Rom, Villa Massimo - Hanns-Josef Ortheil - E-Book

Rom, Villa Massimo E-Book

Hanns-Josef Ortheil

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Beschreibung

Von Wuppertal nach Rom reist der hochbegabte Lyriker Peter Ka, um in der renommierten Deutschen Akademie Villa Massimo sein Bestes zu geben. Ein ganzes Jahr währt das Stipendium in diesem merkwürdig isolierten Kosmos, wo seit über hundert Jahren Künstler aller Genres Studiotür an Studiotür arbeiten. Hanns-Josef Ortheil, einst selbst Stipendiat der Villa, beobachtet und begleitet den hochsensiblen Wortfetischisten während seiner Rom-Monate und erlebt an seiner Seite die Geheimnisse eines oft hochkomischen Alltags zwischen Ekstase, Übereifer, Größenwahn und kleinlichen internen Debatten. Ein satirisch funkelnder und romfi xierter Roman über die Leidenschaft, das treffende Wort für das Außergewöhnliche zu finden!

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Seitenzahl: 326

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Hanns-Josef Ortheil

Rom, Villa Massimo

Roman einer Institution

Mit Fotos von Lotta Ortheil

LangenMüller

www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2015 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel

Schutzumschlagfoto: Lotta Ortheil

Karten: Kartografie Theiss Heidolph, Dachau

Satz und eBook-Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7844-8213-2

Die Vorgeschichte

Die Vorgeschichte 1

Peter Ka ist ein fünfunddreißig Jahre alter Lyriker aus Wuppertal. Er selbst behauptet, er schreibe seit dem zehnten Lebensjahr Lyrik, und das stimmt sogar, wenn man die Abzählreime, die er mit zehn Jahren aufgeschrieben hat, zur Lyrik rechnet. Die Lyrik ist jedenfalls sein großes Metier und seine ganze Leidenschaft, im Grunde liebt er nichts auf dieser Welt so wie das Dichten, das Gedicht, Gedichte zu schreiben und zu lesen. Wenn er vom »Dichten« spricht, zieht er die Nasenflügel leicht hoch und schaut fest und bestimmt, als begegnete er beim Aussprechen dieses Wortes einer erhabenen, imaginären Gestalt. Und ein wenig ist das auch so: »Dichten«, also Verse und Gedichte schreiben, ist für ihn etwas Großes, das Größte, Schönste und gleichzeitig doch Schwierigste, das ein Mensch mit der Sprache anstellen kann. »Dichten« ist Zauberei, die momentane Anwesenheit eines inneren Gottes, der einem ein paar undurchschaubare, kühne Worte zumurmelt. Man schreibt sie mit, man lässt den Stift kreisen – und schon ist der Kraftstrom wieder versiegt, und der kurze Höhenflug landet auf prosaischem Boden.

Viele Nichtsahnende halten Wuppertal, wo Peter Ka geboren wurde und seit der Kindheit ohne Unterbrechung lebt, für durch und durch prosaisch. »Wie kann man nur in Wuppertal Lyrik schreiben?«, hat ihn mal ein solcher Leser gefragt. Peter Ka hat geantwortet, dass man erstens Lyrik überall schreiben könne und dass Lyrik keinen Olymp, keine Leier und auch keine sonstigen Überwelten zu ihrer Entstehung brauche. Zweitens aber sei Wuppertal auch keine prosaische, inspirationsarme Stadt, sondern, ganz im Gegenteil, eine Stadt der starken Inspirationen.

Schon die träge in ihrem tief gelegten Flussbett dahinsiechende Wupper sei eine solche Inspiration, ein Fluss, der sich überlege, ob es sich überhaupt noch lohne zu fließen, ein Fluss, der im 19. Jahrhundert die erste von lauter Chemie bunt funkelnde Abwasserrinne Deutschlands gewesen sei! Der Wupper beim Stocken, Funkeln und Dahinsiechen zuzuschauen sei eine enorme Inspiration, wie überhaupt (und das sei schon vielfach formuliert[1]) das Entlanggehen an Flüssen oder anderen Gewässern für Lyriker gar nicht selten eine Inspiration bedeute. Das Fließen rühre ans Emotionale und breche die inneren Verkrustungen auf, die Umgebung sei sanft bewegt und ziehe einen mit sich fort – ganz genau könne er das auch nicht erklären, jedenfalls hätten anscheinend Flüsse einen Kontakt zu lyrischen Momenten. Wenn über etwas derart lyrisch Bewegtem aber dann noch eine Schwebebahn gleite und sich vielleicht sogar im Fluss spiegle – dann werde die Inspiration noch verdoppelt, und man habe es als Lyriker mit gleich zwei inspirierenden Fließbewegungen zu tun.

Wuppertal und das die Stadt umgebende Bergische Land sind denn auch Peter Kas bevorzugte lyrische Terrains, von denen er fast ausschließlich gedichtet hat. In seinem ersten Gedichtband (Krümmungen an kleinem Gestade, 2004) kommt die Wupper mit all ihren scharfen Chemiegerüchen, verwegenen Farben und flusigen Schatten in unendlich vielen Details vor, und in dem Folgeband lyrischer Kurzprosa (Wiesen im bergischen Winter, 2006) hat er das Bergische Land so besungen, als wäre es ein Naturparadies ähnlich den antiken Naturlandschaften in der Umgebung von Rom.

Schon diese beiden Bände haben ihn zu einem der ersten Anwärter auf den Rompreis und ein Stipendium in der Deutschen Akademie (Villa Massimo) gemacht, doch er musste noch einige Zeit warten, bis er dieses ersehnte Stipendium endlich erhielt. Nach dem Abitur hat er Literaturwissenschaft, Philosophie und vor allem die antike Literatur (Griechisch und Latein) studiert und das Studium sogar abgeschlossen. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, Lehrer zu werden oder sonst etwas Nützliches mit diesem Abschluss anzufangen. So hat er sich mit lauter Aushilfsarbeiten durchgeholfen und in der Erwachsenenbildung unterrichtet, im Grunde aber nichts anderes in seinen Augen Wichtiges getan, als an seinen Gedichten zu arbeiten. Im Alter von Mitte zwanzig wäre er für ein Massimo-Stipendium noch zu jung gewesen, jetzt aber, Mitte dreißig, ist er genau im richtigen Alter, noch etwas unschuldig und manchmal gut drauf in kurzen, spätpubertären Räuschen, aber auch nicht mehr für jeden Unsinn zu haben.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt hat Peter Ka sich von allem getrennt, was in seinen Augen nur wenig oder sogar nichts mit der Lyrik zu tun hat. Obwohl er eigentlich bettelarm ist, lebt er nicht mehr bei den Eltern in dem kleinen Reihenhaus in Wuppertal-Barmen mit einem Zimmer unter dem Dach, wo er mietfrei wohnen könnte. Stattdessen lebt er am anderen Ende der Schwebebahnlinie, in Wuppertal-Vohwinkel, in einem winzigen Zimmer ohne Küche und Bad, für 90 Euro Kaltmiete. Einmal in der Woche fährt (oder fliegt) er mit der Schwebebahn zu seinen Eltern und isst mit ihnen zu Mittag (Erbsensuppe mit Speck, Kasseler mit Püree und Sauerkraut), daneben aber vermeidet er mit ihnen jeden Kontakt. Keine Anrufe, keine infantilen SMS-Nachrichten, nichts.

Auch von seiner Freundin, mit der er zwei Jahre zusammen war, ohne mit ihr zusammenzuleben, hat er sich getrennt. Sie ist Laborantin in einem der Wuppertaler Chemiekonzerne, eine Weile hat ihn das Milieu beschäftigt, die Chemie und das ganze Drum und Dran, aber diese Verbindung hatte nichts Flackerndes, nichts Großes. »Liebe« hatte er sie nicht nennen können, und deshalb hatte er sie schließlich beendet. Tiefgehende Leidenschaft, etwas den Atem Raubendes, etwas Durchdringendes, Zerstörerisches, kopflos Machendes – das stellte er sich unter »Liebe« vor. Momente von solcher Intensität hätten ihm vielleicht sogar dazu verholfen, Liebesgedichte zu schreiben. Bisher hat er das noch nicht versucht, »Liebesgedichte« sind das Äußerste von Dichtung, das Extrem, das Höchste und Flirrendste überhaupt – bisher hat er sich mit Wuppertal und den stumpfgrünen Buckelhügeln des Bergischen Landes bescheiden müssen. Denen aber hat er durchaus ein großes Feuer entlockt, o ja, innerlich hat er diese Region in Brand gesteckt und in zuckenden Flammen zum Lodern gebracht! Er ist also vorbereitet auf Gesänge über die Liebe, er hat das drauf, so viel ahnt er, aber die »Liebe« soll ihm vorher auch in einer schönen Gestalt begegnen, aus dem Hemd ziehen kann er sich Gedichte über ein solches Thema schließlich nicht.

Freunde oder Bekannte hat Peter Ka auch nicht mehr viele. In den letzten Jahren ist er skeptischer und strenger geworden, mit sich selbst, aber auch mit den anderen. Lange Unterhaltungen irgendwo am Wupperstrand in den so häufig nebelfeuchten Wuppertaler Nächten gefallen ihm nicht mehr, er hat sich daran gewöhnt, viel allein zu sein. Natürlich kann er von seinen Gedichten nicht leben, das aber will er auch gar nicht. Ein Lyriker muss in seiner Vorstellung arm sein, schlotternd vor Armut und Hunger, jedenfalls ganz und gar reduziert und dadurch besonders hellwach und reizbar. Er hat ein paar kleinere Preise und Stipendien erhalten, davon hat er sehr sparsam gelebt, daneben schreibt er für den Hörfunk und zwei Literaturzeitschriften ausschließlich über Lyrik, das bringt wenigstens ein paar Euro ein, um den Strom und das bisschen Wasser zu bezahlen, das er täglich verbraucht.

Die Vorgeschichte 2

Im Grunde ist Peter Ka den ganzen Tag für die Lyrik da, jederzeit bereit für die Notiz einer Wendung, eines Bildes oder sogar eines Verses. Ununterbrochen liegt er auf der Lauer, um der schnarrenden, dröhnenden, summenden Welt ihre Geräusche und Klänge abzulauschen. Am besten geht das unterwegs. Oft bricht er am frühen Morgen von zu Hause auf, zu Fuß natürlich. Dann durchstreift er eine Weile die Umgebung, verliert sich, stromert umher. Kein Ziel, keine Vorgaben, durchatmen, schauen, aufmerksam sein, gut hinhören, Gerüche, Bilder, das Stimmengewirr. Alles, was er für diese Stunden der angespannten Wahrnehmung braucht, ist seine dunkle, abgewetzte Ledertasche mit dem roten Innenfutter (noch aus Schultagen). Darin befinden sich mehrere Stifte mit unterschiedlichen Farben, einige Notizblöcke verschiedensten Formats, ein Fotoapparat, ein Smartphone. Das teure Luxusding hat er sich von den Eltern schenken lassen, weil es für ihn ein ideales Arbeitsgerät mit vielen nützlichen Funktionen ist. So spricht er zum Beispiel in das Diktiergerät während seiner ausschweifenden Gänge relativ viel, dann braucht er das, was ihm spontan auffällt, nicht umständlich mit der Hand zu notieren. Das tut er erst, wenn er irgendwo landet und Platz nimmt. Dann schreibt er rasch und ohne langes Nachdenken auf, was ihm an Sprache durch den Kopf jagt. Er macht den Worten und Wendungen Tempo, hastet hinter ihnen her, verunstaltet sie, dreht sie um, stellt sie auf den Kopf, es ist eine Art Tanz mit der Sprache und ihren einzelnen Elementen, bis hin zum Unsinn und dem puren Gelalle.

In letzter Zeit hat er in seiner Ledertasche auch ein italienisches Wörterbuch dabei, in dem er täglich blättert und liest. Manchmal schreibt er einige Wörter ab und spricht sie sich vor. Daneben hat er sich auch ein dickeres Buch mit italienischen Redewendungen (Modi di dire[2]) beschafft, gerade diese Lektüre macht ihm besonderes Vergnügen. Besser als einzelne Wörter behält er solche skurrilen Wendungen im Kopf, sie könnten ihm in Rom helfen, als ein bereits halbversierter Sprecher zu erscheinen, jedenfalls stellt er sich das so vor. Wenn ihm dort etwas besonders bedeutsam erscheint, wird er sagen, es werde ihm stare a cuore (wörtlich so viel wie: nahe dem Herzen sein). Und wenn ihm jemand wegen seines raschen Denkens oder Reagierens gefällt, wird er sagen, er sei agile come un gatto (wörtlich so viel wie: agil/wendig wie eine Katze). Mit der Zeit hat er sich ein Vergnügen daraus gemacht, seine Wuppertaler Umgebung im Stillen so anzureden, er spricht mit ihr sein mühsam erlerntes Italienisch und überlegt sich gleich mit, wie sie antworten könnte.

Schade, dass er bisher nicht den geringsten Kontakt mit dieser herrlichen Sprache (einer Sprache für Lyriker! Vielleicht sogar der Sprache für Lyriker!!) gehabt hat. Er war erst zweimal für jeweils kaum eine Woche in Italien, vor vielen Jahren, mit seinen Eltern. Sie hatten in Bergamo eine entfernte Verwandte besucht und sich sehr behelfsmäßig durch den italienischen Alltag gearbeitet. Kaum ein Wort hatten sie verstanden, und seine Eltern hatten an Italien eher die negativen Aspekte wahrgenommen, die miserablen Hotelbetten, die schlechte Straßenbeleuchtung, den bröckelnden Putz an manchen Häuserfassaden. Weniger das Schöne als das Hässliche hatte also die Eltern beschäftigt, und so waren sie durch Bergamo wie ein unzufriedenes, nörglerisches, auf Mängelsuche erpichtes Duo gelaufen. Als wären sie für die Stiftung Warentest unterwegs gewesen, als hätten sie immerzu Punkte vergeben und Tabellen ausfüllen müssen! Die ununterbrochene Nähe seiner Mängel suchenden Eltern hatte Peter Ka die beiden Bergamo-Aufenthalte regelrecht verhagelt oder sogar versaut, jedenfalls hatte er am Ende bereits selbst in lauter Negativkategorien von dieser Stadt gedacht. Müde und erschöpft vom ewigen Nörgeln und Kritisieren war man nach Wuppertal zurückgekehrt und hatte sich im potthässlichen Wuppertaler Bahnhof wohlig gestreckt: »Schön, wieder zu Hause zu sein!« Als wäre der Wuppertaler Bahnhof ein Elysium! Als könnte Bergamo ihm nicht das Wasser reichen!

Von der italienischen Literatur kennt er fast ausschließlich die Lyrik, den großen Petrarca natürlich[3], mit dem alles beginnt, und aus dem letzten Jahrhundert vor allem Montale[4], Quasimodo[5] und Pasolini[6]. Er hat ihre Werke in zweisprachigen Ausgaben gelesen und daher viele italienische Verse im Kopf, eine Blütenlese, Zeilen, die ihm besonders gefallen haben und die er nicht mehr vergessen will. Wenn er solche Verse liest, notiert er sie gleich, das Abschreiben ist eine Art Würdigung oder eine Verbeugung (fare onore a Montale … – würde man das so sagen?). Danach spricht er sie in sein Diktiergerät und hört das Ganze später häufig ab. Das häufige Abhören (über Wochen und Monate) hilft, diese Verse im Kopf zu behalten. Ganz dort angekommen sind sie aber erst, wenn er mit und von ihnen träumt (wenn sie also: essere nel mondo dei sogni/sich in seinen Traumwelten befinden).

So weit ist er immer wieder gekommen, dahin also, im Traum zumindest ein wenig Italienisch zu sprechen. Manchmal kommen in diesen Träumen auch dunkel gekleidete Menschen vorbei, nicken ihm zu und flüstern etwas in dieser so melodisch hellen, weichen, quicklebendigen und anschmiegsamen Sprache. Er versteht sie nicht immer, aber er nickt zurück und geht weiter, mit seiner alten Ledertasche und all seinen Hilfsmitteln. Wie ein Schüler, wie ein überanstrengter Abiturient, der von Frauen wie Claudia Cardinale träumt. (Von Claudia Cardinale hat er bereits häufig geträumt, und dann hat er das wunderbare Gespräch gelesen, das der Schriftsteller Alberto Moravia einmal mit ihr geführt hat.[7] Peter Ka würde sehr viel dafür geben, mit einer Frau einmal genau so auf Distanz und doch voller Intimität und Nähe sprechen zu können, bisher ist ihm das noch nicht gelungen. Einer seiner Rom-Träume besteht eben darin, in Rom mit einer Römerin lange Unterhaltungen zu führen. Vielleicht ist er zu scheu für so etwas Schönes, vielleicht auch zu langsam, er weiß es noch nicht genau.)

Besser als die italienische Lyrik, die er erst lange nach dem Abitur entdeckt hat, kennt er die Lyrik der alten Römer (Catull, Horaz, Ovid). Die hat er schon während seiner Schulzeit gelesen, und es hat ihn damals erstaunt, dass die Römer vor allem die Lyrik liebten, die Lyrik viel mehr als Epen und Dramen. Das passte zu seiner Fantasie vom Alten Rom als einer regen, wortreichen und deklamatorischen Weltstadt, in der sich die verschiedenen Sprecher darin überboten, gehört zu werden. Die Lyriker hatte er sich wie notorisch herumschlendernde muntere Mannsbilder inmitten der Volksmassen vorgestellt. Neugierig auf jedes Wort, umtriebig, lästernd, sich in Gespräche einmischend. Die römische Lyrik mochte aus den Sudstoffen eines längst unüberschaubar gewordenen Sprechens entstanden sein, sie war ihr klangliches Amalgam, die Essenz, die übrig blieb, wenn die Geräusche verebbten, es allmählich dunkler wurde und man sich zur abendlichen Mahlzeit zurückzog. Dann, so dachte er es sich, wurden die neusten Verse vorgetragen und deklamiert, zum Weingenuss, in kleinem Kreis.

Vielleicht war das alles aber auch eine infantile Schulfantasie, die den vielen Filmen über das Alte Rom entsprang, die er während der Schulzeit so gern mit ein paar Freunden gesehen hatte. Von Ben Hur über Quo vadis? bis zu Spartacushatten sie viele der alten Sandalenfilme immer wieder geschaut. Die muskelstarken, im Sonnenlicht glänzenden Männer, fast alle mit einem schwachen Schweißfilm auf der Stirn, wortkarg, aber mit Bärenkräften. Ihre Scheu gegenüber schönen, begehrenswerten Frauen, die nur kurz angeschaut, letztlich aber meist für etwas Gefährliches und damit zu Meidendes gehalten wurden. Ihr Leben in Gefängnissen und dunklen Verliesen, wo sie mit ihren Bärenkräften vor sich hin brüteten und an ihren Ketten rasselten. Ihr hoher Ehrbegriff, der ihnen im Körper steckte wie ein bronzenes Rückgrat. Peter Ka hatte im Lateinunterricht einmal einen kurzen Text über einen römischen Legionär und Kämpfer geschrieben, der hatte seinem Lehrer gefallen (»Schau mal an, du schreibst, als wärst du selbst schon einmal ein römischer Krieger gewesen!«). Jetzt, im Alter von fünfunddreißig Jahren, hat er diese pubertären Welten beinahe vergessen, aber ein wenig von ihnen schlummert noch in ihm, und er ist gespannt darauf, ob und wie sie sich in Rom wieder melden werden.

Die Vorgeschichte 3

Er ist ein Meter neunzig groß und wiegt zweiundachtzig Kilo, das sind gute Maße und Bedingungen für Lyrik, schon häufig hat er in Gedanken dem Lyriker Gottfried Benn vorgeworfen, dass er viel zu dick, statisch und gesetzt war. Wäre Benn schlanker und schneller gewesen, wäre noch mehr und Schneidenderes aus ihm herausgequollen als so etwas Verlangsamtes wie Einsamer nie als im August. Der August hätte einige Schwebeflüge mehr bekommen und wäre nicht in einer Lethargie trüb-glasiger Blicke versunken.

Der Lyriker Stefan George kam Peter Ka in Aussehen und Lebensführung da schon erheblich näher. George hatte sich nirgendwo niedergelassen, er hatte sehr bescheiden und meist bei Freunden gelebt und dabei doch ein intensives Leben zwischen Berlin, München oder Heidelberg hinbekommen. Abtauchen, die Dinge von ganz unter her, aus äußerster Anspannung, Leere und Konzentration erfassen – das war Georges Devise gewesen. Und genauso versuchte es auch Peter Ka, seit er die ersten Verse Georges gelesen hatte. Zum Glück hatte er in Wuppertal ein humanistisches Gymnasium besucht, und zum Glück hatte er dort Latein und Altgriechisch gelernt, das hatte ihn hin zur großen Lyrik geführt. Zwei gute Lehrer hatten genügt, dieses Feuer in ihm zu entfachen, ein Lehrer in Deutsch und eben einer in den beiden ehrwürdigen, einzigartigen alten Sprachen, die Peter Ka schließlich recht gut beherrscht hatte. Der Deutschlehrer aber hatte ihm einen Band mit George-Gedichten geschenkt, und da hatte er beim ersten Hineinschauen gleich die Verse Sprich nicht immer/ Von dem laub/ Windes raub[8] gelesen. Schon bei diesem ersten flüchtigen Lesen hatte es ihn gepackt, das war Lyrik!, große Lyrik! Er hatte es (noch nicht) gut begründen können, aber er hatte es gespürt: Große Lyrik in zwei Zeilen! Fortziehend! Ein anderes Gelände eröffnend! Raumgreifende Gestik!

Damals, als er Stefan George durch den Hinweis seines Deutschlehrers (»ich gebe dir einen Wink«, hatte der gesagt, »einen Wink!« – an diese Formulierung erinnerte Peter Ka sich genau) kennengelernt hatte, war George so gut wie vergessen gewesen. Im literarischen Leben galt er als ein weltfremder Spinner und Reaktionär, der einen geheimnisumwobenen Schülerkreis angeführt hatte. Der Meister und seine Schüler – eine solche Konstellation hatte man am Ende des 20. Jahrhunderts belächelt oder sogar verachtet. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war Georges Stunde dann aber doch wieder gekommen, neue Biografien und ausführliche Würdigungen zu einzelnen Themen waren erschienen, eine Ausstellung war der andern gefolgt, Georges Name hatte wieder erhebliche Strahlkraft erhalten und die Namen anderer großer Lyriker seiner Zeit (Hofmannsthal, Benn, Brecht) zum großen Teil weit hinter sich gelassen.

Peter Ka hatte all diese neuen Bücher über Georges Leben und Dichten ausgeliehen und sehr aufmerksam gelesen, und er hatte über seinem schmalen, kleinen Schreibtisch einige George-Fotos angebracht. Der Meister im Profil, mit scharfem Blick, kantig, entschieden, die Haare mit Schwung nach hinten gebürstet. Viele George-Gedichte kannte er auswendig, er parodierte sie gern und brachte den altmodisch gesetzten und oft weihevollen Tonfall mit Alltagsdingen so in Verbindung, dass eine komische Wirkung entstand. Die großen Götter musste man parodieren, unbedingt, man musste sie verehren und sie sich gleichzeitig vom Leib halten, man musste neben ihnen her spazieren, pfeifend, bester Laune, auf keinen Fall aber durfte man zu ihren Schülern oder Adepten werden.

Stefan George hätte es bestimmt gefallen, dass Peter Ka nun nach Rom aufbrechen würde, Rom war ein weites Terrain gerade für Lyriker, kein Wunder also, dass bisher viele Schriftsteller-Stipendiaten Lyriker gewesen waren. Gerade die besten und empfindlichsten Sprachvirtuosen hatte man nach Rom geschickt, Lyriker also und erheblich seltener Romanciers oder gar Essayisten, von Dramatikern oder Journalisten ganz zu schweigen! Von Lyrikern hatte man im Blick auf Rom am meisten erwartet, große Dichtung, höchstes Niveau, und es war klar, dass die üblichen Romanciers mit ihrer weitschweifigen Art so etwas nicht würden bieten können.

Peter Ka mochte denn auch nur sehr wenige Romanciers und las kaum Romane, solche Erzähl- und Dialogmaschinen waren einfach nichts mehr für ihn, und er hatte auch nicht die richtige Geduld, um tagelang den Spuren einiger wenig interessanter Figuren durch ein breit ausgewalztes Romangelände zu folgen. Manche Romanciers hatten zudem vom vielen Sitzen und Schreiben oft etwas Breiiges, ungesund Schweres, manche aßen und tranken viel und mästeten ihre Körper auf unappetitliche Art für ihre jahrelangen Schreibhypnosen. In diese Welten mochte er nicht gerne eintauchen oder hineinsehen, weshalb er gehofft hatte, in Rom keinem Romancier dieser Art zu begegnen (mit Frauen, die Romane schrieben, kannte er sich nicht aus).

Ein guter Lyriker dagegen war nach Peter Kas Vorstellung von ganz anderer Art. Schlank, entschieden, mit einem Sinn für Knappheit und Eleganz ausgestattet – so musste er sein, wie ein feiner Wind, den es durch die Straßen treibt, während er sich mit allen nur denkbaren Atmosphären vermengt und sie in sich aufnimmt. Die Krönung von alldem war natürlich eine gute Lyrikerin, eine Sappho, ein weibliches Orakel, nicht mehr ganz von dieser Welt, mit allen Tiefen des Lebens vertraut, dunkel, unheimlich, eine Magierin. In seinem bisherigen Leben war Peter Ka noch niemandem von dieser Art begegnet, aber er hatte schon einige Gedichte von solchen Magierinnen gelesen. Annette von Droste-Hülshoff war eine gewesen und auf jeden Fall Else Lasker-Schüler, die wie er aus Wuppertal stammte und deren Leben und Dichten er in einem Essay porträtiert hatte.

Vor seiner Abreise nach Rom hatte er davon gehört, dass ein erfahrener und bekannter Lyriker, der bereits vor Jahrzehnten in der Villa Massimo als Stipendiat gewesen war, behauptet hatte, die großen Lyriker seien in der Villa Massimo fast alle weit unter ihr Niveau geraten und hätten der Ewigen Stadt mit kaum einem Vers Paroli geboten.[9] Peter Ka war diesem erschreckenden Urteil nicht weiter nachgegangen, wie er es überhaupt vermieden hatte, sich durch viele Lektüren auf Rom vorzubereiten. Im Stillen aber hatte er darüber nachgedacht, welche Fallen auf einen Lyriker in Rom warten mochten. Zypressen und Pinien zum Beispiel waren ganz sicher solche Fallen, sodass man es vermeiden musste, Gedichte über Zypressen und Pinien zu schreiben. Katzen waren ebenfalls hochgefährlich und durften auf keinen Fall in einem Rom-Gedicht vorkommen, ganz zu schweigen von Geckos oder Echsen. Auch Steinmauern und ruinöse Zeugnisse der Antike sollte man besser meiden, wie es wahrscheinlich überhaupt sehr schwer werden würde, etwas Antikes in einem Gedicht von heute unterzubringen.

Er hatte also bereits einige rote Gefahrenlampen im Hinterkopf, die sofort aufleuchten würden, wenn er seinem lyrischen Ich allzu bereitwillig einen touristischen Rom-Ausflug gönnen würde. Etwas Touristisches durften seine Gedichte auf keinen Fall bekommen, deshalb wollte er sich in den ersten Wochen in Rom auch vom römischen Zentrum und den bekannten Sehenswürdigkeiten fernhalten und Rom von Nebenschauplätzen her angehen. Mal sehen, das würde sich finden.

Keine breit gestreuten Lektüren also vor dem Aufenthalt, kein Sich-ein-Bild-Machen. Lesen, schauen, notieren – das wollte er erst vor Ort. Einen Basiskurs Italienisch hatte er sich aufgenötigt und lauter italienische Frage-und-Antwort-Spiele mit ein paar typischen Redensarten auswendig gelernt. So war er für flüchtige Begegnungen in den römischen Bars gerüstet, wobei er sich darauf verlassen konnte, rasch zu lernen und mit der weitgehend unbekannten Sprache schnell voranzukommen. Gute Lyriker (wie etwa der große H. C. Artmann) beherrschten sehr viele Sprachen, viele Fremdsprachen zu beherrschen war sogar meist ein sicheres Indiz dafür, dass es sich um einen guten Lyriker handelte. Solche Lyriker übersetzten mit Glanz und raubten den fremden Sprachen Nuancen für die eigene, deutsche Sprache. Vielleicht gab es sogar Lyriker, die virtuos aus Sprachen übersetzten, die sie gar nicht kannten, den sehr guten Lyrikern traute er das zu: Sie verstanden im Grunde kein einziges Wort, und sie hätten sich nicht in der fremden Sprache unterhalten können, doch wenn sie ein Gedicht in der fremden Sprache hörten, fielen sie in eine merkwürdige Trance und lieferten ohne Zögern eine deutsche Version des fremdsprachigen Gedichts.

Ankommen

Ankommen 1

An einem Montagvormittag ist Peter Ka vom Flughafen Köln/Bonn nach Rom gestartet. Der Flug hat kaum zwei Stunden gedauert und (bei frühzeitiger Bestellung als einfacher Hinflug) kaum vierzig Euro gekostet, das konnte er sich noch gerade so leisten. Den Führerschein hat er zwar kurz nach dem Abitur auf Wunsch (und mit dem Geld) der Eltern gemacht, aber er hat nie einen Wagen besessen und kann sich auch nicht vorstellen, jemals einen zu besitzen. Ein guter Lyriker in einem Opel? In einem VW? In einem Ford? Ach was, das war völlig undenkbar. Zugfahren ginge schon, Busfahren war noch besser, am besten aber war natürlich Fahrradfahren oder ganz zu Fuß gehen. Gute Lyriker gingen nicht allzu schnell zu Fuß, ob er in Rom joggen würde, wusste Peter Ka noch nicht genau.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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