravaggio (1571-1610) befindet, auf dem der heilige Hieronymus in einer solchen Schreibszene dargestellt ist.
Die Gestalt des Heiligen ist nackt und nur teilweise mit einem dunkelroten Mantel leicht bedeckt. Drei Bücher liegen auf einem Tisch, die linke Hand hält eines von ihnen für den konzentrierten Blick auf eine Textpassage fest, während der rechte Schreibarm über die Bücher hinweg ausgefahren ist. Seine Hand hält einen Stift in die Höhe, mit dessen Hilfe anscheinend etwas notiert werden soll.
Dabei erscheint er wie eine Spitze oder wie ein Halt vor einem Totenkopf, dessen skelettierte, angestrahlte Kopfform mit dem angestrahlten Kopf des Heiligen ein Duo von Tod und Leben bildet.
In tiefer Dunkelheit sitzt der Heilige bewegungslos. Ohne abgelenkt zu werden, widmet er sich einem einsamen Schreiben, dessen denkerische Bewegung von Caravaggio genial eingefangen wird. Wie kann man Denken malen? Auf dem Weg über Blicke und Gesten! Indem der Blick des Heiligen einen Text fixiert, der Schreibarm aber die Weiterleitung der Lektüre zum Schreiben andeutet und das alles von rechts nach links als eine zeitlich komponierte Folge erscheint! Die eingesetzten Lichtquellen unterstreichen diese Bewegung und bringen sie zum Leuchten.
Hieronymus ist einer der vier Kirchenväter. In Dalmatien um 348/349 geboren, wurde er zu einem in der antiken Welt hochverehrten Übersetzer und Autor, der lateinische, griechische und hebräische Texte las und schrieb. Die drei Bücher auf dem Tisch mögen zusammen mit der forschenden Gestik des Schreibenden auf diese drei Sprachen anspielen, während das Schreiben als ein Kompilieren und Hinübertragen eines Textes in eine andere Fassung erscheint.
Zur Ikone des Schreibens wird dieses Gemälde dadurch, dass es den Schreibakt als innere Bewegung und Gedankenübertragung während einer Schreibszene fixiert, die den Schreibenden einer fast unheimlichen Leere aussetzt. Die Hochspannung der inneren Konzentration wird sich erst legen, wenn der Stift zu schreiben beginnt und das Resultat des Nachdenkens fixiert. Diesen Moment aber malt Caravaggio nicht, er malt vielmehr den leer geräumten und dadurch umso wirkungsvolleren Raum einer starken Erwartung. Sie ist der Ausdruck eines vitalen Lebensimpulses, der sich gegen den Tod auflehnt und Werke zu schaffen verspricht, die den Tod überdauern.
Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben von sehr merkwürdigen Vorgängen erzählt, die sich immer dann ereignen, wenn sie vor einem weißen Blatt oder einer leeren Seite sitzen. Unruhig rutschen sie auf ihrem Stuhl hin und her, spitzen den Bleistift, tauschen eine Mine des Kugelschreibers aus, blättern in einem Buch, stehen wieder auf, gehen in die Küche, holen sich etwas zu trinken, setzen sich wieder, schlagen ein anderes Buch auf oder surfen im Netz – und das alles so lange, bis die Energie, die längst gezielt in das Schreiben hätte eingehen müssen, verpufft ist. So verstreichen oft Stunden, ohne dass auch nur ein einziger Satz entstanden wäre. Aufenthalt im Nichts. Die Zeit vertan. Die Energie verbraucht. Friedrich Pfäfflin hat in einem lesenswerten Büchlein den Tanz um das weiße Blatt bei vielen Schreibenden beobachtet. Ihnen bleibt schließlich nur, endlich doch aufzustehen, den Tisch zu verlassen und es irgendwann erneut zu versuchen.
Offenbar üben weiße Blätter oder leere Seiten eine starke Magie aus. Aus eigener Kraft und durch ihr bloßes Dasein sind sie imstande, Schreibenden starke Lähmungserscheinungen zuzufügen. Manche bekommen es darüber hinaus sogar mit der Angst zu tun. Sie hinterlassen auf den magischen Dokumenten einen kleinen Strich, ein knappes Kürzel oder ein erstes Wort, um das Blatt oder die Seite danach sofort zu vernichten und in den nächstbesten Papierkorb zu werfen. Das Schreiben kommt nicht in Fluss, es stottert vor sich hin oder dreht sich auf der Stelle, ja, es scheint so, als habe der Schreiber noch nie einen einzigen guten Satz zu Papier gebracht und müsse deshalb noch einmal zurück in eine Schreibschule oder eine andere Form der Schreiborganisation, um sich wieder mit dem Notwendigsten vertraut zu machen.
Solch starken Ängsten liegt oft eine Hemmung oder eine Furcht zugrunde, die nichts anderes ist als eine Furcht vor der Festlegung. Sobald die Schreibenden nämlich den ersten Strich auf der noch unbefleckten, weißen Fläche tun, entscheiden sie sich. Sie entscheiden sich dafür, genau so und nicht anders zu beginnen, mit diesem ersten Wort, mit dieser besonderen Wendung. Plötzlich erscheint etwas von ihrem Denken »schwarz auf weiß«. Was sich vorher noch luftig und in einem relativ lockeren Zustand im Kopf des Schreibenden bewegte, wo es gut behütet war und von niemandem beobachtet wurde, nimmt plötzlich den Weg ins Freie und Öffentliche und wird sichtbar für alle.
Von einem Moment auf den andern sind die Schreibenden zudem für das, was auf dem Blatt oder der Seite steht, verantwortlich. Von nun an werden sie für alle Zeiten damit in einen Zusammenhang gebracht. Nun können sie sich nicht mehr herausreden oder behaupten, sie hätten dieses oder jenes anders oder gar nicht so gemeint. Das Geschriebene legt sie fest, es verbindet sich mit ihnen, es schmiegt sich an ihre Person, es verfolgt sie.
Aus zuvor noch privaten Personen mit geheimen Passionen und Neigungen können so öffentliche Gestalten werden, die durch das Geschriebene zumindest einen Bruchteil ihrer Geheimnisse preisgeben. Auch wenn die Schreibenden eine solche Preisgabe keineswegs vorhaben oder ausdrücklich betreiben – die Sprache lässt ihnen keine Wahl. Jedes Wort, jeder Satz verrät etwas über sie und kann sie bloßstellen. Plötzlich stehen sie auf dem Marktplatz: als Gestalten, die von jedermann angefasst, besprochen, kritisiert, gelobt, aber auch verlacht werden können.
Kein Wunder also, dass das Schreiben etwas Furchteinflößendes hat. Es ist eine Aktion, die aus zuvor ungeordneten, wirren oder zerstreuten Gedanken, bloßen Meinungen oder nur nebenbei gemachten Äußerungen geordnete, klare und präzise Sätze machen will. Das Schreiben ist dadurch vor allem ein fortlaufendes Fixieren, das den Schreibenden seine eigenen Regeln vorgibt. Sind sie mit diesen Regeln nicht vertraut, drohen sie ins Leere zu schreiben. Niemand versteht sie richtig, oder aber man glaubt, sie zu verstehen, erkennt jedoch auf den ersten Blick, dass sie sich nicht angemessen verständlich machen können. In solchen Fällen wirkt das Schreiben peinlich oder sogar lächerlich. Die Schreibenden, man bemerkt es sofort, haben sich an ihren eigenen Ansprüchen überhoben. Herausgekommen ist dabei nichts anderes als guter Wille oder ein hilfloses Schielen nach Vorbildern oder sonstigen Leitfiguren.
So betrachtet, wird die Panik des Anfangs zwar verständlicher, bleibt aber weiterhin bedrohlich. Was kann man dagegen tun? Wie könnte man mit dem Schreiben anfangen, ohne sich seinen offenkundigen Gefahren gleich ganz auszusetzen? Versuchen wir, dem Anfang seine Bedrohlichkeit zu nehmen und mit einigen Experimenten zu beginnen, die noch nicht auf »Festlegungen« des Geschriebenen abzielen, sondern sich in einem Vorstadium, einer Art Schreiben vor dem eigentlichen Schreiben, aufhalten.
Verändern wir dafür zunächst einige Ausgangsbedingungen. Das weiße Blatt muss kein weißes DIN-A4-Blatt im Hochformat, sondern könnte auch ein weißes DIN-A3-Blatt im Querformat sein. Ein solches Blatt hätte den Charakter einer Leinwand, die wir nicht nur beschriften, sondern auf der wir Zeichen aller Art festhalten können. Vielleicht ist dieses DIN-A3-Blatt sogar das Blatt eines DIN-A3-Albums im Querformat. Darin könnten wir vieles von dem unterbringen und fixieren, was uns gerade durch den Kopf geht.
Von vornherein wären wir von der Aufgabenstellung befreit, etwas Bestimmtes, Werkbezogenes schreiben zu müssen. Wir müssten gar nichts, wir könnten – und wir könnten noch viel mehr als nur schreiben. Alles, was uns beschäftigt und anzieht, könnte in einem solchen Album Platz finden – Ausschnitte aus aktuellen Zeitungen und Zeitschriften ebenso wie Fotografien oder Zeichnungen.
Ein anregendes Beispiel für ein solches, aus den verschiedensten Materialien komponiertes Album stammt von der Künstlerin Meret Oppenheim. Sie hat es im März 1958 zusammengestellt und einen bestimmten Zeitraum dafür gewählt: Von der Kindheit bis 1943. Inzwischen gibt es eine faksimilierte Fassung, so dass man schauend und umblätternd die verschiedenen Quellen dieses Streifzugs durch dreißig Jahre ihres Lebens mitverfolgen kann.
Man erkennt Fotografien aus der Kindheit sowie Kinderzeichnungen, manche sind auch im Nachhinein kommentiert, weiterführend sind Fotografien von Wohnhäusern oder Freundinnen zu sehen, es folgen Notizzettel mit flüchtig erscheinenden Anmerkungen und erste Skizzen der eigenen künstlerischen Arbeit bis hin zur ersten Ausstellung und Listen der ausgestellten Bilder oder Kunstwerke. Briefausschnitte und Briefumschläge melden den Eintritt in den Kunstbetrieb und frühe Einladungen, dann erscheinen Fotografien neuer Wohnräume und Zeichnungen, bis die letzten, leeren Seiten die offene Zukunft ausstellen.
Man ahnt, dass Meret Oppenheim zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens dieses Albumformat als Rückblick oder Retrospektive von Leben und Arbeit gewählt und dabei Materialien aufgenommen hat, die ihr besonders wichtig waren. Ein solches Album wäre also eine Selektion von Quellen, die den Verlauf des Lebens im Nachhinein dokumentieren.
Es wären aber auch Albumformate möglich, die das fort- und weiterlaufende Leben nicht aus dem Nachhinein, sondern in der jeweils aktuellen Zeitstufe einfangen und porträtieren. Dann wären diese Alben prinzipiell für alles offen, was in diesem Leben mitspielen würde, in allen nur möglichen Verbindungen, auch an seinen Rändern. Fahrscheine, Eintritts- oder Ansichtskarten, Werbezettel, Zeitungsausschnitte, Fotografien – sie würden kurze oder auch längere eigene Texte umgeben oder rahmen.
In seinen Vorüberlegungen zum Schreiben eines Romans ist Roland Barthes auf solche Albumformate zu sprechen gekommen: Fehlen einer Struktur: künstliches Ensemble von Elementen, deren Ordnung, deren An- oder Abwesenheit zufällig ist … (Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S.290). Zum einen erscheint diese Offenheit als ein Mangel, zum anderen aber auch als eine große Chance: Das Tor zum Schreiben ist weit geöffnet, niemand verlangt »Linien«, »Strukturen« oder weitergehende Formen von »Organisation«. Wir lassen vielmehr das Leben selbst an unserem Album mitschreiben, indem wir unsere Person als Medium eines gelebten Lebens verstehen. Und wir widmen uns zu einem späteren (und vielleicht sogar sehr viel späteren) Zeitpunkt einer erneuten Lektüre dieses Konglomerats, um Spuren unserer Ideen, Wünsche und Fantasien (und damit Spuren von inhaltlichen Lebensfeldern) zu entdecken.
Auf diese Weise könnten wir Alben der verschiedensten Themen anlegen: das Album eines begrenzten Aufenthalts an einem bestimmten Ort, das Album einer bestimmten Jahreszeit, das Album des Sports, den ich beobachte oder selbst treibe, das Album der Musik, die ich täglich höre! Das Album, schrieb Roland Barthes weiter, sei etwas Rhapsodisches, erfüllt von der Idee des Zusammengenähten, des Flickwerks, des Patch-Work (Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S.290/291).
Das alles könnte die Ursuppe des Schreibens bilden, einen aus vielen Ingredienzen bestehenden Eintopf, der je nach den Zugaben strenger, schärfer, aber auch fader schmecken kann. Die Idee und das Konzept solcher Ursuppen verdanke ich meinem Vater, der mich als Kind im Schreiben unterrichtet hat. Er nannte sie Chroniken und meinte damit alle Texte, Bilder und sonstigen Zeichen, die jeweils auf einer großen, datierten Seite Tag für Tag Platz finden. (Von ihrer Entstehung habe ich in meinem Roman Der Stift und das Papier erzählt.)
Versuchen wir, die Ursuppe so »schmackhaft« (und das meint: so vielfältig, abwechslungsreich und neuartig) wie nur irgend möglich zuzubereiten. Unser Vorhaben ähnelt dadurch gastrosophischen Überlegungen, es übersetzt Küchenideen in Ideen literarischer Kreativität.
Bevor wir uns mit den »Zugaben« beschäftigen, machen wir eine kurze Bestandsaufnahme von dem, was sich gerade, in einem bestimmten Moment, zu einer bestimmten Uhrzeit, in unserem Kopf an Bildern, Ideen und Ansichten bewegt. Dafür gibt es ein Schreibvorhaben, dem die französischen Erfinder aus den Schulen des Surrealismus den Namen Écriture automatique gegeben haben.
André Breton beschreibt es im Ersten Manifest des Surrealismus (1924): Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie sich es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist so weit wie möglich auf sich selber konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen. Machen Sie sich klar, dass die Schriftstellerei einer der kläglichsten Wege ist, die zu allem und jedem führen. Schreiben Sie schnell, ohne vorgefasstes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlesen. Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, dass in jedem Augenblick in unserem Bewusstsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden … Fahren Sie so lange fort, wie Sie Lust haben. Verlassen Sie sich auf die Unerschöpflichkeit dieses Raunens … (S.29/30)
In dieser poetischen Spielerei geht es darum, einen ersten Textkorpus zu figurieren, um zu Segmenten zu gelangen, die etwas Unerwartetes und Überraschendes haben. Der nächste Schritt ist die Kombination solcher isolierten Blitze zu einem poetischen Bild. Breton hat solche Bilder in den Gedichten von Pierre Reverdy entdeckt (Im Buch ist ein Lied das fließt/ Der Tag hat sich entfaltet wie ein weißes Taschentuch/ Die Welt kehrt zurück wie in eine Tasche).
Die ungewöhnliche Kombination von Segmenten erscheint auf besonders verblüffende Weise in Dialogen. Breton schreibt: Eigentlich bewähren sich die Formen der surrealistischen Sprache am ehesten im Dialog. Zwei Gedanken stehen sich hier gegenüber; und während einer sich äußert, beschäftigt sich der andere mit ihm, aber wie tut er das? Er kann ihn wiederholen oder sich des vorausgehenden Gedankens bemächtigen, aber er kann sich auch entfernen oder sich ganz entziehen, indem er ein neues, unerwartetes Themenfeld aufmacht: Wie heißen Sie? – Fünfundvierzig Häuser.
Worte und Bilder werden dem Gegenüber wie ein Sprungbett des Geistes angeboten, während die beiden Sprechenden Selbstgesprächen folgen, ohne sich Höflichkeitspflichten zu unterwerfen: Die jeweiligen Aussagen zielen nicht, wie üblich, darauf, eine wenn auch noch so unwichtige These zu entwickeln – sie sind so unbeteiligt wie nur möglich. Das Spielmoment ist das einer Kontaktstörung, die es erlaubt, mit sprachlichen Gewohnheiten zu brechen und dem einzelnen Wort oder Bild neuen Glanz zu verleihen. Indem man diese Neuheit wahrnimmt, trennt man sich vom antrainierten Sprechen und orientiert sich an einer anderen Art von Training: dem einer freien Streuung von Assoziationen, die eine Zurücknahme des Gewohnten und ein passives Feld des unbeteiligten Redens verlangt. (Zitate S.33-35)
Die Écriture automatique hat den großen Vorteil, uns von vielen Regeln und Zumutungen des Sprachsystems vorerst zu befreien. Sie erlaubt Überschreitungen und das Begehen von Wegen, die sich aus der Situation und unserem momentanen Wahrnehmen und Denken spontan ergeben. Daneben liefern ihre oft diffusen und wenig normierten Fließtexte erste Ortungen des sprachlichen Feldes, in dem wir uns jeweils gerade bewegen. Es kann Einfälle, Geistesblitze oder auch nur Ansätze zu kleinen Geschichten oder zeitlichen Abläufen enthalten, es kann aber auch bereits kleine Räume oder Figuren entwerfen oder bereitstellen, die sich in diesen Geschichten zaghaft, rudimentär oder selbstbewusst und autark zeigen.
So bilden ihre Texte das mit ab, was wir in das Schreiben jeweils von uns aus mitbringen. Sie machen den Grundbestandteil der Ursuppe aus, in die wir nun Zugaben streuen. Sie kommen von außen und können aus Motiven, Bildern und Themen bestehen, die uns durch Zeitungen, Zeitschriften, das Internet oder andere Medien angeboten werden.
Wir gewinnen sie durch Zerschneiden oder Zerlegen von Texten. Das geschieht analog meist mit einer Schere und trennt aus dem Korpus von Zeitungsartikeln oder anderen Texten kleine Segmente heraus, die dann willkürlich oder nach einem bestimmten Plan miteinander verbunden werden. Der Zufall erhält dadurch besondere Bedeutung, und die Vorlagen existieren nicht mehr für sich, verschlossen und abweisend, sondern öffnen sich für eine Bearbeitung.
Die auf diese Weise gesammelten Einzelsegmente einer Vorlage können auch mit anderen, nicht-textuellen Elementen (Fotos, Bilder, Anzeigen) so verbunden werden, dass eine Collage entsteht. Solche Collagen verlangen oft nach einem noch größeren Papierformat. Das wiederum öffnet die Arbeit in einer Schreibwerkstatt hin zu Papierrollen oder großflächigen, plakatähnlichen Formaten, auf denen die Collagen ein bildliches Szenario erhalten.
Zerlegen und Collagieren sind spielerische Praktiken des Dadaismus, die sich mit den surrealistischen Techniken der Écriture automatique verbinden lassen. Dann stehen die Texte der Écriture zwischen, neben oder auch in den Collagen und erscheinen wie Ergänzungen, Kommentare oder Botschafter aus anderen Welten.
Die Schriftstellerin Herta Müller erzählt im Vorwort zu ihrem Buch Im Heimweh ist ein blauer Saal, wie sie das sprachliche Material von Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten hat, um es zu neuen Texten zusammenzufügen. Irgendwann genügte es ihr nicht mehr, Ansichtskarten an ihren Freundeskreis zu schicken. Sie kamen ihr hässlich, bunt und aufdringlich vor. Als Ersatz habe sie weiße Karteikarten und einen Klebestift gekauft und mit einer kleinen Schere aus Zeitungen und Zeitschriften Fotos und Wörter ausgeschnitten. Aus ihnen habe sie kurze Texte gebildet, von nicht mehr als einer Karteikartenseite Länge (und Höhe).
Die ausgeschnittenen Wörter und Fotos erscheinen dann wie Solitäre, die einen eigenen farbigen und typografischen Ausdruck haben, daneben aber auch eine neue Verbindung zu ihresgleichen eingehen. Zusammen bilden sie einen vibrierenden Wortraum, in dem das einzelne Wort auf sich aufmerksam macht und dadurch ein besonderes Gewicht erhält. Die Aneinanderreihung von vorgefundenen und »gepflückten« Worten kann dabei seltsame Sinnkombinationen ergeben – wie in dadaistischen Experimenten. Das ausgewählte Wort erscheint in lauter unüblichen Kontexten und wird dadurch zu einer spielerischen Instanz.
Herta Müller berichtet in ihrem Vorwort weiter, dass sie Schubladen und »Wörterschränkchen« mit ihren Fundstücken besitze. Aus ihnen könne sie sich je nach Lust und Laune bedienen. Für solche Projekte ist der zentrale Ort der schriftstellerischen Produktion, der Schreibtisch, oft zu klein. Papierarbeiten tendieren (mit vielen Stiften, Scheren, Papieren, Alben etc.) zum längeren Maler- oder Tapeziertisch. Damit öffnet sich das Gehäuse hin zum Atelier, in dem mehrere Arbeitsplätze in einem größeren Raumgefüge nebeneinanderstehen.
Betrachten wir, um die Herkunft solcher erweiterten Raumgefüge noch genauer zu verstehen, eine Schreib- und Studierstube ganz eigener Art, wie sie im Italien des 14.Jahrhunderts, in der Frühzeit der Renaissance, aufkam. Ich meine ein sogenanntes Studiolo, in dem wir den Dichter Francesco Petrarca (1304-1374) erkennen. Wir sehen ihn auf dem Bild eines anonymen Meisters, das sich in der Sala dei Giganti von Padua befindet und auf dem wir Raumverhältnisse erkennen, die den in früheren Jahrhunderten kleinen Schreib- und Denkraum sprengen, öffnen und weiten.
Petrarca wird als ein Gelehrter bei seinen Lektüren porträtiert. Deutlich zu erkennen sind einige Bücher, die verstreut zum Lesen bereit liegen, deutlich sichtbar ist auch das kleine Lesepult, auf dem sich ein Buch befindet, das Petrarca anscheinend gerade zu seiner Hauptlektüre bestimmt hat. Der Blick aus dem geöffneten Fenster geht in die Weite einer gebirgigen Landschaft, mit Landhäusern und einem steil aufragenden Gebirgsmassiv.
Wir befinden uns nicht mehr in einem mittelalterlichen Kloster, in dem die mönchischen Lektüren sich jeweils meist auf ein einziges Buch konzentrierten. Der Raum hat auch nichts von einer asketischen Klause, in deren Einsiedelei die Lektüre Anlass für Gebet oder Meditation sein könnte. Wir sehen vielmehr den Raum eines weiten, zur Landschaft hin geöffneten, schweifenden Nachdenkens, das sich bald diese, bald jene Lektüre vornimmt.
Um die Lektüren in der gewünschten Sprunghaftigkeit und mit einer spontanen Leselust durchführen zu können, bedarf der Gelehrte einer Privatbibliothek, die er sich nach seinen eigenen Vorlieben und Launen zusammengestellt hat.
Deshalb führt er eine umfangreiche Korrespondenz, in der er Freunde und andere Buchliebhaber nach neuen Titeln und Themen befragt. Die Studierstube ist daher kein Ort der puren Isolation, sondern eher ein Ort des selbst gewählten Rückzugs. Er steht in einer Verbindung zur weiten Landschaft draußen, bei deren Betrachtung sich das Studium fortsetzen lässt. Der Studierraum und der arkadische Raum im Freien sind als zwei Sphären des Studiums miteinander verbunden. Im Innenraum richtet sich der Blick auf die Bücher und sammelt Gedanken und Einfälle, während der Blick auf den freien Raum der Natur durch frische Bilder stimuliert wird.
Petrarca hat die Lebensform, die sich durch das Zusammenspiel der beiden Sphären organisiert, in einem umfangreichen Traktat beschrieben, dem er den Titel De vita solitaria (Über das einsame Leben) gab. Dessen Gedankengänge beziehen sich auf die Erfahrungen, die er während eines jahrzehntelangen Landaufenthaltes in einem Landhaus in der Nähe von Avignon machte. Dabei geht es eher um »Abgeschiedenheit« als um »Einsamkeit«, es geht um ein »solitäres« Leben und um das frei gewählte Dasein eines Solitärs. Dieser entzieht sich der Stadt und ihrer Geschäftigkeit, er widmet sich weder der vita activa noch der vita occupata, sondern der vita contemplativa.
Petrarca hat auf die Gegenüberstellung des geschäftigen, großstädtischen Lebens und des Lebens in Muße, Ruhe und Abgeschiedenheit gleich zu Beginn seines Traktats große Sorgfalt verwendet. Noch heute erscheinen diese Passagen sehr aktuell, zeichnen sie im Blick auf das großstädtische Leben doch präzise und vor allem anschaulich die Bewahrungskräfte jenes autarken Selbst, an dessen Konstruktion der Solitär im Austausch mit einem ausgewählten Kreis von Freunden und in Konzentration auf einen ihm gemäßen, für das Studium geeigneten Raum arbeitet. In starker erzählerischer Plastizität schildern diese Passagen im zweiten Kapitel des Traktats den unterschiedlichen Tagesablauf der Betriebsamen und der Solitären.
Ist der Geschäftige schon am frühen Morgen von Feinden und Freunden umgeben und lassen ihm die anstehenden Tagesarbeiten keine Zeit, zur Besinnung zu kommen, so gibt der Solitär dem Tag eine selbst gewählte Struktur. Vollzieht das Leben des Geschäftigen sich in Hast und Eile, so legt der Solitär immer wieder Zeiten der Besinnung und Selbstbeobachtung ein, die das Leben überschaubar zu machen versuchen. Findet der Geschäftige auch während der Mittagszeit keine Ruhe, indem er sich den lauten »Schlachtordnungen« der Mahlzeiten widmet und damit einen erheblichen Aufwand verbindet, so begnügt sich der Solitär mit wenigem und ist während des einfachen Essens sein eigener Gast.
So verrinnen dem Geschäftigen während des Tages die Stunden. Nichts bekommt er zu fassen, jeder Halt löst sich sofort wieder im Trubel der Aktionen und Gespräche auf, die keinem übergeordneten Ziel dienen, sondern nur den Anschein von Lebendigkeit und Vitalität suggerieren. Die angestrebte Lebendigkeit des »vollen Lebens« vermag er jedoch nie zu erreichen, während das »volle Leben« dem Solitär dadurch zuteilwird, dass er es gleichsam aus den vielen kleinen Konzentrations-Freuden des Tages herausfiltert.
Selbst am Abend verschwimmen die Unterschiede zwischen den beiden Lagern nicht, sondern treten noch einmal besonders deutlich hervor: